Tochter der Flut - Jake Halpern - E-Book

Tochter der Flut E-Book

Jake Halpern

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Beschreibung

Wenn auf Marins Insel nach 14 Jahren Tag die endlose Nacht hereinbricht, muss ihr Volk fliehen. Denn die eisige Dunkelheit überlebt niemand. Doch Marin und ihr Freund Line verpassen die rettenden Boote. Und das nur, weil Line den Anhänger gesucht hat, den sie verloren hatte. Angeblich verloren. Und so wird ihr Schweigen zur Zerreißprobe ihrer Liebe. Und zum Beginn eines knallharten Überlebenskampfes …

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2017Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH© 2017 Ravensburger BuchverlagOtto Maier GmbH, RavensburgDie Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Nightfall bei G. P. PUTNAM’S SONS, einem Imprint von Penguin Random House LLC 375 Hudson Street, New York, NY 10014Copyright © 2015 by Jake Halpern and Peter KujawinskiUmschlaggestaltung: Carolin Liepins unter Verwendung von Bildern von © sunlight77/Shutterstock; © Watchada/Shutterstock; © BestPhotoStudio/ShutterstockAus dem amerikanischen Englischvon Wolfram StröleAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH, Postfach 1860, D-88188 Ravensburg.ISBN978-3-473-47850-7www.ravensburger.de

FÜR SEBASTIAN UND LUCIAN, IHR SEID DIE SONNE MEINES LEBENSJ. H.FÜR BLAZE, ALINA UND SYLVIE – MÖGT IHR KLAR SEHEN UND MUTIG AUFSCHREIBEN, WAS IHR SEHTP. K.

1

Marin ging in den Wind hinein und spürte, wie er sie sanft zurückdrückte. Die Kante der Steilküste war nur noch wenige Schritte entfernt. Ihr Blick war auf die stachlig grünen Disteln gerichtet, die unter ihren Füßen knirschten. Was würde in den Jahren der Nacht mit ihnen geschehen? Verwelkten sie und starben ab oder fielen sie in eine Art Ruhezustand, bis sich die ersten Sonnenstrahlen wieder am Horizont zeigten? Marin hatte ein paar Leute gefragt, die das alles schon einmal erlebt hatten, aber sie hatten nicht darüber sprechen wollen. Niemand sprach über die Nacht, nicht einmal jetzt, wo sie unmittelbar bevorstand.

Kurz vor dem Abgrund blieb sie stehen. Das Wasser tief unten war dunkel, fast schwarz, und erstreckte sich wie eine flüssige Version des Himmels bis in alle Ferne. Als die Sonne im vergangenen Jahr immer tiefer gesunken war, hatte sich die Farbe des Meers geändert: Das Blaugrün war einem leuchtenden Blau gewichen und anschließend immer dunkler geworden. Das Leuchten konnte man noch erahnen, aber es erzeugte einen Schauer statt eines Lächelns.

Marin sog die kalte Seeluft tief in ihre Lunge. Wenn die Sonne verschwand, würde es noch kälter werden. Alles würde gefrieren – zumindest hatte sie das so in der Schule gehört. Aber dann waren sie und die anderen schon längst aus Bliss abgereist. Nur die Häuser standen dann noch da, stumm und leer und im Eis eingeschlossen.

Der Wind wehte ihr das gewellte schwarze Haar ins Gesicht. Sie war kleiner als die anderen Mädchen ihres Alters, aber stärker als die meisten. Ihre langen Arme und Beine waren muskulös, eine Folge des jahrelangen Kletterns, Wanderns und Segelns. Sie hatte honigfarbene Augen, lange Wimpern und eine bronzefarbene Haut – eine attraktive Mischung, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Dagegen waren ihre Kleider einfach und funktionell: gewachste Leinenhosen, eine Bluse aus grober Baumwolle und Lederstiefel.

»Hat die Ebbe schon eingesetzt?«, fragte plötzlich eine Stimme.

Erschrocken fuhr Marin herum. Sie hatte auf ihren Freund Line gewartet, doch hinter ihr stand jemand anders: Palan, ein schmächtiger Mann mit papierdünner Haut und einem kahlen, mit braunen Flecken übersäten Schädel. Palan hatte schon mehrere Sonnenaufgänge erlebt, seine Haut zeugte davon. Sein kobaltblaues Gewand wehte im Wind und darunter war sein linker Arm zu sehen, der unmittelbar über dem Handgelenk in einem Stumpf endete.

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Marin. »Was meinst du?«

Der Alte blickte mit seinen wässrigen Augen an Marin vorbei über das Meer. »Das ist mein vierter Abend«, sagte er leise und zog den dicken Wollschal fester um den Hals. »Die Sonne scheint mit den Jahren immer schneller zu werden.«

Marin folgte seinem Blick. Die Sonne war schon fast hinter dem Horizont verschwunden, nur ein kleiner Streifen war noch zu sehen. Der ganze Himmel glühte in prächtigen Orange- und Rottönen. Es fehlte nicht viel, und die Sonne würde vollends verschwinden. Dann versank die Insel für die nächsten vierzehn Jahre im Dunkel der Nacht.

Bald war es so weit, hieß es. Ihnen blieben vielleicht noch ein paar Tage. Für Marin klang das ein wenig nach Weltuntergang und sie konnte es immer noch nicht so richtig glauben.

Palan seufzte. »Es macht mich traurig, dass ich die Insel nie wieder sehen werde. Wenn ich diesmal gehe, werde ich vermutlich nicht mehr zurückkehren.«

Marin berührte ihn am Arm. Er wandte sich vom Meer ab, blickte landeinwärts und nahm ihre Hand. »Ich habe gehört, wie sich im Wald etwas bewegt«, flüsterte er.

»Was denn?«, fragte Marin. War Palan vielleicht nicht mehr ganz klar im Kopf?

Palan packte ihre Hand fester, antwortete aber nicht.

In einiger Entfernung hörten sie jemanden rufen.

»Marin!«

Sie hoben den Kopf und sahen einen Jungen näher kommen. Es war Line. Wenn Palan nicht da gewesen wäre, wäre Marin ihm entgegengerannt. So winkte sie nur zurück.

Als Line vor ihnen stand, wirkte er verwirrt. Palan betrachtete die beiden, hob die Augenbrauen und lächelte.

Line sah Marin an und seine dunkelbraunen Augen funkelten. Er war gut aussehend wie nur wenige Vierzehnjährige – groß und breitschultrig, mit einem wilden Schopf rotbrauner Haare, hohen Wangenknochen und einem Kinngrübchen.

»Ältester Palan«, sagte er, »gibt es Nachricht von den Schiffen?« Eine Bö drückte ihm die lockigen Haare an die Stirn.

Palan straffte sich, als hätte ihn die ehrenvolle Anrede »Ältester« an seinen Rang erinnert. »Ich habe leider nichts gehört, mein Junge. Aber ich bin wegen etwas anderem hier. Kommt, dann zeige ich es euch.«

Er trat an den Rand der Klippe und streckte den Arm aus. Marin und Line stellten sich neben ihn und spähten in die Tiefe. Die Felswand lag im Dunkeln, aber sie konnten trotzdem einige dicke weiße Adern erkennen, die an ihr herabliefen wie das erstarrte Wachs einer riesigen Kerze.

»Das ist Eis«, sagte Palan. Am Rand der Klippe war es kälter und seine Schultern begannen zu zittern. »Mein Vater ist mit mir hierhergekommen, als ich ein kleiner Junge war. Hier fängt das Eis immer an. Es drückt sich aus dem Felsen und breitet sich aus, bis es alles bedeckt.« Marin und Line standen dicht beieinander und Lines Finger streiften ihre.

