Tod auf der Elbinsel - Linn Greve - E-Book

Tod auf der Elbinsel E-Book

Linn Greve

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Beschreibung

Zwischen Alster und Elbe: Hauptkommissarin Dorothee Anders ermittelt in ihrem zweiten Fall

Versteckt auf dem Gelände eines stillgelegten Wasserwerks auf einer Elbinsel in Hamburg wird die Leiche der überaus erfolgreichen Modebloggerin Isabell Graumann gefunden. Für Hauptkommissarin Dorothee Anders, deren Privatleben ihr gerade gehörig über den Kopf wächst, rückt sofort »Bellas« größte Konkurrentin in den Mittelpunkt ihrer Ermittlungen, schließlich weht hinter der glänzenden Instagram-Fassade ein überaus rauer Wind. Doch mehr und mehr zeichnet sich ab, dass die Spur in eine ganz andere, düstere Richtung führt. Mitten hinein in eine abgeriegelte und eingeschworene Onlinecommunity, deren Mitglieder vor nichts zurückschrecken.

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Seitenzahl: 363

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LINN GREVE ist das Pseudonym einer deutschen Krimiautorin. Sie ist auf einem Weingut an der Mosel aufgewachsen, studierte Anglistik und Französische Philologie in Trier, absolvierte ein Verlagsvolontariat und promovierte anschließend in Sprach- und Übersetzungswissenschaft. Immer wieder zieht es sie hinaus in die Welt und insbesondere ans Meer. Nach Mord in der HafenCity ist Tod auf der Elbinsel der zweite Band ihrer atmosphärischen Hamburg-Krimi-Reihe um die sympathische Kommissarin Dorothee Anders.

Außerdem von Linn Greve lieferbar:

Mord in der HafenCity

Linn Greve

Tod

auf der

Elbinsel

Ein Hamburg-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Säuberlich

Umschlaggestaltung: bürosüd

Umschlagabbildungen: mauritius images / Westend61 / Kristian Peetz, mauritius images / Westend61 / Roy Jankowski

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel GmbH, Köln

ISBN 978-3-641-26776-6V001

www.penguin-verlag.de

I’m glad you are

as ugly on the outside

as I am on the inside

so we’ll get along fine

Claudine Muno Monsters

Prolog

Durch das Loch in der Stirn entwich die Schönheit. Sie verschwand aus dem Gesicht, das verschmierte Make-up machte es zu einer Clownsvisage. Eine Hochnäsige war gefallen. Die neuesten Trends aus New York und Paris hatten sie nicht davor bewahrt, der Fummel aus einer entzückenden Boutique in Barcelona taugte nicht als Rüstung.

Die halb gesenkten Lider ließen einen Streifen der hellblauen Iris durchscheinen. Im geöffneten Mund standen weiße Zähne in Reih und Glied, dazwischen wölbte sich eine dick geschwollene Zunge.

Der Griff des Schlägers lag rund und gut in der Hand. Das Holz schmiegte sich an die Haut, fast wie Mann und Frau, die beieinanderliegen.

Ich gewinne, ich habe gewonnen, triumphierte eine innere Stimme, als der Arm sich nach hinten bewegte. Du hast es verdient, begleitete den ausholenden Schwung.

Den Bruchteil einer Sekunde später krachte Hartholz berstend auf Knochen. Als der Schläger sich senkte, gab es das Gesicht nicht mehr. Nur noch auf unzähligen bedeutungslosen Fotos im Internet.

Fleisch und Gebein sahen bei allen Menschen gleich aus, das war deutlich zu erkennen. Eine zwei Millimeter dünne Hautschicht, die sich darüber spannte, entschied über Erfolg und Misserfolg im Leben, über Glück und Unglück, über das Aussehen.

Die kalte Arroganz, die gemeine Niedertracht waren in einer schönen Larve dahergekommen.

Es war an der Zeit, der Welt zu zeigen, wie es darunter aussah. Die Demaskierung war erfolgt.

1

1892 war Hamburg von einer verheerenden Cholera-Epidemie erschüttert worden, Tausende Menschen starben. Tag und Nacht wurden Gräber ausgehoben, in den Cholera-Baracken herrschten unvorstellbare Zustände. Viele Menschen flohen aus der Stadt. Über Auswandererschiffe gelangte die Krankheit nach New York und wütete dort weiter.

Robert Koch erlebte den von ihm entdeckten Erreger in Furor. Ursache dafür war die direkte Entnahme von Trinkwasser aus Elbe und Alster.

Bereits ein halbes Jahrhundert zuvor war durch das Elbwasserwerk Kaltehofe der Grundstein für eine sichere Versorgung mit Trinkwasser gelegt worden. Die zweiundzwanzig Sandfilterbecken der Anlage, die das Flusswasser durchlaufen musste, um gefahrlos genießbar zu sein, waren jedoch erst 1893 fertiggestellt worden – ein Jahr zu spät.

Die Geschichte faszinierte ihn. Es gehörten immer zwei Dinge zusammen: das Gebäude und die Geschichte. Die Bauwerke als solche waren interessant, boten einzigartige Anblicke und Motive, verlassen und benagt vom Zahn der Zeit. Aber erst ihre Historie formte die eigene Atmosphäre. Untereinander, in ihrer Community, sprachen sie von der vierten Dimension.

Er war mit einem Freund und einer Freundin in einem aufgegebenen Hospital an der französischen Grenze gewesen, vor etwa anderthalb Jahren. Keiner von ihnen war spirituell drauf, sie arbeiteten als Zahntechniker, Industriekaufmann und MTA, verbrachten ihre Nächte in Technoclubs. Doch sie alle hatten es wahrgenommen. Ein scharfer Luftzug an einem windstillen Tag inmitten der Eingangshalle, ein leises, wehklagendes Geräusch in einem der Zimmer im ersten Stock, die deutliche Präsenz von etwas. Es war eines der beeindruckendsten Erlebnisse gewesen, die er bislang gehabt hatte.

Der nördliche Teil des aufgegebenen Elbwasserwerks Kaltehofe interessierte ihn nicht. Dort war ein kleines Museum untergebracht, das Besuchern die Historie der Trinkwasserversorgung nahebrachte.

Hingegen lag der südliche Teil der Gebäude, auf den er gerade zuging, im Dornröschenschlaf. Das Wasserwerk war auf einer durch einen Landdurchstich künstlich entstandenen Insel erbaut worden. Die Architektur aus dunklem Backstein erinnerte an gotische Kathedralen. Außer den Hauptgebäuden gab es kleine, turmartige Nebenbauten. Sie wirkten gedrungen wie aufeinandergestapelte Mühlsteine, mit einem Spitzdach und portalartigen Eingängen, deren Umfassungen aus Sandstein aufwendig behauen waren.

Eine kühl-feuchte Brise streifte sein Gesicht, er eilte voran. Das Geschrei der Saatkrähen gellte aus dem umliegenden flachen Land.

Die Fensteröffnungen in dem Backsteingemäuer des verwaisten lang gezogenen Gebäudes waren notdürftig mit Holzplatten verschlossen. Er kannte die Stelle, die offen war und breit genug für den Einstieg.

Seinen Wagen hatte er etwa einen Kilometer entfernt geparkt, die Kameratasche schlug im Gehen an seine Hüfte.

Paradoxerweise begannen Häuser zu leben, sobald man sie verlassen hatte, nicht mehr in ihnen wohnte oder herumwerkelte. Sie wandelten sich, Verfall bedeutete nicht Stillstand, sondern Veränderung und Entwicklung.

