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Sarah Williams ist die jüngste Ermittlerin der Mordkommission des Los Angeles Police Department – ein Job, von dem sie seit ihrer Schulzeit geträumt hatte. Doch ein Doppelmord an zwei Kollegen stellt sie vor ungeahnte Herausforderungen. Die einzige Spur führt zu einem Kunsthändler. Während Sarah mit aller Entschlossenheit versucht, dem Hauptverdächtigen die Tat nachzuweisen, wird sie von einer ungeahnten Entwicklung überrascht. Kann sie verhindern, dass dieser Fall nicht nur ihre Karriere, sondern auch ihr gesamtes Leben grundlegend beeinflussen wird?
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Seitenzahl: 522
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Tod am Lagerhaus M.H. Murray Copyright: © 2014 M.H. Murray published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de ISBN 978-3-8442-9120-9
HinweisDie Handlung der Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.
Lizenzerklärung
Sarah Williams betrat ihr kleines Apartment, ließ die Türhinter sichinsSchloss fallen und lehnte sich mit dem Rücken gegendieharte, kühle Holzoberfläche, während sie hörbar ausatmete.Sie hatte den Tagwirklichohne Nervenzusammenbruchüberstanden, obwohl sie vorher daran gezweifelt hatte.Auch wenn sie sich kaum noch an die Einzelheiten erinnern konnte, hattesiedie Beerdigung hinter sich gebracht.Sie wusste nur noch, dass sie gefroren hatte und es hatte ganz sicher nicht am Wetter gelegen, denn der August in Los Angeles war nicht gerade winterlich.
Langsam begann sich die Anspannung in ihr zu lösen und Sarah spürte, wie ihre Hände zittertenund ihre Augen feucht wurden.Sie löste sich von der Tür, ging in das Badezimmer,stellte sich an dasWaschbecken, drehte den Hahn auf und benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser.Sie musste endlich diese Bilder loswerden, diese schockierenden Filmfetzen, die sie in jedereinzelnenNacht der letzten zwei Wochen schweißgebadethattenaufwachen lassen.
Kopfschüttelnd machte sie sich auf den Weg in ihr winziges Schlafzimmer, zog sich dort aus und schlüpfte in ein riesiges T-Shirt und ihre bequemen Schlafshorts. Sarah schaltete den kleinen Fernseher ein.Sie brauchte Geräusche als Ablenkung.Einen Momentüberlegte sieunschlüssig und huschte dann in die Küche,umein Glasund eine volle Flasche Whiskyaus dem Schrankzu holen.
Sarah wusste nicht, wie lange die Flasche dort schon gestanden hatte, irgendjemand hatte sie ihr einmal geschenkt. Sie mochte eigentlich gar keinen Alkohol – vor allem wegen der unerwünschten Nebenwirkungen, die er bei ihr auslöste. Sie wurde nicht nur streitlustig und rechthaberisch, wenn sie etwas getrunken hatte, sie wurde oft auch albern wie ein kleines Mädchen und sie hasste die peinlichen Momente, wenn sie sich am nächsten Tag an ihr Verhalten erinnerte.
Doch heute war es anders. Sie brauchte etwas, um ihre Gefühle zu betäuben-und hoffentlichauchihre Albträume.Sie lief barfuß zurück indas Schlafzimmer, setzte sich auf das Bett, zog die Beine unter ihren Körper und schenkte sich den ersten Whisky ein.
„Bäh widerlich“, schüttelte sie sich, als sie das Glas in einem Zug geleert hatte und ihre Kehlewie Feuerbrannte. „Aber genau das, was ichjetztbrauche.“
Erneut füllte sie das Glas mit der golden funkelnden Flüssigkeit, denn der erhoffte Effekt blieb noch aus – im Gegenteil, die Ereignisse der verhängnisvollen Nacht spielten sich erneut in ihren Gedanken ab:
***
„Mit Milch, ohne Zucker, richtig?“, fragte Sarah, als sie ihrem Kollegen den Becher reichte.
„Ganz genau. Sie haben wirklich das Zeug zu einer guten Ermittlerin“, entgegnete Detective Rodriguez grinsend.
„Ich BIN eine gute Ermittlerin, sehen Sie!“ Sarah hielt ihm ihre Dienstmarke vor die Nase. „Hier steht Los Angeles Police Department – Mordkommission. Auch wenn ich erst seit einem halbem Jahr Detective bin, ich habe es mir verdient.“
„Langsam, langsam“, wehrte Rodriguez ab. „Daran habe ich auch nicht gezweifelt.Es war eigentlich nur als Anerkennung gemeint, auf etwas lockere Art.“
Sarah atmete durch.
„Sie haben recht. Es tut mir leid, dass ich überreagiert habe“, entschuldigte sie sich. „Ich werde schon langsam paranoid, weil Captain Mancini mich ständig so behandelt, als würde ich nicht hier her gehören, als wäre es der falsche Job für mich.“
„Ach was,er ist nun malkeine Schmusekatze“, winkte Rodriguez ab. „Sie werden hier niemanden finden, der jemals von Anthony Mancini ein Lob bekommen hat, also denken Sie nicht weiter darüber nach.“
„Weil esauchnoch keiner verdient hat!“, ertönte die laute Stimme des Captains von der Türausund ließ Rodriguez zusammenzucken.
Mancini ließ seinen strengen Blick durch das Büro schweifen.
„Und falls Sie es vergessen haben sollten, wir sind die Mordkommission und nicht die Cafeteria, also an die Arbeit!“
„Ja Captain“, murmelten beide eingeschüchtert und gingen zu ihren Schreibtischen.
„Ach und noch was,Sie haben recht;ichschnurre nicht wie eineKatze, ich brülle wieein Löwe“, fuhr der Captain Rodriguez an, bevor er wieder in seinem Büro verschwand.
Sarah hielt sich die Hand vor den Mund, denn sie musste unwillkürlich über den erschrockenen Gesichtsausdruck ihres Kollegen lachen.Sie wussteaber, dass er es ihr nicht lange übel nehmen würde. Auch wenn die anderen sie immer noch als Küken behandelten, gab es – außer dem Captainvielleicht– niemanden, der ihrin irgendeiner Formablehnend gegenüber getreten war.
Sarah arbeitete sich weiter durch die Protokolle von Zeugenaussagen und Vernehmungen. Es würde sicher die ganze Nacht dauern, bis sie damit fertig werden würde. Der Stapel auf ihrem Schreibtisch war so hoch, dass sie kaum darüber hinweg schauen konnte.
„Rodriguez! Williams!“
Sarah zuckte zusammen, als der Captain aus seinem Büro gestürmt kam.
„Zwei Tote mit Schusswunden bei einem Lagerhaus am Hafen, Dock 17“, informierte er sie. „Die Opfer sind Polizeibeamte.“
„Polizisten?“, fragte Rodriguez geschockt nach, während Sarah ihren Vorgesetzten nur wortlos anstarrte.
„Sagte ich doch“, bestätigte Mancini. „Was ist? Sie sind ja immer noch hier!“
„Schon unterwegs, Captain.“
Die beiden sprangen auf und eilten hinaus.Rodriguez packte die Warnleuchte auf das Dach des Autos, während sie vom Parkplatz fuhren.Sarah saß schweigend auf dem Beifahrersitz, ihren Blick starr nach vorn gerichtet.Es war nie angenehm, ein Mordopfer zu sehen, aber in diesem Fall waren es sogar Kollegen von ihnen.Vielleicht kannten sie die beiden sogar. Je näher sie dem Tatort kamen, desto stärker spürte Sarah ihr Herz pochen.Sie bogen in eine kleine Gasse zwischen riesigen Lagerhäusern ein und sahen vor sich das rote und blaue Blinken der Warnleuchten auf denbereits eingetroffenenStreifenwagen.
Rodriguez parkte den Wagen und sie stiegen aus. Sarah betrachtete die Szene vor sich, während sie auf dasim Wind flatterndeAbsperrband zu schritten. Mindestens zehn uniformierte Beamte liefen geschäftig umher, stellten Scheinwerfer auf oder durchsuchten die Umgebung mitHilfe ihrerTaschenlampen.
„Was zum Teufel macht der Streifenwagen dort direkt am Tatort?“, hörte Sarah jetzt eine tiefe Stimme lautund zornigbrüllen.
„Der Streifenwagen ist der Tatort, Sergeant Brooks“, kam die etwas schüchterne Antwort eines Officers, der offensichtlich das Absperrband bewachte,das Sarah und Rodriguez jetzt erreicht hatten.
Sie zeigten ihre Dienstmarken und wurden sofort durchgelassen. Die Beifahrertür des Streifenwagens stand offen und der Oberkörper des getöteten Officers war herausgesackt, während seine Beine sich noch im Inneren des Autos befanden.
Sarah schaltete ihre Taschenlampe ein, beugte sich hinunter und betrachtete den Toten.
„Drei Einschüsse in der Brust. Die Sicherung des Holsters ist offen, aber er hat es offensichtlich nicht mehr geschafft, die Waffe zu ziehen.“
„Ja“, bestätigte Rodriguez ihre Beobachtungen. „Kennen Sie ihn?“
Sarah schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht.“
„Officer Tim McFadden“, klärte der junge Polizist, der ihnen gefolgt war, sieüber das Opferauf.