Palan beugte sich noch einige Zentimeter nach vorn. »Irgendwo da unten ist die Hexe.« Seine Stimme klang heiser. »Manchmal sieht man sie hinter der Brandung.«

Er trat wieder einen Schritt zurück und lächelte versonnen wie über eine besonders schöne Erinnerung. Marin und Line blickten zum Wasser hinunter. Es sah genauso aus wie bisher. Palan sprach oft in Rätseln, was für Menschen in seinem Alter nicht ungewöhnlich war.

»Das Eis würde ich mir gern genauer ansehen«, sagte Line. Er nahm ein aufgerolltes Seil von der Schulter und schob die Ärmel seines Pullovers hinauf. Seine Arme waren vom jahrelangen Klettern gebräunt und muskulös.

»Wie du willst«, sagte Palan. »Aber pass auf! Eis ist viel glatter als Stein.«

Von einer plötzlichen Ungeduld erfasst, verabschiedeten sich die beiden von Palan und er kehrte schlurfend ins Dorf zurück.

Line entrollte das Seil und befestigte es an einem kleinen, in den Felsen eingelassenen Messingring. Marin und Line kletterten schon ihr ganzes Leben in den Klippen, die die Insel säumten, und seit Kurzem waren sie dabei nur noch zu zweit, ohne Begleitung. Das wurde im Dorf zwar nicht gern gesehen, aber im Moment war man dort mit anderen Dingen beschäftigt.

Sie vergewisserten sich noch einmal, dass sie sicher am Seil befestigt waren. Marin betrachtete Line prüfend und steckte ihm eine Locke hinters Ohr, damit sie ihm nicht in die Augen hing.

»Du hast dich verspätet«, sagte sie mit einem Stirnrunzeln, als sei sie ihm deshalb böse.

»Aber nur eine oder zwei Minuten.« Er grinste und schüttelte den Kopf, sodass die Haare ihm wieder in die Augen fielen. »Soll nie wieder vorkommen.«

Sie kletterten nach unten, bis sie die Gischt an den Beinen spürten. Die Strahlen der untergehenden Sonne drangen nicht mehr bis in die Tiefe und es war dort dunkler, als sie erwartet hatten, doch die Adern des Eises leuchteten durch das trübe Licht.

Line kletterte noch ein wenig tiefer, bis die Gischt seine schwere Leinenhose und den Wollpullover durchnässte. Marin hörte ihn überrascht etwas murmeln.

»Was ist?«, rief sie.

Line hob den Kopf. Sie stand auf einem kleinen Felsvorsprung zwei Körperlängen über ihm. »Die Ebbe hat eingesetzt.«

»Gerade eben?«

Marin kletterte zu ihm hinunter, um besser sehen zu können.

»Stimmt«, sagte sie. »Dort sieht man es.« Sie zeigte auf einen schmalen weißen Rand, der sich unterhalb ihrer Füße über den Felsen zog.

Line nickte. »Das getrocknete Salz markiert den Stand des Wassers.«

Sie drückten sich an den Felsen. Endlich geschah, was sie so lange erwartet hatten. In den vierzehn Jahren des Tages war ihre Insel ständig von Hochwasser umgeben. Doch dann, kurz bevor die Sonne verschwand, setzte plötzlich die Ebbe ein. Das Wasser zog sich rasend schnell Hunderte von Kilometern zurück, und dort, wo einst Wellen getobt hatten, war nur noch der Meeresboden zu sehen. Und das Meer blieb weg, bis es bei Sonnenaufgang rund vierzehn Jahre später genauso schnell zurückkehrte. Für die Inselbewohner, die sich nach den Gezeiten richteten, war dieser Ablauf entscheidend. Wenn die Ebbe einsetzte, mussten sie die Insel innerhalb weniger Tage verlassen.

»Ob die anderen es schon wissen?«, fragte Marin.

»Die Okrana bestimmt.« Line drückte sich fröstelnd an den Felsen. »Wir sollten gehen.«

Als er gerade wieder hinaufklettern wollte, sah Marin etwas Braungrünes aus dem schäumenden Wasser ragen.

»Line!«, rief sie. Ihre Stimme hob sich schrill von den dumpfen Schlägen der Brandung ab.

Line hielt an. Er hatte den Fuß in eine schmale Spalte gesteckt und klammerte sich mit einer Hand an einem kleinen Felsvorsprung fest. Vorsichtig lehnte er sich von der Wand weg, blickte nach unten und hielt sich mit seinem freien Arm und Bein im Gleichgewicht. Für Marin sah es aus, als klebte er mit einer Hand und einem Fuß am Felsen. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Angeber!

»Was ist denn?«, fragte er, als könnte ihn nichts erschüttern.

»Komm und sieh es dir an!« Marins Augen funkelten aufgeregt. »Da ist was im Wasser.«

Line kletterte zu ihrem Sims hinunter und folgte ihrem Blick. IndennächstenMinutenbeobachtetensie,wieausdemablaufenden Wasser nach und nach eine menschliche Gestalt auftauchte. Sie ragte in einem merkwürdig schiefen Winkel aus dem Wasser, aber sie konnten trotzdem erkennen, dass es sich um die Statue einer Frau handelte. Der Kopf war nicht im Detail ausgeführt und dennoch überraschend ausdrucksvoll. Der Mund war wie zu einem entsetzten Schrei aufgerissen. Die Statue war groß – drei- bis viermal so groß wie ein durchschnittlicher Mensch.

»Palans Hexe«, flüsterte Line.

Das Wasser sank stetig und schon bald konnten sie den Oberkörper der Frau sehen. Sie hielt einen Schild und trug einen einfachen Umhang, den sie fest um den hageren, muskulösen Körper gewickelt hatte.

»Da steht etwas!«, rief Marin. »Auf dem Schild!«

Atemlos warteten sie ab, bis im Tal einer besonders großen Welle Worte in riesigen Buchstaben sichtbar wurden: DIE HÄUSER MÜSSEN OHNE MAKEL SEIN.

Marin unterdrückte ihr Unbehagen. Ruinen mit bröckelnden Fundamenten, geborstenen Pfeilern und alten Mauern gab es auf der Insel im Überfluss. Auch diese Statue war nur ein Relikt vergangener Zeiten, eine Hinterlassenschaft der Menschen, die früher hier gelebt hatten. Trotzdem klangen die Worte seltsam passend. Die Häuser müssen ohne Makel sein. Mit Beginn der Ebbe waren alle im Dorf damit beschäftigt, ihre Häuser zu putzen. Es war ein ehernes Gesetz – die letzte Aufgabe vor der Abreise.

»Warum steht die Statue hier, im Meer?«, fragte Marin.

Line schwieg. »Merkwürdig«, sagte er schließlich. »Sie sieht sehr alt aus.« Er runzelte die Stirn, als wäre ihm ein unangenehmer Gedanke gekommen, dann sah er Marin an. »Lass uns wieder raufklettern, okay?«

»Was ist?«, fragte Marin. Ihre Gesichter und Haare glänzten feucht.

Line lächelte, aber es wirkte gezwungen. »Nichts, mir ist nur kalt.«

»Okay, gehen wir.« Sie nickte. Line war eigentlich mehr der Freund ihres Bruders und sie kannte ihn noch nicht so gut. Sie begannen, die dunkle Felswand hinaufzuklettern. Marin wollte Line gerade sagen, er solle sich beeilen, da rutschte er mit dem Fuß ab. Sie erschrak – wenn sie sich nicht mit ihrem ganzen Gewicht an das Sicherungsseil gehängt hätte, wäre er abgestürzt. Dabei war er einer der besten Kletterer von ganz Bliss. Er war noch nie abgerutscht.

