Tod am Fließ - Zaplinski ermittelt - Andreas Preiß - E-Book

Tod am Fließ - Zaplinski ermittelt E-Book

Andreas Preiß

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Beschreibung

Dieter Zaplinski, Erster Kriminalhauptkommissar aus Berlin-Wittenau, muss den gewaltsamen Tod eines Zuhälters aufklären. Aber das wird nicht die einzige Leiche in dieser schwierigen Ermittlung bleiben. Die hält ihn so in Atem, dass kaum Zeit für Kneipenwirtin Moni, das Billardspielen und den Besuch bei seinen Handball-Füchsen bleibt. Zusammen mit Magga Czerny ("die Neue macht sich gut"), Vera Schwertfeger ("manchmal nervt die") und dem notorischen Besserwisser Bernhard Kolbow ("immer Arsch an die Wand") versucht er, Licht in ein schier undurchdringliches Geflecht von Rotlichtmilieu, Schutzgelderpressung, militanten Feministinnen und einem durchdrehenden Cafébesitzer zu bringen. Und dann gibt es da auch noch Verbindungen zu dem alten Fall, der zehn Jahre zuvor in einem Desaster geendet hatte.

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Seitenzahl: 270

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Andreas Preiß

Tod am Fließ

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tod am Fließ – Zaplinski ermittelt

Ein Berlin-Wittenau-Krimi

 

Andreas Preiß

 

 

 

 

 

 

Für Silli

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage November 2020

Impressum

Texte:                 © Copyright by Andreas Preiß

Umschlag:                © Copyright by Andreas Preiß

Verlag:                Selbstverlag Andreas Preiß                Herbsteiner Str. 32                 13435 Berlin                 [email protected]

Druck:                epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Kamera läuft

Vor zehn Jahren

 

Der Junge wirkte wie vierzehn, schmächtig und mit zarten Gesichtszügen. Er saß nackt auf dem großen Polsterbett und sah mit leeren Augen über die Schulter zu dem überdimensionalen Wandspiegel. Dort hinzuschauen, das hatte man ihm eingebläut.

 

Der Mann, der neben ihm stand, entledigte sich gerade hastig seiner Unterhose. „Mach den Mund auf.“ Dann drehte er mit gierigem Blick den Kopf des Jungen zur Seite und schob seinen Unterleib vor.

Die hinter dem Spiegel versteckte Kamera lief da bereits und das Gesicht des Mannes ließ sich gut erkennen. Chang war sehr zufrieden. So einer hatte in seiner Sammlung noch gefehlt.

Abkürzung

Enrico Pape verließ den Friedhof. Er blickte nach oben in den grauen Himmel. Scheißregen, nicht heftig, aber auf Dauer unangenehm nervend. Er zögerte, ob er heute nicht lieber den längeren Weg an der Mühle vorbei nach Hause nehmen sollte. Hinten herum durch den Wald war es zwar deutlich kürzer, aber er würde sich Hose und Schuhe im Dreck ruinieren.

Bei einem Blick zum Boden war ihm allerdings sofort klar, dass da nicht viel mehr Schaden anzurichten war. Der Anzug musste eh in die Reinigung. Die Schuhe würden schon wieder trocknen. Außerdem fror er. Und hell genug war es gerade noch. Er schlug fröstelnd den Mantelkragen zum Schutz gegen den feucht-kalten Wind hoch. Dann beschleunigte er seine Schritte und bog hinter der Autobahnunterführung rechts zum Tegeler Fließ auf den Wanderweg in den Wald ab.

Als er nach einigen Minuten das kleine Tor am Zaun erreichte, nestelte er noch im Gehen sein Schlüsselbund aus der Manteltasche. Mit den kalten Fingern hatte er Mühe, den richtigen Schlüssel auszuwählen, zumal in diesem Dämmerlicht.

Als er ihn endlich herausgefiltert hatte und im Begriff war, die Zauntür aufzuschließen, beschlich ihn das ungute Gefühl, nicht alleine zu sein. Er wollte sich gerade umdrehen, um sich zu vergewissern, da hörte er ein britzelndes Geräusch.

Eine Millisekunde später traf ihn schon ein mächtiger stechender Schlag seitlich in den Hals. Unerträglicher Schmerz erfasste explosionsartig seinen ganzen Körper. Sein Gehirn registrierte noch verwundert, dass er stürzte, er wollte die Hände bewegen, um sich abzufangen. Vergeblich. Er war komplett verkrampft, paralysiert. Sein Körper gehorchte ihm überhaupt nicht mehr. Ein weiterer heftiger Schmerz bohrte sich in seinen Bauch, als er hart auf einen Aststumpf prallte.

Hilflos und mit verständnislos aufgerissenen Augen musste er ertragen, wie er an den Füßen über die Erde geschleift wurde. Sein Hinterkopf stieß gegen Steine und Wurzeln, Zweige streiften ihn schmerzhaft im Gesicht.

Dann plötzlich ließ man ihn los. Seine Beine fielen wie tote Äste auf den Boden. Er lag auf dem Rücken, hilflos wie ein Käfer. Es roch modrig. Er spürte Wasser, Matsch. Und Kälte. Bis auf die heiße Stelle im Bauch.

Ein Gesicht tauchte dicht vor seinem auf, schrie ihn an. Jemand kniete auf ihm, auf seiner Brust, er konnte kaum noch atmen. Er verstand lediglich Wortfetzen.

„Drecksau … Schwein …mir angetan …?“

Wer zur Hölle ist das? Was soll das?, fragte er sich.