Für ihn waren die aufgegebenen Orte wie geheimnisvolle Wesen, er erkundete sie auf seine Weise.

Dieses hier kannte er bereits. Natürlich. Er kannte alle Lost Places in Hamburg und Umgebung. Doch nach Kaltehofe zog es ihn häufiger. Heute, an diesem milchig trüben Herbstnachmittag, an dem sich einzelne Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke kämpften, hoffte er auf ein besonderes Licht, das die ambivalente Schönheit des Verfalls verstärkte.

Sein Ziel war eines der rückwärtigen Fenster im Erdgeschoss. Er näherte sich, die Feuchtigkeit des Grases benässte das Segeltuch seiner Schuhe. Prüfend sah er sich noch einmal um.

Klotzartige Industriebauten und ein hoher Schornstein ragten in einiger Entfernung auf, dazwischen lag unbesiedeltes Land.

Kurz zögerte er, wie immer vor dem Einstieg. Dann stützte er sich am Fenstersims ab, hievte schnell und geübt seinen Körper hoch, überkletterte die Mauer. Die Sohlen landeten auf glattem Steinboden im Inneren.

Der Geruch war in vielen Gebäuden ähnlich, kühl und dumpf, an Erde und Keller erinnernd. Er jedoch empfand ihn als warm, vertraut, fast heimelig. Das rostende Eisen mischte in dieser Anlage des Wasserwerks Duftspuren hinzu, heute kamen sie ihm stärker als sonst vor. Einen Atemzug lang dachte er an Blut.

Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Raum war klein, aber hoch, viele der hellen Wandfliesen waren zerschlagen, einige durch sinnlose Graffiti verunziert. Er hasste das. Es kam ihm vor, als entwürdige man einen Greis durch grelle Karnevalsschminke.

Ein breiter Durchgang führte in den Nachbarraum, in ihm befanden sich die Überreste des ehemals riesigen Wasserspeichers. Das Rohrsystem mit seinen Ventilen, Hähnen und alten Druckmessern, deren Gläser Risse und Sprünge hatten, trug den Rost wie eine schützende Hülle.

Im neunzehnten Jahrhundert kam die Anlage für die Stadt einem Quell des Lebens gleich. Nun hatte sie ihre Schuldigkeit getan, war zu einem Maschinentier auf dem Gnadenhof der Geschichte geworden.

Egal, wie er sich den Tag über gefühlt hatte – an den verlassenen Orten war er immer aufmerksam und hellwach. Mit geschärften Sinnen betrat er den Durchgang.

Auf dem Boden des Raumes vor ihm lagen Unrat und ein paar alte Zeitungen. Der eisenhaltige Geruch in der Luft verstärkte sich, darunter mischte sich ein anderer, übler, ihm unbekannter.

Im nächsten Augenblick setzte sein Atem aus. Druck auf der Brust gefährdete den Herzschlag.

In Sekundenbruchteilen empfing sein Gehirn das Bild einer Schaufensterpuppe, von halbstarken Jugendlichen mutwillig zerstört, rot beschmiert und unter zotigem Gelächter an die Wand gelehnt zurückgelassen.

Die von seinen Netzhäuten weitergeleiteten Signale korrigierten diese erste Assoziation. Adrenalin brandete in seinen Adern auf.

Dort saß eine Frau. Anstelle des Gesichts klaffte eine riesige Wunde. Das kurze Kleid hatte ein Blumenmuster, die Jeansjacke darüber eines aus dunkelroten Flecken. Schlanke, lange Beine lagen v-förmig auf dem Steinboden, bekleidet von einer zerrissenen Strumpfhose und in Cowboystiefeln endend.

Panisch zuckte sein Kopf, der Körper drehte sich um die eigene Achse, die Augen scannten den Raum.

Hallo, wollte er aus einem Impuls heraus rufen. Ist da jemand?

Instinktiv schwieg er.

Er horchte in die Stille, sein Blick schlich sich zu der Frau zurück.

Das Bild war abartig, grotesk, noch nie gesehen. Unerwartet für den Bilderjäger in ihm – und nach kurzer Betrachtung auf einmal seltsam faszinierend.

Er bannte Anblicke auf einen Speicherchip, es war seine Passion. So transportierte er Dinge und Orte auf den Bildschirm des Laptops in seiner kleinen Wohnung.

Wie von selbst tastete seine Hand nach der Kameratasche, öffnete sie, zog die teure Nikon heraus.

Als er durch den Sucher sah, wechselte mit der Perspektive sein innerer Zustand. Er wurde ruhig, gewann an Distanz, kühl und gleichzeitig beflügelt durch die Neugier des Beobachters.

Sein Zeigefinger drückte auf den Auslöser, das Klicken hallte metallisch durch den Raum. Dann nochmals und wieder. Leise surrend fuhr das Objektiv aus, brachte das Bild der Toten näher an sein Auge. Er drückte ab.

Schließlich wandte er den Kopf, noch mit der vorgehaltenen Kamera, von der Frau ab. Er ließ den Apparat sinken und verstaute ihn zurück in die Tasche.

Einen Augenblick stand er reglos da. Dann setzten sich seine Beine in Bewegung. Die ersten langsamen Schritte wurden von schnellen abgelöst, der Herzschlag pochte plötzlich hoch bis in die Kehle.

Er kletterte aus der Fensteröffnung, sprang ins Gras, sog wie ein Ertrinkender Luft ein. Fahrig nestelte er sein Handy aus der Hosentasche und wählte die 110.

2

Der Geruch lag zwischen Putzmittel und Rosenbeet, dabei hatte er eine scharfe Note. Die Kopfhaut kribbelte, als liefen Ameisen darüber.

Eifrig pinselte Nicolas schaumige Paste in Dorothee Anders’ Haar. Er löste eine Metallklammer und nahm sich die nächste dicke Strähne vor. Breite Alufolienstreifen auf Doros Kopf erinnerten sie an das glitzernde Geraffel, das mitunter Vogelscheuchen zierte.

»Du, das war ’ne gute Entscheidung, mal einen helleren Farbton auszuprobieren.« Nicolas sprach eher sein adrettes Spiegelbild an, dabei pinselte er flott aus dem Handgelenk weiter.

Doro sah in denselben Spiegel. Sie blinzelte. »Ja?«

»Auf jeden Fall. Älter werdende Gesichter vertragen so arg dunkles Haar nicht mehr. Das drückt zu sehr, verstehst du?«

»Ach so?«

»Also, nicht dass du schon älter wärst. Ich meine … wie alt bist du denn?«

»Siebenundvierzig.«

»Pfh. Da ist doch noch alles drin.« Während die eine Hand lässig wedelte, tauchte die andere den Pinsel in das Schälchen mit der Tönungsmasse. »Mit der neuen Color reißt du noch mal fünf Jahre raus.« Nicolas sprach im Expertenton. »Dein Freund wird Augen machen.«

»Irgendwelche besonderen Wünsche?«, hatte Doro Michael gefragt, bevor sie nach einem sehr späten zweiten Frühstück aus seiner Wohnung aufgebrochen war. »Frisurmäßig, meine ich.«

»Alles außer kurz und rot.« Grienend hatte er sich über den kahlen Schädel gerieben. »Blond vielleicht?«

»Wobei, Männer wollen ja immer Blond.« Routiniert kleisterte Nicolas ein dickes Haarbüschel von allen Seiten ein. »Guck mich an. Aber bei deiner natürlichen Farbe müsstest du da richtig changen und dauernd den Ansatz nachfärben.«

»Nee, lass mal lieber.« Unter dem schwarzen Nylonumhang staute sich Doros Körperwärme zu einer saunaartigen Hitze, ihr brach der Schweiß aus. Auf einem kleinen Beistelltisch schräg vor ihr stand eine leere Cappuccinotasse. Seit einer Weile fragte sich Doro, ob die Wirkung von Koffein als Brandbeschleuniger schon etwas mit den Wechseljahren zu tun hatte. Bestimmt nicht.

