Tod am Aschermittwoch - Sabine Kraft - E-Book

Tod am Aschermittwoch E-Book

Sabine Kraft

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Beschreibung

Lilly Heller besucht eine Freundin in Machkirchen und ahnt nicht, welche Abenteuer dort auf sie warten. Kurz vor ihrem Eintreffen wird der Gemeindepfarrer von Gottesdienstbesuchern ermordet aufgefunden. Wer hatte ein Motiv, diesen beliebten Geistlichen zu töten? Lillys Freundin hat eine Spur, welche die beiden auf ein vornehmes Gut führt. Nach und nach stellt sich heraus, dass dort alle Fäden zusammenlaufen. Lilly entdeckt ein dunkles Geheimnis und bringt sich mit ihrer Beharrlichkeit in eine gefährliche Situation. Doch ihr Weitblick hilft der Polizei maßgeblich bei der Klärung dieses aufregenden Kriminalfalles, der bis zum zweiten Weltkrieg zurückreicht.

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Seitenzahl: 293

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Es war einer der letzten kalten Wintertage in diesem Jahr. Nichts deutete auf einen traurigen Tag hin. Frau Holle war noch einmal fleißig und Schneeflocken tanzten fröhlich zu Boden. Kaum berührten sie den Asphalt, schmolzen sie und ließen nur einen winzigen Wassertropfen zurück.

Langsam betraten einige Bewohner von Machkirchen das Gotteshaus durch das massive, aber einfache Holztor. Niemand fühlte sich zuständig das Haupttor zu schließen und so konnte sich die durchdringende Kälte im Kircheninneren ungehindert ausbreiten.

Dieser Umstand ließ die Dauer des Wartens auf den Geistlichen noch langsamer vergehen. Es war ungewöhnlich viel Zeit vergangen, seit sich die Gemeinde in der kleinen Kirche zum Gottesdienst für das Aschenkreuz versammelt hatte. Die Messe hätte vor zehn Minuten beginnen sollen und das unruhige Getuschel wurde immer lauter und störte die feierliche Stimmung. „Sonst verspätet er sich doch nie“, meinte die Dame mit dem altmodischen Hut. Verunsichert sahen sich die wartenden Gemeindemitglieder an.

„Das ist doch eigenartig“, sagte dieselbe Dame zu ihrer Sitznachbarin in der Hoffnung, diese würde eine Lösung finden.

„Vielleicht sollte jemand nach ihm sehen“, bestärkte sie ihre Nachbarin in ihrer Sorge, ohne ein Anzeichen selbst etwas unternehmen zu wollen.

Endlich opferte sich ein Glaubensbruder und ging sicheren Schrittes vor den Altar, bekreuzigte sich, zog am Altar vorbei und verschwand in der Tür, welche in die Sakristei führte. Sekunden später bereute er seinen Mut, er stürzte heraus und rief: „Tot! Der Herr Pfarrer ist tot!“

Das Chaos nahm seinen Lauf. Während die Gottesfürchtigen die Hände zusammenschlugen, sich bekreuzigten und laut zu beten begannen, blieben die zart besaiteten mit erschrockenem Gesichtsausdruck wie versteinert sitzen. Die Schaulustigen der Gruppe sprangen von ihren Sitzen auf, liefen zu der noch offen stehenden Tür zur Sakristei und starrten neugierig auf den am Bauch liegenden Geistlichen. Man sah sofort, dass er tot war. Der Kopf lag auf der Seite, die unnatürlich hervorgetretenen Augen starrten ins Nichts und ließen den Gesichtsausdruck schmerzlich bizarr wirken. Eine Stola war um seinen Hals geschlungen, deren Enden lagen auf seinem Rücken und zeichneten sich deutlich auf dem Weiß seiner Albe ab. Die Beine lugten vom Knie abwärts aus der schwarzen Kutte, die er unter der Albe trug, heraus und lagen seitlich in eine Richtung zeigend. Einen Schuh hatte er nur mehr halb an und so konnte man die grauschwarz gestreiften Socken sehen. Seine Arme lagen schlaff neben seinem Körper.

Niemand wagte es über die Türschwelle zu treten und keiner der Anwesenden konnte es fassen: Pfarrer Johann Hölzel lag in seiner Albe bäuchlings auf dem Boden und es gab keinen Zweifel, er war gewaltsam getötet worden.

„Jemand muss die Polizei rufen“, stellte ein Mann mit Glatze fest. „Man sieht doch, unser Herr Pfarrer wurde ermordet.“

***

Da Mord in Machkirchen nicht auf der Tagesordnung stand, verständigte der herbeigerufene Dorfpolizist Jakob Mendes, dessen Stützpunkt im nächst größeren Ort Aidingen lag, das Kommissariat in Linz und bat um Amtshilfe. Dort herrschte durch die Grippewelle gerade Personalnotstand und so kam Kommissar Armin Hartmann mit seinem Assistenten Inspektor Roland Neumaier aus Wien drei Stunden später zur Unterstützung an. Es standen etliche Polizeiautos vor der Kirche und alle hatten das Blaulicht eingeschaltet. Die zwei Kriminalbeamten gingen geradewegs in die Kirche und ein Polizist wies den beiden unaufgefordert den Weg zum Tatort. Auf Anweisung der Gendarmen waren die Anwesenden im Kirchenschiff geblieben und die Sakristei wurde von Uniformierten abgeschirmt. Hartmann ging an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten.

Die Leute von der Spurensicherung waren noch fleißig bei der Arbeit und man hätte glauben können, dass sie in ihren Schutzanzügen planlos geschäftig werkten. Sie pinselten, nahmen Abdrücke, sammelten Fasern und Fusseln, um sie dann in einem bereitgestellten Koffer zu verstauen.