»Was ist passiert?«, rief sie.

»Eis«, sagte Line. Es klang fast wie ein Fluch. »Es sitzt in den Spalten.«

Sie kletterten hinauf, so schnell sie konnten – zurück zur Sonne.

2

Ein großer Teil der Insel lag zwar schon im Schatten, aber an einigen Stellen schien noch die Sonne. Dazu gehörte auch der Weg, derinsDorfzurückführte.ErzogsichaneinemHangentlang,der auf die sinkenden Sonne zulief, und auf ihm war alles hell erleuchtet – von den dunkelroten Kieseln auf dem Boden bis zu den letzten schwankenden Gras- und Getreidehalmen.

Nach der Kletterpartie in der Kälte kamen Marin sogar die letzten Strahlen warm vor. Sie musste an das ferne Wüstenland denken und an ihre Mutter, die dort geboren war. Die unerwartete Begegnung mit dem Eis und die Kälte, die es ausgestrahlt hatte,stecktenihrnochindenKnochen.DerSonneinsWüstenland zu folgen, kam ihr plötzlich gar nicht mehr so schlimm vor.

»Im Dorf herrscht jetzt sicher Chaos«, sagte Line. Sie gingen einen Hang hinauf, der mit duftenden, blau getönten Büschen gesprenkelt war.

Er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern, als ärgerte ihn das. »Das reinste Chaos.«

Marin runzelte die Stirn und versuchte sich auszumalen, wie in ihrem ordentlichen Dorf alles drunter und drüber ging. »Die Briefe werden doch verteilt, wenn die Ebbe einsetzt, richtig?«

Line nickte. »Bestimmt tun sie das gerade. Und dann wird alles dichtgemacht: die Märkte, die Schule und sogar der Speicher mit der Weizenernte vom Herbst.«

Marin nickte nachdenklich. »Ich dachte, wir hätten noch mindestens zwei Wochen.« Sie verstummte kurz, dann fügte sie hinzu: »Das heißt, dass wir eben wahrscheinlich zum letzten Mal gemeinsam geklettert sind.«

Line seufzte und hoffte, dass es nicht stimmte.

»Ich habe schon damit gerechnet«, sagte er und warf einen flüchtigen Blick aufs Wasser. »Jeder, der auf dem Meer unterwegs ist, konnte sehen, dass die Ebbe bald einsetzen würde. Keine Ahnung, warum unser Dorfvorsteher diesen dummen Mondkalender verwendet.«

Sie mussten hintereinander gehen, weil der Weg schmaler wurde. Marin beschleunigte ihre Schritte, um mit Line mithalten zu können und damit ihr wärmer wurde. War ihr vom Klettern kalt oder hatte der Wind aufgefrischt? Vermutlich beides. Der Weg wurde wieder breiter und Line ging wieder neben Marin. Sie sah ihn nicht an, spürte aber seine Nähe.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie leise.

Line massierte sich die Handflächen, die vom Klettern schmerzten.

»Hm, der Unterricht für die Kinder wird mit Beginn der Ebbe eingestellt – ich muss mich also um Francis kümmern. Ich würde auch gern noch Pilze sammeln. Vielleicht finde ich ja sogar ein wenig Lekar.«

»So kurz vor Einbruch der Nacht?«, fragte Marin.

»Ja. Francis und ich könnten das zusätzliche Geld wirklich gut gebrauchen.«

Line lebte mit seinem jüngeren Bruder zusammen. Ihr Vater war kurz nach Francis’ Geburt gestorben und vor etwa zwei Jahren war ihre Mutter plötzlich erkrankt und ebenfalls gestorben. Der Arzt hatte von einer Lungenentzündung gesprochen, einer Krankheit, die meist mit der Abenddämmerung kam. Danach hatten die beiden Jungen eine Zeit lang bei ihrem Onkel gelebt, aber das war nicht gutgegangen. Der Onkel war meist schlecht gelaunt und betrunken gewesen. Seit über einem Jahr lebten der vierzehnjährige Line und der siebenjährige Francis allein. Das war, gelinde gesagt, ungewöhnlich, aber sie kamen zurecht.

Jetzt riss Line ein Büschel abgestorbener Getreidehalme aus dem Boden und zupfte sie auseinander. Er warf Marin einen Seitenblick zu. »Ich muss noch so viel tun. Das Haus habe ich auch noch nicht richtig aufgeräumt.«

Marin sah ihn erschrocken an. Ihre Familie tat seit Wochen nichts anderes. Lines Haus war zwar viel kleiner, aber trotzdem.

»Ich helfe dir«, sagte sie rasch.

Jetzt war es an Line, sie überrascht anzusehen. »Wirklich? Und wenn deine Eltern das herausfinden?«

»Sei nicht albern«, erwiderte sie. »Ich helfe dir ja nur ein bisschen, mehr nicht.«

Sie war auf einmal verlegen. Ob Line es merkte? Zum Glück waren sie gerade auf einer Hügelkuppe angekommen und stiegen auf der anderen Seite im Schatten hinunter. Natürlich hatte Line recht. Es war riskant, zu seinem Haus zu gehen. Marins Mutter Tarae mochte es nicht, wenn sie mit einem Jungen allein war – vor allem mit Line, der ohne Eltern lebte.

SiefolgtenweiterdemWeg,stiegeneinefelsigeAnhöhehinauf und genossen den Blick auf ihr Dorf, eine Ansammlung immergrüner Gärten, gepflegter Mauern und Fachwerkhäuser mit Schieferdächern.

Bliss war idyllisch gelegen. Es hatte rund fünfhundert Einwohner, aber von hier oben wirkte es sehr klein. Und verglichen mit dem undurchdringlichen Wald, der das Innere der Insel bedeckte, war es auch tatsächlich klein – eine Siedlung von gut hundert Häusern.

Plötzlich ertönte ein leises Bimmeln. Kurz darauf erschien ein Maultier, das einen Karren zog. Es war mit ein paar Dutzend silbernen Glöckchen behängt, die rhythmisch klingelten, während der Karren den Weg entlangrollte, der auf Bliss zuführte.

Auf dem Kutschbock hockte eine in einen schwarzen Mantel gehüllte Gestalt: der Dorfgeistliche, dessen Blick starr geradeaus gerichtet war. Auf dem Rücksitz saß eine zerbrechlich wirkende alte Frau mit einem Säugling auf dem Arm. Sie war das Oberhaupt einer Gruppe von Witwen, die zu ihrem Lebensunterhalt Fische schuppten, und behauptete, schon hundertsieben Jahre alt zu sein. Niemand wagte es, ihr zu widersprechen. Angesichts ihrer Hinfälligkeit wirkte es wie ein Wunder, dass sie überhaupt aufrecht sitzen und ein Baby halten konnte.

Marin und Line blieben abrupt stehen. Dieser sogenannte Zug des Lebens und des Todes wurde traditionell immer zum Gezeitenwechsel veranstaltet. Und weil es ihr erster Sonnenuntergang war, erlebten sie ihn auch zum ersten Mal. Sie ließen den Karren an sich vorbeifahren und sahen ihm nach.

Das Bimmeln der Glöckchen wurde leiser, doch statt Stille hörten sie jetzt ein schrilles Kreischen. Es klang nicht nach einem Menschen, ging ihnen aber trotzdem durch Mark und Bein.