»So, das Auftragen wäre geschafft.« Mit zufriedenem Ausdruck betrachtete Nicolas sein Werk im Spiegel und legte den Pinsel beiseite. Oberhalb der schwarzen Latexhandschuhe trug er ein Tattoo am Handgelenk, in verschnörkelter Schrift war »Chris« dort verewigt.

Vor ein paar Tagen war Doros Sohn Constantin damit angekommen, sich tätowieren lassen zu wollen.

»Consti, bitte lass dir Zeit mit einer solchen Entscheidung. Du bist erst sechszehn. Warte, ob du es in einem Jahr immer noch willst.«

Ein Zuschlagen der Zimmertür war die Antwort gewesen.

»Das Ganze muss dreißig Minuten einwirken«, erklärte Nicolas. »In der Zeit kannst du was Schönes lesen. Die Gala? Ich hab auch die Brigitte Woman.« Er nahm eine durchsichtige Haube aus seinem Utensilienwagen. »So, noch das Häubchen drüber.«

Der Gummirand flutschte über Doros Stirn, an den Ohren entlang und über den Nacken. Geübt justierte Nicolas den Haarhügel darunter. Anschließend wischte er mit dem Zipfel eines Handtuchs eine Spur Färbemasse von Doros Hals. »Tippitopp. Welche Zeitschrift soll ich dir bringen?« Das Abstreifen der Handschuhe verursachte ein schmatzendes Geräusch.

»Du, einfach irgendeine.« Was mit netten Fotos und Texten, bei denen ich nicht denken muss, hätte sie beinahe angefügt. Vermutlich gab es bei Nicolas aber ohnehin nichts anderes.

»Okay.« In seinen hellen Chinos verschwand er in den vorderen Bereich des Salons.

Es war Samstagnachmittag, die Arbeitswoche auf dem Kommissariat hatte gestern Abend gegen zweiundzwanzig Uhr geendet. Gerädert war Doro aus dem Büro gekommen, Constantin war natürlich nicht zu Hause gewesen. Seit seinem sechzehnten Geburtstag schien es für ihn kein Halten mehr zu geben.

Darüber hinaus übernachtete er nach dem Zug durch Clubs und Kneipen neuerdings häufiger bei seinem Vater, ohne Doro Bescheid zu sagen.

Das leere Bett am Morgen katapultierte sie nach wie vor in Alarmbereitschaft. Beim ersten Mal hatte sie in der Früh besorgt ihren Ex-Mann angerufen und ihn womöglich, hörbar keuchend, bei etwas gestört, das sie sich nicht bildlich vorstellen wollte.

Mittlerweile versuchte sie, bis zu einer zivilen Uhrzeit abzuwarten. In Anbetracht der Tatsache, dass Alexander mit seiner neuen Frau Julia noch zwei kleine Mädchen in die Welt gesetzt hatte, fand Doro halb acht am Wochenende absolut zivil. Kinder waren ohnehin immer so zeitig wach.

Auf einen von Alexanders mauligen Kommentaren hin hatte sie ihn angeplärrt: »Dann bring deinem Sohn bei, Bescheid zu sagen. Meine Bitten diesbezüglich ignoriert er, und er geht auch nicht ans Handy.«

»Nur weil du bei der Polizei bist, musst du nicht dein komplettes Umfeld mit der Angst, dass was passiert sein könnte, terrorisieren.«

»Es könnte was passiert sein!«

»Doro, Constantin hat sich lediglich entschieden, bei uns zu übernachten. Hier darf er ausschlafen, und später wird die ganze Familie in Ruhe frühstücken.«

Du Arsch zu antworten, hatte sich Doro gerade noch verkneifen können, wortlos hatte sie das Gespräch beendet.

»So, hier ist was zu schmökern.« Nicolas war zurückgekommen, er reichte Doro ein Magazin.

»Zeitschrift für politische Bildung«, las sie auf dem Titelblatt. Ihr Stirnrunzeln krauste den vorderen Teil der Haube auf ihrem Kopf. Darunter steigerte sich das Ameisenkribbeln zu einem unangenehmen Jucken.

»Mein Süßer ist doch Referent im Senat.« Ein versonnenes Lächeln bog Nicolas’ volle Lippen nach oben. »Der liest so was. Und du bist ja auch so eine Verkopfte. Ich dachte, da passt das.«

»Super, danke.« Ebenfalls lächelnd nahm Doro die Zeitschrift an. »Ist bestimmt interessant.«

Sie blätterte das Magazin auf und überflog das für sie mäßig interessante Inhaltsverzeichnis. Dabei brummte es unter dem sie umhüllenden Nylonzelt.

Nach einem kurzen Zögern zwängte sie ihre Finger in die Tasche ihrer Jeans, zog das Handy heraus und brachte es ans Tageslicht.

Eine Nummer ihrer Dienststelle wurde angezeigt, Doro entfuhr ein missmutiger Laut. Ich hab heute frei, dachte sie. Der erste freie Samstag seit drei Wochen. Ihr Blick huschte von dem leuchtenden Display zu ihrem haubengekrönten Spiegelbild. So was von frei. Zumindest die nächste Stunde.

Unwillig tippte sie auf das grüne Hörersymbol.

»Anders, hallo?«

»Frau Anders, Axel Mohnhaupt hier. Wir haben gerade einen Anruf von einem gewissen Jürgen Kemmerer reinbekommen. Im Elbwasserwerk Kaltehofe sitzt eine tote Frau.«

Doro bohrte eine Fingerkuppe an einer besonders juckenden Stelle in den eingepampten Haarhügel und kratzte.

»Eine Obdachlose?«

»Details wissen wir noch nicht«, antwortete Axel Mohnhaupt. »Außer dass die Tote kein Gesicht mehr hat.«

»Shit.« Für einen Moment schloss Doro die Lider. »Was ist mit Max Holle? Der hat doch heute Dienst.«

»Schon. Aber der ist vor zwei Stunden weg. Bei seiner Frau haben die Wehen eingesetzt.«

»Na super. Und Ben Fleck? Haben Sie den erreicht?«

»Ich dachte, ich versuche es erst mal bei Ihnen.«

»Alles klar.« Hörbar atmete Doro ein. »Ich benachrichtige Ben und fahre zum Fundort. Können Sie mir bitte einen Kollegen mit Wagen bei ›Chez Nicolas‹ vorbeischicken?«

»Wo? Ist das ein Restaurant?«

Schön wär’s, dachte Doro. »Nein, ein Friseursalon in der Innenstadt.«

»Wird gemacht.«

»Danke.« Doro legte auf. »Nicolas, kannst du bitte mal kommen?«

»Sicher, Spatzerl. Was gibt’s?« Mit federnden Schritten kam er heran.

»Ich muss dringend weg.«

»Wie, weg?« Entgeistert sah er auf sein einwirkendes Pinselwerk. »Das geht nicht. Wenn ich das jetzt abspüle, sieht dein Haar aus wie ’ne gebatikte Tischdecke.«

»Wie bitte?«

»Nee, echt.« Nicolas schüttelte den Kopf. »Wie lange musst du denn weg?«

»Das kann Stunden dauern.« Doro registrierte neben Hitze und Jucken eine aufkommende Gereiztheit.

