Tizianas Rosen - Stefan Györke - E-Book

Tizianas Rosen E-Book

Stefan Györke

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Beschreibung

Endlich ist es geschafft: Tiziana Mara löst sich von ihren Eltern, um sich ein eigenes Leben aufzubauen. Dieses beginnt in einer Zürcher Anwaltskanzlei, wo sie eine Affäre mit dem Anwalt Ulrich Vanderhoff eingeht. Er hält sie mit einem horrenden Arbeitspensum in Atem und lässt sie Grusskarten an seine Liebhaberinnen schreiben, sie erduldet seine Erniedrigungen. Knapp ein Jahr später wird er ermordet aufgefunden – tief in seinem Hals steckt ein Strauss Rosen. Ein typischer Ritualmord im Mafiamilieu, schnell hat man Tizianas sizilianischen Eltern auf dem polizeilichen Radar. Umso überraschender kommt Tizianas Geständnis. Auf den ersten Blick ein Kriminalroman, entpuppt sich «Tizianas Rosen» als eine mit viel scharfsinnigem Witz und Leichtigkeit erzählte Geschichte um eine manipulativen Beziehung.

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Seitenzahl: 171

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Endlich ist es geschafft: Tiziana Mara löst sich von ihren Eltern, um sich ein eigenes Leben aufzubauen. Dieses beginnt in einer Zürcher Anwaltskanzlei, wo sie eine Affäre mit dem Anwalt Ulrich Vanderhoff eingeht. Er hält sie mit einem horrenden Arbeitspensum in Atem und lässt sie Grußkarten an seine Liebhaberinnen schreiben, sie erduldet seine Erniedrigungen. Knapp ein Jahr später wird er ermordet aufgefunden – tief in seinem Hals steckt ein Strauß Rosen. Ein typischer Ritualmord im Mafiamilieu, schnell hat man Tizianas sizilianische Eltern auf dem polizeilichen Radar. Umso überraschender kommt Tizianas Geständnis. Doch: Man will ihr nicht glauben.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

© 2024, Arisverlag

(Ein Unternehmen der Redaktionsbüro.ch GmbH)

Schützenhausstrasse 80

CH-8424 Embrach

[email protected]

www.arisverlag.ch | www.redaktionsbüro.ch

Umschlaggestaltung und Satz: Lynn Grevenitz | kulturkonsulat.com

Covermotiv: © koyash07 – stock.adobe.com

Lektorat: Katrin Sutter | Paula Fricke | Elisabeth Blüml

Korrektorat: Red Pen Sprachdienstleistungen e.U.

Druck: CPI books GmbH, www.cpibooks.de

ISBN: 978-3-907238-42-4

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book: 978-3-907238-43-1

INHALT

ROSEN FÜR TIZIANA

RENDEZ-VOUS

SANKT MARTIN

GEZEICHNET: ULRICH VANDERHOFF

MISTKÄFER

ROSEN FÜR ULRICH

STAATSANWALT HESS

ROSEN FÜR TIZIANA

I

Auch das noch: Die Zeugin hatte ein Geständnis abgelegt! Wachtmeister Hugelshofer schwieg ins Telefon, ließ das Fenster des Dienst-Volvos hinunter. Frische Luft.

«Bist du noch dran?», hörte er den Kollegen Zahnd am anderen Ende der Leitung. Vor einer halben Stunde hatte es nach einem frühen Feierabend ausgesehen. Jetzt war Hugelshofer auf dem Weg zum Bezirksgericht und Zahnd rief schon zum zweiten Mal mit schlechten Neuigkeiten an. Zuerst hatte er vermeldet, sie müssten die Einvernahme mit der Zeugin alleine führen. Die Staatsanwaltschaft beliebe wieder einmal, unterbesetzt zu sein. Und nun stellte sich heraus, dass die Zeugin geständig war – was aus ihr eine Täterin machte.

«Ein Grund mehr», sagte Wachtmeister Hugelshofer und bog ein in die Rotwandstraße, «die Einvernahme muss von der Staatsanwaltschaft durchgeführt werden.»