»Was ist das?«, fragte Marin und hielt sich die Ohren zu. »Davon bekomme ich ja eine Gänsehaut.«

»Sie schlachten die Schweine für die Reise«, sagte Line. »Es geht alles schneller, als ich dachte. Wir müssen uns beeilen.«

3

Sie folgten einem gewundenen Ziegenpfad, der durch die verlassenen Felder um Bliss führte. Aufgrund der tief stehenden Sonne und der zunehmenden Kälte wuchs auf dem einst fruchtbaren Ackerboden nicht mehr viel. Auf ein paar Feldern konnte zwar noch etwas angebaut werden, allerdings nur nährstoffarmer Winterweizen und verkümmerte Kartoffeln.

In den vergangenen Wochen waren auch die kaum noch zu finden gewesen, dafür wimmelte es auf den Feldern plötzlich vor Käfern, Milben und merkwürdig bissigen Würmern. Die Bewohner des Dorfes lebten deshalb hauptsächlich von ihren Vorräten und warteten auf die Schiffe, die sie nach Süden bringen sollten.

Line wohnte in einem kleinen Bauernhaus am Rand von Bliss, dessen Besonderheit runde Fenster mit getönten Scheiben waren. Erst dahinter begann das eigentliche Dorf. Dort standen die Häuser enger zusammen und waren die Straßen gepflastert.

Als sie sich Lines Zuhause näherten, sahen sie, dass der Fußgängerverkehr im Dorf dramatisch zugenommen hatte. In den sonst so ruhigen Gassen drängten sich aufgeregt schwatzende Menschen.

Plötzlich begannen Glöckchen zu bimmeln und die Leute hielten inne und starrten auf die Hauptstraße, die Bliss in zwei Hälften teilte. Der Zug des Lebens und des Todes war im Ort eingetroffen. Eltern zogen ihre Kinder an sich, andere murmelten mit abgewendeten Blicken ein Gebet.

Line wurde langsamer und runzelte die Stirn. »Was macht Kana da oben im Baum?«

Marin sah sich neugierig um, als sie den Namen ihres Bruders hörte. »Wo?«

Line zeigte auf einen kahlen Apfelbaum, der in der Nähe seinesHausesanderHauptstraßestand.AuchdieserBaumtrug wie die meisten seit fast einem Jahr keine Früchte mehr. Von der obersten Astgabel aus betrachtete ein schlanker, feingliedriger Junge das Schauspiel auf der Straße.

»Kana!«, rief Marin.

Der Junge zuckte zusammen, würdigte sie aber keines Blickes, sondern sah starr geradeaus.

»Kana!«

Wieder ignorierte er sie.

Kana war Marins Zwillingsbruder. Er war ungefähr so groß wie sie, doch während sie eine dunkle Haut und schwarze gewellte Haare hatte, waren bei ihm Haut und Haar nahezu weiß. »Vom Schnee geküsst«, wie man im Dorf sagte. Das einzige Körpermerkmal, das sie gemein hatten, waren die langen schwarzen Wimpern. Bei Marin verstärkten sie den Ausdruck ihrer Augen, bei Kana betonten sie deren ungewöhnliches Hellblau.

Bis vor Kurzem hatten diese Augen allerdings nicht recht funktioniert. Kana war blind geboren worden, zumindest hatte seine Familie das lange geglaubt. Doch mit zehn Jahren, als die Sonne bereits tiefer stand, begann er Umrisse und Schatten wahrzunehmen. Da er mit zusammengekniffenen Augen besser sehen konnte, hatte der Glasbläser des Dorfes ihm eine ungewöhnliche Brille gemacht: ein Drahtgestell mit zwei Augenklappen. Die Augenklappen hatten in der Mitte ein kleines Loch, durch das ein Lichtpünktchen fiel. Doch seit es im vergangenen Jahr immer dunkler geworden war, brauchte Kana selbst die Brille nicht mehr.

»Kana!«, rief Marin wieder. Diesmal klang sie richtig verärgert. Einige Dörfler, die in der Nähe standen, drehten sich nach ihr um.

Kana sah sie an und dabei wurde auch die andere Seite seines Gesichts sichtbar, über die vom rechten Wangenknochen bis zum Kinn eine gezackte Narbe lief. Er betrachtete Line und seine Schwester einen Moment lang ausdruckslos, dann wandte er sich wieder ab.

Line legte Marin eine Hand auf den Arm. »Dräng ihn nicht«, sagte er. »Er wird schon noch einlenken.«

Marin hob skeptisch die Augenbrauen.

»Komm«, sagte Line.

Francis wartete schon vor dem Haus, in dem er und Line wohnten.ErtrugeinengrünenOverall,eineWildlederweste undeinenJagdhutausgrauemFlanell.EswarenseineLieblingskleider und Line ließ sie ihn jeden Tag tragen – bis sie zu stark rochen. Als Francis Line sah, sprang er sofort auf und rannte ihm entgegen.LinefuhrihmdurchdiedickenbraunenHaare,dieeigentlichschonvorMonatenhättengeschnittenwerdenmüssen.

»Wartest du schon lange?«, fragte er.

Francis zuckte mit den Schultern. »Vorhin kamen ein paar Okrana und wollten dich sprechen.«

»Im Ernst?« Die Okrana waren die freiwilligen Ordnungshüter des Ortes. Sie patrouillierten an der Küste und hielten nach Dieben und Plünderern Ausschau, die in den Dörfern der Insel gelegentlich ihr Unwesen trieben. Bei den Übeltätern handelte es sich meist um Bauern, denen ihr bisheriges Leben langweilig geworden war, aber Bliss war bisher von ihnen verschont geblieben.

Die Okrana hatten Line in letzter Zeit öfter besucht und ihn gedrängt, zu packen und das Haus in Ordnung zu bringen. Line hielt ihre Ermahnungen für überflüssig. Marin war sich da nicht so sicher, hätte es aber nie gesagt.

»Sie haben mir etwas gegeben.« Francis steckte die Hand in die Hosentasche und zog einen zerknitterten Umschlag heraus. »Sie sagten, das sei für den Hausherrn. Was bedeutet das? Bist du der Hausherr?«

Line ging nicht darauf ein, sondern betrachtete den Umschlag. »Wahrscheinlich sind das die Briefe«, sagte er zu Marin. »Aber ich wollte vorher noch zur Bäckerei. Wir brauchen Brot.«

»Keine Sorge, wir haben genug bei uns zu Hause«, erwiderte Marin. »Meine Mutter hortet es. Lass uns den Umschlag aufmachen. Darf ich?«

»Warum nicht«, sagte Line.

Francis begann zu zappeln. Er konnte sich vor lauter Aufregung nicht mehr beherrschen.

»Ich mach das!«, rief er. Ungeschickt kratzte er an dem Siegel. Dabei riss das Papier an einigen Stellen ein. In seiner Ungeduld gab er den Umschlag schließlich Line, der ihn prompt an Marin weiterreichte.

Sie spürte das Gewicht des Umschlags in den Händen. Er war schwerer, als sie erwartet hatte. Vorsichtig zog sie zwei dünne Bögen Papier heraus. Der erste enthielt einen detaillierten Grundriss des Hauses, der zweite Anmerkungen dazu, wohin Teppiche, Möbel und Bilder kommen sollten.

»Was ist das?«, fragte sie und zeigte auf eine Wohnzimmerwand des Grundrisses. Sie war mit einem Pfeil gekennzeichnet und den Worten RATTE, SCHNAUZE und ZÄHNE.