Im Dunkeln konnte er nichts erkennen. Schläge trafen hart sein Gesicht, links, rechts, links, rechts, klatsch, klatsch. Gebrüll. Spucke sprühte in seine Augen. Er blinzelte, hatte den Impuls sich das Gesicht zu schützen, aber seine Hände wollten nicht, konnten nicht.

Wegen dieser Hilflosigkeit überkam ihn unbändige Wut. Er wollte brüllen, um sich schlagen, konnte es aber nicht. Hustete nur. Krächzte nur. Kassierte – peng – wieder einen Schlag. Auf das rechte Ohr, das sofort mit einem schrillen Pfeifen reagierte. Und noch eine Backpfeife, und wieder, links, rechts, links. Er wollte sich wegdrehen. War aber ausgeliefert.

„Sieh … mich … an!! Los … sieh mich an“, befahl die wutverzerrte Fratze.

Er reagierte nicht. Weil er nicht reagieren konnte. Erneut spürte er diesen gewaltigen blitzähnlichen Schlag am Hals. Das Gesicht näherte sich und zischte ihm etwas ins Ohr. Ja, jetzt erinnerte Enrico sich. Wegen dieser Lappalie so ein Stress?? Das war doch überhaupt nichts Persönliches gewesen. Rein professionell.

„… feiges… Stück… Scheiße…!“, brüllte ihn die Stimme wieder an.

Enrico wollte den Kopf heben, etwas sagen. Doch es gelang ihm einfach nicht.

„Feiges… Arschloch … damit … weißt, wie … das anfühlt ...“, schrie die Stimme. Sie überschlug sich und er verstand nicht alles.

Dann explodierte der bekannte Schmerz wieder in ihm. In seinen Hoden. Einmal, und noch einmal und wieder. Sein Körper zuckte unkontrolliert, er stand kurz vor einer Ohnmacht.

„Aber ich … sollte nur … ich …wollte nur“, krächzte er mühsam. „Chang …, Chang hat …“

Das Gesicht vor ihm war überrascht, blickte ihn verwirrt an. „Chang?“

Er versuchte zu sprechen. Aber in ihm war keine Energie mehr. Nur ein unverständliches Brabbeln drang aus seinem Mund. Als er das Bewusstsein verlor, fühlte sich das herrlich an. Den hektischen Versuch, ihn durch Schütteln und Ohrfeigen und Anbrüllen wieder in die Wirklichkeit zurückzuholen, registrierte er nicht mehr. Dann war da nur noch Ruhe und Enrico Papes Kopf rutschte langsam in das morastige Wasser.

 

Aufstehen

Der unangenehme Druck auf seine Blase hatte ihn langsam aber stetig aus dem Tiefschlaf geholt. Dieter Zaplinski drehte sich auf die Seite und versuchte, dadurch das schmerzhafte Gefühl zu lindern und das Aufstehen noch etwas hinauszuzögern. Aber es half nichts, diese Nacht war vorbei.

Er öffnete träge ein Auge und blinzelte. Durch die leicht verbogene Alujalousie fiel trübes Herbstlicht in das Schlafzimmer und ließ die interessant in der Luft tänzelnden Staubpartikel sichtbar werden. Er schloss die Augen wieder.

Schlafzimmer, die Bezeichnung traf es nicht ganz. Denn Zaplinskis 30-Quadratmeter-Appartment bestand nur aus einem Raum. Eine chaotische Melange von Wohnen, Schlafen und ausnahmsweise Kochen. Wobei: Kochen auch das falsche Wort war. Aufwärmen von Fertigprodukten mittels Mikrowelle träfe es besser.

Den Begriff Ordnung kannte der langjährige Single Dieter Zaplinski zwar, er spielte für ihn mangels weiblicher Sozialkontrolle aber nur im beruflichen Kontext wirklich eine Rolle: Sicherheit und Ordnung. Denn Zaplinski war Polizist. Kriminalpolizist, um es korrekt zu sagen.

Erster Kriminalhauptkommissar bei der Berliner Polizei. Abgekürzt EKHK, Besoldungsgruppe A 13, wie es amtlich hieß. Der „Epi“, der Erste Polizeihauptkommissar, wie der vergleichbare Rang der Uniformierten lautete, war der Enddienstgrad im gehobenen Dienst. Nur wenige erreichten den vor ihrem Ruhestand. Etliche von Zaplinskis Kollegen vertraten die Ansicht, es wäre überhaupt nur den alten Epis zu verdanken, dass die Polizei noch funktionierte.

Die Führungskräfte eine Hierarchieebene weiter oben – wegen ihrer güldenen Abzeichen gerne auch „Goldfasane“ genannt – würden dagegen die Arbeit eher behindern. Der sogenannte höhere Dienst – oder wie Zaplinski abfällig immer gerne sagte: „Der abgehobene Dienst“ – war mit seinen unsäglichen Controlling-Kennzahlen, Zielvereinbarungen und Statistik-Wettbewerben furchtbar weit weg vom wirklichen Leben, fand Zaplinski. Als wäre innere Sicherheit zu managen wie ein Wirtschaftsunternehmen.

Dieter Zaplinski ging langsam auf die Sechzig zu und war Polizist aus Überzeugung. Seit zehn Jahren leitete er die Mordkommission Nord bei der Wittenauer Kripo. Die stressige Arbeit schien ihm, der frei von jedem belastenden familiären Anhang und sonstigen privaten Verpflichtungen war, wie auf den fülligen Leib geschneidert. Ruf-Bereitschaften, Alarmierungen, haufenweise Überstunden, das juckte ihn nicht. Und beim Feierabendbier trudelte er oft als Letzter nach Hause. Na ja, dahin halt, wo das zuletzt in grauer Vorzeit frisch bezogene Schlafsofa ihm die Gelegenheit zum Ausschlafen bot. Genau dort lag er nun und kramte in seinem schummrigen Schädel nach Informationen.