Der Gerichtsmediziner war bereits vor Ort. Der tote Pfarrer lag jetzt auf dem Rücken. Der Rechtsmediziner war gerade dabei seine Geräte einzupacken.

„Ah, Kommissar Hartmann“, meinte er locker, als ob sie sich zu einem Kaffeeplausch verabredet hätten. „Er wurde erwürgt“, sagte er ungezwungen, „und zwar damit.“ Er reichte dem Kommissar eine durchsichtige Plastiktüte, in der sich ein rotes, zerknittertes Band befand. „Es ist die Stola. Er muss gerade beim Anziehen für den Gottesdienst gewesen sein, als ihn der Mörder überraschte. Um 15.00 Uhr hätte der Gottesdienst beginnen sollen, und wenn man berücksichtigt, dass er noch nicht mit dem Anziehen fertig war, ergibt sich eine Todeszeit von etwa 14.45 Uhr. Es war ein qualvoller Tod.“ Beide Männer standen nebeneinander und sahen den Leichnam an. Seine vorhin noch offenen, ins Leere starrenden Augen waren nun geschlossen und er sah fast friedlich aus.

Der Kommissar hockte sich hin und betrachtete den Hals des Opfers. Das veranlasste den Gerichtsmediziner seinen Bericht fortzusetzen: „Der Mörder muss ziemlich stark sein und ein Minimum an Kondition besitzen, obwohl das Opfer ein älterer Mann war. Die Stola ist doch sehr breit, wenn man sie als Mordwaffe benützt…“, er überlegte kurz, „das heißt, es dauerte ungefähr drei bis fünf Minuten, bis der Tod eintrat. Den genauen Bericht erhalten sie nach der Obduktion.“ Er reichte dem noch immer hockenden Kommissar die Hand und verabschiedete sich genauso locker, wie er ihn begrüßt hatte.

Der Kommissar stand auf und sah sich genauer im Raum um. Das Messgewand hing noch fein säuberlich an seinem Haken. Ein Mann betrat den Raum. Er war um die vierzig. Sein Äußeres ließ zu wünschen übrig. Er ging zu dem Toten, kniete nieder, bekreuzigte sich und begann zu beten.

Inspektor Neumaier sprach mit einem Uniformierten und notierte während des Gesprächs alles eifrig in seinen kleinen Notizblock. Als er alle Informationen hatte, ging er zurück zum Kommissar.

„Wer ist das?“, fragte Hartmann seinen Assistenten.

„Der ist mir auch schon aufgefallen, laut dem Gendarmen ist das der Messdiener“, erklärte Roland Neumaier. Für ihn war das sein erster Mordfall als Assistent von Kommissar Hartmann, daher war er besonders eifrig. Er war ungewöhnlich jung für die Mordkommission, aber geholfen hatte ihm, dass er ein Talent für Computerrecherchen hatte. Nach seiner Ausbildung hatte er im Büro der Polizei gearbeitet. Kommissar Hartmann hing bei seinem letzten Mordfall fest. Eine Frau wurde erschlagen in ihrem Gartenhaus aufgefunden. Davor war sie von einem Unbekannten in einem Internetforum gemobbt und bedroht worden. Roland Neumeier konnte dank seiner Kenntnisse den Unbekannten ausfindig machen. Mit diesen Beweisen konnten sie den Mörder aufstöbern und dingfest machen. Da die Assistentenstelle zu dieser Zeit frei war, forderte der Kommissar Inspektor Neumaier an. Das war ein Glücksfall und Neumaier arbeitete gern für Hartmann.

„Ich habe gehört, der Messdiener war heute bei seiner Schwester, weil sie sich die Grippe eingefangen hat. Das hier haben wir unter der Leiche gefunden“, setzte Neumaier fort und gab dem Kommissar einen Plastikbeutel, in dem ein goldener Gegenstand zu sehen war.

„Was ist das?“, fragte Hartmann.

„Eine Krawattennadel. So etwas war vor hundert Jahren modern. Vielleicht hat sie ja dem Pfarrer gehört.“

„Was ist da vorne drauf? Ist das ein Schmuckstein?“ Hartmann hob das Säckchen mit zwei Fingern in Augenhöhe und betrachtete es, als ob darauf der Name des Mörders zu lesen sein könnte. „Finden Sie das heraus!“, sagte er zu seinem Assistenten und gab ihm das Säckchen zurück. Er ging zum Messdiener, der noch immer vor dem Toten betete.

„Entschuldigen Sie. Ich bin Kommissar Hartmann. Sie sind hier der Messdiener?“, fragte er den Betenden.

Dieser bekreuzigte sich um sein Gebet zu beenden und stand auf. „Ja, ich bin Albert Nemec“, stellte er sich höflich vor.

„Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“ Wie oft hatte er an einem Kapitalverbrechen beteiligte Personen das gefragt? Nur selten hatte sich jemand geweigert, vermutlich, weil jeder wusste, dass der Kommissar berechtigt war, jederzeit eine Vorladung ins Präsidium anordnen zu können.

„Selbstverständlich. Bitte, folgen Sie mir!“ Nemec führte Kommissar Hartmann mit einer einladenden Handbewegung aus der Sakristei in Richtung der Pfarrkanzlei. Dort angekommen betrat er vor dem Kommissar das Zimmer. „Bitte!“ Erneut unterstützte er seine Einladung mit einer Geste und deutete auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch, während er selbst um den Schreibtisch ging und sich auf den Drehsessel setzte. Die Einrichtung war mehr als altmodisch. Nur der links stehende Computer mit Flachbildschirm und das Telefon verrieten, dass bereits das dritte Jahrtausend begonnen hatte. Die Möbel wirkten wie aus einem Film der Sechziger-Jahre. Der Schrank war aus Eiche, aber das Holz hatte im Lauf der Jahre erheblich gelitten. Im oberen Teil befand sich ein Rollladen, der geöffnet war, der Schlüssel steckte im Schloss. Im Inneren befanden sich alte schwarze Ringbuchordner, die am Buchrücken handschriftliche Kennzeichen aufwiesen. Instinktiv las der Kommissar die Beschriftungen zu entziffern, doch er konnte nur die Jahreszahlen erkennen. 1976, 1977, 1978… Er wollte noch weiterlesen, als er von der Stimme des Messdieners aus seinen Gedanken gerissen wurde.