Line überflog die beiden Blätter. Marin sah in den Umschlag und fand noch einen mit Grünspan überzogenen Schlüssel.

Francis betrachtete ihn mit großen Augen, griff danach und ließ ihn mit einem metallischen Klimpern fallen. Hastig bückte er sich und hob ihn auf.

»Darf ich den behalten?« Er sah Line erwartungsvoll an.

Line nahm Francis den Schlüssel ab und wendete ihn hin und her. »Später«, sagte er und steckte ihn ein. »Ich will ihn nicht verlieren, bevor ich weiß, was er aufschließt.«

Francis bedachte seinen Bruder mit einem bösen Blick und gab ihm einen Schubs. »Ich bin doch schon groß! Ich verliere ihn nicht!«

Line sah Marin an und lächelte. Francis behauptete mehrmals am Tag, groß genug für etwas zu sein. Es war sein Lieblingsspruch. Er packte den Kleinen und hob ihn hoch.

»Lass uns jetzt reingehen«, sagte Line. »Ich habe einen Mordshunger.«

Er öffnete die Tür, trug Francis hinein und stellte ihn wieder auf den Boden.

Marin blieb auf der Schwelle stehen und drehte sich noch einmal um. Der Zug des Lebens und des Todes beanspruchte immer noch die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner. Und Kana saß nicht länger im Baum.

Line kam zu ihr zurück und hielt ihr lächelnd die Tür auf. »Kommst du?«

Sie nickte, folgte ihm rasch nach drinnen und machte die Tür hinter sich zu.

4

Das Erdgeschoss von Lines Haus bestand aus einem einzigen großen Raum mit weiß getünchten Wänden, die im Schein der getönten Fensterscheiben schmutzig grün wirkten. Die Wände waren kahl, abgesehen von ein paar einfachen Pflöcken zum Aufhängen von Mänteln und Hüten.

Line zündete zwei Kerzen an, damit sie besser sehen konnten. Während der hellen Jahre des Spätvormittags und Mittags hatten die getönten Scheiben geholfen, das grelle Sonnenlicht zu dämpfen.JetzthingegenwaresimHaussodüster,dassFrancissichweigerte,esalleinzubetreten.Erhattedeshalblieberdraußengewartet.

Doch trotz des spärlichen Lichts sah man sofort, dass Line nochkaumetwasgepackthatte.DiefürdieLandwirtschaftbenötigten Geräte wie Spaten, Hacken und Eimer waren noch mit Erde verkrustet. In den Ecken des Raums hingen dicke Netze von Spinnen, die in den vergangenen, dunkleren Monaten aufgetaucht waren und einen seltsamen Eifer entwickelt hatten. Auf dem Küchentisch und den Arbeitsflächen stapelten sich Teller und Schüsseln mit den angetrockneten Resten der letzten Mahlzeiten. Stumme Zeugen des Schmutzes und der Verwahrlosung wareneineArmeevonSpielzeugsoldaten,dieaufjedemSimsund in jedem Winkel standen.

Mit einer ausschweifenden Handbewegung deutete Line auf dasChaos.»Ichhabevielleicht schon erwähnt, dass ich noch nicht gepackt und aufgeräumt habe.«

»Gut möglich«, antwortete Marin trocken. Es fühlte sich komisch an, in Lines Haus zu sein, ohne dass ein Erwachsener anwesend war. Aber Line lebte nun mal allein, ohne sich jemandem verantworten zu müssen.

Sie stellte sich einen Moment lang vor, wie es wäre, zusammen mit Line hier zu wohnen und nach ihren eigenen Regeln zu leben statt nach denen ihrer Eltern.

Line brachte Francis zu einer Nische in der hinteren Wand, die als Küche diente. Er drückte auf eine kleine Holztafel, worauf kaltes Wasser aus einem Kupferrohr in einen gusseisernen Topf spritzte, der in dem jadegrünen Waschbecken stand. Marin nahm einen Spielzeugsoldaten und betrachtete ihn von allen Seiten.

Da schrie Francis plötzlich auf.

Durch eines der Fenster starrte sie ein schreckliches Monster an. Das Gesicht war lang gestreckt und schwarz, mit Ausnahme der Augenhöhlen – zwei blutrote Tunnel, aus denen sich eine grüne Schlange wand.

Das Gesicht verschwand und im nächsten Moment klopfte es an der Tür. Francis versteckte sich hinter Line.

»Keine Angst«, sagte Line und nahm seinen Bruder auf den Arm. »Ich habe so etwas schon erwartet. Sie kommen allerdings ein bisschen früh.«

Er öffnete die Haustür. Davor stand ein neun oder zehn Jahre altes Kind, das die grässliche Maske trug, die sie durch das Fenster gesehen hatten.

Marin überlegte, ob sie durch die Hintertür hinausschlüpfen sollte, aber es war zu spät, der Junge hatte sie schon gesehen. Ob er es jemandem erzählt? Aber wahrscheinlich war es sowieso egal. Die Menschen waren im Moment mit anderen Dingen beschäftigt als der Beaufsichtigung ihrer Kinder.

»Nimm die Maske ab!«, befahl Line. »Du machst meinem Bruder Angst.«

»Das dürfen wir nicht.« Der Junge drehte den Kopf, als suchte er nach einer Bestätigung für seine Worte, und eine zweite Gestalt tauchte in der Tür auf – diesmal ein Erwachsener. Er trug eine goldene Maske, die mit Flammen aus Metall verziert war.

»Wer sind die?«, flüsterte Francis und drückte sein Gesicht an Lines Hals.

»Ich bin der Geist der Nacht«, sagte der Junge mit den Schlangenaugen. Man hörte deutlich, wie er sich bemühte, mit tiefer Stimme zu sprechen. »Und er ist der Geist des Tages.«

Der Mann mit der goldenen Maske nickte.

»Die Gezeiten haben gewechselt«, fuhr der Junge mit den Schlangenaugen fort. Er betonte jedes Wort, als sagte er ein Gedicht auf. »Der Zyklus der Sterne hat begonnen. Die Sonne ist untergegangen. Nacht hüllt die Insel ein. Wir müssen aufbrechen.«

Line trat einen Schritt vor. »Wir haben den Brief bekommen«, sagte er. »Und wir sind dabei, das Haus vorzubereiten.« Er machte eine Pause. »War’s das? Wie gesagt, mein Bruder hat Angst.«

»Das sollte er auch«, sagte der Junge. »Ich bin der Geist der Nacht und im Wald warten noch mehr Geister, die viel gruseliger sind als ich. Ihre Gesichter dienten meinem Gesicht als Vorbild.«

Francis blickte zu seinem Bruder auf. »Stimmt das?«

»Das sind doch nur alte Sprüche«, erwiderte Line. »Ein albernes Spiel.«

»Du solltest mehr Respekt zeigen«, fiel der Mann mit der goldenen Maske ein und zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger auf Line. »Unsere Bräuche sind uns heilig. Bereite dein Haus vor, bevor die Pelzhändler eintreffen.« Er sah sich um. »Du hast noch viel zu tun, Junge.«

Line presste die Lippen zusammen, setzte seinen Bruder ab und ging steifbeinig zur Tür. Aus Angst vor einem Streit trat Marin zwischen ihn und den Mann mit der goldenen Maske.

»Geist der Nacht«, sagte sie mit einer höflichen Verbeugung. »Du hast doch etwas für dieses Haus mitgebracht.«

Der Mann nickte besänftigt.