„Der Name kommt mir aber irgendwie bekannt vor“, murmelte Sarah, als sie wieder aufstand.
Sie gingen um das Auto herum zur Fahrerseite.
„Der andere hatte überhaupt keine Chance“, berichtete der junge Polizist weiter. „Officer …“
„Ben Richards“, beendete Sarah seinen Satz und blieb erstarrt stehen.
Der Tote saß noch hinter dem Steuer, die Splitter der zerschossenen Seitenscheibe überall auf seiner Uniformverstreutund zwischen seinen Augen waren zwei Einschusslöcher zu erkennen.
„Sarah?Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Rodriguez besorgt, denn ihm wartrotz der schlechten Beleuchtungaufgefallen, wie blass sie plötzlich wurde.
Anstatt ihm zu antworten, rannte sie los,verschwandhinter demMüllcontainer, der an der Wand des einenLagerhauses stand, und musste sich dort zweimal übergeben.Sie atmete mehrmals tief durch, als sie sich wieder aufrichtete und zwang sich, ruhig zu den anderen zurückzugehen.
„Wollen Sie sich lieber ins Auto setzen? Ich kann auch allein weitermachen“, bot Rodriguez ihr an.
Doch Sarah schüttelte den Kopf.
„Nein, es geht schon wieder.“
Sie wollte jetzt nicht allein sein und sie wollte auch keine Schwäche zeigen.Sie war sich sicher, Captain Mancini würde darauf nur warten.
„Okay“, nickte Rodriguez. „Ich gehe also davon aus, Sie kannten Officer Richards?“
Sarahs Blick fiel erneut auf das erstarrte Gesicht des toten Polizisten.
„Benny war mein bester Freund – seit ich fünf war“, bestätigte sie leise.
„Das tut mir sehr leid“, sagte Rodriguez und legte mitfühlend seine Hand auf ihre Schulter.
„Danke Emilio“, erwiderte sieleiseund schaute zu ihm hoch, da er fast einen Kopf größer war als sie. „Lassen Sie uns weitermachen.“
Sie wandte sich dem jungen Polizisten zu.
„Was können Sie uns noch sagen? Warum waren die beiden hier?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Das ist noch nicht klar. Vermutlich haben sie irgendetwas Verdächtiges bemerkt. Laut Zentrale wurden sie weder hier her geschickt, noch haben sie eine Meldung durchgegeben. Vor 80 Minuten ging ein anonymer Notruf ein.Ein Mann sagte, er habe hiermehrereSchüsse gehört.“
Sarah leuchtete mit der Taschenlampe in den Wagen.
„Vermutlich wollten sie gerade die Meldung durchgeben. Das Mikrofon des Funkgerätes ist nicht in der Halterung und hängt herunter.“
Rodriguez nickte.
„Sieht so aus. Da soll sich die Spurensicherung mit beschäftigen.Wo sind die eigentlich?Und der Gerichtsmediziner?“
„Kommen gerade an“, berichtete der junge Polizist.
„Okay, würden Sie sie gleich herbringen?“
„Aber natürlich.“
Rodriguez blickte ihm kurz hinterher und wandte sich dann Sarah zu.
„Was denken Sie?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Es waren mindestens zwei Täter, denn sie wurden aus verschiedenen Richtungen erschossen. Man hat ihnen keine Chance gelassen und wie es aussieht, passierte alles aus unmittelbarer Nähe. Sieht ganz nach Profis aus, die so etwas nicht zum ersten Mal getan haben.“
Rodriguez nickte zustimmend.
„Das war fast wie eine Hinrichtung. Leute, die so etwas machen – noch dazu mit Polizisten …“ Er runzelte die Stirn. „Das sieht man nicht oft. Ich frage mich, über was die beiden hier gestolpert sind.“
Inzwischen waren die Mitarbeiter der Spurensicherung eingetroffen und hatten ihre Arbeit aufgenommen. Für die beiden Detectives der Mordkommission war die Arbeit am Tatort erst einmal beendet. Bevor sie zu ihrem Wagen gingen, fiel Sarahs Blick noch einmal auf ihren toten Freund und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie wusste, dieses Bild würde sie von jetzt an verfolgen, aber sie schwor sich, den Mörder von Benny zu finden.
Dochdas sollte nicht so einfach werden, dennam nächsten Tag erfuhr sie von Captain Mancini, dass sie nicht weiter an diesem Fall arbeiten würde.Er hatte ihn Rodriguez und O’Neill übergeben, weil diese seiner Meinung nach mehr Erfahrung hatten undauchnicht auf persönlicher Ebene betroffen waren. Er hatte versucht, ihr zu erklären, dass kein Verdacht aufkommen durfte, die Ermittlungen würden zu einem privaten Rachefeldzug der Polizei werden. Sarah hielt das alles für faule Ausreden, aber er war nun einmal ihr Vorgesetzter.
Es fühlte sich schrecklich an, Benny verloren zu haben, aber noch unerträglicher war es für sie, nichts tun zu können. Er war ihr einziger Freund gewesen. Mit allen anderen aus der Schulzeit oder vom College war der Kontakt irgendwann abgerissen. Und da sie völlig in ihrem Job aufging, war ihr Privatleben so gut wie nicht existent und sie hatte in den letzten Jahren keine Gelegenheit gehabt, neue Freunde zu finden.
Rodriguez und O’Neill hielten sie unter der Hand über die Ermittlungen auf dem Laufenden – ohne dass der Captain darüber etwas erfahren durfte. Es hatte sich bestätigt, dass die Opfer mit zwei verschiedenen Waffen aus kurzer Distanz erschossen worden waren. An der Stelle, an der einer der Schützen gestanden haben musste, war ein silberner Kugelschreiber gefunden worden.
Sie hatten außerdem herausgefunden, dass das eine Lagerhaus leer stand und das andere vermietet war-an einen Kunsthändler, der auch eine Galerie besaß. Der Mann hieß David Graham. Durch einen Kontakt beim FBI hatteihr Chieferfahren, dass Graham wohl schon länger unter dem Verdacht stand,im großen Stilzu schmuggeln-ob nur Kunstschätze oder auch andere Dinge wie Drogen, da ließ sich das FBIoffenbarnicht in die Karten sehen. Fest stand nur, dass Graham nie etwas nachgewiesen werden konnte, aber die Information hatte ausgereicht, um diesen Kunsthändler zu einer Befragung einzubestellen.
Graham hatte sich nicht geweigert.Er hattesich kooperativ gezeigtund sogar freiwillig seine Fingerabdrückeabnehmen lassen.Als sich jedoch herausgestellthatte, dass seine Fingerabdrücke mit denen auf dem Kugelschreiber am Tatort übereinstimmten,hatteGraham seinen Anwalt eingeschaltet, der sofort mehrereZeugen präsentierthatte, die den Kunsthändler am Mordabend auf einer Ausstellung gesehen haben wolltenundso hatten sie ihn wieder gehen lassenmüssen.
Sarah war sichseitdem trotzdemsicher, dass Graham hinter den Morden steckte, doch offensichtlichkamen Rodriguez und O’Neillmit den Ermittlungenkeinen Schrittmehrweiter. Immer wieder schossen ihr Bilder von Benny durch den Kopf, sein Lachen, seine Scherze, ihre gemeinsamen Judostunden – Sarah war zwar klein und zierlich, aber Benny hatte sie immer als gefährlich wie eine Tigerin bezeichnet, wenn er wieder einmal einen Kampf gegen sie verloren hatte. Er war es auch, der sie damals mit beeinflusst hatte, Polizistin werden zu wollen.
Sie hatte begonnen, alle Informationen über Graham zu sammeln, die sie bekommen konnte – vor allem im Internet. David Graham war 36 Jahre alt, groß, sportlich, dunkelhaarig. Sarah musste sich eingestehen, dass er auf den Fotos wirklich attraktiv aussah und sein Lächeln durchaus anziehend wirkte. Aber das spielte keine Rolle.Wichtig war für sie nur, werderMannhinter der Fassade war – offensichtlich ein kaltblütiger Mörder. Graham hatte seineGalerievor sechs Jahren eröffnet und schien sehr erfolgreichzu sein,auch im internationalen Kunsthandel.Er besaß teure Sportwagen und eine Villa in den Hügeln von Hollywood. Er war nicht verheiratet und angeblich auch nicht in einer festen Partnerschaft. Auf einigen Fotos sah man ihn in Begleitung verschiedener junger Damen. Sarahwaraufgefallen, dass alle blond waren. Ob da jemand eine Vorliebe für Blondinen hatte?
Siehatte gestaunt, als siegelesen hatte, was allesfür Stückein seiner Galerie ausgestellt wurden. Obwohl ihr Herz der Polizei gehörte, interessierte sie sich immer noch für die Kunst.Schließlich hatte sie Kunstgeschichte studiert, bevor sie zur Polizeiakademiegegangen war.
Fieberhaft suchte sieseit TageninjederfreienMinute nach mehr Informationen. Sie hatte es sichund auch Bennygeschworen,seinenMörder zu finden.