«Keine Chance», sagte Zahnd, «null Verfügbarkeit.»

«Sagt wer?»

«Sagt Hess.»

«Hess selbst?»

«Höchstselbst.»

«Hast du mit ihm telefoniert?»

«Gerade eben.»

«Scheiße.»

«Hab ich auch gesagt.»

«Zu Hess?»

«Ja.»

«Respekt, Zahnd. Vielleicht wird ja doch noch was aus dir.»

Im Bezirksgericht kamen Wachtmeister Hugelshofer die beiden Kollegen entgegen, die, gemäß Zahnd, heute Morgen als erste am Tatort Clausiusstraße eingetroffen waren. Sie sahen etwas blass aus. Auch erfahrene Polizisten waren so einen Anblick schließlich nicht gewohnt. Kurze Zeit später war der Rettungswagen angekommen.

«Rettungssanitäter!», knurrte der eine Polizist. «Ebenso gut hätte man Zirkusclowns schicken können, die hätten auch nicht dümmer am Tatort herumgestanden. Stell dir mal vor, Hugelshofer, eine Frau! Anscheinend war das Opfer ihr Liebhaber.»

«Gottesanbeterin!», sagte der andere Polizist, verzog den Mund und warf seinen halbvollen Kaffeebecher in den Eimer am Treppenende. «Zahnd sagt, ihr macht die Einvernahme alleine?», fragte er.

«Die Staatsanwaltschaft», sagte Hugelshofer, «leider verhindert.»

Tiziana Maras Blick traf Hugelshofers Gesicht, als er den Einvernahmeraum betrat, 3-201, «besetzt». Braune Augen, stellte Hugelshofer fest, neugierig, aber scheu und vor allem: klug – soviel stand für ihn gleich fest. Noch gab es ja keinerlei Beweise, dass es wirklich sie war, die den Mord an der Clausiusstraße begangen hatte. Wer weiß, unter welchen Umständen sie ihr sogenanntes Geständnis abgelegt hatte. Offenbar gegenüber den Kollegen vom Psychiatrisch-Psychologischen Dienst PPD. Was auch immer diese Tiziana Mara von sich gegeben hatte, dachte er, ohne die Anwesenheit eines Verteidigers war es bedeutungslos. Vorerst war sie eine Zeugin, nicht mehr, nicht weniger – vor allem aber eine Frau, die traumatische Stunden hinter sich hatte.

Hugelshofer schloss die Tür hinter sich. Tiziana Maras Blick ließ nicht ab von ihm. Links hatte sich soeben die Anwältin hingesetzt, Hugelshofer hatte ihren Namen vergessen. Sie zog ihre Jacke aus, hängte sie über die Lehne und ordnete einen Notizblock auf den Knien, im Gesicht eine knallgelbe Brille und ein abschätziges Lächeln, als wüsste sie genau, dass die Polizisten hier ohne Staatsanwalt auf verlorenem Posten stehen würden. Hugelshofer hatte vor etwa einem Jahr einmal ein Seminar über Verhörtechniken besucht. Staatsanwalt Hess hatte zu den Vortragenden gehört. Ein ausgefuchster Profi, dieser Hess – nur eben leider verhindert.

Der Kollege Zahnd saß vor einem Laptop am Tisch bereit. Wachtmeister Hugelshofer gab ihm einen Klaps auf die Schulter. Dann trat er auf Tiziana Mara zu, die sofort kerzengerade stand, ihm die Hand gab, ein erstaunlich kräftiger Händedruck.

«Frau … Tiziana Mara, korrekt?»

Die Zeugin nickte.

«Hugelshofer ist mein Name, Wachtmeister Kantonspolizei Zürich. Und das ist Korporal Zahnd, Ermittlungsabteilung Gewaltkriminalität.»

«Moment», sagte Tiziana Mara, «wenn ich mich nicht irre, müsste ich von einem Staatsanwalt befragt werden.»

«Eins nach dem anderen», meinte Hugelshofer und Tiziana Mara gab seine Hand wieder frei, «Korporal Zahnd liest jetzt Ihre Rechte vor.»