Der Junge mit den Schlangenaugen griff in seinen Mantel, zog eine kleine Papiertüte heraus und gab sie Marin. »Bedeckt eure Fährte.«

Francis drängte sich neben Marin. »Was ist das?«

»Kalk«, antwortete der Junge mit den Schlangenaugen. Er sprach jetzt mit seiner normalen Stimme. »Man gibt ihn auf die Toten. Ihr müsst ihn im Haus verstreuen, bevor ihr geht.«

Marin verbeugte sich. »Bestimmt warten noch andere Häuser auf euch.«

»Gesegnet sei der Tag«, sagte der Mann mit der goldenen Maske.

»Rettet uns vor der Nacht«, fügte der Junge mit den Schlangenaugen hinzu.

Dann verschwanden die beiden. Marin, Francis und Line blieben erleichtert zurück.

Niemand sagte etwas. Francis sah seinen Bruder mit seinen großen braunen Augen unverwandt an.

Endlich brach Marin das Schweigen. »War das der Silberschmied?«

»Er klang so«, sagte Line. »Ein Freund meines Onkels.« Er verdrehte die Augen.

Er schickte Francis zum Spielen mit den Soldaten und machte sich in der Küche zu schaffen. Marin, die nicht untätig herumstehen wollte, begann die Fenster zu putzen. Während sie mit einem Lappen über die staubigen Scheiben wischte, dachte sie wieder an die Hexe im Meer. DIEHÄUSERMÜSSENOHNEMAKELSEIN.

Line kochte eine größere Menge Löwenzahnblätter und gab Salz, Pfeffer undStockfischdazu.DiefertigeMahlzeitverteilte er auf drei Teller. Zum Essen setzten sie sich an einen wackligen Holztisch. Sie hatten Hunger und aßen schweigend.

Francis war als Erster fertig. Er rannte zu einem abgewetzten Lehnsessel und nahm ein übergroßes, in Leder gebundenes Buch in die Hände. Der Titel zog sich in schwungvollen, goldgeprägten Buchstaben über den Einband: Geschichten aus dem Wüstenland.

Das Buch erzählte die Geschichte eines Mädchens namens Shiloh, die am Äquator geboren war, wo die Sonne in kürzeren Abständen auf- und unterging: Auf zweiundsiebzig Stunden Tag folgten zweiundsiebzig Stunden Nacht.

Die Kinder aller nördlichen Inseln bekamen dieses Buch als Vorbereitung auf das Leben in der Wüste. Vierzehn Jahre würden die Inselbewohner dort in einem kleinen Dorf aus Sandsteinhäusern verbringen. Das Dorf lag mehrere Tagesreisen von der Insel entfernt an einem halbmondförmigen Strand zwischen Wüste und Meer.

Marin stand ebenfalls auf und ging zu dem Sessel, in dem Francis saß. Sie las den Titel und erinnerte sich daran, wie Shiloh auf einem Pferd mit zwei Höckern über die Dünen ritt, sich mit den Wüstennomaden anfreundete und Wadis fand, in denen Schätze vergraben waren.

Am eindrucksvollsten war die Geschichte von Shilohs Zeit im sogenannten Kloster gewesen, einem abweisenden steinernen Turm mitten in der Wüste, in dem sie abgeschieden ein Jahr mit anderen Mädchen verbracht hatte. Das Jahr galt als Initiationszeit für die Töchter des Wüstenlands. In dieser Zeit meditierten die angehenden Frauen und ritzten sich mithilfe von scharfen Messern und Tinte Zeichnungen in ihre Körper und Gesichter.

Francis blickte zu Marin auf. »Wie ist es im Wüstenland wirklich?«, fragte er. »Deine Mutter hat doch dort gelebt.«

Marin nickte. »Stimmt.«

»Hat sie deshalb die vielen Muster auf den Handgelenken?«

Marin nickte wieder. »Die Muster sind nicht nur auf ihren Handgelenken. Sie bedecken auch ihren ganzen Rücken.«

»Kann ich sie irgendwann mal berühren?«

»Francis, es ist schon spät«, sagte Line, um das Thema zu wechseln. »Du musst ins Bett.«

Francis schüttelte den Kopf. »Ich will nicht allein gehen. Und ich bin auch gar nicht müde.«

»Geh du mit ihm«, sagte Marin zu Line. Sie spürte plötzlich tiefes Mitleid mit Francis. Er war doch noch ein kleiner Junge und hatte keine Eltern mehr, die ihn abends ins Bett brachten. »Ichräumehierauf,undwennduwiederrunterkommst,können wir die Möbel wegstellen. Und vergiss nicht, wir müssen uns auch noch um den Schlüssel kümmern.«

5

Line stieg mit Francis die enge, knarrende Treppe in den zweiten Stock hinauf. Er hielt seinen Bruder an der Hand, damit er im Dunkelnnichtstolperte.ObenlageinkleinerFlurmitdreiTüren. Eine führte zu Lines Zimmer, eine in das Zimmer von Francis und die dritte in das Zimmer, das seine Eltern sich geteilt hatten.

»Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?«, fragte Francis.

»Na gut«, sagte Line. Er war zu müde für eine Diskussion.

Francis ging in Lines Zimmer und kletterte in sein Bett. Line legte sich neben ihn und breitete die große Daunendecke über sie beide aus. Die Decke wurde nur in der Zeit der Dämmerung verwendet, wenn es ungemütlich kalt wurde.

Francis war still und Line dachte im ersten Moment schon, er sei eingeschlafen. Die Hoffnung verflog, als Francis sich zu ihm umdrehte.

»Wusste Mutter von den Geistern, die hier wohnen, wenn es Nacht ist?«

Line antwortete nicht gleich. Francis kam nicht oft auf ihre Mutter zu sprechen.

»In der Nacht wohnt hier niemand«, antwortete er schließlich und drückte seinem kleinen Bruder die Schulter. »Es ist furchtbar kalt und alles ist gefroren.«

»Aber die Geister sind doch tot«, beharrte Francis. »Also macht ihnen die Kälte nichts aus.«

»Es gibt keine Geister«, erklärte Line geduldig. »Wenn ErwachseneihrenKindernsagen,siesollensichschnellfertig machen, bevor die Geister kommen, wollen sie nur, dass sie sich beeilen.Aberwirlebenallein,also sind wir schon so gut wie erwachsen und brauchen solche Spielchen nicht. Kapiert?« Er küsste seinen Bruder auf die Wange. »Jetzt mach die Augen zu.«

»Aber ich bin nicht müde.«

Line seufzte. »Soll ich dir noch was vorsingen?«

»Ja«, sagte Francis und gähnte.

Line räusperte sich und begann mit Hand über Hand, einer Ballade, die alte Männer und Frauen sangen, wenn sie die Klippen der Insel hinaufkletterten. Sie hatte eine langsame, traurige Melodie und war bestens als Kanon geeignet, bei dem die Kletterer versetzt anfingen. Er sang eine Weile, dann summte er nur noch die Melodie.

Einige Zeit später fuhr er hoch. Wie lange habe ich geschlafen? Es konnten Minuten vergangen sein oder Stunden – er war so durcheinander, dass er es nicht sagen konnte.

Line stand auf und stieg nach unten. Marin war gegangen und das ganze Haus geputzt und aufgeräumt. Sie hatte viel gearbeitet: Das Geschirr war abgespült, die Spielzeugsoldaten weggeräumt und die Gartengeräte im Schuppen verstaut. Auch ein Großteil der Möbel war bereits verrückt. Marin war unglaublich.