***
Und dann tauchten sieerneutauf –Bennysstarre Augen mit den Einschusslöchern dazwischenund brachtenSarahwieder zurück in die Gegenwart.Seufzend kippte sie den letzten Schluck Whisky hinunter.
„Das hat also auch nicht geholfen“, murmelte sie entnervt.
Sie stellte das Glas auf den Nachttisch und klappte ihren Laptop, der neben ihr auf dem Bett lag, auf. Der Browser war bereits geöffnet und ihre ersten Klicks führten sie unwillkürlich auf die Webseite von Grahams Galerie. Als ihr Blick auf die Seitenleiste fiel, huschte ein leichtes Zucken über ihre Mundwinkel und sie fasste spontan einen Entschluss.
Das Summen ihres Weckers riss Sarah aus dem Schlaf. Erst mit dem dritten Versuch brachte sie den kleinen Nervtöter endlich zum Schweigen.
„Oh verdammt“, brummte sie müde und richtete sich auf.
Doch dann huschte ein erleichtertes Lächeln über ihr Gesicht. Sie hatte zum ersten Malseit zwei Wochenkeinen Albtraum gehabt. Das gab ihr Zuversichtund Selbstvertrauen.Dieseshatte sie auch bitter nötig, wenn sie an ihren Plan dachte und sich vorstellte, wie Captain Mancini darauf reagieren würde. Vielleichtwürdesie heute Abendauchgar keinen Job mehrhaben.
Nachdenklich schlüpfte sie aus dem Bett und ging in das Badezimmer. Sie stellte die Dusche an, zog sich aus und stieg hinein. Während das warme Wasser angenehm auf ihrer Haut prickelte, dachte sie noch einmal über ihren Entschluss nach und kam zu der Erkenntnis, dass sie dafür Hilfe brauchte und es gab nur eine Person, die dazu in der Lage war, sie zu unterstützen.
***
Wie zu jedem Arbeitsbeginn in ihrem Büro, setzte sich Sarah an ihren Schreibtisch und checkte zuerst ihre E-Mails, bevor sie sich den Akten zuwandte.Heutejedochwanderte ihr Blick immer wieder ungeduldig zu der Wanduhr über der Tür und als die Zeiger zehn Uhr anzeigten, stand sie auf und eilte hinaus.Sie liefden Flur entlang zum Fahrstuhl, der sie eine Etage nach oben beförderte. Dort stieg sie aus und strebte geradeaus auf eine Tür am Ende desKorridors zu, auf der ein Schild mit der Aufschrift. „Edward Grant, Chief“ prangte.
Als sie die Tür erreicht hatte, zögerte Sarah für einen Moment, doch dann klopfte sie entschlossen an.
„Ja bitte!“, hörte sie eine tiefe Stimme rufen.
Sie drehte den Knauf, öffnete die Tür und trat ein.
„Chief Grant, kann ichSie in einer dringenden Angelegenheit sprechen?“, fragte sie den Mann, der hinter seinem Schreibtisch saß undnunzu ihr blickte.
„Aber natürlich. Ich nehme an, es ist dienstlich?“, entgegnete er.
„Jawohl Sir“, bestätigte Sarah.
„Dann schließen Sie die Tür und nehmen Sie Platz, Detective Williams.“
Sarah tat es und saß gleich danach dem Chief gegenüber. Dieser lächelte leicht.
„Da wir nun unter uns sind, was ist so dringend, Sarah?“
„Es geht um diesen Graham“, kam sie direkt zur Sache. „Ich hatte da so eine Idee und …“
„Sarah, ich weiß, wie schwer es für dich ist“, unterbrach er sie. „Und vor allem nach der Beerdigung gestern muss es besonders schmerzhaft sein.Aber ich muss dich daran erinnern, dass das nicht dein Fall ist. Außerdem ist Captain Mancini dein direkter Vorgesetzter.“
„Das weiß ich“, erwiderte sie trotzig. „Aber es geht hier nicht um mich, es gehtnurum die Aufklärung des Falles, glauben Sie mir, Edward.“
Chief Grant sah sie nachdenklich an, während Sarah schweigend abwartete. Sie kannte ihn gut genug, um ihn jetzt nicht weiter zu bedrängen. Edward Grant war fast so etwas wie Familie für sie. Sie kannte ihn, seit sie noch zur Schule gegangen war. Seine Frau Helen war die beste Freundin ihrer Mutter gewesen. Er hatte Sarah auch unterstütztin ihrem Wunsch, Polizistinzuwerdenund nach dem Unfall ihrer Mutter waren die Grants so etwas wie ihre Ersatzfamilie geworden.Damals,alsSarahnochauf dem College war.
Edward Grant fuhr sichmit der Handüber die Halbglatze, was er immer tat, wenn er ein schwieriges Problem zu lösen hatte. Sarah wusste, dass es ihr den Anfang in der Mordkommission erleichtert hatte, dass er hier der Chief war – wenn auch nur noch für ein Jahr, danach würde er in Pension gehen.Aber bis dahin wollte sie durch ihre Leistungen jeden Zweifel an ihren Fähigkeiten ausgeräumt haben.
Noch vor einigen Jahren hatte Chief Grant ihr immer wieder erzählt, wie er den Ruhestand zusammen mit seiner Frau in ihrem kleinen Haus genießen wollte.Doch seit dem Krebstod von Helen vor zwei Jahren träumte er nur noch davon, nach seiner Pensionierung so weit weg wie möglich zu reisen. Sarah musste einen Seufzer unterdrücken, als ihr erneut bewusst wurde, dass vor ihr der einzige Mensch saß, der ihr nach Bennys Tod noch als Freund - oder gar so etwas wie Familie, geblieben war.
Chief Grant räusperte sich und hatte sofort Sarahs Aufmerksamkeit.
„Also gut, ich werde mir deine Idee anhören“, entschied er. „Aber mehr verspreche ich dir im Moment nicht, und ohne die Zustimmung von Captain Mancini wird auch nichts passieren.“
„Danke“, war Sarah erleichtert. „Es geht darum, ich war gestern Abend auf der Webseite von Grahams Firma. Dort war eine Anzeigegeschaltet.Graham suchtfür seine Galerieeine neue persönliche Assistentin mit Erfahrung in Kunst und Computerkenntnissen.“
„Und?“, fragte Edward Grant und zog eine Augenbraue nach oben in der Vorahnung, dass ihm die Antwort auf diese Frage nicht gefallen würde.
„Ich habe mich auf die Anzeige beworben. Unter dem Namen Sarah Porter“, bestätigte sie seine Befürchtungen.
„Du hast was?“, rief er entsetzt aus. „Sarah, weißt du, was du da gemacht hast? Du hast damit nicht nur den Fall gefährdet, du hast deine Karriere, deinen Job aufs Spiel gesetzt.“
„Aber wer weiß, wann sich so eine Chance wieder ergibt“, gab sie zu bedenken. „Ich musste einfach handeln.“
Grant schüttelte den Kopf.
„Du hattest keinerlei Befugnis dazu. Du bist nicht dumm und auch nicht erst seit gestern Nachmittag bei der Polizei. Du weißt, dass du so etwas nicht allein entscheiden darfst.“
„Edward, bitte! Sie wissen doch auch, dass die Ermittlungen feststecken. Lassen Sie mich undercover zu Graham gehen!Er kennt mich nicht.Ich habe einen Studienabschluss in Kunstgeschichte und wie Sie wissen, habe ich den Spezialkurs in Computersicherheit an der Akademie absolviert. Wenn etwas in Grahams Daten ist, werde ich es finden.“
Grant fuhr sich erneut über die Halbglatze.
„Sarah, ich weiß, du willst Bennys Mörder unbedingt dingfest machen, jeder von uns möchte das, aber du bist zu emotional in diesem Fall.“
„Das heißt also, Sie haben mich die ganze Zeit belogen?“
„Wie bitte? Was meinst du?“
„Sie haben michall die Jahrebestärkt in dem Glauben, wie begabt ich doch bin, was für eine tolle Ermittlerin ich doch werden würde und jetzt sagenSie mir, ich bin zu emotional, um eine gute Ermittlerin zu sein?“
„So war das nicht gemeint.Das weißt du“, wiegelte er ab. „Es geht doch nur um diesen speziellen Fall.“
„Dann geben Sie mir diese Chance“, beharrte Sarah. „Gerade weil es ein spezieller Fall ist.“
„Ich fürchte eher, Captain Mancini wird ein Disziplinarverfahren eröffnen, wenn du mit der Geschichte zu ihm gehst.“
„Darum bin ich ja hier. Ich möchte Sie bitten, dass Sie zu ihm gehen und es als Ihre Idee verkaufen.“
Chief Grant sah sie überrascht an.
„Und wenn ich es nicht mache?“
„Ich werde Bennys Mörder überführen, das habe ich ihm und mir geschworen“, entgegnete Sarah leise, aber bestimmt. „Und wenn Sie mich dabei nicht unterstützen, werde ich mich beurlauben lassen und auf eigene Faust ermitteln.“
Sie konnte einen leisen Seufzer vernehmen.