„Freier Tag“, kombinierte Zaplinski, da der Wecker ihn nicht mit „We will rock you“ von Queen geweckt hatte.

„Hell … könnte morgens sein …“, schlussfolgerte Zaplinski weiter, nachdem er zögerlich wieder ein Auge geöffnet hatte.

Er nötigte das zweite Augenlid ebenfalls dazu, sich nach oben zu heben. Das Display des Radioweckers stanzte rote Ziffern in seine Netzhäute. Sein Gehirn fügte sie träge zu einer brauchbaren Information zusammen: 12:45 Uhr.

Zaplinski warf einen Blick auf die Smartwatch, die seine Kollegen ihm zum 40-jährigen Dienstjubiläum geschenkt hatten. Sie zeigte die gleiche Uhrzeit.

„SUN“, teilte ihm das Display mit, Sonntag. Er hatte die Uhr schätzen gelernt, fand es nützlich, Anrufe damit anzunehmen, Wetterbericht und Sportnachrichten am Handgelenk zu lesen. Leider zählte das Gimmick auch Schritte. Nach jeder bewegungsarm am Schreibtisch oder Tresen verbrachten Stunde nervte die Uhr ihn mit einem energischen Brummen. Ein hektisch im Display mit den Armen ruderndes Männlein forderte ihn dann zu körperlicher Aktivität auf.

„Sie sitzen zu lange!“, stand dann da.

Zaplinski, der seinen mangelnden Bewegungsdrang im Gegensatz zu seiner Uhr und den lieben Kollegen überhaupt nicht änderungsbedürftig fand, pflegte dem Strichmännchen mit der anderen Hand ein paar Mal zurück zu winken. Das gab dann wieder eine Stunde Ruhe.

Wie man den Quälgeist abstellen konnte, das hatte er noch nicht herausgefunden.

Zaplinskis massiger Körper verspürte immer noch den dringenden Wunsch weiter liegenzubleiben und er klappte beide Augenlider schützend wieder zu. Aber volle Blase und schmerzender Rücken ließen sich partout nicht mehr ignorieren. Es half alles nichts, er würde aufstehen müssen.

Er zwinkerte ein paar Mal den Schlaf weg und öffnete schließlich vorsichtig die Augen. Dann tastete er nach dem Apnoe-Gerät, das nachts Luft mit Überdruck in seinen Schlund presste und damit das Schnarchen verhinderte. Verdiente Strafe für übermäßigen Lebensmittel-und/oder Alkoholkonsum. Er fand den Aus-Knopf und das Brummen des Kompressors erstarb.

Das ganze Konstrukt mit der Nasenmaske und dem flexiblen Luftschlauch ließ ihn wie eine in die Jahre gekommene Billigversion von Darth Vader aussehen. Er gähnte ausgiebig und zog das elastische Kopfgeschirr von seinem Schädel. Zaplinski genoss kurz die Ruhe und setzte sich umständlich an der Kante seines Schlafsofas auf.

Nicht nur einmal hatte er das Absetzen der Maske unter dem Stress heftigen morgendlichen Harndrangs vergessen. Was dann dazu führte, dass er die komplette Gerätschaft, samt Netzteil wie einen widerspenstigen kleinen Köter polternd hinter sich her Richtung Klo schleifte.

Nur gezwungenermaßen hatte er sich vor ein paar Jahren im Schlaflabor der Charité durchchecken lassen. Klar, gelegentlich gab es da mal ein Nickerchen am Schreibtisch, na und? Die Kollegen hatten anfangs noch feixend Fotos geschossen, wenn er mit offenem Mund eingeschlafen war, die Füße auf dem Tisch. Einmal hatten sie es sogar gewagt, so einen Pappanhänger an seinem großen Zeh zu binden, wie er ansonsten nur an Leichen angebracht wurde. Sehr witzig.

Aber sein damaliger Chef hatte irgendwann genug von seinen Auszeiten gehabt. „Zaplinski, so geht das nicht weiter. Entweder du unternimmst was dagegen oder du bearbeitest demnächst in Rudow Ladendiebstähle.“

Ladendiebstähle „verwalten“ und das in Rudow? In einer Ecke von Berlin, die von seiner Wohnung und von Monis Kneipe gefühlt so weit entfernt war wie Wladiwostok?

Der Zyniker in ihm hatte sich gefragt: Wurden Ladendiebstähle in Berlin überhaupt noch strafrechtlich verfolgt? War die Höchststrafe dafür nicht inzwischen drei Tage Schokopuddingverbot zum Nachtisch?

Zaplinski hatte sich widerwillig für das kleinere Übel entschieden.

Minutenlange Atemaussetzer hatten die nächtlichen Aufzeichnungen dann ergeben. „Lebensverkürzend ist das. Nicht so harmlos, wie Sie glauben, Herr Zaplinski. Da werden Stresshormone ohne Ende ausgeschüttet. Das schädigt ihr Herz auf Dauer gewaltig und verkürzt ihre Lebenserwartung“, hatte der Arzt ihm in ernstem Ton verkündet.

Das fand Zaplinski dann doch nicht so prickelnd und er war bereit gewesen, sich das Gerät fast im Wortsinne aufs Auge drücken zu lassen.