»Mit der Einwirkzeit ›Das kann Stunden dauern‹ hab ich keine Erfahrungen.« Nicolas rollte die Augen gen Decke. »Womöglich fallen dir danach paar Haare aus.«

»Argh. Dann spül’s bitte ab.« Doro zog die Haube runter. »Am besten schnell.«

3

Nach einer Blaulichtfahrt durch die Stadt und der Überquerung des Kaltehofe-Hauptdeichs traf Doro am Wasserwerk auf der Elbinsel ein.

Auf dem Gelände der alten Anlage stand bereits ein Aufgebot an Einsatzfahrzeugen. Zwischen dem Notarztwagen und dem der Spurensicherung erkannte Doro Bens Auto. Er hatte es vor Jahren aus dem Bestand der AWO gekauft, seitdem fuhr er mit dem über die Fahrertür verlaufenden Schriftzug »Essen auf Rädern« durch die Gegend.

Doro stieg aus. Die Sohlen ihrer Boots sanken in weiche Erde. Es war kühl, der Himmel hatte sich eingetrübt, sie fröstelte. Ihr nasses Haar steckte unter einer von Nicolas geliehenen Wollmütze, der Juckreiz ging nun von ihr aus.

Während Doro sich dem dunklen Backsteingebäude näherte, erschien Ben an dessen Eingang.

»Hi, Doro!«, rief er ihr zu. Wie immer sah er aus, als habe er sich gerade erst aus dem Bett geschält. Das hellbraune Haar stand verstrubbelt ab, die Jeans hing auf halbmast, die abgestoßene Lederjacke war über ein knittriges Sweatshirt gezogen worden.

»Da drin, das ist widerlich«, sagte er mit heruntergezogenen Mundwinkeln.

Doro horchte auf. Ben Fleck war noch jung, hatte jedoch von Beginn seiner Dienstzeit an eine außergewöhnliche Robustheit an den Tag gelegt. Doro schätzte das. Er war nicht kalt oder gefühllos, schien aber die Anblicke, die einem Kriminalkommissar begegneten, in einen tiefen Stollengang irgendwo in seinem Inneren verbannen zu können. Ein lakonischer Humor war der dicke Felsblock, der anschließend vor den Eingang gerollt wurde.

Widerlich aus Bens Mund zu hören, ließ Doro Übles erwarten.

»Wissen wir mittlerweile, wer das Opfer ist?«, fragte sie.

»Nein, die Frau hatte keine Papiere bei sich. Auch kein Handy. Und einen biometrischen Gesichtsabgleich über die Passfoto-Datenbank kannst du vergessen.«

Doro zog ihre Jacke fester um die Hüften. An zwei Kollegen von der Bereitschaft vorbei betrat sie das Gebäude. Ben folgte ihr.

Im Inneren umfingen sie ein starker Geruch nach feuchtem Mauerwerk und eine klamme Kälte. Doch sofort spürte Doro auch den Reiz, der von der verfallenden Architektur ausging, ihr Blick wanderte durch den hohen Raum. Die Mauern bröckelten und trugen teilweise Moosbewuchs, Rohre glichen rostigen Adern, die entlang der Wände verliefen.

»Dort rüber«, sagte Ben. »Die Frau befindet sich im Nachbarraum.«

»Was ist mit diesem Jürgen Kemmerer, der die Leiche entdeckt hat?«

»Sein Hobby sind Lost Places, er fotografiert sie und ist hier eingestiegen. Zurzeit sitzt er draußen in einem Wagen und gibt seine Aussage zu Protokoll.«

»Die Eingangstür war vermutlich verschlossen, bevor unsere Einsatzkräfte kamen?«

»Ja, Jürgen Kemmerer ist durch eine Fensteröffnung ins Gebäude gelangt. Die Kriminaltechnik untersucht die Einstiegsstelle nach Faserspuren und Ähnlichem. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kam auch der Mörder dort rein.«

Doro ging langsam weiter, eine Beamtin der Spurensicherung arbeitete in weißem Ganzkörperanzug vor einer der Wände. Mit einer Pinzette beförderte sie einen Zigarettenstummel in einen Plastikbeutel. Sie sah kurz zu Doro hin und grüßte.

Ein Durchgang führte in den Nachbarraum, das helle Licht aufgestellter Strahler grellte Doro entgegen.

Sie wusste, dass man sich auf furchtbare Anblicke nicht vorbereiten konnte. Man konnte auch nicht lernen, sie nach dem Dienst nicht mit nach Hause zu nehmen. Sie blieben für eine Weile in einem. Man konnte nur akzeptieren, dass sie da waren, und abwarten, bis sie irgendwann wieder verblassten.

Mit dem Eintreten brannte sich das Bild auf Doros Netzhaut ein.

Wie eine zerstörte Puppe saß sie da, die Beine gespreizt unter einem Blümchenkleid, das blonde lange Haar zerzaust. Schädel- und Gesichtsknochen waren zertrümmert und schienen hell hervor. Der Mund kam einer blutigen Öffnung gleich, die sich fortsetzte, fast bis zu den Augen hinauf, von denen eines aus der Höhle getreten war.

Doro schluckte. Sofort kam ihr der Gedanke, dass die Frau hübsch gewesen war und dass sie es im Tod nicht mehr hatte sein dürfen.

Das Wissen um unterschiedliche Täterprofile gehörte zur Grundausrüstung von Doros Arbeit, es glich einem breiten Gefach in ihrem Werkzeugkoffer.

Der Täter oder die Täterin hatte eine Frau so zugerichtet, ein Mann hätte nicht an deren Stelle dort gesessen. Eine Beziehung zwischen Täter und Opfer war bereits rein statistisch wahrscheinlich, im vorliegenden Fall erschien sie Doro nahezu sicher.

Im Umfeld der Leiche arbeiteten weitere Kollegen der Kriminaltechnik. Doro bemerkte dunkelrote Spritzer an der Wand um den Kopf der Frau herum. Die Verletzungen im Gesicht waren ihr mutmaßlich an Ort und Stelle zugefügt worden. Ob sie davor noch gelebt hatte oder schon tot hierhergebracht worden war, konnte die Gerichtsmedizin klären.

Doro sah sich in dem hell ausgeleuchteten Raum um. Die Atmosphäre von Vergänglichkeit und Verfall verstärkte sich durch die Tote bis zur Hoffnungslosigkeit.

»Griaß eich.«

Hinter Doro erklang eine ihr bekannte, kernige Stimme. Sie drehte sich um. Klein und flink eilte Magda Kirchgasser heran, der sie umhüllende karierte Wollmantel war mindestens zwei Nummern zu groß. Doro konnte sich nicht erinnern, dass die Rechtsmedizinerin bei ihren Begegnungen jemals gesund oder frisch ausgesehen hatte. Aber heute sah sie wie ihre eigene Kundschaft aus.

»Ah gä, na, oder?« Der burgenländische Einschlag war unverkennbar. »Des is doch a Sauerei. So a schöns Madl.«

Doro fixierte Magda Kirchgassers helle Augen, unter denen schiefergraue Schatten lagen.

»Ich dachte auch, dass sie schön war«, sagte sie.

Die Rechtsmedizinerin nickte. »Des seh ich noch.«

Sie zog Latexhandschuhe aus der mitgebrachten Tasche und ging neben der Toten in die Hocke. Vorsichtig, fast zärtlich strich sie eine blonde Haarsträhne aus dem verwüsteten Gesicht.