„Du weißt schon, dass du mich hier erpresst, oder?“
„Nein, ich appelliere nur an Sie, das Richtige zu tun.“
„Und wenn du den Job bei Graham gar nicht bekommst? Wer weiß, wie viele sich dort bewerben.“
„Wenn ich den Job nicht bekomme, habe ich versagt und bin bereit, die Konsequenzen zu tragen“, erklärte sie entschlossen. „Noch bin ich im Rennen. Ich habe vorhin eine E-Mail bekommen – ich habe übermorgen Mittag ein Vorstellungsgespräch.“
„Wirklich?“, war Chief Grant überrascht.
Sie nickte.
„Also gut, ich werde mit Captain Mancini sprechen“, gab er schließlich nach. „Was würdest du brauchen, falls er zustimmt?“
„Bisübermorgennur diePapiereauf den NamenSarah Porter und einen wasserdichten Lebenslauf. Alles andere hat Zeit, bis ich den Job habe.“
„Gut, das müssten wir schaffen. Für die Papiere hast du Passbilder?“
„Ich lasse heute noch welche machen.“
„Alles klar. Ich werde mit Mancini reden und ich denke, du wirst nachher von ihm hören. So oder so.“
Sarah erhob sich.
„Vielen Dank.“
„Nichts zu danken“, wehrte der Chief ab. „Du weißt, dass ich es immer noch für keine gute Idee halte?“
„Ja Chief.“
Sie ging zur Tür und öffnete diese.
„Sarah!“
Sie drehte sich noch einmal um.
„Versprich mir, sei bitte vorsichtig!“
„Natürlich, Ehrenwort“, versicherte sie und machte sich auf den RückwegzuihremBüro.
***
Während sie weiter an ihrem Schreibtisch die Akten durchging, spürte Sarah ein leichtes Kribbeln in ihrem Bauch – ein sicheres Zeichen ihrer Nervosität. Ob Chief Grant bereits mit dem Captain geredet hatte? Und wie würde dieser reagieren? Sie hasste die Ungewissheit genauso sehr, wiezur Tatenlosigkeit verdammt zu sein.
Um zwei Uhr am Nachmittag öffnete sich die Tür von Mancinis Büro.
„O’Neill, Rodriguez, Williams, alle in mein Büro, sofort!“
Sarah atmete tief ein und folgte ihren Kollegen in die Höhle des Löwen – oder des brüllenden Löwen, wie er sich ja einmal selbst bezeichnet hatte. Die drei Detectives standen vor dem Schreibtisch ihres Captains wie Schüler vor dem Direktor und warteten ab, was er ihnen wohl zu sagen hatte.
Mancinis durchdringender Blick wanderte von einem zum anderen.
„Es geht um den Doppelmord“, klärte er sie schließlich auf. „Insbesondere um unseren Hauptverdächtigen, der, wenn ich mich richtig erinnere, auch unser einziger Verdächtiger ist, oder?“
„Ja Sir, dieser Graham, alles deutet auf ihn“, bestätigte O’Neill.
„Gut, und alles deutet auch darauf hin, dass wir in diese Richtung keinen Schritt weiter gekommen sind, oder liege ich da falsch?“
„Also, so kann man das nicht sagen“, stammelte Rodriguez.
„Wie kann man es denn sonst sagen? Haben Sie einen neuen Ermittlungsansatz?“
„Na ja, nicht direkt …“
„Dann halten Sie die Klappe und hören zu!“
„Ja Sir.“
Sarah stand schweigend daneben und versuchte,kaumzu atmen, um nicht die Aufmerksamkeit ihres Vorgesetzten auf sich zu ziehen.
„Ich hatte vorhin ein langes Gespräch mit dem Chief“, fuhr dieser fort. „Er hatte eine neue Idee, die sich aus einem günstigen Zufall ergeben hat, wie er es nannte.“
Ein leichter Schauer lief Sarah den Rücken hinab, als er sie dabei mit seinem Blick zu durchbohren schien.
„Was für eine Idee und welcher Zufall?“, fragte O’Neill vorsichtig.
„Wenn Sie mich irgendwann einmal ausreden lassen, werden Sie es auch erfahren“, entgegnete Mancini ungehalten. „Also, Graham sucht dringend eine neue Assistentin für seine Firma und der Chief denkt, es wäre unsere beste Chance, jemanden undercover dort hinzuschicken.“
„Und wer sollte das machen?“
Der Captain zeigte auf Sarah.
„Detective Williams hier. Der Chief teilte mir mit, dass Sie alle Qualifikationen haben, um diesen Assistentinnenjob glaubhaft auszuüben. Stimmt das?“
„Ja Sir, das stimmt“, erwiderte sie knapp.
„Ach ja? Und woher wissen Sie, was für Qualifikationen das sind? Die habe ich Ihnen doch gar noch nicht mitgeteilt.“
Verdammt! Jetzt hatte er sie erwischt.
„Chief Grant hat mit mir vorhin kurz darüber gesprochen, Sir“, gestand sie.
„Aha.Gut, dann haben Siehiermitübermorgen Mittag ein Vorstellungsgespräch bei Graham. Sie haben alsoknapp zwei Tage Zeit, um sich vorzubereiten undsichmit ihrer Tarnidentität vertraut zu machen. Denken Sie, Sie schaffen das?“
„Natürlich Sir“, war sich Sarah sicher.
„Na gut, dann war es das“, nickte Captain Mancini.
„Aber Sir, ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist“, warf O’Neill ein.
„Dann sagen Sie das dem Chief. Und jetzt wieder ab an die Arbeit. Und schließen Sie die Tür hinter sich.“
Die drei Detectives beeilten sich, aus der Reichweite ihres Vorgesetzten zu kommen.Leider hatte Sarah weniger Glück als die anderen.
„Williams! Sie bleiben noch“, rief er ihr zu, als sie als Letzte die Tür erreicht hatte.
Langsam drehte sie sich wieder um und blieb wie angewurzelt stehen. Der Captain wartete, bis die Tür geschlossen war und winkte sie näher zu sich heran, bis sie direkt vor seinem Schreibtisch stand.
„Wissen Sie, wie lange ich jetzt Captain hier bin? Zwölf Jahre“, sagte er dann, während Sarah ihn voller Anspannung schweigend anstarrte. „Denken Sie, dass man so lange Captain sein kann, wenn man ein Trottel ist?“
„Nein, natürlich nicht, Sir“, murmelte sie als Antwort.
„Warum halten Sie mich dann für einen Trottel? Denken Sie wirklich, ich wüsste nicht, dass das eigentlich Ihre Idee war und nicht die vom Chief?“
Sarah schluckte schwer und blickte kurz nach unten, bevor sie ihmwieder direkt in die Augen schaute.
„Es tut mir leid, Sir.Aber ich habe die Anzeige gesehen und musste einfach etwas unternehmen.“
Mancini stand auf.
„Und dann sind Sie hinter meinem Rücken zum Chief gegangen, anstatt es mir zu sagen. Sie wissen, was das bedeutet?“
Sarah nickte trotzig.
„Ich habe schon dem Chief gesagt, ich bin bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen.Aber ich halte es möglicherweisefür die einzige Chance, den Fall zu lösen und Graham zu überführen.“
„Das ist gut,dassSie es dem Chief gesagt haben, denn Sie werden ganz sicher die Konsequenzen dafür tragen“, bestätigte der Captain in einem auffallend leisen Ton.
„Ja Sir.“
Es fiel Sarah schwer, trotz der inneren Anspannung ruhig zu wirken.
„Gut, dann kommen wir jetzt zur Sache“, beendete Mancini das Thema. „Ihr Deckname ist Sarah Porter. Unter dem haben Sie sich ja auch beworben. Bis morgen ist der Lebenslauf fertig. Die Papiere hat das Labor erst übermorgen, da denen noch Passbilder von Ihnen fehlen.“
„Ich bringe gleich morgen früh welche ins Labor“, versicherte Sarah.
„Okay,außerdemerhaltenSieübermorgenein Prepaidhandy mit GPS-Ortungundwenn Sie den Job bekommen sollten, ziehen Sie für die Zeit in eine unserer Wohnungen, die wir für solche Aktionen haben“, informierte er sie weiter und schob ihr einen dicken Ordner über den Schreibtisch. „Ihre Hauptaufgabe ab jetzt. Hier steht alles drin, was wir über David Graham wissen. Sie können sich gleich an die Arbeit machen.Ihren bisherigen Fall übernimmt solange O’Neill.“
„Alles klar, Sir!“
„Sie können jetzt gehen.“
„Danke Sir!“,erwiderte sie und nahm denOrdner vom Schreibtisch.
„Ach, eine Sache noch“, fiel Mancini noch ein. „Das war das erste und letzte Mal, dass Sie versucht haben, mich hinters Licht zu führen. Sie haben alleVoraussetzungen,dieman braucht,umein hervorragender Detective zusein: Intelligenz, Hartnäckigkeit und Bauchgefühl. Ihnen fehlt aber noch Erfahrung und vor allem Respekt vor den Vorschriften. Ich würde es schade finden, Sie deshalb zu verlieren. Also reißen Sie sich in Zukunft gefälligst zusammen, verstanden?“
Sarah starrte ihn fassungslos an. War da gerade etwas über seine Lippen gekommen, das man als Anerkennung auffassen konnte?