Beim ersten Gebrauch zu Hause hatte er die Klett-Strapse der Maske noch etwas zu stramm festgezurrt. Anfängerfehler. Die Abdrücke waren morgens im Büro sofort aufgefallen.

Statt „Guten Morgen“ hatte er zu hören bekommen: „Na, war wohl ne harte Nacht, Dieter. Du stehst neuerdings auf Fesselspielchen? Interessant …“

Der Begriff Feinfühligkeit kam im Wortschatz seiner Kollegen nicht vor. Frei nach dem Motto: Lieber einen Freund verlieren, als auf einen guten Witz verzichten. Zaplinski musste grinsen, denn der Spruch passte durchaus auch auf ihn. Wer austeilt, muss auch einstecken können.

Mittlerweile hatte Zaplinski sich nicht nur mit dem Gerät arrangiert, sondern es tatsächlich zu schätzen gelernt. Keine Spur mehr von Tagesmüdigkeit. Mit dem Gerät schlief er jetzt regelmäßig um die acht Stunden und fühlte sich morgensausgesprochen fit. Insofern konnte er jetzt relativ exakt sagen, dass er letzte Nacht etwa gegen kurz vor fünf Uhr früh ins Bett gefallen sein musste.

Zaplinski gratulierte sich triumphierend zu seiner heutigen Umsicht, die Maske vor dem Aufstehen abzunehmen. Er stemmte sich von der Sofakante hoch, ließ sich zu einem Ausfallschritt hinreißen und stieß mit einem lauten Yessss die geballte Faust vor. Wie ein Eishockeyspieler im Madison Square Garden, der gerade den Puck ins Netz geschmettert hat.

Allerdings meldete sich Zaplinskis rechtes Knie sofort schmerzhaft zu Wort. Der „Wayne-Gretzky-Move“ war aufgrund des Knorpelschadens vierten Grades keine so gute Idee gewesen.

Zaplinski, einst ein leidenschaftlicher Fußballer, hatte bereits mit Mitte zwanzig wegen des kaputten Knies die Schuhe an den Nagel hängen müssen. Da er bisher standhaft das Ersatzgelenk verweigert hatte, begleitete ihn ein ständiger Knieschmerz. Aber ab und an zwei Voltaren-Kapseln und zweimal im Jahr eine Behandlung mit Blutegeln hielten die Beschwerden einigermaßen in Schach. Wenn das so bliebe, dann würde kein noch so toller Chirurg Zaplinskis Gelenk von innen zu sehen bekommen.

Er reckte und dehnte den schmerzenden Rücken. Dann schlurfte er ins Bad und ließ sich auf dem Toilettensitz nieder. Dieser antrainierte Verhaltensreflex war ein Relikt aus seiner letzten verflossenen Beziehung. Allerdings hatte die langwierige und am Ende erfolgreiche Umerziehung vom Steh-zum Sitzpinkler die Trennung auch nicht verhindern können. Seitdem war da niemand mehr gewesen, der sich über ein ungeputztes Klo oder Kalk in der Duschkabine beschwerte.

Leider. Er seufzte. Manchmal beneidete er diese schöne heile Welt der anderen schon sehr, diese kompletten Familien, die so vertraut miteinander umgehenden Paare.

 

Arbeit

Er fuhr sich kratzend mit den Fingern über den alters-behaarten Bauch. Dann trottete Zaplinski zur Kochnische und schaltete die Kaffeemaschine ein.

Der mit Abstand luxuriöseste Einrichtungsgegenstand in der Behausung erwachte lärmend zum Leben. Zaplinski nahm eine schon geöffnete Packung Milch aus dem Kühlschrank und schnüffelte skeptisch daran. Mit dem Ergebnis zufrieden, füllte er den Milchbehälter, stellte ein hohes Glas unter die Maschine und drückte im Display auf Latte Macchiato. Das Gerät begann krachend die Bohnen zu schreddern und blies mit einem Zischen die Milchdüse frei. Zaplinski gähnte ausgiebig und fuhr sich mit der Hand durch die wie immer widerspenstig hochstehenden und noch erstaunlich vollen grauen Haare.

Als der elektrische Barista mit der Zubereitung fertig war, genoss Zaplinski den frischen Duft und nahm seufzend den ersten Schluck. Dann ging er zurück ins Bad. In seinem Alter schaffte man es morgens nie, die Blase beim ersten Mal zu leeren.

Zaplinski hockte sich wieder auf die Klobrille und genoss mit selig-dümmlichem Gesichtsausdruck den nachlassenden Druck. Da brummte sein Handgelenk.

Die Rufnummer, die seine Smartwatch jetzt anzeigte, begann mit 4664 … Er kannte sie nur zu gut: Lagezentrum, sprich Arbeit, sprich freier Tag adé. Was soll's, anderweitige Pläne hatte es eh nicht auf seiner Agenda gegeben.

Ein junger Zaplinski wäre jetzt sofort aufgesprungen, um den Anruf entgegenzunehmen. Aber der alte Silberrücken hatte die Ruhe weg. Er nahm grundsätzlich nie vor dem dritten Klingelzeichen ab. Oft genug erledigten sich Anrufe bis dahin von selbst.

Seine Erfahrung hatte ihn auch gelehrt: Wenn man uns ruft, ist eh alles gelaufen. Feuerwehr und Notarzt: die müssen fix sein, Leben retten, okay, da ist Schnelligkeit gefragt. Aber wir, wir fegen doch nur hinterher die Scherben auf.