„Wollen Sie einen Kaffee?“, bot er mit seiner rauen, dumpfen Stimme an. Sie passte zu seinem Äußeren. Seine dunklen Augen sahen den Kommissar erwartungsvoll an. Er saß ein wenig zu aufrecht hinter dem Schreibtisch, der mindestens so alt war wie das restliche Mobiliar. Auf der Arbeitsfläche lag eine hässliche grüne Plastikauflage, die vermutlich den Schreibtisch vor Schmutz und Beschädigungen schützen sollte. Rechts stand ein Halter, in dem verschiedene Stempel baumelten und darauf warteten gebraucht zu werden.

„Nein danke, ich möchte lieber gleich zur Sache kommen“, lehnte der Polizeibeamte ab. „Hätten Sie nicht anwesend sein müssen, wenn ein Gottesdienst abgehalten wird?“, eröffnete der Kommissar ohne Umschweife die Befragung, während er sich von Schal und Mantel befreite.

„Heute ist Aschermittwoch. Da kommen nicht so viele Gläubige in den Gottesdienst. Obwohl zu Pfarrer Hölzel immer sehr viele Gläubige in den Gottesdienst kamen“, setzte er fast stolz nach, „das ist in der heutigen Zeit nicht so selbstverständlich. Na, auf jeden Fall zum Aschenkreuz kommen nicht so viele und deshalb meinte Pfarrer Hölzel, ich könne ruhigen Gewissens meiner Schwester helfen.“ Er machte eine Pause, sagte mehr zu sich selbst: „Wäre ich nur hier geblieben! Meine Schwester hat die Grippe“, fügte er erklärend hinzu.

„Ich weiß, davon habe ich schon gehört. Ist Ihnen heute oder in letzter Zeit irgendetwas aufgefallen? Hat es ungewöhnliche Ereignisse, Anrufe oder Ähnliches gegeben? Kennen Sie Gegner der Kirche in Machkirchen oder Feinde des Herrn Pfarrer?“ Während er sprach, sah Hartmann sein Gegenüber nicht an, sondern kramte in seinen Taschen, bis er fündig wurde und seinen Notizblock und einen Stift zückte.

„Nein. Zumindest fallen mir momentan keine Vorfälle und keine Personen ein. Und außer den üblichen kleinen Dorfstreitigkeiten gab es auch nie Probleme. Der Herr Pfarrer war sehr beliebt.“

„Hatte er Verwandte?“, er kritzelte eifrig in seinem Notizblock.

„Ja, seine Mutter wird im Oktober neunzig. Daran habe ich noch gar nicht gedacht, die Arme.“ Nemec war sichtlich gerührt. „Ich werde gleich nachher im Heim, wo sie wohnt, anrufen. Sein Vater ist im Krieg gefallen. Dann hatte er noch Geschwister“, gab er weiter bereitwillig Auskunft, „zwei Brüder und eine Schwester. Ein Bruder ist voriges Jahr gestorben. Der andere Bruder lebt mit seiner Frau in Innsbruck, die Schwester wohnt in München, ihr Mann ist früh verstorben. Natürlich gibt es auch noch Neffen und Nichten und deren Familien. Die sind aber in ganz Österreich und Deutschland verstreut. Zu denen hatte er nur wenig Kontakt.“ Er faltete die Hände wie zum Gebet, stütze sich auf die grüne Schreibtischunterlage und begann ein wenig mit dem Drehstuhl hin und her zu wippen, während er auf die nächste Frage wartete.

„Seit wann war er Pfarrer der Gemeinde?“ Der Kommissar sah von seinen Notizen auf und wartete auf die Antwort.

„Seit etwa fünfundzwanzig Jahren. Nach seiner Priesterweihe lebte er einige Jahre in einem Kloster.“

„In welchem?“

„Das weiß ich nicht, aber er hat mir einmal erzählt, dass er gleich danach die Stelle hier bekam. Ich wurde vor siebzehn Jahren sein Mesner. Sie werden es sowieso herausfinden. Ich habe gesessen, wegen Körperverletzung. Aber Pfarrer Hölzel hat mir damals eine Chance gegeben und ich habe sie genützt.“ Er beugte den Oberkörper kämpferisch nach vorn, um sich gegen etwaige Anschuldigungen zu rüsten, doch der Kommissar ging nicht darauf ein. Überrascht von dieser Reaktion, entspannte sich sein Körper wieder und Nemec ließ sich zurück in den Sessel sinken und sprach weiter: „Das war das einzige Mal, dass Pfarrer Hölzel Probleme in der Gemeinde hatte. Die nette Gesellschaft von Machkirchen boykottierte mich. Doch Pfarrer Hölzel hielt zu mir, er sagte, ich habe meine Strafe abgesessen und eine Chance verdient. Er bestand darauf, dass ich Mesner dieser Kirche werde. Sie haben sogar Unterschriften gesammelt und der Diözese vorgelegt.“

„Und was ist dann passiert?“

„Pfarrer Hölzel ist in die Diözese gefahren, bürgte für mich und konnte sich durchsetzen. Das hat vielen nicht gepasst.“

„Können Sie sich erinnern, wer damals die Initiatoren dieser Unterschriften waren?“