„Ich verspreche es, Sir!“
„Gut, dann raus jetzt … Und wenn Sie jemanden auch nur ein Wort von dem verraten, was ich gerade gesagt habe, werde ich Sie alle zur Verkehrspolizei versetzen lassen, ist das klar?“, drohte er.
Ein flüchtiges Schmunzeln huschte über Sarahs Gesicht und sie nickte eifrig, bevor sie sein Büro verließ und wieder zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte,um sich den Ordner über David Graham anzusehen.
***
Sarah machte heute pünktlich Feierabend, denn sie wollte noch neue Passbilder anfertigen lassen und hatte auch noch weitere Vorbereitungen für ihren ersten Undercover-Einsatz auf ihrer Liste.
Am nächsten Morgen suchte sie als Erstes das Labor auf, um ihre Passbilder abzugeben. Als sie eine Weile später die Räume der Mordkommission betrat, war niemand zu sehen. Sie ging direkt weiter zur Tür von Captain Mancinis Büround klopfte an.
„Herein!“
Er sah vom Schreibtisch auf, als Sarah eintrat und ihn grüßte.
„Guten Morgen, Sir.“
„Ah, Detective Williams, da sind Sie …“, er stockte. „Was zum Teufel?“
„Stimmt etwas nicht, Captain?“,
„Ob etwas nicht stimmt? Warum zum Teufel sehen Sie so … blond aus?“
„Ich habe mir gestern die Haare färben lassen“, entgegnete sie.
Mancini schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Bin ich hier im Irrenhaus? Wir sind die Mordkommission und kein Kosmetikstudio oder Friseursalon. Lassen Sie das wieder wegmachen.“
„Das geht nicht, Sir. Ich habe die Passbilder mit den blonden Haaren bereits im Labor abgegeben“, klärte sie ihn auf.
„Aber was haben Sie sich dabei gedacht? Sie gehen undercover und nicht zum Karneval.“
„Ich hoffe, damit meine Chancen auf den Job bei Graham zu erhöhen“, erklärte sie ihm. „Ich habe viele Fotos von ihm im Internet studiert und immer, wenn er in Begleitung einer Frau war, war es eine Blondine. Ich denke, das ist kein Zufall.“
Mancini starrte sie eine Weile an und seine Miene entspannte sich etwas.
„Wenigstens ist das eine Erklärung, die ich akzeptieren kann,ohne anIhrem Verstand zu zweifeln“, brummte er. „Also gut, da es sich sowieso nicht mehr rückgängig machen lässt …“, gab er schließlich nachund zeigte auf einen großen Umschlag auf dem Schreibtisch. „Das hier istIhr Lebenslauf, Miss Porter. College, Abschluss in Kunstgeschichte, Nebenfach Computersicherheit,anschließendeinJahrbeschäftigtam Museumof Fine Artsin Boston, danachbis vor einigen Monaten in einer kleinen Galerieund Umzug nach L.A.Das College und das Museum wissen Bescheid.Sie arbeiten mit uns zusammen. Die kleine Galerie gibt es nicht mehr, seit der Besitzer vor einiger Zeit gestorben ist.Da kannalsoniemand nachfragen.“
„Klingt gut“, meinte Sarah und nahm den Umschlag vom Tisch.
„Noch Fragen?“
„Nein Sir.“
„Gut, dann gehen Sie jetzt nach Hause und bereiten sich aufIhr Bewerbungsgespräch und auf Graham vor. Bevor Sie morgen dort hingehen, kommen Sie wieder her. Dann gebe ich Ihnen die Papiere und das Handy. Der Chief wollte Ihnen zur Sicherheit eine Wanze verpassen, aber ich fürchte, wenn es stimmt, was das FBI über Graham sagt, würden Sie damit ziemlich schnell auffliegen. Ich will Sie deshalb nur noch einmal darauf hinweisen, wie gefährlich es werden kann, da wir Sie nicht ständigim Auge behaltenkönnen.“
„Ich weiß, Captain. Ich werde vorsichtig sein.“
„Gut, die Kontaktaufnahme erfolgt ausschließlich über das Prepaidhandy oder später über das Telefon in der Wohnung, aber das besprechen wir noch genauer,fallsSie den Job bekommensollten.“
„Alles klar, Sir.“
„Okay, dann bis morgen.“
Als Sarah das Büro verließ, war immer noch niemand von ihren anderen Kollegen zu sehen und so machte sie sich auf den Heimweg,wiedermit einem leichten Kribbeln im Bauch.Morgen würde es so weit sein.Morgen würde sie damit beginnen können, ihr Versprechen wahr zu machenundBennys Mörder zu überführen.MorgenwürdesiediesemMonster endlichAuge in Auge gegenüberstehen.
Als Sarah am nächsten Tag ihre Wohnung verließ,verspürte sie eine unerwartete Ruhe in sich. Sie hatte seit drei Nächten keine Albträume mehr gehabt und war jetzt felsenfest davon überzeugt, dass sie das Richtige tat. In wenigen Stunden war ihr Vorstellungsgespräch bei Graham und natürlich trug sie heute nicht wie üblich Jeans und T-Shirt, sondern einen dunklen Rock, der bis eineHand breit überihreKnie reichte, eine helle Bluse und hochhackige Schuhe. Vervollständigt wurde ihr Outfit von einer Handtasche und einer Sonnenbrille, während ihr erblondetes, langes Haar offen bis auf den Rücken fiel.
Sie hatte gerade die Räume der Mordkommission betreten, als Rodriguez und O’Neill von ihren Stühlen aufsprangen und regelrecht auf sie zu gestürmt kamen.
„Entschuldigung, Miss, können wir etwas für Sie tun?“, fragte O’Neill.
„Können wir Ihnen irgendwie helfen?“, ergänzte Rodriguez eifrig.
Sarah blieb stehen und nahm ihre Sonnenbrille ab.
„Ich weiß nicht. Wollen Sie für mich zum Captain gehen?“
Sie konnte sehen, wie ihre Kollegen sie mit großen Augen anstarrten.
„Sarah?“
„Sind Sie das wirklich?“
„Warum sollte ich es nicht sein?“, erwiderte sie schmunzelnd.
„Na ja, Sie sehen so anders aus, so wie …“
„Eine Frau.“
„Eine umwerfend attraktive Frau“, ergänzte O’Neill schnell.
„Ach und wie sehe ich sonst aus?“, wollte sie wissen.
Ihre beiden Kollegen zuckten mit den Schultern.
„Wie Sarah“, entgegneten sie wie aus einem Munde.
„Na vielen Dank“, meinte sie, mit den Augen rollend.
„Nein, nein, wir meinten eher sportlich, wie ein Detective halt“, stotterte Rodriguez.
„Schon klar. Belassen wir es bei diesen Komplimenten, bevor es noch schlimmer wird“, erklärte Sarah und ging weiter.
Nach einigen Schritten drehte sie sich aber noch einmal abrupt um und sah, dass die beiden wie gebannt auf ihren Hintern gestarrt hatten und nun versuchten, blitzartig woanders hinzuschauen. Warnend hob sie den Zeigefinger.
„Schon mal etwas von sexueller Belästigung gehört?“
O’Neill kratzte sich verlegen am Kopf, grinste dann aber.
„Kommt darauf an. Wen von uns wollen Sie denn belästigen?“
Sarah musste lachen.
„Träumen Sie weiter, aber lassen Sie sich nicht vom Captain dabei erwischen.“
Kopfschüttelnd ging sie nun zur Tür ihres Vorgesetzten und klopfte andie Scheibe.
„Herein“, erklang barsch Mancinis Stimme und Sarah trat ein.
„Guten Morgen, Captain“, grüßte sie und bemerkte, dass sich noch eine weitere Person im Raum befand. „Chief Grant.“
„Morgen“, knurrte Mancini in seiner gewohnt mürrischen Art.
Edward Grants Augen waren auf Sarah gerichtet und auf seiner Stirn zeigten sich tiefe Falten.
„Sarah, wie siehst du denn aus?“, fragte er konsterniert und wandte sich dann dem Captain zu. „Haben Sie ihr das befohlen?“
„Also bitte, Edward. Ich habe mit der Mordkommission mehr als genug zu tun. Denken Sie, ich bin nebenbei auch noch Modeberater?“, wehrte der Captain ab.
„Nein, das habe ich allein zu verantworten“, bestätigte Sarah.
Grant schüttelte den Kopf.
„Ich verstehe das nicht. Sie hättenihrdas aber verbieten müssen, Anthony.“
Der Captain hob abwehrend die Hände.
„Sie kennen sie doch besser als ich. Sie sollten eigentlich wissen, dass das zwecklos wäre.“
„Soll das heißen, Sie haben Ihre Abteilung nicht mehr im Griff? Wir können sie doch nicht so gehen lassen. Der Rock ist auch viel zu kurz für meinen Geschmack“, empörte sich der Chief.