Unchristliche Eile schadet nur, war sein Grundsatz und den predigte er auch seinen Mitarbeitern. Zaplinski ließ also das Handy weiter dudeln und laufen, was laufen musste. Noch so ein Prinzip: Erstmal Einsatzbereitschaft herstellen! Mit anderen Worten: Geh noch mal aufs Klo, du weißt nicht, wann die nächste Gelegenheit kommt. Und fünf Meter neben einer Leiche gegen den Baum pinkeln? Das konnte in Zeiten wo ständig irgendein Honk Handyfotos von allem und jedem schoss, nur eine Idee sein für jemanden, der auf seinen kurzen Moment der Weltberühmtheit scharf ist.

Zaplinski stand auf, zerrte die Unterhose halbherzig über den schlaffen Hintern und griff sich das Smartphone vom Beistelltisch neben dem Bett. In der Telefonbuch-App wischte er sich durch zu „Kolbow, Bernhard“. Wenn das Lagezentrum ihn nicht erreichte, versuchte man es automatisch bei seinem Stellvertreter.

Der war wie gewohnt nach dem ersten Klingeln gleich dran. „Hallo Zappa. Leiche in Öffentlichkeit, Fremdverschulden. Tegeler Fließ. Magga holt dich gleich ab.“

Der Erste Kriminalhauptkommissar gähnte noch einmal mit Inbrunst. Dann machte er sich wieder auf den Weg ins Bad, unter die Dusche. Damit er fertig war, wenn Magga käme. Małgorzata Czerny, seine neue Mitarbeiterin.

Beim ersten Kennenlernen war das Gespräch auf ihre polnische Herkunft gekommen. Ihre Familie stamme aus Danzig, hatte sie erzählt und Zaplinski gefragt, wo in Polen denn seine Wurzeln liegen würden. Als er daraufhin überrascht den Kopf schief gelegt hatte, hatte sie ihm erklärt, sein Name wäre ja wohl definitiv auch polnischen Ursprungs. Das war ihm neu gewesen. Tatsächlich hatte er bisher noch nie einen Gedanken an die Geschichte seines Familiennamens verschwendet. Aber er war neugierig geworden und fand später im Internet heraus, dass Magga recht gehabt hatte.

Sein Nachname war eine Ableitung von einem Ort namens Czaplin nahe Warschau. Zaplinskis Familie allerdings lebte schon seit Generationen in Berlin und ließ sich nicht konkret nach Polen zurückverfolgen. Na gut, so ernsthaft hatte er auch nie in seinem Stammbaum nachgeforscht.

Als er schon mal dabei war, hatte Zaplinski auch seinen Vornamen durch die Suchmaschine gejagt. Eine der Bedeutungen von „Dieter“ lautete da: „Der Reiche des Volkes“, aber das passte angesichts seines Kontostandes eher nicht. Die Version „Herrscher des Volkes“ allerdings hatte Zaplinski ausnehmend gut gefallen.

Dieter Zaplinski, Herrscher des Kripovolkes von Wittenau. Das hörte sich doch passend an, fand er in einem Anflug von Größenwahn.

Vor seinem geistigen Auge sah er sich in einer Tunika mit Lorbeerkranz und in Feldherrenpose auf einem Hügel vor seinen kampfbereiten Kohorten posieren.

Bereit zum Kampf gegen das Böse.

 

Premiere

Małgorzata Czerny manövrierte den dunkelblauen Dienstwagen auf den Waldparkplatz im Tegeler Forst. Der luxuriöse SUV mit Alufelgen und Ledervollausstattung hatte ursprünglich einem Finanzbetrüger gehört. Er war im Rahmen des Strafverfahrens eingezogen worden und so als Exot im ansonsten kleinbürgerlich-biederen Fuhrpark der Berliner Polizei gelandet. Zaplinskis Truppe hatte das unverschämte Glück gehabt, ihn als Dienstwagen zu nutzen zu dürfen.

Magga – niemand plagte sich mit ihrem schwer aussprechlichen Vornamen ab – war mit 23 die Jüngste bei den Wittenauer Ermittlern. Erst vor einigen Wochen dazugestoßen. Kurze glatte schwarze Haare, Pagenschnitt, und ein extra kurzgeschnittener Pony umrahmten ein rundliches Gesicht. Schwarz war im Regelfall auch die dominierende Farbe ihrer Bekleidung, ohne dass sie jedoch wie ein Punk oder Gruftie daherkam. Sie war zwar eher proper, aber weit davon entfernt, schwarz zur Kaschierung der Figur tragen zu müssen.

Die junge Kollegin hatte Zaplinski von dessen Wohnung abgeholt und ihm auf der kurzen Fahrt die ersten Informationen weitergegeben.

Viel war es nicht gewesen, was Kolbow ihr bei der Alarmierung mitgeteilt hatte.

Zaplinskis Wissensstand war noch dürftiger gewesen. Unbekannter Toter, gefunden beim Spaziergang von einem Rentner und seiner Enkelin. Keinerlei Ausweisdokumente oder persönliche Gegenstände bei der Leiche. Stichwort Raubmord.

Fundort der Leiche: in einem Waldstück am Fließ unweit von Tegeler See, Autobahn und S-Bahntrasse Richtung nördliches Umland. Das Fließtal war ein beliebtes Ziel für Spaziergänger, Radfahrer und Jogger im Berliner Norden.

Zaplinski grunzte nach ihrem Vortrag irgendetwas, dessen Bedeutung sie nicht entschlüsseln konnte. Ein Danke war es aber nicht gewesen. So richtig einschätzen konnte sie ihren neuen Chef immer noch nicht. Das verunsicherte sie.