»Seit wann, denken Sie, ist sie tot?«, fragte Doro.

Behutsam hob Magda Kirchgasser den linken Arm der Toten etwas an. Dabei drückte sie auf die rot-violetten Verfärbungen, die sich über die Haut am Hals ausgebreitet hatten.

»Die Leichenflecken sind noch verschiebbar, die Totenstarre ist vollständig ausgeprägt, also beweg’n ma uns etwa vierzehn bis achtzehn Stunden nach Todeszeitpunkt. In dem frostigen Bunker hier eher achtzehn«, erklärte sie. »So auf der kalten Erde an die Wand gelehnt sitzend wird die Körpertemperatur nach’m Tod schneller g’fallen sein als üblich. Ich mess des gleich, aber über Raumtemperatur wird’s kaum noch sein.«

Sie griff in die geräumige schwarze Tasche und zog ein Thermometer hervor. Ihre Hand zitterte, Doro bemerkte es, zeitgleich fing sie einen flüchtigen Blick aus den verschatteten Augen auf.

»Zu viel Kaffee«, murmelte Magda Kirchgasser.

Sie hatte feine Antennen, registrierte, dass andere etwas registrierten, Doro wusste das. Doch an die Kaffee-Erklärung glaubte sie nicht. Der Tod hatte Magda zum Eau de Vie geführt, ihr Atem hatte es oft genug verraten.

»Herr Ben, können S’ mir helfen, des Madl zur Seite zu neigen?«

»Klar.« Ben kniete sich neben die Tote, rotwangig und ungerührt, obwohl er wusste, was nun anstand: die rektale Temperaturmessung, bei der Körperflüssigkeiten austraten, deren Geruch unsäglich war.

»So an Sohn wie den Ben, des hätt mir auch g’fallen«, hatte Magda Kirchgasser einmal zu Doro gesagt. Es hatte sie merkwürdig berührt.

Ben kippte die Tote vorsichtig zur Seite. Die ausgeprägte Leichenstarre verstärkte das Puppenhafte der Frau, der Anblick war bizarr. Dort, wo der Kopf angelehnt hatte, zeigte sich nun eine Art Kranz aus Blutspritzern an der Wand. Doro dachte an einen Heiligenschein.

Magda Kirchgasser klappte den Saum des Blümchenkleids nach oben, nestelte an der Strumpfhose herum und führte das Thermometer ein. Einige Sekunden darauf lief ein bräunliches Rinnsal über den Betonboden.

»Hat die Frau noch weitere Verletzungen?«, fragte Ben.

»Gä, des im Gesicht und am Schädel reicht ja wohl.« Magda zog das Thermometer hervor und las es mit zusammengekniffenen Augen ab. »Todeszeitpunkt bleibt bei gestern Abend, plus/minus zweiundzwanzig Uhr. Die Schläge wurden ihr wohl mit an harten, stumpfen Gegenstand beigebracht. Ob sie da zumindest anfangs noch g’lebt hat, sag ich euch nach der Sektion.«

Die Tote lag seitlich auf dem Boden. Ben stand auf und trat ein paar Schritte zurück.

»Wenn die KT so weit durch ist, loaßt sie zu mir bringen. Wisst ihr denn, wer des Madl is?«

»Noch nicht«, antwortete Doro. »Eventuell gelingt die Identitätsfeststellung über im Passregister abgespeicherte Fingerabdrücke.«

Bedächtig nickte Magda Kirchgasser. Ihr kurzes, mausbraunes Haar ließ die Kopfhaut durchscheinen. »Wenn ihr mich fragt, könnts ihr froh sein, wenn des a Beziehungstat woar. Ansonsten läuft da draußen an Irrer rum, der des womöglich noch amoal macht.«

Doro kratzte sich unter ihrer Mütze an der Schläfe. »Das mit der Beziehungstat ging mir auch schon durch den Kopf.«

»Äh … Entschuldigung?« Die Stimme war mädchenhaft und etwas unsicher. Doro drehte sich um.

Eine junge Beamtin von der Bereitschaft kam näher.

»Ja?«, fragte Doro.

»Ich habe die ganze Zeit überlegt. Ich meine, man erkennt die Frau ja nicht mehr.« Das Gesicht der Polizistin war fein geschnitten und dezent geschminkt, ein glitzerndes Steinchen zierte einen Nasenflügel. »Aber sie erinnert mich total an jemanden. Die Haare, der Look …«

Der Look?, dachte Doro. »So? An wen?«

»Na ja, ich habe sie abonniert. Das heißt, ich bin einer der Follower ihres Beauty-Blogs.«

Doro wurde neugierig. »Haben Sie Ihr Handy dabei?«

»Ja, ich kann Ihnen zeigen, was ich meine. Moment.« Die Polizistin zog das Telefon aus einer Innentasche ihrer Jacke und tippte auf dem Display herum. »Sie heißt Bella. Und das ist ihr …« Sie stockte. »Oh … hm.«

»Was?«, fragte Doro.

»Sie hat heute Vormittag um elf was gepostet. Das kann ja dann schlecht …«

»Zeigen Sie bitte mal her.« Doro streckte ihre Hand aus, die Beamtin gab ihr das Telefon. Hinter ihr trat Ben heran und beugte sich über ihre Schulter.

Eine hübsche blonde Frau mit großen hellblauen Augen lächelte Doro vom Display entgegen. »Bella’s Choice« stand in geschwungener Schrift am oberen Rand. Doro scrollte nach unten.

Weitere Fotos der Frau erschienen in kachelartiger Anordnung. Sie waren beschriftet, hinter ihnen verbargen sich die einzelnen Beiträge. Der neueste trug das aktuelle Tagesdatum. »Die zehn besten Make-up-Pinsel.«

»Bitte was?«, murmelte Ben dicht neben Doros Ohr.

Sie klickte auf das quadratische Foto. Ein Video öffnete sich. Kurz darauf erklang eine gut gelaunte Stimme.

»Hallo, ihr Lieben.« Die schöne Bella stand vor einem Spiegel mit opulentem Messingrahmen. »Ihr alle kennt das. Ihr plant einen ganz bestimmten Look, habt die Produkte bereits sorgfältig ausgewählt und aufeinander abgestimmt. Doch wenn es an die Realisierung geht, seid ihr unsicher, welcher Pinsel optimal für die jeweilige Task geeignet ist.« Bella neigte den Kopf. »Ich zeige euch heute meine aktuelle Make-up-Routine und gehe dabei insbesondere auf die Wahl der Brushes ein. So bekommt ihr ganz einfach eine Orientierung und vermeidet zukünftig Stress und Ärger.« Bella lächelte.

Doro starrte ungläubig, sie verband andere Dinge mit Stress und Ärger.

»Nach dem heißen Sommer, in dem mein Look immer sehr natürlich ausfiel, nicht allzu viel Foundation, zarte Farben, keine Dramatik, ist es im Herbst Zeit für warme, satte Töne.«

Eine Palette mit Pudern in unterschiedlichen Rotschattierungen wurde in die Kamera gehalten. »Dieser Herbst besticht außerdem mit Violett und Burgunder«, plapperte Bella weiter.

Doro dachte an die plaqueartigen Leichenflecken. Ihr Zeigefinger tippte auf den kleinen Bildschirm und hielt das Video an.