Nemec nickte: „Natürlich, aber falls Sie glauben, da den Mörder zu finden, muss ich Sie enttäuschen. Das war die Vorsitzende des Machkirchner Frauenklubs und ihre Betschwestern“, sagte er abschätzig, „aber diese Dame ist vor zwei Jahren verstorben. Der Frauenklub hat sich nach und nach aufgelöst und die Mitglieder von damals sind hoch betagt oder verstorben. Alle anderen waren nur Mitläufer, sie können mich zwar nicht leiden und hätten auch gerne gesehen, wenn ich den Posten nicht bekommen hätte, aber so viel Mumm, dass sie dagegen etwas unternommen hätten, traue ich denen nicht zu.“

„Ich verstehe, fällt Ihnen sonst noch was ein?“

„Nein, ich will mit niemandem vom Dorf etwas zu tun haben. Aber vielleicht fragen Sie noch Frau Augustin. Sie ist, äh… war“, verbesserte er sich verlegen, „die Haushälterin von Pfarrer Hölzel und Frau Klahr ist unsere Kanzleikraft. Beide können Sie morgen ab acht Uhr in der Pfarrei antreffen. Oder wollen Sie die beiden noch heute befragen, dann müsste ich die Adressen raussuchen.“ Er machte Anstalten aufzustehen.

„Nein, das wird wohl nicht nötig sein. Ich komme morgen noch einmal vorbei. Noch etwas, trug Pfarrer Hölzel manchmal Krawatten?“

„Doch, ja“, überlegte der Mesner, „aber selten. Er ging nur zu wenigen Anlässen in Privatkleidung aus.“

„Wissen Sie, ob er eine Krawattennadel besaß?“

„Tut mir leid, keine Ahnung. Aber das weiß sicher Frau Augustin.“

„Gut, dann kann ich sie morgen danach fragen. Können wir die Kanzlei für die Vernehmung der Leute verwenden?“ Hartmann steckte seinen Notizblock samt Stift in die Innentasche seines Sakkos und stand auf. Fast im gleichen Moment stand auch der Messdiener auf, verließ den Schreibtisch und ging mit dem Kommissar zur Tür, dort blieben sie stehen und der Kommissar reichte ihm die Hand.

„Selbstverständlich. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie etwas brauchen.“

Beide verließen die Kanzlei und der Messdiener zog sich in sein Zimmer zurück.

***

Kommissar Hartmann ging an den Tatort zurück, wo die Spurensicherung gerade dabei war, zusammen zu packen und die Kirche zu verlassen. Der Leichenwagen war eingetroffen und verbreitete eine unbehagliche Stimmung. Der Leichnam lag auf einer schwarzen Plastikfolie, der graue Blechsarg stand geöffnet daneben. Die beiden Bestattungsangestellten nahmen je ein Ende der Plane und packten den leblosen Körper in den Sarg. Der Kommissar sah zu, wie die zwei den Sargdeckel schlossen.

„Wir sind dann soweit“, meinte der Größere. Kommissar Hartmann nickte ihm zu, worauf sie den Sarg aus der Sakristei trugen. Zurück blieb nur die gespenstisch wirkende weiße Markierung auf dem Boden, die zeigte, in welcher Stellung der Tote vorgefunden worden war. Inspektor Neumeier eilte herbei: „Endlich, eine Horde wilder Löwen bändigen ist ein Kinderspiel dagegen.“ Er deutete damit die Ungeduld der wartenden Gottesdienstbesucher an.

Der Kommissar ging mit ihm gemeinsam durch das Mittelschiff, stellte sich vor den Altar und sagte laut zu den Anwesenden: „Sehr geehrte Damen und Herren. Mein Name ist Kommissar Hartmann, ich bin der leitende Beamte in diesem Mordfall. Es tut mir leid, dass wir so lange Ihre Geduld strapazieren mussten, aber ich bin überzeugt, in Anbetracht der Umstände kann ich mit Ihrem Entgegenkommen rechnen. Wie der Gerichtsmediziner feststellte, steht fest, dass Pfarrer Hölzel einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.“ Ein lautes Raunen ging durch die Menge. Einige steckten die Köpfe zusammen und begannen bereits mit ersten Spekulationen. Andere saßen mit entsetztem Blick da und starrten ungläubig auf den Kommissar.

"Bitte, meine Herrschaften“, wollte Kommissar Hartmann die Situation ein wenig unter Kontrolle zu bringen. „Sie haben sicher Verständnis dafür, dass es deswegen notwendig ist, die Aussagen und die Personalien von jedem Einzelnen der Anwesenden aufzunehmen. Wir hoffen auf Ihr Verständnis.“ Er gab seinem Assistenten einen Wink und dieser ging mit zwei Gendarmen gleich zu den in der ersten Reihe Sitzenden.

Ein Mann mittleren Alters sprang auf: „Wie stellen Sie sich das vor? Ich muss noch arbeiten oder glauben Sie meine Landwirtschaft erledigt sich von selbst?“, fragte er erbost. Sein Nachbar nickte zustimmend und schloss sich dem Protest an.

„Wenn das so ist, fangen wir am besten gleich mit Ihnen beiden an“, sagte Hartmann zu den Protestierenden, damit waren sie einverstanden. Er nahm sie mit Richtung Kanzlei und gab seinem Assistenten ein Zeichen.

„Wenn Sie bitte hier warten“, sagte der Kommissar zu dem einen, „Sie sind dann als nächster dran.“ Verunsichert sah dieser seinen Protestpartner an, um anschließend folgsam seine Warteposition einzunehmen. Dann geleiteten die Beamten den anderen in die Kanzlei und starteten die Vernehmung.

„Darf ich um Ihren Namen bitten.“ Roland Neumaier hatte ein Notizbuch aufgeschlagen und wartete auf die Antwort.