Magga fand eine Lücke zwischen den diversen Einsatzfahrzeugen von Polizei und Feuerwehr und parkte elegant in einem Zug ein. Mit einem Gefühl, das sich am besten als gespannte ängstliche Vorfreude beschreiben ließ, stieg sie aus zu ihrer ersten Mordermittlung. Das Piepen der Funkfernbedienung hörte sich für sie an wie ein Startschuss.

 

John Doe

Zaplinski fluchte.

„Kurwa …!!“

Das polnische Schimpfwort hatte er von Magga übernommen. Klang irgendwie eleganter als „Scheiße“, fand er. Okay, solange man kein Pole war. Er war beim Aussteigen in eine Pfütze getreten und kaltes Wasser hatte den Weg in seine Schuhe gefunden. Angewidert und genervt schüttelte er so gut es ging den nassen Modder von seinen schwarzen Sneakers. Das fing ja toll an. Immerhin regnete es mittlerweile kaum noch.

Zaplinski zog fröstelnd die Kapuze seines teuren Outdoor-Anoraks über den Kopf. Er besaß nicht viele Klamotten, legte aber Wert auf Qualität, wenn er sich denn schon mal etwas Neues zulegen musste. Die Sachen hielten dann lange und er ersparte sich allzu häufige Einkäufe. Meistens bestellte er sich online irgendetwas, hin und wieder mit dem Fuchs-Logo seines Lieblingsvereins.

Sie gingen in Richtung Waldrand auf das blau-weiße Flatterband zu, das einen Trampelpfad markierte. Die beiden Kriminalbeamten nickten grüßend dem uniformierten Kollegen zu. Er hielt ihnen wie in jedem guten Kriminalfilm das Absperrband in die Höhe.

Sie schlüpften mehr (Magga) oder weniger (Zaplinski) elegant darunter durch.

Dann steuerten sie auf ein von Scheinwerfern hell ausgeleuchtetes Zelt zu. Drei Spurensicherer in mausgrauen Einweg-Overalls waren bereits bei der Arbeit.

Kolbow, Mitte vierzig, Brillenträger, hochgewachsen und von schlanker, ja fast dürrer Gestalt, trat auf sie zu. Der Kriminalhauptkommissar trug wie gewohnt Schlips und Kragen, darüber seinen unsäglichen beigefarbenen Trenchcoat à la Columbo. Er hatte natürlich sein Tablet dabei, das an einem schmalen Gurt um seinen Hals hing und auf dem er mit einem Stift seine Notizen einzugeben pflegte. Zaplinski selbst bevorzugte schnödes Papier, musste aber zugeben, dass so ein Tablet schon sehr praktisch war. Man konnte zum Beispiel Vernehmungen gleich vor Ort aufzeichnen, online recherchieren und hatte quasi die ganze Ermittlungsakte unter dem Arm. Und das Ding konnte handschriftliche Notizen in eine druckreife Datei verwandeln. Nicht schlecht, aber gut, dass Kolle das machte. Er hatte keine Lust, sich mit den verschiedenen Apps herumzuquälen.

Kolbow schob sich gerade einen Kaugummi in den Mund. „Moin Zappa, Moin Magga …“, begrüßte er sie mit seiner typischen Leidensmiene, die einem Trauerredner perfekt zu Gesicht gestanden hätte.

Sie traten unter das Zeltdach. Eine kleine Frau mit sehr hell-blondierter Igelfrisur kniete neben dem Leichnam. Franziska „Franzi“ Richter, die dreißigjährige Gerichtsmedizinerin war schon bei der Arbeit. Sie unterbrach ihr Tun und blickte auf, als Zaplinski und Magga dazukamen.

Ein kahlköpfiger Mann um die sechzig lag mit starr geöffneten Augen rücklings da. Bekleidet mit einem schwarzen Mantel, schwarzem Anzug, weißem Hemd, schwarzer Krawatte. Das Gesicht und der ganze Körper waren schmutzig vom Uferschlamm. Bereit zur Beerdigung, nur die Klamotten müssten vorher nochmal in die Reinigung. Zaplinski kam dieser zynische Gedanke automatisch. „Was können Sie uns schon sagen?“, wandte er sich an die Gerichtsmedizinerin.

„Nicht viel. Ich muss ihn nachher erstmal ordentlich duschen und dann sehen wir weiter“, verkündete die Richter und schob dann schnippisch nach: „Ich wünsche Ihnen übrigens auch einen schönen Sonntag.“

„Sorry, ja, dito, Ihnen auch einen guten Tag, Frau Richter“, grummelte Zaplinski. Er deutete auf die linke Hand des Toten. „Ist es das, was ich denke?“

Magga schaute mit Interesse, aber auch mit erhobenen Augenbrauen hin. Sie konnte sich erkennbar keinen Reim auf die merkwürdigen blutigen Verletzungen an den Fingern machen.

„Wenn Sie denken, dass sich da ein Tier einen kleinen Snack gegönnt hat, dann lautet meine Antwort: Ja“, antwortete die Gerichtsmedizinerin.

Zaplinski wiegte den Kopf. Er musste kurz an „Schweigen der Lämmer“, Teil zwei denken, wo Lecter eines seiner Opfer abgerichteten Wildschweinen zum Fraß vorwerfen wollte.