»Heute Vormittag war die Frau dort drüben schon tot, während diese Bella sich offenbar noch mit ihrem Make-up beschäftigen und das posten konnte.« Sie gab der Beamtin das Telefon zurück. »Danke trotzdem. Können Sie sich bitte um den Abgleich der Fingerabdrücke kümmern?«

»Mache ich.« Die Polizistin verschwand nach draußen.

»Natürlich könnte auch jemand anderes den Beitrag online gestellt haben.« Ben verschränkte die Arme vor der Brust. Das Leder seiner Jacke rieb leise quietschend aneinander.

»Sicher. Das interessiert uns aber erst nach Feststellung der Identität. Lass uns rüber zu dem Mann, der die Tote gefunden hat. Ich möchte mit ihm sprechen. Frau Kirchgasser, wir telefonieren wegen der Obduktionsergebnisse.«

»Scho recht. Pfiats eich.« Sie hob ihre hellblaue Latexhand, ein schiefes Lächeln entblößte die schlechten Zähne. »So an Beauty-Blog muss ich mir amoal anschaun.«

Doro zwinkerte ihr zu. »Tun Sie das.«

Hinter Ben verließ sie das Gebäude. Beim Eingang kamen ihnen zwei Bestatter mit einem Leichensack entgegen.

Plötzlich überlief Doro ein Schauer. Die quirlige Frau aus dem Blog hallte in ihren Gedanken nach. War die Tote doch Bella?

Mit einem flauen Gefühl im Magen steuerte Doro neben Ben den VW-Transporter der Bereitschaftspolizei an.

»Magst du dir mal einen Mützenmode-Blog angucken?«, fragte Ben beiläufig.

»Was?« Sie blieb stehen. »Kümmer dich lieber um deine Klamotten.« Unwirsch schob sie das juckende Wollding auf dem Kopf zurecht. »Friseurmalheur.«

»Ah.« Ben beäugte sie schräg, schweigend gingen sie weiter.

Vor dem VW-Bus stand ein großer, schlaksiger Mann und rauchte. Er war schätzungsweise Anfang dreißig, um seine Schulter hing eine schwarze Kameratasche.

»Anders, Kripo Hamburg«, stellte sich Doro vor. »Das ist mein Kollege Ben Fleck. Sie haben die Leiche entdeckt?«

»Ja.« Jürgen Kemmerer blies Rauch aus. »Ich habe schon alles zu Protokoll gegeben. Fieser Anblick.« Direkt sog er wieder an der Zigarette.

»Dringen Sie öfter in Gebäude ein?«, fragte Ben.

Die blasse Miene des Mannes verfinsterte sich. »Ihre Kollegen kamen mir schon mit diesem Hausfriedensbruch-Mist. Wollen Sie sich nicht lieber um das Verbrechen an der Frau kümmern?«

»Die Polizei schafft es locker, beiden Dingen nachzugehen«, erwiderte Ben. »Ist Ihnen etwas Sachdienliches aufgefallen, als Sie eingestiegen sind? Oder auch zuvor, in der Nähe des Gebäudes?«

»Nein, nichts Besonderes.« Der gierige Zug an der Zigarette konnte ein Lebenselixier im Tabak vermuten lassen.

»Haben Sie was angefasst oder weggenommen?«

»Nein.« Jürgen Kemmerer schnippte die Kippe weg.

»Die können Sie gleich wieder aufheben«, maulte Ben. »Spart den KTlern unnötige Arbeit.«

Der Mann sah irritiert drein. Das hagere Gesicht wurde von auffallend großen Ohren flankiert. Schließlich trat er die Glut aus und hob den Stummel auf.

»Wird das Wasserwerk häufiger von Lost-Places-Fans besucht?«, fragte Doro.

Misstrauisch kniff Kemmerer die Brauen zusammen. »Das Gebäude ist bekannt, natürlich. Aber im Prinzip haben es zumindest aus meiner Community alle längst fotografiert. Das Interesse ist eher mäßig.«

»Außer bei Ihnen.«

»Stimmt, ich bin ganz gern hier. Ich mag die Atmosphäre.«

»Wo waren Sie gestern Abend?«

»Zu Hause. Ich bin früh ins Bett und hab geschlafen.«

»Gibt es Zeugen dafür?«

»Was soll diese Frage? Bin ich etwa verdächtig, oder was?« Jürgen Kemmerer brauste auf. »Ich lebe allein. Haben Sie Zeugen beim Schlafen?«

Ben reckte den Hals. Bevor er den Mund öffnete, deutete Doro auf die Kameratasche. »Zeigen Sie uns bitte, was Sie heute aufgenommen haben?«

»Nichts. Ich kam überhaupt nicht dazu. Ich hab ja direkt diese Frau gesehen. Und das fotografiere ich bestimmt nicht.«

»Ich möchte mir trotzdem den Datenspeicher anschauen.«

»Meinetwegen.« Etwas umständlich packte Jürgen Kemmerer die Kamera aus. Er schaltete sie an, drückte auf eine Taste und hielt Doro den Apparat hin.

»Keine Daten«, stand in einem kleinen grauen Anzeigefenster.

»Frau Anders?« Der Ruf hallte über das Gelände. In einigen Metern Entfernung stieg ein älterer Kollege aus dem Transporter der Kriminaltechnik. »Kann ich Sie kurz sprechen?«

»Okay, danke«, sagte Doro an Kemmerer gewandt. Dann ging sie zu dem Techniker.

»Was gibt’s?«

»Wir haben Daumen und Zeigefinger der rechten Hand online mit dem Fingerlinienregister verglichen. Tatsächlich hat die Frau vor vier Monaten bei der Beantragung eines neuen Reisepasses die Abdrücke abgegeben.«

»Und?«

»Sie heißt Isabell Graumann, ist sechsundzwanzig Jahre alt und gemeldet in der Rüterstraße im Stadtteil Wandsbek.«

Bella, dachte Doro. Alles andere wäre ein ziemlicher Zufall.

»Können Sie bitte über die Angaben im Impressum, oder wie auch immer, überprüfen, ob der Blog ›Bella’s Choice‹ von Isabell Graumann betrieben wurde?«

»Wird erledigt.« Der Beamte stieg wieder in den bürogleich ausgestatteten Transporter.

Derweil packte Jürgen Kemmerer die Kamera in ihr Futteral zurück. Anschließend strich seine Hand über den Stoff seiner Hosentasche und fühlte den ausgetauschten Speicherchip darin.

4

»Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in Bellas Wohnung komme.«

Doro meinte, etwas Ehrfürchtiges in Mareike Tonsiels Stimme auszumachen. Sie hatte die junge Polizistin, die den Hinweis mit dem Beauty-Blog gegeben hatte, in Isabell Graumanns Zwei-Zimmer-Apartment mitgenommen.

Die Türöffnung durch die Feuerwehr hatte keine sechzig Sekunden gedauert. Zwei Bereitschaftspolizisten gingen vor, Doro folgte mit Mareike Tonsiel und den Kriminaltechnikern in einen rosé gestrichenen Flur. Er wurde durch eine übervolle Garderobe und ein vierstöckiges Schuhregal verengt. In der Luft lag der künstliche Duft eines Raumerfrischers, Kokos und Vanille.

»Allerdings hatte ich mir die Gegend irgendwie besser vorgestellt«, fügte Mareike Tonsiel an.

Wandsbek war in der Tat nicht als Stil-Mekka bekannt.