„Johann Steinmüller.“ sagte der Befragte kleinlaut. „Es tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich sein, aber Sie müssen verstehen. Als Landwirt…“

„Schon gut.“ Der Kommissar leitete die Befragung während der Inspektor Namen, Daten und Informationen in den Block notierte. „Ich brauche auch Geburtsdatum und Adresse.“ Als der Landwirt ihm beides genannt hatte, fragte er: „Würden Sie mir bitte die Geschehnisse mit Ihren Worten erzählen und, ob Sie etwas Ungewöhnliches beobachtet haben?“

Was der Kommissar und der Inspektor in den Vernehmungen hörten, waren Vermutungen, versteckte Anschuldigungen und Tratschereien. Der Abend zog sich hin. Als der letzte Gottesdienstbesucher vernommen war, entschlossen sie weitere Befragungen auf den nächsten Tag zu verlegen und Quartier im einzigen Gasthaus des Ortes zu nehmen. Der Name ‚Zum goldenen Hirsch‘ war nicht sehr einfallsreich und die Einrichtung der Zimmer war alt, fast antik, aber es musste genügen. Den Rest des Abends verbrachten sie damit ein Abendessen im Gastraum zu sich zu nehmen und Fakten und Notizen zu sortieren. Inzwischen war es fast Mitternacht und die Männer zogen sich in ihre Zimmer zurück. Die Wirtin hatte ihnen Kosmetikartikel organisiert und nach einer Dusche fielen beide in einen erholsamen Schlaf.

***

Lilly stand vor ihrem Kleiderschrank und schob die Kleiderbügel hin und her, nahm einen mit einem Longshirt heraus und legte ihn auf das Bett, wo schon etliche lagen. Sie konnte sich nicht entscheiden, was sie mitnehmen sollte. Im Stillen beneidete sie Paul, der stilsicher die letzten Kleidungsstücke in den Koffer packte. Er war fast fertig, obwohl er drei Wochen auf Kur fuhr und sie nur ein paar Tage ihre Freundin Cornelia in Machkirchen besuchte. Lilly und Paul planten unbefangen ihre nächsten Tage.

„Ich weiß nicht, was ich mitnehmen soll, das Wetter wird in den nächsten Tagen wechselhaft, es kann regnen oder sogar schneien, aber wenn die Sonne scheint, wird es gleich so warm“, beschwerte sich Lilly bei Paul.

„Also Lilly, was wirst du denn schon viel brauchen. Nimm eine Jeans mit, ein paar T-Shirts, einen Pullover und eine Weste und die rote Jacke, aus der kannst du das Futter rausnehmen, dann bist du doch für alle Fälle gewappnet. Was machst du denn so einen Aufstand, du fährst doch nur ein paar Tage zu Conny.“

„Du hast Recht.“ Sie begann T-Shirts aus dem Berg von Oberteilen, der auf dem Bett lag, auszuwählen, faltete sie zusammen und stapelte sie auf einer freien Fläche.

„Wann holt dich Conny morgen am Bahnhof ab?“, fragte Paul.

„Der Zug kommt um 11.32 Uhr in Machkirchen an und da wartet sie dann schon auf mich. Ich freue mich sehr auf den Besuch, aber dass sie in den letzten Winkel ziehen musste... Ich muss zwei Mal umsteigen.“

„Du hast selbst gesagt, ich kann das Auto haben, weil ich mehr Gepäck habe.“

„Das stimmt, so schlimm ist das auch wieder nicht, auf jeden Fall besser, als allein im Auto herumkurven, du weißt, ich fahre nicht gerne mit dem Wagen in eine unbekannte Gegend.“

„Schatz, es gibt ein Navi.“

„Ja, und dann ziehen sie mich aus irgendeinem Schlammloch, in das mich das Navi geführt hat.“

„Ach Lilly“, seufzte Paul, weil er wusste, er konnte Lilly nicht überzeugen, das hatte er schon ein paar Mal vergeblich versucht. „Und was habt ihr zwei Hübschen den ganzen Tag vor?“

„Na, quatschen, was sonst.“

„Und ich reservier dir für die letzte Woche ein Zimmer bei mir im Hotel.“

„Ist gut. Und vergiss nicht, mich gleich anzurufen, wenn du eingecheckt hast.“

„Lilly, ich ruf doch immer an.“ Paul und Lilly telefonierten jeden Tag, wenn er nicht zu Hause war, deshalb war diese Bemerkung überflüssig.

Paul fuhr regelmäßig auf Kur und Lilly nützte das und gönnte sich ein paar Tage Wellness mit ihm gemeinsam. Dieses Mal hatte sie mit ihrer Freundin Cornelia, bereits vor längerer Zeit vereinbart, bevor sie zu Paul fuhr, sie ein paar Tage zu besuchen. Lilly freute sich darauf Cornelia bald wieder zu sehen. Die beiden telefonierten regelmäßig, hatten sich aber zwei Jahre nicht getroffen.

Das Ehepaar packte zu Ende und Lilly und Paul genossen den Abschiedsabend.

***

Am nächsten Tag nahmen der Kommissar und sein Assistent ein einfaches Frühstück zu sich. Der Mord hatte sich wie ein Lauffeuer im ganzen Umkreis herumgesprochen und die ersten Journalisten und Fotografen waren eingetroffen. Sie schwärmten im ganzen Ort aus und befragten jeden, der ihnen in die Quere kam.

Auch in der Pension tauchten sie auf und als sie mitbekamen, dass es sich bei den zwei Männern um die ermittelnden Beamten handelte, bemühten sie sich Informationen zu bekommen.