«Frau Mara», sagte Zahnd, «das ist eine Ersteinvernahme, Teil der Voruntersuchung. Wie Sie korrekt anmerken, sollte eigentlich Herr Hess von der Staatsanwaltschaft hier sein, da es sich um eine schwere Straftat handelt. Umständehalber übernehmen wir fürs erste, gestützt auf … eine Regelung in der Strafprozessordnung. Ihr Recht auf Verteidigung haben Sie ja bereits in Anspruch genommen …»

Zahnd deutete auf die Anwältin.

«Frau Dr.Kronenburg, richtig?», fragte er.

«Kronenberger», nickte Frau Kronenberger.

Zahnd rückte sich nun vor der Tastatur zurecht, schaute zu seinem älteren Kollegen hinüber wie ein Pianist, der den Einsatz erwartet. Die Zeugin aber kam ihm zuvor.

«Ich brauche keine Verteidigung, Herr Wachtmeister», sagte Tiziana Mara, «nehmen Sie mich ruhig beim Wort: Ich habe Ulrich Vanderhoff getötet!»

II

Eine Woche zuvor hatte es bei Tiziana geklingelt: ein großer Strauß Rosen vor ihrer Tür.

Seine. Rosen.

Es war ein Montagabend im November, längst dunkel. Für gewöhnlich war Tiziana unter der Woche um diese Zeit noch im Büro. An diesem Montag aber hatte sie in der Küche gesessen, hatte sich gefragt, ob sie die Nudeln im Kühlschrank zum Abendessen wärmen sollte, als die Klingel ging.

Die Rosen prangten auf einem Barhocker, den Tiziana sofort erkannte. Einer aus jener Pianobar im Niederdorf, wohin Ulrich sie damals mitgenommen hatte. Tiziana ging ein Lächeln übers Gesicht, das sogleich erstarb. Sie überwand ein Zögern, trat aus der Tür und schaute sich um. Niemand zu sehen. Sie beugte sich übers Geländer, schaute hinunter ins Treppenhaus. Alles leer, alles still.

Als sie rücklings die Wohnungstür zuschob, lagen die Blumen in ihrem Arm wie ein teuflisches Kind.

Wohin. Damit?

Das Zellophanpapier knisterte dicht an ihrem Ohr. Sie drehte den Schlüssel zweimal im Schloss. Eine Vase, natürlich, sagte sie sich, ganz einfach. Sie hatte sechs oder sieben Stück, im Regal über dem Spülbecken, verschiedene Größen, verschiedene Formen. Doch auf dem Weg in die Küche blieb Tiziana stehen. Eine scheue Hoffnung: Vielleicht war der Strauß ja gar nicht von ihm? Aber da war der Barhocker.

Von. Wem. Sonst?

Warum hatte sie den Strauß bloß in die Wohnung genommen? Sie hätte ihn ignorieren sollen, stehen lassen im Korridor, als handle es sich um ein Versehen, falsche Adresse, falsche Tür! Sie hätte das Briefchen, das um die Stiele gebunden war, abreißen und fortwerfen sollen. Dann die Blumen vor eine beliebige Nachbarstür stellen. Sollte doch jemand anderes schlau werden aus Ulrich Vanderhoff und seinen romantischen Einfällen!

Zu. Spät.

Tiziana kannte sich. Waren die Blumen einmal in ihrer Obhut, war sie dafür zuständig. Sie war nicht schnell genug. Wieder mal. Da lagen sie in ihrem Arm, die wundervollen Rosen, verströmten ihren herrlichen Duft. Es passte zu Ulrich. Hatte ihr nicht seine Extravaganz von Anfang an gefallen? Sein Übermut? Einen Kurier hätte Tiziana abwehren können. «Nein danke», hätte sie zu dem gesagt, «Lieferung abgelehnt, zurück zum Absender!»

Nein, das hätte sie nicht.

Sie wäre dagestanden in der Tür, überrascht und erfreut. Der Kurier hätte gestrahlt über beide Ohren, zu spät wäre der Widerwille in ihr aufgekommen, zu spät hätte sie sich gewehrt, zu spät, wie immer.