„Captain? Chief? Entschuldigung!“, unterbrach Sarah den Disput der beiden Männer, die sie jetzt überrascht anschauten.
„Ich wollte Sie nur daran erinnern, dass ich nachher noch ein Vorstellungsgespräch habe“, sagte sie mit Nachdruck. „Und bei allem Respekt, Chief“, wandte sie sich an Edward Grant, „was meine Kleidung betrifft, darüber kann ich schon gut allein entscheiden, es geht hier nicht um meinen ersten Schultag.“
Chief Grant atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen. In dem Blick, den Captain Mancini ihr jetzt zuwarf, war durchaus so etwas wie Respekt zu erkennen.
„Richtig Sarah, kommen wir zu dem, warum wir hier sind“, gab Grant ihr recht.
Captain Mancini nickte zustimmend und zeigte vor sich auf den Schreibtisch.
„Hier sind Ihre Papiere und das Handy. Die GPS-Ortung funktioniert auch, wenn es ausgeschaltet ist, damit wir Sie nicht so schnell aus den Augen verlieren. Merken Sie sich, die Nummer, mit der Sie mich direkt erreichen, ist auf Schnellwahl Drei einprogrammiert unter dem Namen Reinigung. Eins und Zwei sind ein Pizzaservice und ein chinesischer Lieferservice, nur für den Fall, dass jemand neugierig wird.“
„Okay“, entgegnete Sarah, betrachteteneugierigden Führerschein,die Kreditkarteund die Sozialversicherungskarte, die aufden NamenSarah Porter ausgestellt waren und stecktedannallesein.
„Falls Sie den Job bekommen, kann es sein, dass Sie auch noch einen Reisepass brauchen werden. Graham hat seine Assistentin öfter mit auf Geschäftsreisen genommen. Aber hoffen wir mal, dass es soweit nicht kommen wird“, erklärte Mancini.
„Ganz sicher nicht, das wäre nicht zu verantworten“, warf Chief Grant ein.
„Abwarten“, meinte Sarah schulterzuckend und steckte auch das Handy in ihre Handtasche.
„Was ist mit einer Waffe?“, fragte der Captain.
Sarah schüttelte den Kopf.
„Nicht jetzt.Ich denke nicht, dass ich heute eine brauchen werde. Außerdem will ich nicht, dass jemand eine Pistole in meiner Tasche sieht.“
„Das gefällt mir alles ganz und gar nicht“, murmelte Chief Grant. „Danngeben wir dir aber ein kleines Mikrofon mit.“
„Nein, bitte Chief“, lehnte sie lächelnd ab. „Ich habe Ihnen versprochen, dass ich vorsichtig sein werde. Bitte vertrauen Sie mir.“
Edward Grant seufzte und nickte schließlich.
„Also gut.“
Sarah schaute auf die Uhr.
„Ich denke, es wird Zeit.“
„Gut“, erwiderte Captain Mancini. „Ich erwarte, dass Sie sich unverzüglich melden, wenn das Bewerbungsgespräch beendet ist – oder wenn es Probleme geben sollte, verstanden?“
„Ja Sir.“
„Dann viel Glück und jetzt ab.“
Sie nickte und verließ das Büro. Edward Grants Gesichtsausdruck hatte ihr deutlich gezeigt, dass er alles andere als glücklich darüber war, sie ohne weitere Absicherung ziehen zu lassen. Aber sie wollte ihren Auftrag auf keinen Fall gefährden, bevor er richtig begonnen hatte.
Sarah verließ das Polizeigebäude, lief bis zur nächsten Straßenecke und stieg dort in ein Taxi, das sie zur Galerie von David Grahamam Wilshire Boulevard brachte.Sie bezahlte den Taxifahrer, stieg aus und stand direkt vor einer der riesigen getönten Schaufensterscheiben, durch die man in das Innere der Galerie blicken konnte. Da sie noch eine halbe Stunde Zeit bis zu ihrem Termin hatte, überlegte Sarah, ob sie noch etwas warten sollte, beschloss dann aber doch hineinzugehen.
Direkt hinter der Eingangstür befand sich ein im Halbkreis geschwungener Empfangstresen, hinter dem eine junge Frau mit dunklen, schulterlangen Haaren saß und sie freundlich anlächelte,als sie zögernd eintrat.
„Kommen Sie ruhig herein, wir haben bereits geöffnet“, sprach sie Sarah an.
„Oh, ja, danke“, entgegnete diese. „Ich bin eigentlich hier wegen eines Bewerbungsgesprächs, aber ich bin etwas zu früh.“
„Ach so.“ Die Frau schaute in einen Kalender. „Miss Porter?“
„Ja“, bestätigte Sarah.
Die Frau stand auf.
„Ich bin Amanda. Herzlich willkommen.“
„Danke.“
„Sind das Ihre Bewerbungsunterlagen?“, fragte Amanda und zeigte auf den Umschlag in Sarahs Hand.
„Ja.“
„Die kann ich ja schon mal mitnehmen. Sie können sich ruhig noch ein wenig umschauen“, schlug sie vor.
„Sehr gern“, erwiderte Sarah, reichte ihr den Umschlag und begann, durch den Raum zu schlendern, während Amanda eine Treppe im hinteren Bereich der Galerie nach oben stieg.
Mit Interesse betrachtete Sarah die ausgestellten Exponate und versuchte damit, den Gedanken zu kontrollieren, dass sie in wenigen Minuten dem wahrscheinlichen Mörder ihres besten Freundes gegenüberstehen würde. Sie musste ruhig und stark bleiben. Wenn sie ehrlich war, hatte sie ein wenig Angst – nicht vor Graham, sondern davor, ihre Wut nicht beherrschen zu können, wenn sie diesem Monster begegnen würde-davor, eineschlechte Polizistin zu sein und somit nicht nur den Fall zu ruinieren, sondern auch sich selbst und ihre Kollegen und Vorgesetzten zu enttäuschen. Vielleicht hatte Edward Grant doch recht gehabt, als ergesagthatte, sie sei zusehremotionalindiesen Fallinvolviert. Nein! Das würde sie nicht zulassen. Sie würde beweisen, dass man ihr den Auftrag zuRecht anvertraut hatte.
„Miss Porter?“, wurde sie von Amandas Stimme aus ihren Gedanken gerissen.
„Ja?“
„Mister Graham erwartet Sie in seinem Büro. Die Treppe hoch und einfach geradeaus, bis zum Ende des Flures und durch das Büro.“
„Vielen Dank“, entgegnete Sarah, atmete tief durch und machte sich entschlossen auf den Wegzu David Graham.
Die Treppe führte sie hinauf in einen breiten Flur. Sie ging weiter und als sie das Endedes Korridors erreicht hatte, trat sie durch eine offene Tür ein großes Büro.Hier befand sich einSchreibtisch auf derlinkenSeite,währendzahlreiche Aktenschränkean der Wand rechts von ihr aufgestellt waren.Genau gegenüber erkanntesieeine weitere Tür, dienach Amandas Beschreibungdirekt in Grahams Büro führen sollte. Ohne zu zögern klopfte Sarah dort an.
„Ja bitte!“, hörte sie leise und trat ein.
Das Büro war ein großer, heller Raum mit einem riesigen Fenster, vor dem ein moderner Schreibtisch stand. Sarah war ein wenig überrascht.Auch wenn sie wusste, dass es dieses Klischee in der Realität doch selten gab, hatte sie sich in ihren Gedankenspielenihr Zusammentreffen andersausgemalt.Sie hatte sich darin vorgestellt,dass Leute wie Graham in dunklen Hinterzimmern sitzen würden und mit ihren Gangsterkumpanen Poker spielten und Whisky in sich hinein schütteten. Stattdessen saß David Graham allein hinter seinem Schreibtisch und blickte in ihre Bewerbungsunterlagen.Er trug weder Jacke, noch Krawatte, sondern nur ein dunkles Hemd und Sarah musste feststellen, dass er noch viel attraktiver war als auf den Fotos, die sie bisher gesehen hatte.
„Guten Tag, Mister Graham“, grüßte sie ihn.
„Guten Tag, Miss …“ Er las offensichtlich noch den Satz zu Ende und klappte dann den Ordner zu.
Seine Stimme klang gelangweilt, so als ob es nur eine lästige Pflicht sein würde, sie zu empfangen.
„Porter“, beendete er die Begrüßung und blickte zu ihr auf.
Sarah bemerkte, wie dunkel seine Augen waren und dass sich seineMiene schlagartig aufhellte,als er sie erblickte.Sogar ein leichtes Lächelnhuschteüber sein Gesicht. Er stand auf,gingum den Schreibtisch herum und streckte ihr die Hand entgegen.
„Herzlich willkommen!“
Sarah konnte seine Augen jetzt noch deutlicher sehen und spürte, wie ein leichtes Zittern durch ihren Körper lief. Sie hatte das Gefühl, in zwei Magnete zu schauen, denen man nicht entkommenwollte, auch wenn man wusste, dass man darinunweigerlichin der Unendlichkeit versinken würde.Dieser Mann war sehr wahrscheinlich ein Mörder, ein Monster, aber wie konnte dannalleinsein Blick so eineungewöhnlicheAnziehungskraft auf sie ausstrahlen?