Sie waren zusammen aufgewachsen als Teil einer Gruppe von Kindern, die bei Sonnenaufgang und zu Zeiten der Flut geboren worden waren. Marin und Kana waren anfangs unter sich geblieben, wie Zwillinge es oft tun. Zu Lines frühesten Erinnerungen gehörte, zuzusehen, wie Marin Kana an den Klippen entlangführte.

Er fand Marin schon immer wunderschön – ihre braune Haut, ihr Lächeln und ihr Selbstvertrauen sogar gegenüber den Ältesten. Trotzdem hatte er sich zuerst mit Kana angefreundet. Das war um die Zeit gewesen, als seine Mutter starb.

Gemeinsam hatten sie die Ränder des dunklen Walds erforscht und Kana hatte Line geholfen, Pilze zu sammeln und eine Heilpflanze namens Lekar. Lekar brachte auf dem Markt immer einen guten Preis, war aber kurz vor Einbruch der Nacht nur noch schwer zu finden. Deshalb verkaufte er jetzt hauptsächlich Pilze. Davon lebte er, von den Pilzen und ein wenig Landwirtschaft. Erst vor einem Vierteljahr hatten er und Marin angefangen, Zeit miteinander zu verbringen – und damit hatte sich leider sein Verhältnis zu Kana und auch das zwischen Kana und Marin verschlechtert.

Line ging in die Küche. Die alte Aufziehuhr am Herd zeigte Mitternacht. Er hatte vier Stunden geschlafen. Sein Blick fiel auf einen Zettel auf dem Tresen unter dem Vorratsschrank.

Line,ich wollte dich schlafen lassen.Die Küchenstühle stehen im Wohnzimmer. Den Wohnzimmertisch musste ich halb rumdrehen, damit er in die andere Richtung zeigt (Schwachsinn). Der Beistelltisch aus Francis´ Zimmer steht im Wohnzimmer. Den Schreibtisch habe ich selbst verrückt. Du bist hoffentlich beeindruckt. Ich habe auch im Zimmer deiner Eltern sauber gemacht. Du hast hoffentlich nichts dagegen.Auf dem Grundriss stehen einige Bemerkungen, die ich nicht kapiere, zum Beispiel das mit RATTE, SCHNAUZE und ZÄHNEN. Und die runden Tische habe ich nicht gefunden. Morgen bringe ich dir Brot.Denk an den Schlüssel. Er passt zu der Tür im Keller.

»Der Schlüssel«, sagte Line laut. Er war jetzt hellwach.

Er nickte und setzte sich in Bewegung. Er holte eine brennende Kerze, dann ging er zu der Tür in der Rückwand der Küche. Er öffnete sie, schob einen Wust von Spinnweben zur Seite und stieg in den Keller hinunter. Über die steinernen Wände des Kellers rannWasser.DasWasserhattedenBodenausKiesundErde aufgeweicht und in Schlamm verwandelt. Line spürte, wie seine Schuhe beim Gehen daran festklebten.

Am hinteren Ende fand er, was er suchte: eine stabile Holztür, die mit einem alten Türschloss gesichert war. Er hatte die Tür nie offenstehengesehen.SeineMutterhattegesagt,siegehörezueiner Vorratskammer, und der Inhalt der Kammer hatte ihn nie sonderlich interessiert. Er verbrachte seine freie Zeit nicht gern im Keller.

Line holte den Schlüssel aus der Hosentasche, steckte ihn ins Schlossunddrehtedaran,bisesklickte.DieTürgingauf.DahinterkamenzweirundeTischeunddreigroßeKistenzum Vorschein. Er ging in die Kammer hinein und beugte sich über die Kisten, um sie genauer zu betrachten. Auf der ersten stand RATTE, auf der zweiten SCHNAUZE und auf der dritten ZÄHNE.

Neugierig geworden, hockte er sich hin. Er hatte nicht damit gerechnet, dass das Eintreffen des Briefs zu einer Schatzsuche in seinem eigenen Haus führen würde.

Line schleppte Kiste für Kiste hinauf ins Erdgeschoss und stellte sie nebeneinander. Dann kniete er sich vor die Kiste mit der Aufschrift RATTE, öffnete sie und holte den ausgestopften, auf ein Brett montierten Kopf eines großen Tieres heraus. Das Tier sah aus wie eine Kreuzung aus einer Ratte und einem Mammut aus dem Bilderbuch. Der Kopf war doppelt so groß wie der eines Pferdes, der Rumpf musste also riesig gewesen sein. Darunter befand sich ein Messingschild mit den verschnörkelten Buchstaben eines ihm unbekannten Alphabets.

»Wow«, sagte er, »du siehst vielleicht hässlich aus.« Er sah auf dem Grundriss nach und gelangte zu dem Schluss, dass RATTE am mittleren Haken im Wohnzimmer hängen sollte. Der Kopf passte genau an die Stelle.

Anschließend ging Line zu der Kiste mit der Aufschrift SCHNAUZE zurück und öffnete sie. Wieder kam ein ausgestopfter Kopf zum Vorschein. Dieser hatte einander überlappende Platten statt eines Fells, zwei spitze Hauer und eine lange Schnauze – ähnlich wie ein Gürteltier mit einer besonders langen Nase. Der Kopf gehörte auf die linke Seite der RATTE.

Zuletzt öffnete er auch noch die Kiste mit dem Schild ZÄHNE und zog einen dritten ausgestopften Kopf heraus. Er sah fast genauso aus wie SCHNAUZE, bis auf zwei lange, schartige Fangzähne.

»Wer bist du denn?«, fragte er leise, als erwarte er, dass der Kopf ihm antworte. »Und wo in Gottes Namen kommst du her?«

Es hatte immer Geschichten von wilden Ebern gegeben – und von noch gefährlicheren und urtümlicheren Tieren –, die in den Tiefen des Inselwaldes lauerten. Line hatte nie so recht daran geglaubt, aber ganz sicher war er sich auch nicht gewesen. Die Insel war groß und nur wenige Bewohner entfernten sich weiter aus der unmittelbaren Umgebung des Dorfes und der Küste.

Er sah noch einmal auf dem Grundriss nach, hängte ZÄHNE auf und schaffte die leeren Kisten wieder in den Keller. Anschließend trug er die beiden runden Tische nach oben. Zuletzt öffnete er noch die kleine Papiertüte mit Kalk, ging durchs Zimmer und verstreute ihn.

Als er fertig war, blieb er vor den drei Köpfen mit ihren toten Augen stehen und überlegte, was es für einen Sinn haben konnte, sie hier an die Wand zu hängen. Das Ganze war doch absurd. Was soll ich Francis beim Frühstück sagen?

Er warf einen Blick auf die kleine Standuhr in der Ecke. Es war eine Stunde nach Mitternacht. Francis würde noch sechs Stunden schlafen. Sein Bruder hatte von allen Menschen, die er kannte, den gesündesten Schlaf, und das war auch gut so. Line wollte noch einen kurzen Ausflug zum Waldrand machen und Pilze sammeln, die er verkaufen konnte. Und er kannte eine Stelle, an der es womöglich noch Lekar gab, auch wenn die Aussicht gering war.

Er las noch einmal Marins Brief. Sie hatte sogar im Zimmer seiner Eltern sauber gemacht – weil es getan werden musste und weil sie wusste, dass es ihm widerstrebte. Wenn Marin auf ein Problem stieß, nahm sie es in Angriff. Sie waren ein gutes Team.