Kolbow schaltete sich ein. „Der Zeuge hat tatsächlich berichtet, sie hätten ein Wildschwein aufgeschreckt, als sie ihn gefunden haben. So wie es aussieht, ist er hierher geschleift worden. Er hat drei bis vier Tage mehr oder weniger im Wasser gelegen.“

Als die Gerichtsmedizinerin den Kopf hob und mit leichter Missbilligung eine Augenbraue hochzog, schob er eilig nach: „Meint Frau Richter. Unter Vorbehalt natürlich. Und was die Spurenlage angeht: Der Dauerregen der letzten Tage hat so ziemlich alles zerstört.“

„Das ist ja nicht so schön. Wir müssen als Allererstes mal rausfinden, mit wem wir es zu tun haben“, stellte Zaplinski fest. „Hatte er überhaupt nichts dabei, was uns bei der Identifizierung hilft?“

Kolbow schüttelte den Kopf. „Nichts, alle Taschen sind leer. Die Labels in der Bekleidung sind zwar noch da, aber leider nicht von einem Maßschneider, sondern von C&A und Co., das bringt uns also auch nicht weiter.“

„Da können wir uns ja glücklich schätzen, dass man unserem John Doe hier nicht auch noch alle Finger abgeschnitten hat. Beziehungsweise abgebissen. Na ja, fünf brauchbare haben wir ja zum Glück noch“, sagte Zaplinski und wies auf die unversehrte rechte Hand.

Er stellte sich gerade vor, was das hätte nach sich ziehen können, wenn das Borstentier sich alle zehn Finger einverleibt hätte. Großes Halali und Treibjagd auf die gesamte Wildschweinpopulation im Großraum Tegel mit anschließender Massen-Obduktion, um die fehlenden Greiforgane wiederzufinden? Oder alle Tier einfangen, dem Zeugen gegenüberstellen und den Übeltäter einer Magenspiegelung unterziehen? Oh Gott, Zaplinski, dachte er. Drehst du jetzt völlig durch oder was?

Er zog fest an seinem Ohrläppchen. „Okay. Für Magga und mich gibt es hier nichts weiter zu tun, denke ich. Ich will nur nochmal kurz mit dem Zeugen sprechen, Kolle.“

Der nickte und wirkte enttäuscht. „Ja, gut, dann muss ich das hier wohl alleine zu Ende machen.“

„Ich geh dann nachher zur Obduktion. Mit Magga. Wird Zeit, dass Sie mal mit am Tisch stehen, oder?“ Zaplinski legte den Kopf schief und sah die junge Kommissarin an.

Magga schluckte kurz, nickte dann und antwortete mit fester Stimme. „Klar, Herr Zaplinski.“

„Dann Abmarsch. Tschüss allerseits.“ Zaplinski wedelte zum Abschied mit der Hand in die Runde und ging Richtung Parkplatz.

Er registrierte, dass es endgültig aufgehört hatte zu regnen, schob die Kapuze vom Kopf und linste nach oben. Der Himmel riss langsam auf und die Herbstsonne schickte ein paar vorsichtige Strahlen durch die Wolken.

 

Wasserbüffel

Der alte Herr saß zusammengesunken neben der offenen hinteren Tür des Rettungswagens auf einem Rollator. Über seinen Schultern lag eine graue Decke, die Hände hatte er um einen dampfenden Plastikbecher gelegt. Er trug eine goldgerahmte Brille und hatte graue, nach hinten gekämmte Haare mit deutlichen Geheimratsecken. Seine Füße steckten in wasserdichten Thermostiefeln, an denen der Schmutz bereits angetrocknet war.

„Mein Name ist Zaplinski, Mordkommission Nord, Herr, ääh …“ Zaplinski hatte vergessen, Kolbow nach dem Namen des alten Herrn zu fragen und er wandte sich Hilfe suchend an Magga.

„Kleemann, Herbert Kleemann“, sprang Magga ihm sofort bei.

„Ja, also Herr Kleemann. Können Sie uns ein paar Fragen beantworten?“

„Ich hab doch schon …“, entgegnete Kleemann und stellte seinen Becher ab.

„Ja, ich weiß. Sie haben schon meinen Kollegen alles erzählt“, unterbrach Zaplinski ihn ungeduldig. „Aber für uns ist es wichtig, dass wir es nochmal direkt von Ihnen hören.“

Kleemann nickte zwar, er wirkte aber nicht so, als würde ihm das einleuchten.

„Also, ich war mit Marlene spazieren.“

Als er Zaplinskis fragenden Blick bemerkte, drehte er sich zum Inneren des Rettungswagens um. Auf dem Fahrersitz thronte ein blondes Mädchen im Vorschulalter. Der Rettungssanitäter zeigte ihr gerade, wo das Blaulicht eingeschaltet wird.

„Meine Enkelin.“

„Aha“, sagte Zaplinski.

„Um halb eins sind wir los. Wir wollten uns die Wasserbüffel ansehen.“

Wieder erntete er von Zaplinski einen verwunderten Blick. „Welche Wasserbüffel?“

„Im Sommer ist hier immer eine Herde Wasserbüffel. Das Gartenbauamt transportiert sie extra her, damit sie das Gras kurz und das Wasser am Fließen halten“, klärte Kleemann ihn auf. Sein Blick sagte: „Das weiß man doch.“

Zaplinski nickte. Ihm war das neu. Aber auch egal. „Und weiter?“

„Marlene kommt immer sonntags zu mir. Wir gehen dann zusammen raus. Jedes Mal eine andere Runde. Das ist das Schöne hier. Viel Wald. Ich wohne unten an der Malche im Seniorenheim, wissen Sie, im 9. Stock. Da hat man einen herrlichen Blick auf den Tegeler See. Auf die Uferpromenade. Im Sommer ist da viel zu sehen. Dampfer, also ich liebe ja die Havelqueen mit diesem Schaufelrad und dann die Segelboote …“

Zaplinski trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und war drauf und dran, dazwischenzugehen.