„Das hat uns gerade noch gefehlt“, brummte der Kommissar. Im Nu stürzte sich ein Reporter auf die beiden und bombardierte sie mit Fragen: „Was ist passiert? Wissen Sie schon, wer es getan hat? Gibt es Hinweise auf ein Motiv?“

Der Kommissar fiel ihm ins Wort und sagte so laut, dass alle Anwesenden es hören mussten: „Bitte, wir sind am Anfang der Ermittlungen und möchten um Ihr Verständnis bitten, dass wir noch keine Informationen an die Presse weitergeben können. Sobald wir mehr wissen, werden wir Sie selbstverständlich davon in Kenntnis setzen.“

„Und wann wird das sein?“, blieb der Journalist hartnäckig.

„Ich verspreche Ihnen, wenn Sie uns unsere Arbeit machen lassen, bekommen Sie schon bald Informationen.“ Der Kommissar wollte Zeit gewinnen, Journalisten können hinderlich bei seiner Arbeit sein.

„Na schön, wir verlassen uns darauf“, sagte der Journalist.

Während die Kriminalisten ihr Frühstück beendeten, konnten sie beobachten, wie sich der Reporter und sein Fotograf ein Zimmer nahmen. Das erzeugte zusätzlich Druck, manche dieser Zunft sind auf der Jagd nach einer guten Story unberechenbar und nehmen keine Rücksicht auf die Polizeiarbeit.

Die Vernehmungen der Gottesdienstbesucher am Vortag hatte nichts ergeben. Niemand schien zur Tatzeit das Kirchenschiff verlassen zu haben und niemand hatte etwas gesehen. Wenn alle die Wahrheit sagten, war der Geistliche bei jedem beliebt gewesen und ein Motiv nicht nachvollziehbar. Also erhoffte sich Kommissar Hartmann wichtige Informationen von der Haushälterin und der Kanzleikraft.

Die Haushälterin Frau Augustin erfüllte jedes Klischee einer lieben, etwas dicklichen alten Dame. Sie beschwerte sich immerzu über die so schlecht gewordene Welt, die ihren armen Herrn Pfarrer auf dem Gewissen habe. Bei jeder Frage brach sie in Tränen aus und Kommissar Hartmann musste warten, bis sie sich beruhigt hatte.

Nachdem sie bei den üblichen Fragen keinen Hinweis zur Klärung geben konnte, holte er das Plastiktütchen hervor, in dem sich die goldene Krawattennadel befand, die sie unter dem toten Pfarrer gefunden hatten und hielt es ihr vor Augen.

„Bitte, Frau Augustin, beruhigen Sie sich“, versuchte er sein Bestes, damit er endlich die Vernehmung fortführen konnte. Sie schniefte in ein weißes Stofftaschentuch dessen Rand mit Blümchen bestickt war. Kommissar Hartmann konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt jemanden ein Stofftaschentuch hatte benutzen sehen.

„Schon gut, bitte Herr Kommissar, stellen Sie Ihre Fragen!“ Für einen Moment hatte es den Anschein, als würde sie sich endlich fangen.

„Danke, Frau Augustin.“ Nachdem sie keine Anstalten machte, das Säckchen zu nehmen, schob er das Plastiktütchen über die Tischplatte und legte es sorgfältig gerade hin, damit Frau Augustin es genau betrachten konnte.

„Was ist das?“, sie sah genauer hin. „Sieht aus wie ein goldenes Schmuckstück“, stellte sie fest.

„Ja, es ist eine goldene Krawattennadel. Ich wollte von Ihnen wissen, ob Sie Pfarrer Hölzel gehört hat.“ Sie bekam wieder Tränen in den Augen.

„Ich weiß nicht, aber ich glaube nicht, er trug nur eine Armbanduhr und sein Kreuz. Soweit ich weiß, war das aber aus Silber, andere Schmuckstücke habe ich nicht an ihm gesehen. Ist das wichtig?“

„Ja, wir haben sie unter dem Leichnam gefunden und…“ Sofort brach sie erneut in einen Weinkrampf aus und Kommissar Hartmann hätte sich für seinen verbalen Ausrutscher am liebsten auf die Zunge gebissen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie sich endlich beruhigt hatte. Behutsam fuhr er fort: „Also Frau Augustin, kennen Sie die Krawattennadel oder haben Sie sie einmal beim Herrn Pfarrer gesehen? Sehen Sie sie ruhig genauer an.“ Er hob das Tütchen in die Höhe und hielt es ihr vor die Augen. „Es zeigt einen Schmuckstein, wahrscheinlich einen Diamanten mit kleinen roten Steinen umrandet, vielleicht Rubine. Das muss doch wertvoll sein und auffallen, vielleicht haben Sie davon gehört, dass es jemandem fehlt.“

„Nein, tut mir leid“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Sie müssen wissen, sein Schmuck war eines der wenigen Sachen, um die er sich selbst gekümmert hat. Ich weiß nicht, ob er Schmuckstücke besaß. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie ihm gehörte, wissen Sie, er war ein sehr bescheidener Mann.“ Sie sagte das mit großer Hochachtung und es war das erste Mal seit Beginn des Verhörs, dass er sie ansatzweise lächeln sah. „Auf jeden Fall habe ich noch nie eine solche Krawattennadel bei ihm gesehen, sie passt auch nicht zu seinem Stil“, meinte sie und schnäuzte erneut beherzt in ihr altmodisches Stofftaschentuch.

„Es ist wichtig, dass wir klären, wem sie gehört. Wir wissen nicht, ob sie etwas mit dem Mord zu tun hat, aber da sie unter dem Leichnam von Pfarrer Hölzel gefunden wurde, könnte es sein, dass sie dem Mörder gehört.“

„Oh, mein Gott.“ Frau Augustin drückte ihr Taschentuch auf das Gesicht und begann von neuem herzzerreißend zu weinen.