Sie räusperte sich.
„Ähm, danke!“
Vorsichtig ergriff sie seine ausgestreckte Hand, um diese zu schütteln und verlor beinahe das Gleichgewicht, als die Berührung so etwas wie einen Stromschlag in ihren Nervenbahnen auslöste, der sich bis in ihren Bauch ausbreitete und sich dort in einem warmen Kribbeln auflöste.
„Bitte, setzen Sie sich doch!“, bot Graham ihr an.
Sarah war froh, auf dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz nehmen zu können, da sie fürchtete, sich nach seiner Berührung nicht mehr auf ihre Beine verlassen zu können. Sie ertappte sich dabei, wie ihr Blick unwillkürlich von seinem Rücken hinunter auf seinen Hintern wanderte, als er wieder zurück auf die andere Seite des Tisches ging.Was war nur mit ihr los? Sie saß hier vor dem Mörder ihres besten Freundes und anstatt sich auf ihren Job zu konzentrieren, starrte sie ihm auf den Hintern – auch wenn es ein sehr süßer Hintern war.
„Oh Gott, nein!“, stöhnte sie bei diesemGedanken entsetztauf.
„Wie bitte?“, fragte Graham irritiert.
Sarah spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Hatte sie das wirklich laut gesagt?
„Nein, Entschuldigung, ein Irrtum. Ich dachtefüreinen Moment, ich habe vergessen,mein Auto abzuschließen.Aber das ist ja in der Werkstatt. Ich … Ich bin ein wenig nervös, tut mir leid.“
„Muss es nicht, das ist doch in dieserSituationnormal“, entgegnete er lächelnd.
Sarah lächelte verlegen zurück.
’Na toll, verständnisvoll ist er auch noch. Kann er es mir nicht einfacher machen, ihn verabscheuen zu können?’
Graham wandte seinen Blick nicht für eine Sekunde von ihr ab.
„Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Nein, danke, sehr nett von Ihnen“, lehnte sie ab.
„Nun gut, dann würde ich sagen, fangen wir an.“
Erlegteseine Hand auf ihre Bewerbungsunterlagen.
„Ich habe mir Ihren Lebenslauf bereits durchgelesen undich kann Ihnen sagen, dass Ihre Qualifikationen und bisherigen Jobs durchaus dem entsprechen, was ich von meiner Assistentin erwarten würde.“
„Das freut mich, Mister Graham“, erwiderte Sarah erleichtert.
„Oh bitte, nennen Sie mich David. Wir reden uns hier alle mit Vornamen an. Daran sollten Sie sich schnell gewöhnen, falls Sie den Job bekommen sollten.“
„Ich werde es mir merken“, versprach sie. „Ich nehme an, Sie nennen mich dann Sarah?“
„Wenn Sie mir Ihren richtigen Namen nicht verheimlicht haben, wird das so sein“, antwortete eraugenzwinkernd und ließsievor Schreck erstarren.
Hatte er etwas bemerkt? Wusste er mehr, als er sich anmerken ließ? War ihre Tarnung etwa schon aufgeflogen? Sie versuchte, in seinem Gesichtsausdruck zu lesen, aber alles, was sie erkennen konnte, war Freundlichkeit, Wohlwollen und auch so etwas wie Interesse. Sie beruhigte sich wieder ein wenig. Wahrscheinlich war sein Kommentar wirklich nur als kleiner Scherz gemeint gewesen.
„Sie haben mich erwischt. Ich heiße eigentlich Dorothy“, versuchte sie, die Situation auf humorvolle Art zu überspielen.
Graham musste lachen.
„Das würde ich Ihnen nicht antun. Da bleibe ich doch lieber bei Sarah. Der Name ist viel schöner und passt wunderbar zu Ihnen.“
Siesenkte bei seinem Kompliment verlegen den Blick.
„Wie wäre es, wenn Sie mir noch ein wenig von sich erzählen, damit ich besser beurteilen können, ob Sie gut in unsere kleine Familiehierin der Galerie passen würden“, schlug Graham vor.
Sie zuckte mit den Schultern.
„Was möchten Sie denn hören? Etwas über das Museum oder die kleine Galerie, in der ich zuletzt gearbeitet habe?“
„Nein, eher etwas über Sie selbst. Wie sind Sie zur Kunst gekommen? Was interessiert Sie? Was begeistert Sie?“
„Ich denke,mein Interessean Kunst wurdedurch meine Muttergeweckt. Sie hat mich schon als kleines Mädchen in Ausstellungen und Museenmitgenommen. Sie hat auch selbst gemalt und sogar ein paar Bilder verkauft. Ich denke schon, dass sie einen großen Einfluss auf mich hatte und mich auchdarinbestärkt hat, Kunstgeschichte zu studieren.“
David Graham hörte interessiert zu.
„Und Ihr Vater?“
„Keine Ahnung, ich habe ihn nie kennengelernt.“
„Oh, das tut mir leid.“
„Muss es nicht. Ich habe ihn eigentlich auch nie vermisst. Ich kannte es nicht anders.“
„Verstehe. Aber Ihre Mutter war sicher stolz auf Sie, als Sie gleich nach dem Studium im Museum of Fine Arts arbeiten konnten?“
Sarah lächelte traurig.
„Das wäre sie sicher gewesen. Sie hat es nicht mehr miterlebt. Als ich noch auf dem College war, hatte sie einen Autounfall. Ein Betrunkener ist bei Rot über die Kreuzung gefahren und hat ihren Wagen von der Seite voll erwischt. Sie hatte keine Chance.“
„Bitte entschuldigen Sie, ich hatte keine Ahnung“, murmelte Graham leise und Sarah konnte es ihm ansehen, dass er es ernst meinte.
„Ist schon gut“, erwiderte sie und wischte sichunauffälligeine Träne weg. „Darf ich Sie auch etwas fragen?Über die Galerieund besonders über den Job als Ihre Assistentin?“
„Aber natürlich.“
„Was stellen Sie alles so aus?“
„Wir haben vieleunterschiedlicheKunstwerkehier, besonders auch aus Asien und Süd- und Mittelamerika. Wir kaufen und verkaufen natürlich weltweit, aber wir stellenebenfallsLeihgaben aus. Was wir nicht so ofthierhaben, ist zeitgenössische Kunst.“
„Aha, verstehe. Und ist es nicht schwer, an klassische Kunstwerke zu kommen, gerade aus Asien und Mittelamerika?“
„Das stimmt, das ist nicht einfach, aber ich habe es mit viel Geduldund einigen Mühengeschafft, verlässliche Partner in diesenLändern zu finden, die mir ihr Vertrauen schenken.“
„Das hört sich wirklich toll an“, erklärte sie und dachte: ’Ich bin ja gespannt, was das für saubere Partner sind, die jemandemwie ihm vertrauen.’
„Aber Sie sind sicherauchneugierig, was die Assistentinnenstelle angeht. Darum möchte ich Ihnen ersteinmal die wichtigsten Eckpunkte nennen.“
„Das wäre nett.“
„Als meine Assistentin wären Sie für meinenTerminplan zuständig, sowie für die Organisation von Ausstellungen, für meine Unterlagen und Daten,außerdem für die Organisation von allen geschäftlichen Kontakten und gesellschaftlichen Events, also Abendessen mit Kunden, Partys und so weiter. Auch wenn es nicht oft vorkommt, aber Sie würden michebenfallsauf Geschäftsreisen begleiten. Es ist wichtig, dass ich jemanden mit ausgezeichnetem Sachverstand an meiner Seite habe, denn Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, gerade im Kunsthandel und vier geschulte Augen sehen immer mehr als nur zwei.“
„Ich verstehe“, erwiderte Sarah nur.
„Natürlich bringt das mit sich, dass Sie oft keine geregelte Arbeitszeit haben werden, da viele dieser Transaktionen am Abend oder auch am Wochenende stattfinden und das oft auch noch kurzfristig. Natürlich versuchen wir immer,so gut es geht, einen Ausgleich zu schaffen, was die Arbeitszeit betrifft, aber ich mache Ihnen nichts vor.Es gibtauchZeiten, da ist meine Assistentin rund um die Uhr im Dienst.“
Sarah atmete hörbar ein.
„Ich halte es nur für fair, wenn ich Sie auch über die weniger angenehmen Seiten des Jobs bereits vorher aufkläre.“
„Oh ja, das ist sehr hilfreich“, bestätigte Sarah.
Graham nahm einen Stift und schrieb etwas auf einen kleinen Zettel, den er dann zu ihr über den Schreibtisch schob.
„Ich möchte Ihnen aber ebenfalls gleich mitteilen, was mir dieser Einsatz wert ist.“
Sarah nahm den Zettel, las die Zahl, diedarauf stand und nickte dann.
„Ich denke, das ist ganzfair“, befand sie. „Und wird das Gehalt immer direkt am Anfang des Monats gezahlt?“
Graham lächelte.
„Jeden Montag, die Summe auf dem Zettel wäre ihr wöchentlicher Verdienst, nicht der monatliche.“
Ihre Augen wurden groß.