Im Wüstenland würde allerdings alles anders werden. Das wusste Line, weil Marins Mutter ihn vor Kurzem beiseitegenommen und genau das gesagt hatte. Sie war nicht unfreundlich gewesen, nur ganz sachlich. »Marin wird die Zeit mit anderen gleichaltrigen Mädchen verbringen. Vollkommen abgeschieden. Und danach wird sie viele andere Dinge zu tun haben.«Die letzten Worte hatte Tarae betont und Line dabei angesehen. Die Botschaft war klar: Die Beziehung zwischen Marin und Line war nach der Abreise aus Bliss beendet.

Line hatte Marin von diesem Gespräch nichts erzählt. Vielleicht wusste sie ja Bescheid. Jedenfalls hatte er das Gefühl, dass die Zeit drängte. Nur noch ein oder vielleicht zwei Tage, mehr hatten er und Marin nicht mehr.

Er richtete sich auf und warf einen letzten Blick auf Marins Brief. Wenn er sich beeilte, konnte er auch noch etwas für sie tun. Er hatte es schon seit Wochen vor, aber irgendwie nie die Zeit dazu gefunden. Es würde nicht lange dauern und er würde zurück sein, bevor Francis aufwachte. Er zog einen dicken Wollpullover über und eilte aus dem Haus.

6

Nach einer unruhigen Nacht wachte Marin früh auf. Während das Dorf noch schlief, ging sie mit einem warmen Brotlaib zu Lines Haus und legte ihn vor die Haustür.

Sie war schon seit einigen Stunden auf den Beinen und hatte das schwarze harte Brot gebacken – »Eisenblech« oder »Zahnbrecher«, wie es auch genannt wurde –, von dem sie auf der Reise ins Wüstenland hauptsächlich leben würden. Die Hauptzutat war Winterweizen, ein Getreide mit dünnen, an Schilf erinnernden Halmen, das in der Dämmerzeit des vergangenen Jahres nur widerwillig gewachsen war.

Für die, die sich noch an den herzhaften Sommerweizen der Jahre davor erinnerten, war es nur ein schwacher Ersatz. Doch Line und Francis kümmerte das bestimmt nicht, zumal der Laib noch warm war. Marin musste an ihre Mahlzeit zu dritt am Abend zuvor denken und lächelte. Es dauerte womöglich lange, bis sie das wiederholen konnten. Bald war sie im Kloster.

Und dann? Ob Line auf mich wartet – ein ganzes Jahr? Und auf was soll er warten?

Auf dem Heimweg entlang der Klippen blieb sie einen Moment stehen, um die Aussicht zu genießen. Die Insel und das sie umgebende Meer lagen im Schatten. Über ihr jagten grauschwarze Wolken dahin, von der Sonne lugte nur noch ein orangefarbener Strich über den Horizont.

Sie blickte die gebogene Küste entlang und ihr war, als sei die Insel ein gewaltiges Schiff, das durchs Meer pflügte. Der Sturm mochte noch so schrecklich sein, die Wellen würden sich an den Felsen der Küste brechen, bis nichts mehr von ihnen übrig war.

Es war seltsam, zu denken, dass die Einwohner von Bliss erst seit wenigen Generationen hier lebten – seit gut hundertfünfzig Jahren. Vor der Entdeckung der Insel hatten sie das Eismeer befahren und waren den großen Fischschwärmen gefolgt, soweit Wetter und Strömungen es zuließen.

Dann waren sie auf der Insel gelandet und hatten ein schönes Dorf wie aus dem Märchen vorgefunden, vollkommen intakt, aber ohne einen einzigen Bewohner. Nach vielen Gebeten und Beratungen wurde schließlich eine Entscheidung getroffen. Begleitet von dumpfen Trommelschlägen, hatte die älteste Frau ein neugeborenes Kind in das Tiefbrunnenhaus getragen und war vierundzwanzig Stunden lang dort geblieben, in der Hoffnung, dass es im Haus keine Falle gab und kein Fluch auf ihm lag, der sie töten würde. Danach war die Alte mit dem erschöpften Baby triumphierend wieder aufgetaucht und sie waren in die Häuser eingezogen.

Als Kind hatte Marin diese Geschichte geliebt. Im Lauf der Jahre hatte sie allerdings Zweifel bekommen. Und als sie vor einiger Zeit gehört hatte, wie ein Onkel die Geschichte einer jüngeren Cousine von ihr erzählte, hatte sie ihn anschließend gefragt, ob er sie glaube.

»Natürlich glaube ich sie«, hatte er mit einem Lächeln geantwortet. Sie saßen im Wohnzimmer des Schattenhauses und er trank zufrieden von seinem Bier. »Du nicht?«

»Sie leuchtet mir nicht ein«, sagte Marin. »Warum waren die Häuser alle in einem so perfekten Zustand?«

»Es war uns bestimmt, hierherzukommen«, erklärte der Onkel. Er stellte sein Bier ab und beugte sich zu ihr. »Die Insel war ein göttliches Geschenk und bei solchen Geschenken stellt man keine Fragen. Man nimmt sie demütig an und bedankt sich.«

Marin schüttelte nur den Kopf, wie sie es immer tat, wenn die Erwachsenen von Bestimmung, Geschenken und bedingungsloser Annahme sprachen. Es musste eine bessere Erklärung geben, wie einen Krieg oder auch eine Seuche – der Ort war ganz offensichtlich bis unmittelbar vor ihrer Ankunft bewohnt gewesen. Und die früheren Bewohner waren aus Angst weggelaufen oder vertrieben oder getötet worden.

Sie drehte sich zum Dorf um. Niemand gab eine so schöne Heimat ohne Grund auf, da war sie sich vollkommen sicher.

Sie blickte noch einen Moment auf das Meer hinaus und ließ sich den erfrischenden Wind ins Gesicht wehen. Dann weckte etwas in der Ferne ihre Aufmerksamkeit. Ein Schiff verschwand immer wieder hinter Wellen.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Nur eins? Unmöglich. Sie brauchten mehr, um das Dorf verlassen zu können.

Im nächsten Moment kamen in geringen Abständen weitere Schiffe in Sicht. Die Schiffe, mit denen sie reisen würden, fuhren in der Mitte, umringt wurden sie von schlankeren Booten mit zwei Rümpfen. Die Segel waren alle gelb. Zweifellos handelte es sich um die Pelzhändler, die pünktlich zum Gezeitenwechsel kamen.

Die Pelzhändler waren geldgierige Nomaden, die im Nordpolargebiet jagten, Felle sammelten und anschließend ins Wüstenland fuhren, um sie zu verkaufen. Felle waren viel wert, sogar im Wüstenland, wo es kalt wurde, sobald die Sonne unterging. Auf dem Weg nahmen die Pelzhändler Passagiere von den nördlichen Inseln mit – natürlich gegen Geld.

Marin wandte sich ab und eilte in Richtung Dorf.

Hatte sie die Schiffe als Erste gesehen? Sie hoffte es. Zu gern hätte sie den Okrana gezeigt, wie leicht ein vierzehnjähriges Mädchen sie bei ihrer eigenen Arbeit schlagen konnte. Im Laufschritt folgte sie den alten Wagenspuren ins Dorf. Irgendwann rannte sie, so schnell sie konnte, und wäre fast mit einem Mann zusammengestoßen, der ihr entgegenkam. Sie bremste abrupt und kam in einer Staubwolke zum Stehen.

»Was ist denn, Kind?«, fragte der Mann. Er war beleibt und trug einen blutverschmierten Kittel – der Fischhändler von Bliss. Er hatte Marin rennen sehen und war hinter dem Tisch hervorgetreten, auf dem er seine Fische zerlegte. »Du wirkst, als hättest du ein Gespenst gesehen.«