„Nein, oh nein.“ Verdammt, wie blöd konnte man denn sein, ärgerte sich Kommissar Hartmann über sich selbst. Er lief um den Tisch und stand hilflos bei Frau Augustin. „Bitte, weinen Sie nicht mehr.“ Er tätschelte ihr vorsichtig den Rücken, doch das half nichts. „Bitte Frau Augustin“, er half ihr sanft auf die Beine, „gehen Sie nach Hause und machen Sie sich eine schöne Tasse Tee.“ Er führte sie zur Tür. „Sollte ich noch Fragen haben, melde ich mich bei Ihnen.“ Er atmete tief durch, als Frau Augustin endlich weg war und brauchte eine Weile, bis er sich nach der Befragung mit der sensiblen Frau Augustin gefangen hatte.

***

Der Kommissar ging vor die Kirche, um nach der ermüdenden Befragung von Frau Augustin ein wenig Luft zu schnappen und verfluchte, dass er diese Befragung nicht seinem Inspektor hatte machen lassen. Dieser war unterwegs Dorfbewohner zu befragen und er überlegte, ob sein Assistent den einfacheren Job hatte. Bald fühlte er sich wieder frisch genug und er machte sich auf, seine Arbeit fortzusetzen. Auf dem Weg zurück in die Kanzlei, begegnete er dem Journalisten und dem Fotografen von vorhin.

„Guten Morgen“, begrüßte der Journalist ihn höflich, „gibt es schon Neuigkeiten?“

Der Kommissar erwiderte den Gruß: „Leider nein, ein bisschen Zeit zum Recherchieren müssen Sie uns schon geben. Vergessen Sie unsere Abmachung nicht!“, erinnerte er ihn daran, dass er keine Einmischung wünschte.

„Und Sie vergessen Ihr Versprechen nicht!“

„Für welche Zeitung schreiben Sie?“

„Für die, die am meisten für eine Story bezahlt.“

„Und wer sind Sie?“, wandte er sich an den Fotografen, aber der Reporter antwortete für ihn.

„Das ist Klaus Blum, wir arbeiten manchmal zusammen“, erklärte er. „Mein Name ist übrigens Manfred Plattek“, stellte er sich nachträglich vor. „Was werden Sie als nächstes tun?“

„Wir sind erst am Anfang unserer Ermittlungen, das heißt Routinearbeiten.“

„In welche Richtung gehen die?“

„Es gibt noch keine Richtung, hören Sie, ich muss jetzt weiter, ich melde mich.“

Der Reporter merkte, dass Hartmann nicht bereit war, ihm Informationen zu geben, also ließ er es gut sein und verabschiedete sich. Der Kommissar sah, wie die beiden zum Gasthaus gingen und er setzte seinen Rückweg zur Kirche fort.

Inzwischen war Frau Cornelia Klahr, Pfarrer Hölzels Kanzleikraft an ihrem Arbeitsplatz. Sie war noch gestern spätabends von der aufgeregten Frau Augustin aufs Ausführlichste über die Ereignisse aufgeklärt worden und so war sie nicht überrascht, als Kommissar Hartmann in der Kanzlei auftauchte. In ihr fand er eine bessere Informantin. Sie war aufmerksam und weit weniger sensibel.

Frau Klahr war eine Frau von Ende vierzig, mittelgroß und hatte eine schlanke Figur, nur ihre Schultern wirkten ein wenig zu breit. Der Kommissar fand sie überaus attraktiv. Sie hatte wunderschöne graue Augen, die farblich perfekt zu ihrem roten Haar passten. Er fing mit der gängigsten Frage an, ob ihr in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen wäre. Sie warf ihre sehr üppige Mähne gekonnt zurück: „Ja, Pfarrer Hölzel hat mich im letzten Monat auf den Dachboden geschickt, um ihm alte Akten zu bringen. Ich musste alles stehen und liegen lassen, er meinte, das wäre wichtig und ich solle sie sofort holen, das war ungewöhnlich. Üblicherweise ist die Arbeit hier eine sehr planbare.“ Ihre Blicke trafen sich und sie fand, dass er ein gutaussehender Mann sei. Schade, dass er nicht größer war, aber was soll`s, er war sicher verheiratet und hatte drei Kinder.

„Und um welche Akten handelte es sich?“

„Es waren die Sterbebücher von 1939 bis 1945. Anfangs dachte ich mir noch nicht viel dabei. Wir werden manchmal von Ahnenforschern um Hilfe gebeten.“ Sie beugte sich näher zum Kommissar und kniff ihre grauen Augen zusammen, sodass er ihre kleinen Fältchen sehen konnte. „Aber die Sterbebücher dürften nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben, denn er begann in seinem Laptop im Internet zu surfen.“

„Und das war seltsam?“, fragte er.

„Das kann man so sagen. Normalerweise bat er mich darum, wenn etwas zu schreiben oder recherchieren war. Unser Herr Pfarrer war ein kluger, lieber Mensch, aber wie Internet funktioniert, hat er nie wirklich verstanden. Aber dieses Mal wollte er das selber machen“, sagte sie in einem verschwörerischen Ton.