»Erzählen Sie, was Sie über die Getötete wissen«, sagte Doro. »Welche privaten Dinge kamen in ihren Videos zur Sprache?«

Der Flur führte in ein Wohnzimmer mit einer Essecke und einer offenen Küchenzeile in Reinweiß. Sie war so aufgeräumt und sauber, dass sie unberührt wirkte. Kochen hatte wohl nicht zu Bellas Leidenschaften gehört. Die lagen eindeutig woanders.

Eine Wand des Raumes wurde komplett durch einen Regalbausatz eingenommen, unzählige Kosmetik- und Körperpflegeprodukte lagerten darauf. Doro hatte außerhalb einer Drogerie noch nie eine derartige Ansammlung von Tuben, Flaschen und Tiegeln gesehen. Lippenstifte, Pinsel, Rougepaletten und Parfumflakons waren ordentlich angeordnet und sortiert, vermutlich irgendeinem System folgend, das Doro unersichtlich war.

»Wow«, entfuhr es Mareike Tonsiel. »Das ist mega.«

Doro registrierte echte Begeisterung.

An einer anderen Wand hing der verzierte Spiegel, den Doro bereits vom Video her kannte. Auf einem Schreibtisch unterhalb des Fensters befand sich ein Laptop, daneben lagen mehrere Hochglanzmagazine.

Eine Kriminaltechnikerin steuerte auf Bellas Arbeitsplatz zu. Sie trug ein Notebook unter dem Arm, stellte es ab und verband es über Kabel mit dem von Bella.

»Private Dinge?« Mareike Tonsiel nahm Doros Frage auf. »Ich kann mich eigentlich nicht erinnern, es ging ja eher ums Aussehen. Gut, Bella hat ab und zu auch eine Reise gemacht und davon berichtet, neueste Trends aus Barcelona, London, Kopenhagen. So was halt. Das müssen Bloggerinnen bringen, was aus der Welt da draußen.«

»Verstehe. Hatte Bella einen Freund?« Doro verließ den Wohnbereich, in dem die Kollegen mit der Durchsuchung begannen. Sie betrat ein kleines Schlafzimmer, das vom Flur abzweigte. Mareike Tonsiel folgte ihr.

»Davon weiß ich nichts«, antwortete sie. »Viele Bloggerinnen zeigen sich hin und wieder mit einem süßen Kerl, manche auch mit ihrem festen Partner. Andere haben den schwulen besten Freund.«

Klischee lass nach, dachte Doro.

»Doch bei Bella ist mir nichts dergleichen bekannt. Sie war wirklich dolle hübsch, wirkte aber auch tough und sehr selbstbewusst. Sie zog ihr Ding durch, straight und profimäßig.«

Doro sah sich im Raum um. Ein Bett mit unzähligen Zierkissen dominierte ihn, an der Kopfseite schlängelte sich ein hellgraues Wandtattoo: »Schenkt dir das Leben Zitronen, mach Limonade daraus.« Den Rest des Zimmers nahmen ein Schrank mit verspiegelten Türen und zwei Kleiderstangen voller Klamotten ein, darunter standen Schuhe in allen Variationen.

»Frau Tonsiel, was begeistert Sie an Bellas Blog? Wieso sind Sie ihre Followerin?« Doro verstand nicht, welchen Reiz es hatte, jemandem beim Schminken zuzusehen oder bei der Auswahl von Kleidern und Handtaschen.

Mareike Tonsiel hob die Schultern. »Es ist einfach schön und interessant. Ich kann super dabei entspannen, auch mal kurz zwischendurch. Ich meine, wenn Sie an was Schönes denken, können Sie nicht gleichzeitig über schwierige Sachen grübeln. Bella war bei aller Professionalität nicht abgehoben, sie wirkte eher so … wie eine Freundin.«

»Ich bitte Sie. Das ist doch alles nur heiße Luft«, platzte Doro heraus.

In Mareike Tonsiels Ausdruck trat etwas Abweisendes. »Es ist nett und freundlich. Überlegen Sie mal, mit wem wir es in unserem Job jeden Tag zu tun haben. Da freut man sich abends auf eine andere Welt und auf gute Bekannte.« Sie kräuselte ihre feine Nase mit dem glitzernden Stecker. »Oder warum gucken Leute in Ihrem Alter Herzschmerz-Serien?«

Okay, dachte Doro, tu ich zwar eher selten, aber so kommen wir nicht weiter.

»Haben Sie noch andere Blogs abonniert?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.

»Klar. Bei einem gibt es ja nicht täglich neue Posts, also braucht man logischerweise mehrere. Bellas größte Konkurrentin ist Samy D., der folge ich auch. Ist ein anderer Typ, aber genauso leading. Manchmal haben sich die beiden auch gebattelt.«

»Bitte? Wie soll ich das verstehen?«

»Natürlich bringt ein bisschen Theater Abwechslung rein. Man kennt das doch aus seinem eigenen Leben, Frauen, mit denen man nicht kann.«

Alexanders Neue?, überlegte Doro. Ach was.

»Dabei bezeichnen sich beide witzigerweise als Hamburger Deern«, sagte Mareike Tonsiel. »Die sind quasi wie der HSV und Sankt Pauli. Bella und Samy D. haben mitunter den Style der anderen demontiert, Samy hat auch mal eine platte Parodie von Bella gepostet. Das hat ihr viele Likes gebracht, aber auch Kritik. Zumindest war sie im Gespräch. Es geht halt immer auch um Emotionen, glaube ich.«

»Vor allem doch um Werbeeinnahmen und die Finanzierung des Geschäfts.«

»Na ja, eigentlich sind die Mädels nicht käuflich. Das wird immer wieder betont. Sie geben schon ihre ehrliche Meinung zu den Produkten wieder.«

Wer’s glaubt, dachte Doro.

»Frau Anders«, rief eine weibliche Stimme aus dem Wohnzimmer. »Der Laptop ist offen.«

Doro begab sich zu der Kriminaltechnikerin. Sie saß an dem kleinen Schreibtisch, Doro beugte sich vor und betrachtete den Computerbildschirm. Den Hintergrund des Desktops bildete ein Foto von Bella, strahlend schön lächelte sie Doro entgegen.

»Wollen wir mal sehen …« Die Technikerin schob ihren behandschuhten Zeigefinger über das Touchpad, öffnete einen Dateiordner nach dem anderen und klickte Unterverzeichnisse auf.

»Unmengen an Bild- und Videodateien«, sagte sie. »Wie erwartet.«

Die kleinen Vorschaubilder zeigten Bella, Bella, Bella.

»Es wird eine Weile dauern, das alles zu sichten«, fügte die Kollegin an.

Doro konnte sich aktuell niemanden vorstellen, der darüber nicht latente Aggressionen oder zumindest das Gefühl bekam, auf aromatisiertem Plastik herumzukauen. Außer Mareike Tonsiel vielleicht.

»Mal schauen, was sie an Programmen drauf hat.« Die KTlerin bewegte den Cursor und klickte mehrmals auf das Touchpad. »Natürlich Bildbearbeitungstools, Videoschnitt-Freeware, ein Chatprogramm. Und klar, den Buffer.«

»Den was?«

»Das ist ein Tool fürs Social-Media-Management. Als Blogger braucht man das.« Die Technikerin reckte ihr markantes Kinn vor. »Damit lässt sich zum einen das Bespielen mehrerer Social-Media-Kanäle organisieren, und zum anderen kann man bestimmen, wann vorbereitete Beiträge online gehen sollen. Man kann also vorproduzieren, gemütlich ins Wochenende entschwinden, und das Buffer-Tool stellt zum Beispiel Samstagnachmittag das Gewünschte online.«

»Verstehe«, meinte Doro. »Damit lässt sich der Zeitpunkt von Bellas letztem Post erklären.«

»Post mortem, nehme ich an.«

Doro nickte.