Stottern. Im. Denken.

Stottern. Im. Handeln.

Wort für Wort blieb sie in ihren Gedanken hängen, musste neu ansetzen. Wenn sie sprach, sagte sie ihre Sätze problemlos in einem Zug. Doch es kam ihr immer vor wie Zufall, als sei sie nur versehentlich richtig durch den Satz gekommen.

Tiziana legte den Strauß auf den Esstisch, atmete tief durch. Sie zählte die prächtigen Köpfe. Fünfundzwanzig Stück. Die Blüten fast so groß wie Äpfel, sattes, leuchtendes Karminrot. Die Stiele waren zusammengebunden mit einem Seidenband, daran ein kleiner Briefumschlag. Tiziana wusste jetzt schon um die schwungvolle, elegante Schrift, die sie gleich vorfinden würde.

Seine. Hand. Schrift.

Seine Anweisungen auf gelben Post-its. Seine Liebesbriefe. Manchmal zwei an einem Tag. Dann auf einmal gar keine mehr.

Als Anrede würde nicht ihr Name stehen, sondern das Kosewort, das er ihr damals im Bett zum ersten Mal zugeflüstert hatte. Erst wusste sie nicht, ob sie ihn auch wirklich lieben sollte, den Kosenamen, den sie seither nicht mehr gehört hatte aus seinem Mund, weil es vorbei war mit Liebkosen.

Er setzte stets an mit einem Schnörkel, ein launiger Anlauf. Dann lebhaft nach rechts ins M, nahtlos der dreifache Schwung von i und c und wieder i, das n eine Welle, ein Kringel rückwärts in das a zum Schluss, ein Schlaufenschwanz, der sich aufwarf zu einem letzten Kringel.

Tiziana löste den Umschlag ab, drehte ihn um.

Micina

Auch dafür hatte sie ihn geliebt: dass er wusste um das Närrische im Ernst des Schmusens.

Micina – sein Kätzchen war sie.

Und Tiziana kam es so vor, als hebe die Tintenschlaufe vom Papier ab, recke sich wie eine Schlange nach ihr, schlinge sich um ihren Hals, um sie zu würgen, wie seine warmen Finger.

«Wieso nennst du mich so?», hatte sie ihn damals im Bett gefragt.

«Nenn ich dich wie?»

«Ist es denn ein … Kosename?»

«Ein Liebkosename, Micina», flüsterte er und fuhr mit den Fingern ihren Nasenrücken entlang, von der Spitze Richtung Stirn. Wo sich ihre Nase in die Augenbrauen teilte, trennten sich seine Finger, streichelten gespreizt den schwarzen Brauen nach.

«Mein Katzengesichtchen», hatte Ulrich gesagt.

Aus der Kommode holte Tiziana den Brieföffner. Sie hielt inne, legte den Umschlag nochmals auf den Esstisch. Ihr Blick wollte sich in eine Ferne richten, die es in der Wohnung nicht gab. Sie schüttelte den Kopf. Ihr war nach Cognac, aber unter der Woche trank sie nun einmal nicht.

Sie nahm den Briefumschlag und ging hinüber ins Wohnzimmer. Sie setzte sich aufs Sofa, ein Polstermöbel mit grünem Plüschbezug. Tiziana hasste dieses Erbstück ihrer Eltern, das sie sich von ihrer Mutter hatte aufschwatzen lassen. Zur Besänftigung ihres schlechten Gewissens, für das es keinen Anlass gab. Für ihr kleines Wohnzimmer hier war das Stück jedenfalls zu groß.

In ihrer Kindheit hatte es im Nähzimmer der Mutter gestanden, im Haus in Sizilien, in Rosolini. Aber die Mutter hatte in diesem Zimmer nicht genäht. Sie hatte Leute empfangen. Und dazu ohne Unterlass geraucht, man hörte schon vor der Tür das Knacken, wie sie auf dem Zigarettenhalter herumkaute, tack, knack, tack. Sie kannte die wichtigen Leute der Insel, schrieb unzählige Briefe an ihrem kleinen Schreibtisch und wenn sie nicht rauchend schrieb, telefonierte sie rauchend.