„Haben Sie herausgefunden, was ihn so interessierte oder hat er Ihnen etwas darüber erzählt?“

„Er meinte, er wolle ein bisschen mehr über die ehemaligen Besitzer des Guts herausfinden, wann sie gestorben sind und so. Die Baronin, die es jetzt bewohnt und ihr verstorbener Mann, haben es angeblich nach dem Krieg erworben. Warum ihn das so brennend interessierte, weiß ich nicht, aber in letzter Zeit traf er sich öfter mit der alten Baronin. Vielleicht hatte die Angelegenheit sein Interesse geweckt oder sie hatte ihn darum gebeten.“ Als der Kommissar von dieser interessanten Tatsache nicht sehr beeindruckt schien, setzte sie noch nach: „Die war seit Ewigkeiten nicht mehr in der Kirche gewesen. Doch jetzt auf einmal war sie ständig mit dem Herrn Pfarrer zu sehen. Sie rief an, ließ sich sofort verbinden. Wenn ich fragte, worum es geht, meinte sie, das sei privat. Gut, sie ist nicht mehr die Jüngste und da denkt man wahrscheinlich verstärkt über ein Leben nach dem Tod nach. Aber merkwürdig war es doch“, blieb sie bei ihrer Überzeugung, dass diese Information für die Polizei wichtig sein muss.

„Und wie heißt die Baronin?“

„Baronin Klesst von Traunwarth.“ Frau Klahr ärgerte sich über die zur Schau gestellte Lässigkeit des Kommissars. Jeder andere hätte sicher gefragt, wie sich dieser komplizierte Name schreibt, nicht so dieser Kriminalbeamte. Sie war versucht ihm den Namen unaufgefordert zu buchstabieren, entschied sich aber dagegen.

„Und wo finde ich dieses Gut?“, fragte Kommissar Hartmann und schickte sich endlich an, etwas zu notieren.

„Es ist ein riesiges Anwesen im alten Forstwald, das größte Anwesen in der Gegend. Sie fahren die Hauptstraße entlang und nach etwa fünf Kilometern kommt eine Abzweigung. Achten Sie auf das Schild „Gut Wertheim“. Seit dem Tod des Herrn Baron vor einigen Jahren bewohnt sie es allein mit ihrem Sohn und dem Ehepaar Neidhartinger. Frau Neidhartinger macht den Haushalt und er kümmert sich um Handwerkliches und den Park.“

„Danke, das war´s erst mal. Wenn Ihnen noch etwas dazu einfällt, rufen Sie mich bitte unter dieser Nummer an. Ich bin immer erreichbar.“

Immer erreichbar, wozu? Ihn interessierte sowieso nicht, was sie zu sagen hatte. Er reichte ihr seine Visitenkarte und verabschiedete sich.

***

Cornelia konnte an nichts anderes denken. Sie war bestürzt über den Tod des Herrn Pfarrer und es belastete sie, dass man noch nicht wusste, wer der Mörder war. Am meisten beschäftigte sie, wer, welches Motiv haben könnte. So wie sie das sah, musste es eine persönliche Angelegenheit gewesen sein. Aber wer hatte einen so starken Grund, ihn auf diese grausame Weise zu ermorden. Vielleicht konnte sie noch Hinweise finden, immerhin kannte niemand die Belange der Pfarre so gut wie sie.

Cornelia wollte nach ihrer Scheidung vor mehr als acht Jahren wieder arbeiten gehen, um eigenes Geld zu verdienen. Sie hatte ihren Beruf nach der Geburt ihrer Tochter, nicht mehr ausgeübt und sich ausschließlich um Kind und Haushalt gekümmert. Kaum war ihre Tochter wegen des Studiums nach Deutschland gezogen, fand ihr Mann Gefallen an einer jungen Mitarbeiterin in seiner Firma und ließ sich scheiden. Sie war über zwanzig Jahre mit ihm verheiratet gewesen und tief verletzt. Ihr Stolz hinderte sie daran, von seinen Alimenten zu leben, doch niemand wollte eine fast vierzigjährige ehemalige Bankangestellte einstellen, die lange nicht in ihrem Beruf gearbeitet hatte. Und dann hatte sie über eine Bekannte von dem offenen Kanzleiposten in Machkirchen erfahren und sie hatte Glück. Besser hätte sie es nicht treffen können. Cornelia zog hierher, fand eine kleine Wohnung im einzigen Mietshaus im Dorf und eine neue Heimat. Inzwischen hat sie sich ein neues Leben aufgebaut und fühlt sich hier sehr wohl.

Nachdem der Kommissar gegangen war, beeilte sich Cornelia das Schlafzimmer von Pfarrer Hölzel zu erreichen. Ihre Körperhaltung verriet, dass sie nicht gesehen werden wollte. Immerhin hatte sie in diesem Raum nichts verloren und es wäre ihr unangenehm gewesen, beim Schnüffeln ertappt zu werden. Irgendwie war es ihr auch peinlich und gar nicht ihre Art in fremden Sachen zu wühlen, aber es gab keine andere Möglichkeit, sie wollte unbedingt den Laptop von Pfarrer Hölzel finden. Ihre Neugierde war zu groß und wenn sie Glück hatte, war die Polizei noch nicht hier gewesen. Sie fing beim Nachtkästchen an, der Inhalt war überschaubar. Taschentücher, Tabletten, sie konnte nicht erkennen wofür, ein Buch und Briefe seiner Mutter. Die Arme, kurz schwenkten ihre Gedanken zu der alten gebrechlichen Frau, die seit einigen Jahren in einem Altenheim betreut wurde. Sie besann sich ihres Vorhabens, nahm alles heraus - nichts. Auf seinem Schreibtisch lagen einige Bücher und ein unordentlicher Haufen Notizen für die Predigt am Sonntag. Sie wühlte herum, öffnete Laden. Wieder nichts. Sie ging zum Schrank, öffnete ihn und durchsuchte die Kleiderstapel. Endlich, unter den Pullovern fand sie das Gesuchte. Wieso hatte er ihn hier aufbewahrt? Egal. Sie nahm ihn vorsichtig unter den Arm und verließ, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass vor der Türe niemand war, das Zimmer. Mit raschen Schritten ging sie zurück in die Kanzlei, holte ihre Sachen, verstaute den Laptop in einer Leinentasche und lief ungeduldig nach Hause.

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