„Ernsthaft?“
Für dieses Gehalt musste sie mehrere Monate als Detective arbeiten.
„Ja, ernsthaft“, bestätigte er amüsiert. „Also, haben Sie immer noch Interesse?“
„Oh ja, absolut.“
„Gut.Wenn Sie möchten, kann ich Sie ja ein wenig herumführen und Ihnen ein paarAusstellungsstücke zeigen“, bot Graham an.
„Sehrgern“, entgegnete sie begeistert.
Sie erhoben sich von ihren Sesseln und David Graham hielt ihr – ganz Gentleman - die Tür auf. Als Sarah für einen kurzen Moment seine Hand leicht auf ihrem Rücken spürte, hatte sie das Gefühl, ihr Atemwürde stocken.Gleichzeitigbreitete sichwieder ein warmes Kribbeln durch ihre Körpermitteaus. Zum Glück war es nur ein flüchtiger Moment undgleich daraufliefensienebeneinander den Flur entlang und die Treppe hinunter in die Ausstellungsräume.
„Was halten Sie hiervon?“, fragte Graham lächelnd, als sie vor einer Vitrine standen, in der eine rund zehn Zentimeter hohe Figuraufgestellt war, die grau-grün schimmerte und aus der ein Relief mit einer angsteinflößenden Fratze hervortrat.
Sarah beugte sich vor und betrachtete das Ausstellungsstück aufmerksam. Dann richtete sie sich wieder auf und schaute David Graham ungläubig an.
„Sagen Sie mir nicht, Sie haben die kaufen können? Soweit ich weiß, dürfen die nicht gehandelt werden.“
Ein zufriedenes Schmunzeln huschte über Grahams Gesicht.
„Dann wissen Sie, was das ist?“
Sarah nickte.
„Eine Götterfigur der Maya aus Jade. Ich würde sagen Frühklassik, gut 1500 Jahre alt.“
„Sehr gut“, war Graham beeindruckt. „Das stimmt.“
„Ich habe so eine schoneinmal im Met in New York gesehen“, erklärte Sarah und schaute ihn wieder an. „Verraten Sie mir, wo Sie sie her haben?“
David Graham lachte.
„Sie könnten auch eine gute Polizistin abgeben. Sie scheinen ein Talent zu haben, Leute zu verhören.“
Sarah blieb für einen Moment das Herz stehen. Sie war offensichtlich zu sehr aus der Rolle gefallen.
„Oh nein, es tut mir leid, so war das nicht gemeint“, wiegelte sie schnell ab. „Ich bin nur so begeistert. Ich hätte nicht erwartet, so eineStatue außerhalb eines Museums zu sehen.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Mir gefällt, dass Sie kein Blatt vor den Mund nehmen“, versicherte er ihr. „Diese Statue steht eigentlich auch im Museum, aber ich habe es über meine Kontakte in Hondurasgeschafft, dass sie für drei Monate hier ausgestellt werden kann.“
„Unglaublich“, murmeltesieüberrascht und betrachtete erneut die Figur,während Grahamhingegen Sarahbewundernd beobachtete.
„Wollen wir dann weiter? Ich habe da noch etwas für Sie“,unterbracher nach einigen Minutendie Stille.
Sarah nickte und folgte ihm in einen anderen Raum, wo sie vor einer großen Vase stehen blieben.
„Was meinen Sie dazu?“, wollte er wissen und zeigte auf das Gefäß.
Sarah beugte sich wieder vor und sah sich das Stück aufmerksam an.
„Ist das auch eine Leihgabe?“, fragte sie dann.
„Warum?“
„Weil es sich dann nicht wirklich lohnen würde, sie zurückzugeben.“
„Wie bitte?“
Sie richtete sich wieder auf und zuckte mit den Schultern.
„Das soll eine blau-weiße Mingvase sein, ist aber nur eine Kopie – und nichteinmaleinebesonders gute.“
„Ach nein?“, tat Graham verwundert.
„Nein, hier ist deutlich zu sehen, dass die Vase erst nach dem Brennen bemalt wurde, während die echten Mingvasen immer in Unterglasurtechnikhergestellt wurden“, erläutertesie.
David Graham musste schmunzeln.
„Dann sind Sie sich sicher, dass es eine Fälschung ist?“
Sarah nickte.
„Ja bin ich, und Sie wussten es auch. Habe ich den Testnunschon bestanden oder kommt da noch mehr?“
„Nein, Sie haben bestanden“, lachte er.
„Und wie geht es jetzt weiter?“
„Nun, normalerweise bekommen Sie innerhalb von zwei Tagen Bescheid, ob Ihre Bewerbungangenommen wurde, oder nicht.“
„Aber?“, fragte sie vorsichtig nach.
„Aber da übermorgen Samstag ist, machen wir es anders. Sie kommen am Montag wieder hier her, pünktlich um 9.30 Uhr. Dann haben wir noch eine halbe Stunde Zeit.“
„Was? Wofür?“
„Um den Vertrag zu unterschreiben und die wichtigsten Dinge zu klären, damit Sie auf die Minutegenauum 10.00 UhrIhren neuenJob als meine Assistentin antreten können.“
Sarahs Augen wurden groß.
„Das heißt, ich habe den Job?Wirklich?“
Er nickte.
„Ja, herzlichen Glückwunsch. Ich denke, Sie werden gut zu uns passen.“
„Danke, vielen Dank!“, rief sie begeistert aus und hatte in diesem Moment vor echter Freude sogar vergessen, dass alles nur ein Undercover-Auftrag war.
David Graham sah sieerneutfasziniert an und lächelte über ihren Gefühlsausbruch.
„Nichts zu danken“,entgegnete er und schüttelte ihr die Hand, wobei ein erneuter Stromschlag sichunvermeidlichin Sarahs Nervenbahnen ausbreitete.
„Es tut mir sehr leid. Ich habe gleich noch einen wichtigen Termin. Ich hätte mich noch sehr gern weiter mit Ihnen unterhalten“, bedauerte er. „Aber ab Montag haben wir ja ausreichend Zeit dazu.“
Sie nickte zustimmend.
„Dann auf Wiedersehen, Sarah.“
„Auf Wiedersehen, Mister … Auf Wiedersehen, David“, verbesserte sieschnell.Er schmunzelte undschaute ihr hinterher, bissieseinem Blick entschwunden war.
Als Sarah die Galerie verlassen hatte, ging sie über die Straße, direkt in das kleine Café. Sie setzte sich draußen unter einem Sonnenschirm an einen freien Tisch und bestellte sich einen Espresso. Siemusstejetzt unbedingt etwas Starkes trinken, um ihre Nerven wieder unter Kontrolle zu bekommen. Wasgenauwar dort eigentlich in der Galerie passiert? Noch nie hatte jemand so eine Wirkung auf sie gehabt wie David Graham. Jeder Blick, jede noch so kleine Berührung von ihm hatten ihre GefühleAchterbahn fahren lassen wie bei einemfünfzehnjährigen Schulmädchen.
Der Kellner brachte ihr den Espresso. Sarah bedankte sich, nippte vorsichtig daran und widmete sich weiter ihren Gedanken. Vielleicht lag es ja einfach nur daran, dass sie schon zu lange allein war. Sie hatte zwar Roger, aber das war keine wirkliche Beziehung. Sie gingen ein paarmal im Jahr zusammen aus, tranken etwas und verbrachten dann die Nacht miteinander. Es war nett, unkompliziert, bequem und erinnerte sie ab und zu daran, dass sie nicht nur Polizistin, sondern auch eine Frau war.
Aber das alles konnte nicht annähernd erklären, warum sie soextremauf ihren Hauptverdächtigen reagierthatte. Nur die Gedanken an seine dunklen Augen,sein feines Lächeln und die Muskeln, die sich durch den dunklen Stoff seinesHemdes abgezeichnet hatten, erzeugten gerade erneuteine größereWärme in ihrem Bauch als der dampfend heiße Espresso. Sie mussteihre Empfindungenunbedingt bis Montag in den Griff bekommen. Was würden der Captain und gar Chief Grant davon halten, wenn sie davonerfuhren?
„Oh verdammt, ich sollte mich ja sofort beim Captain melden“, fiel ihr dabei ein.
Sie griff in ihre Handtasche, holte das Mobiltelefon heraus und wählte die Nummer, die unter dem Namen „Reinigung“ eingespeichert war.Nach dreimaligem Klingeln war die brummige Stimme von Mancini zu vernehmen.
„Joe's Reinigung, worum geht es?“
„Ich bin allein, wir können reden“, informierte sie ihn.
„Gott sei Dank“, murmelte der Captain erleichtert. „Es gibt schon viel zu viele Schauspieler in dieser Stadt. Also, ich höre.“
„Ich war in der Galerieundhatte dasVorstellungsgesprächbeiGraham. Es lief alles rund. Ich habe den Job.Er hat sofort zugesagt.“
„Sie haben ihn? Und schon sicher?“
„Ja, am Montag fange ich an.“
„Gute Arbeit, Williams“, lobte er sie. „Was brauchen Sie noch alles bis dahin?“
„Nun ja, die Wohnung und ein Auto wäre ganz gut. I