Später wurde das Sofa dann ins Arbeitszimmer des Vaters gestellt. Er konnte es gut gebrauchen für seinen Mittagsschlaf, der fiel während des sizilianischen Sommers manchmal länger aus. Nasu Friddu wurde der Vater von allen genannt, die kalte Nase, weil sie ihm ständig lief. Er war einfach immer verschnupft. Ihm gefiel der Name, er war damit völlig im Reinen. Das hatte Tiziana nie verstanden.

Der dunkle Fleck auf dem Sofapolster aber, der stammte nicht vom Rotz des Vaters. Das war eine andere Geschichte. Tiziana hatte das Polster umgedreht. Diese Sorte Flecken ließ sich nicht reinigen.

Tiziana öffnete Ulrichs Umschlag mit zittrigen Fingern. Auf dem Grußkärtchen war eine Katze, wie üblich, weiß, anmutig, auf einem Podest mitten in den Fontänen eines Springbrunnens.

Meine liebste Micina

Ich war ein Narr. Und bin ein Narr!

Alles werde ich Dir erklären und alles, alles soll sich ändern.

Lass es uns versuchen. Ich darf Dich anrufen?

Bis dahin in Liebe Dich umarmend,

Ulrich

Tiziana wollte lächeln. Stattdessen schloss sich ein Schleier von Tränen vor ihren Augen, sie presste die Hand vor den Mund, dahinter trennten sich die Lippen zu einem lautlosen Schrei, sie biss sich heftig auf einen Finger, ohne es zu spüren.

Nicht. Doch.

Wimmern zwischen den Zähnen. Tiziana ließ das Kärtchen zerknüllt auf den Glastisch fallen. Sie wollte aufstehen, doch die Knie gaben nach. Also begann sie, das Kärtchen mit dem Fingernagel wieder glatt zu streichen. In den Augenwinkeln sammelte sich feuchte Wimperntusche.

Sie war ihn doch losgeworden, sie war doch endlich über ihn hinweg! War es ihr denn nicht auf einmal ganz leicht gefallen? Nach allem, was sie über Ulrich erfahren hatte? Das ganze letzte Wochenende über hatte sie nicht ein einziges Mal an ihn gedacht. Das erste Wochenende seit einer Ewigkeit, das allein ihr gehört hatte, ihre Luft, die sie atmete, ihre Schritte, die sie ging.

Ruhig Blut, sagte sich Tiziana, ruhig Blut. Ihre plötzliche Ablehnung hatte Ulrich aufmerken lassen, so waren die Männer.

War nicht alles an ihm gewöhnlich? Obwohl es gerade nach Abenteuer aussah? Nach Pferde stehlen? Nach viel mehr noch als Pferde stehlen? Alles, was ihr gefallen hatte, weil es aus dem Rahmen fiel – war es nicht in Wirklichkeit banal? Theater? Hochstapelei?

Gerade noch hatte es sich angefühlt, als hätte sie sich endlich aus seinem Widerhaken gelöst. Tiziana hielt sich an Abmachungen und sie hatte mit sich selbst eine getroffen: Unter keinen Umständen würde sie an sich zweifeln. Unter keinen Umständen würde sie sich nochmals von ihm um den Finger wickeln lassen! Sie hatte sich gerettet, hatte sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Es hatte nur diese eine Entdeckung gebraucht, eine Entdeckung zu viel in der unerschöpflichen, grausamen Wundertüte Ulrich Vanderhoff.

Was hatte er jetzt vor mit ihr? Und wenn es ihm diesmal ernst war? Sie freute sich so sehr über die Blumen.

Das. Durfte. Sie. Nicht.

Doch die Freude stieg von den Sohlen durch ihren Körper, ein wohlig warmes Glück mitten drin.