»Hee, ich will durch!« Vom Flur her klang eine rauchige Stimme bis ins Wohnzimmer.

Unmittelbar darauf erschien eine kräftige Frau mit aschblondem Haar, teigigem Gesicht und schlabberigem Parka in der Tür, dicht gefolgt von Ben.

Doro zählte eins und eins zusammen, auch wenn sich aufgrund des Anblicks etwas in ihr sträubte. Wild gestikulierend stand Dagmar Graumann vor ihr – Bellas Schwester. Ben hatte sie mit einem Psychologen vom Kriseninterventionsteam aufgesucht, um ihr die Todesnachricht zu überbringen.

»Die Dame wollte unbedingt mit herkommen«, sagte Ben. »Auch wenn sie ihr Bier noch nicht leer getrunken hatte.«

»Ganz recht«, blaffte Dagmar Graumann und schüttelte ihr wirres Haar aus der Stirn. »Ich bin nämlich die Erbin. Und ihr tragt hier ganz bestimmt nix raus.«

»Ganz bestimmt doch«, meinte Ben. »Wobei wir Ihnen gern ein bisschen Make-up dalassen.«

»Pfh.« Zornig funkelte Dagmar Graumann ihn an. »So Typen wie dich hab ich gefressen. Die sitzen jeden Abend bei mir vorm Tresen und machen Stielaugen.«

»Gute Güte«, nuschelte Ben.

»Frau Graumann, warten Sie bitte draußen auf dem Gang«, sagte Doro. »Die Wohnung wird kriminaltechnisch untersucht. Ich komme gleich zu Ihnen raus.«

Dagmar Graumann bewegte sich nicht vom Fleck.

»Frau Tonsiel, bitte bringen Sie sie nach draußen«, wies Doro an.

Mareike Tonsiel trat auf Bellas Schwester zu und packte sie entschlossen am Arm.

»Hee, Pfoten weg!« Dagmar Graumann schüttelte sich. »Ist schon gut, ich geh.« Widerwillig trollte sie sich aus dem Raum.

Ben stöhnte auf. »Das ist schlimmer als in dem Märchen von Tausendschön und dem hässlichen Entlein.«

»Das Märchen gibt’s nicht. Los, erzähl.«

Ben vergrub die Hände in den Jackentaschen. »Bülthoff vom Krisenteam und ich haben Pechmarie nicht zu Hause angetroffen, ein Nachbar hat uns zu der Kneipe drei Häuser weiter verwiesen, in der sie arbeitet. Erst hat sie die Todesnachricht wie ein orientalisches Klageweib aufgenommen, es war schrecklich. Dann wurde sie zusehends kiebig. Ich dachte, wenn sie unbedingt will, bringe ich sie her, und du machst dir selbst ein Bild.«

Doro zögerte einen Moment. »Wenn sie sich als Erbin bezeichnet, heißt das, die Eltern sind tot?«

»Der Vater hat sich – Zitat – zu Tode gesoffen, die Mutter ist vor vielen Jahren verstorben. Sie war Schauspielerin.« Ben zog die Nase hoch. »Wenn du mich fragst, fällt in dieser Familie der Apfel nicht weit vom Stamm.«

»Siehst du bei Dagmar Graumann wegen des Erbes ein Mordmotiv?«

»Wir kennen ja Bellas Vermögensverhältnisse noch nicht. Ihre Schwester stand jedenfalls gestern Abend bis etwa Mitternacht hinterm Tresen dieser Spelunke. Das Alibi habe ich direkt vor Ort von Stammgästen bestätigt bekommen. Die waren meiner Ansicht nach zu voll zum Lügen.«

»Okay.« Doro wandte sich an die Kriminaltechnikerin. »Könnten Sie bitte den richtigen Namen der Bloggerin Samy D. herausfinden und über einen Abgleich im Melderegister auch ihre Adresse?«

»Kein Problem.«

»Das ist sozusagen Bellas Konkurrentin«, erklärte Doro Ben. »Bevor wir mit der sprechen, gehe ich kurz raus zu Dagmar Graumann.«

»Alles klar. Ich sehe mich in der Boutique hier mal um.«

Während Ben die Regale inspizierte, verließ Doro die Wohnung.

Auf dem neonbeleuchteten Gang der dritten Etage stand Bellas Schwester, das kalte Licht ließ ihr Gesicht noch fahler erscheinen. Sie war dabei, sich mit zitternden Fingern eine Zigarette zu drehen. Mareike Tonsiel beobachtete sie skeptisch.

»Frau Graumann, haben Sie irgendeine Vermutung, wer Ihre Schwester getötet haben könnte?«, fragte Doro.

»Pah. Die waren doch alle neidisch auf sie.«

»Alle?«

»Wer so schön ist und dann noch sein Gesicht ins Internet hält, lebt gefährlich. Bella hatte was weiß ich wie viele Follower.« Das letzte Wort trug einen spöttischen Ton.

Zwischen Dagmar Graumanns blassen Lippen kam eine Zungenspitze vor und schnellte über den Rand des Zigarettenpapiers. Die ungepflegten Finger stellten die kleine Tabakrolle fertig.

»Haben Sie jemand Bestimmtes unter den Neidern im Sinn?«, fragte Doro.

»Denken Sie, ich kenn die aus’m Internet alle persönlich?« Dagmar Graumann klemmte sich die Kippe hinters Ohr, eine Geste, die Doro nur von Männern kannte.

»Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwester?«

»Super.« Ein heiseres Lachen begleitete Dagmar Graumanns Antwort. »Keine Probleme.«

Fragend runzelte Doro die Stirn. »Wie häufig haben Sie sich gesehen?«

»Äh … Gar nicht?«

»Warum nicht?«

»Weil wir so leicht unterschiedlich drauf sind?« Dagmar Graumann äffte Doros Ton nach. Vor deren geistigem Auge erschien ein Mann mit langem, weißem Bart. Nach einem richtig schlechten Tag saß er angetrunken vor einem Topf, auf dem »Erbanlagen« stand.

»Wahrscheinlich war ich für Bella nicht vorzeigbar. Sie wollte nicht mit mir gesehen werden, hatte wohl Schiss, dass sie jemand dabei erkennt oder sogar fotografiert«, fuhr Dagmar Graumann fort. »Dabei kommen wir aus demselben Stall!«

»Gut«, meinte Doro gedehnt. »Halten Sie sich zu unserer Verfügung und hinterlassen Sie bitte Ihre Kontaktdaten bei meiner Kollegin hier. Wir haben eventuell weitere Fragen an Sie.«

»Wer zahlt eigentlich die Beerdigung?« Dagmar Graumann stützte die Hände in die Hüften. »Die muss doch der Mörder zahlen, oder?«

Herr im Himmel, dachte Doro. Eilig kehrte sie in das Apartment zurück.

Im Wohnzimmer schäkerte Ben mit der KTlerin. Er konnte durchaus charmant sein, auch wenn es selten vorkam.

»Hast du Name und Anschrift dieser Samy D.?«, fragte Doro ihn.

»Jepp.«

»Dann lass uns los.«

Gemeinsam verließen sie die Wohnung.

»Mich kann ja wohl ein Streifenwagen zurück zu meinem Arbeitsplatz bringen«, fauchte Dagmar Graumann Mareike Tonsiel auf dem Gang an. »In meinem Zustand mit der Bahn zu fahren, ist ’ne Zumutung.«