Magga sah aus, als wolle sie ihrem Chef eine Hand auf den Arm legen, um ihn davon abzuhalten. Aber sie tat es nicht. Herbert Kleemann hatte indes wohl selbst gespürt, dass er ein wenig vom Thema abgeschweift war.

„Ja, also heute sind wir zum Fließ runter.“

„Klar, Herr Kleemann. Was ist dann passiert?“, drängte Zaplinski. Konnte der Kerl nicht endlich auf den Punkt kommen?

„Na ja, wir waren auf dem Weg und da haben wir Geräusche gehört. Vom Fließ unten. Ich dachte, das sind die Büffel. Wir waren schon ein paar Mal hier, aber die hatten sich immer irgendwo versteckt. Marlene war immer so enttäuscht. Und da dachte ich, na ja, wir sind da durchs Gebüsch. Trotz Verbotsschild.“

Er sah Zaplinski schuldbewusst an. Der erteilte ihm mit einem väterlichen Nicken für den Regelverstoß sofort Absolution. Was angesichts des Altersunterschiedes schon ziemlich absurd war.

„Und da haben wir einen Riesenschreck bekommen. Da war ein Wildschwein, das hat uns angegrunzt. Marlene hat geschrien und da ist es zum Glück gleich geflüchtet. Ich hätte nicht gewusst, was ich machen soll.“ Er senkte den Blick.

„Und weiter?“ Zaplinski verlor mehr und mehr die Geduld.

Der alte Mann schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. „Dann hab ich erst gesehen, was da liegt. Ich konnte das gar nicht fassen, furchtbar. Ich hab Marlene die Augen zugehalten und dann sind wir wieder hoch zum Weg.“

Er zog ein Seniorenhandy mit großen Tasten aus der Tasche. „Dann habe ich natürlich gleich die 110 angerufen. Bei uns im Haus waren doch ihre Kollegen, die diesen Vortrag zur Seniorensicherheit …“

„Ja, das war toll, Herr Kleemann“, unterbrach Zaplinski ihn, wobei die nicht zu überhörende Ironie in seinen Worten den Inhalt konterkarierte. Er gab Magga ein Zeichen und fragte dann weiter: „Kennen Sie den Mann?“

„Ich hab nicht so genau hingeschaut“, sagte Kleemann entschuldigend.

Magga hielt dem alten Herrn das Handyfoto entgegen, das sie vom Toten gemacht hatte. Kleemann schaute drauf, verzog angeekelt das Gesicht und schüttelte den Kopf.

„Nee, den habe ich noch nie gesehen.“

„Herr Kleemann, waren zu der Zeit noch Leute hier unterwegs? Spaziergänger, Jogger oder Radfahrer?“, wollte Zaplinski wissen.

„Nein, da war niemand. Das Wetter ist ja auch nicht so toll.“

„Sie gehen ja regelmäßig hier spazieren. Ist Ihnen da in den letzten Tagen irgendetwas aufgefallen? Leute, die sich gestritten haben zum Beispiel, Hilferufe oder sowas?“

Der Senior dachte nach. „Da war nichts. Ich war auch seit ein paar Tagen nicht hier. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.“

„Macht nichts Herr Kleemann. Die Kollegen bringen Sie jetzt nach Hause“, sagte Zaplinski und wunderte sich einen Moment über seine plötzliche Fürsorglichkeit.

Kleemanns Augen leuchteten kurz auf, aber er wehrte bescheiden ab. „Ist eigentlich nicht nötig.“

„Das ist schon okay. Und Marlene wird es auch gefallen. Wiedersehen, Herr Kleemann.“ Zaplinski gab Magga ein Zeichen und sie ging zu den beiden Uniformierten hinüber, die an ihrem blau-weißen Streifenwagen standen.

 

Als sie wieder in den Dienstwagen stiegen, meinte Magga nachdenklich: „Hoffentlich hat die Kleine nicht allzuviel gesehen. Nicht, dass sie mit Opa jetzt keine Ausflüge mehr machen will.“

„Ja hoffentlich. Aber unser Märchenonkel ist heute beim Kaffeekränzchen im Seniorenheim garantiert der Held der Rentnergang …“, antwortete Zaplinski grinsend.

„Ach, Herr Zaplinski, ich gönn ihm das. Wenn ich so an meinen Opa denke … Im Alter kann einem furchtbar langweilig werden. Wenn kein Partner mehr da ist und die Verwandten nicht so oft zu Besuch kommen. Haben Sie gesehen, wie er aufgeblüht ist, als er uns was erzählen durfte?“

„Hoffentlich werde ich nie so ein Quatschkopp“, erwiderte Zaplinski flapsig, obwohl ihm gerade mulmig geworden war.

Partner? Verwandte? Bei ihm Fehlanzeige. Mit Schaudern dachte er daran, dass er selbst nur noch ein paar Jahre bis zum Ruhestand hatte. Er wischte den unangenehmen Gedanken sofort weg. An das tiefe dunkle Loch, in das er als Pensionär möglicherweise fallen würde, wollte er nicht mal ansatzweise denken. Die Arbeit war sein Lebensinhalt. Was würde er ohne die Kripo machen? Jeden Tag bei Moni am Tresen hocken sich langsam mit Bier und Schnaps abfüllen? Stammtischparolen dreschen, wie Werner, der dicke Manne, und Tischler-Ralf, die alle Rentner und alleinstehend waren?

Er kniff sich ins Ohrläppchen, damit der Schmerz seine Gedanken wieder in eine andere, angenehmere Richtung lenkte.

 

Peinlich