Sie stand auf und zog die Gardinen zu, als ginge in ihrer Wohnung etwas vor, was auch vor einem zufälligen Blick zu verbergen war. Nun ging sie doch in die Küche und schenkte sich ein Glas Cognac ein. Auch das Brennen in ihrem Rachen konnte nichts ausrichten gegen ihre Verzweiflung. Noch weniger gegen ihre Freude.

Sie nahm das Glas mit ins Wohnzimmer. Schrecklich müde war sie auf einmal. Sie ließ sich von Neuem aufs Sofa fallen, verschüttete einen Schluck Cognac auf dem Polster. Sie nahm nochmals das zerknitterte Kärtchen zur Hand. Sie spürte eine Träne über ihre Wange laufen, dann eine zweite. Mit dem Zeigefinger fuhr sie seinen Namen nach.

Vertraut. Verdammt. Vertraut.

«Nein, Ulrich», flüsterte Tiziana und spürte ihre Stimme brechen, «von uns beiden bist nicht du der Narr.»

III

An der Wand neben dem Kühlschrank hing ein Kalender, Tag um Tag zum Abreißen:

SONNTAG, 24. NOVEMBER 2024.

Den schickte ihr die Mutter immer zu Weihnachten. Das Jahr in 365Zetteln. Die hafteten auf einem Bild aus glänzendem Karton, Albert Anker, ein Bauernmädchen deckt den Tisch für die Geschwister. Ihre Mutter hatte immer schon eine subtile Art gehabt, ihr ein schlechtes Gewissen nahezulegen. Und Tiziana hatte eine subtile Art, es sich auch zu machen.

Sie riss den Datumzettel ab, zerknüllte ihn, wie vorhin Ulrichs Kärtchen.

MONTAG, 25. NOVEMBER 2024.

Jetzt war es fast ein Jahr her, dass Tiziana bei Meili & Wellington angestellt worden war. Sie musste lächeln. Mit ihrem vorherigen Arbeitsplatz hatte das Sekretariat der noblen Anwaltskanzlei weiß Gott nichts gemein.

Quin-Tech hatte die Firma geheißen, ihre allererste Stelle nach der Handelsschule, ein Start-up, das Computer-Zubehör herstellte. Bei Quin-Tech war sich Tiziana anfangs vorgekommen wie im falschen Film. Sie musste wohl der allerletzte Mensch auf dem Planeten sein, der kein Smartphone besaß, und ausgerechnet sie arbeitete nun also in einer Computer-Firma. Tatsächlich aber war es kein Problem. Sekretariatsarbeit fiel umso leichter, dachte sie manchmal, je weniger man davon verstand, was in einer Firma eigentlich gemacht wurde. Wie unbeschwert, wie einfach doch damals alles gewesen war.

Auf der dritten Etage eines renovierungsbedürftigen Bürogebäudes in Zürich-Oerlikon hatten sich die fünf jungen Informatiker eingenistet und brüteten bis tief in die Nacht über ihren Entwicklungen. Die Jungs waren schweigsam und scheu. Klaus-Peter Humm, den sie alle Klaupe nannten und der sein Büro gleich neben Tizianas improvisierter Empfangstheke hatte, war der Einzige, der sie morgens grüßte. Dass er ein wenig in sie verliebt war, hatte sie bald gemerkt. Und wie immer interessierte so etwas Tiziana nicht.

In den ersten Tagen bestand ihre Hauptaufgabe bei Quin-Tech darin, Tastaturen von Krümeln zu befreien, Kaffeeflecken zu reinigen, Staubsaugen, Teppichfegen, Fliesenwischen. Als sie die Stelle angetreten hatte, brachte man kaum die Etagentür auf: Stapel von Altpapier, Pizzakartons, Lunchboxen, Multipacks von Kaffeebohnen und Coca-Cola versperrten den Eingang, alles getragen von einem Fundament aus leeren Red-Bull-Dosen und Dutzenden Ausgaben von PC Gamer Magazine. Als Tiziana den Müllberg abtrug, die ungeöffnete Post bearbeitete und jedem der fünf Mitarbeiter ein Paar Hausschuhe mitbrachte, wurde ihr gesagt, sie werde hier nicht für Bemutterung bezahlt.

Das war schon richtig: Zunächst einmal wurde sie nämlich überhaupt nicht bezahlt. Als sie nachfragte, wer für die Buchhaltung zuständig sei, sagte man ihr: «Darum kümmern wir uns, sobald wir Geld verdienen.»

Also trug Tiziana alles Nötige zusammen, sichtete Kontobelege und Verträge, legte Ordner an, ließ sich Zugangsdaten geben, Vollmachten unterschreiben. Nebst der dürftigen Ordnung, für die sie im Gewühl der fünf Tüftler sorgte, der Beantwortung einer Handvoll Telefonate am Tag und der Betreuung der schmalen Firmenagenda war sie von nun an auch verantwortlich für das Rinnsal des Finanzverkehrs.

Richtig anstrengend war ihr das alles damals vorgekommen. Im Rückblick erschien ihr die Arbeit bei Quin-Tech verglichen mit der Stelle bei Meili & Wellington als reines Zuckerschlecken.

Tiziana war noch ein junges Mädchen, als sie sich geschworen hatte, so rasch wie möglich die Handelsschule abzuschließen und das Elternhaus zu verlassen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Auf Schwierigkeiten war sie gefasst, doch sie hatte sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen. Sie zog in eine Wohnung an der Clausiusstraße im Hochschulquartier von Zürich. Nach der Arbeit ging sie auf dem Heimweg an der Scheuchzerstraße bei Delikatessen Doring vorbei, wurde Stammkundin im Quartierladen. Dorings charmant ungehobelte Art gefiel ihr, sie mochte den älteren Herrn mit seinem unordentlichen Kinnbart und die weiß-grün gestreiften Schürzen der Angestellten. Sie wählte aus der gut sortierten Gemüseauslage, kaufte ein fürs Abendessen und genoss beim Gemüseschneiden an ihrem Küchentisch die Einsamkeit ihres eigenen Reichs. Manchmal legte sie eine CD auf. Mazurken und Nocturnes von Chopin.

Tiziana sorgte dafür, dass der Hauptsitz von Quin-Tech rasch zu einem recht hübschen Arbeitsplatz wurde. Den Hausmeister des Büroblocks fragte sie, ob er nicht auf der Etage einiges in Ordnung bringen könnte.

«Wie würdest du es mir denn verdanken, Schätzchen?», grinste der Mann hinter seinem Schnurrbart hervor.

Tiziana überschlug im Kopf, was Ende des Monats übrigblieb, legte in Gedanken ein Zubrot aus ihrem eigenen Einkommen drauf und versprach 30Franken die Stunde. Der Hausmeister bot seine Hand an. Tiziana drückte sie.

«Heiland!», rief der Hausmeister und riss die Hand zurück, «du brichst mir ja die Knochen!»

Als erstes wurde die Klingel repariert, die hatte geklungen wie ein rostiges Glockenspiel. Der schmutzige Teppich wurde durch Laminat ersetzt, den es gerade im Angebot gab, und entlang der Wand wurden Sockelleisten montiert.

«Haben Sie auch vom günstigsten Holz genommen?», fragte Tiziana.

«Mahagoni wird für Sockelleisten nicht verwendet», sagte der Hausmeister, «zumindest nicht da, wo ich einkaufe.»

Tiziana besorgte schöne Messing-Türklinken vom Flohmarkt, die hatten etwas an sich. Und der Hausmeister trieb einen alten CD-Spieler und Lautsprecher auf.

«Wenn du willst, kann ich das installieren, ich schenk ihn dir für ein Küsschen.»

«Ich zahle 30Franken die Stunde», sagte Tiziana.

Von da an erklang dezent Chopin im Gang. Sogar ein Messingschild erhielt die dritte Etage des heruntergekommenen Hauses. Am Empfang wechselten die Jahreszeiten, Schlüsselblumen im Frühling, leuchtender Mohn im Sommer, Dahlien im Herbst, Weihnachtssterne im Advent. Nebendran stand ein Eisvogel aus Glas, im Sturzflug stieß er mit dem Schnabel durch einen preußischblauen Wasserspiegel.