Tod beim Biikebrennen - Angelika Friedemann - E-Book

Tod beim Biikebrennen E-Book

Angelika Friedemann

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Beschreibung

Vorurteile und ein zu schnelles Täterbild kann schädlich sein. In den Resten des Biikefeuers werden am Morgen menschliche Überreste gefunden. Schnell ist die Identität des Toten geklärt und Kommissar Eike Klaasen hat sofort die Familienangehörigen unter Tatverdacht. Es soll jedoch noch ein langer Weg werden, bis der Fall geklärt wird, bei dem weitere Tote folgen. .

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Tod beim Biikebrennen

TitelseiteImpressum

Angelika Friedemann

Tod beim Biikebrennen

~~~

Eike Klaasen legte den Arm um Carina, während sie Richtung Lundenbergsand schlenderten. Sie war seit Samstag bei ihm und würde bis Sonntag bleiben, da sie eine Woche Urlaub hatte. Heute und morgen gönnte er sich ebenfalls zwei freie Tage, da er viel Zeit mir ihr verbringen wollte.

Vorhin hatten sie Torben, seinen Pflegesohn zu seiner Tante gebracht, da heute das legendäre Biikebrennen stattfand. Danach wollte er einen Abend ohne Babygeschrei mit ihr verleben. Seitdem Torben Zähne bekam, konnte er fast keine Nacht durchschlafen, geschweige war es zu mehr zwischen ihm und Carina gekommen, da er jedes Mal dazwischen funkte. Sie belustigte das sogar noch, ihn weniger. Nur jetzt war das vergessen.

Es waren bereits Menschenmengen dort versammelt, obwohl das Feuer erst in einer halben Stunde angefacht werden würde. Das Wetter tat dieses Jahr sein Übriges dazu, das mehr Leute als sonst unterwegs waren. Es war trocken und sehr mild für Februar. Kurz schweiften seine Gedanken zu der verstorbenen Christine Hansen, die man vor einem Jahr ermordet hatte, als sie auf dem Weg zum Biikebrennen war. Es war für ihn ein ereignisreiches Jahr gewesen. Er hatte einen Pflegling, eine sympathische Frau gefunden. Sie kannten sich zwar erst sieben Wochen, sahen sich eher selten, trotzdem konnte er sich vorstellen, dass eventuell mehr daraus würde.

„Biike bedeutet Feuerzeichen, nicht wahr?“, riss ihn Carinas Stimme aus seinen Überlegungen.

„Ja. Das Biikebrennen ist einer der ältesten nordfriesischen Bräuche und soll an der ganzen schleswig-holsteinischen Nordseeküste die Winterzeit verscheuchen. Bereits vor 2000 Jahren sollte der Opferbrand den Gott Wotan gnädig stimmen, heißt es. Auf den Inseln und Halligen diente das Biikefeuer später zur Verabschiedung der Walfänger. Die zurückgebliebenen Frauen zündeten die Feuer entlang des Strandes an, um den fahrenden Männern noch lange sicheres Geleit zu geben.“

„War das nicht sehr früh? Zu dieser Jahreszeit lagen die meisten Walfänger doch noch im Hafen?“

Er lachte. „So wörtlich musst du das nun nicht nehmen.“

„Mir haben sie in Dänemark erzählt, vor tausend Jahren haben sie Jungfrauen geopfert, damit ihnen die Götter wohlgesonnen blieben, die den Winter vertreiben und gute Ernten schicken.“

„Heute machen wir das nur noch selten. Es gibt so wenig Jungfrauen.“ Er grinste schelmisch. „Mitunter nehmen wir indes eine nüddeliche Deern, die zu frech wird. Mit Vorliebe Besucherinnen.“

„Biest“, lachte sie. Eike zog sie enger an sich.

„Mittlerweile ist das Biikefeuer selbst an der Ostseeküste in Mode gekommen, was uns Friesen nicht sonderlich gefällt. Nur es zieht Touristenströme an und das will man dort ebenfalls ausnutzen. Drüben am Dockkoog karrt man sie mit Bussen hin, deswegen gehen wir hier her. Da sind nicht so viele Menschenmassen. Die Biike ist nun mal unser großes Fest, obwohl gerade auf den Inseln wie Sylt oder Amrum die Friesen eher die Minderheit sein werden. Irgendwie hat das Biikefest inzwischen durch den Touristenrummel etwas von seinem Zauber verloren. Es wird friesisch gesprochen, gleichwohl man wegen der Urlauber dazu übergehen will, Hochdeutsch zu reden. Das Urwüchsige, Erdverbundene verliert dadurch an Bedeutung und man zaubert eine pure Showveranstaltung daraus. Ich persönlich finde es schade. In meiner Kindheit war das noch ursprünglicher und das gefiel mir besser.“

„So ist es bedauerlicherweise mit vielen Dingen. Die Traditionen gefallen den Touristen und prompt werden sie vermarktet. Du denkst da rückständig.“

„Traditionsbewusst“, stellte er richtig. „Weißt du, viele Besucher denken, die Frauen ziehen die Trachten ihretwegen an. Snaksch! Die Lieder singen sie nicht wegen der Gäste, sondern, weil es zu allen Zeiten so war, es Brauch ist. Es sind die Rituale, die für die Menschen primär waren. Egal, ob es wegen der Verabschiedung der Männer war, um den Winter zu vertreiben, die Fastenzeit zu beenden oder einem x-beliebigen Gott gnädig zu stimmen. Man grüßte damit von Ort zu Ort, von den Inseln zum Festland. Man fühlte sich auf die eine oder andere Weise durch die Feuer verbunden, eins. Nordfriesen, die gute Nachbarschaft pflegten, die anzeigten, wir sind Gleichgesinnte.“

„Diese Verbundenheit gibt es doch schon lange nicht mehr“, spöttelte sie.

„Wenn du meinst“, erwiderte er lakonisch. „Du kennst ja uns Nordfriesen sooo gut.“

„Allerdings. Ich komme nun mal weit herum und hänge nicht nur in einem Ort fest.“

Er nahm den Arm weg. „Du denkst, weil du hier oben viermal jährlich Wasserproben aus der Nordsee nimmst, kennst du die Leute, deren Mentalität?“, lachte er.

An dem Haufen Reisig angekommen, begrüßte er seine Eltern, Großeltern, Geschwister, Freunde, Bekannte, ignorierte Carina. Ihre teilweise hochnäsige Art mochte er nicht.

Ein Feuerwehrmann entzündete den großen Haufen und sie schauten zu, spürten die große Hitze, die sich schnell verbreitete. Einige jubelnde Kinder wurden zur Ordnung gerufen, da sie sich zu nah an das Feuer heran bewegten. Funken stoben zu dem inzwischen dunklen Abendhimmel empor, kleine Zweige flogen brennend von der leichten Brise getragen durch die Luft, bevor sie verloschen und die spärlichen Überreste zu Boden fielen. Einige sangen die alten Lieder. Seine Großeltern mit, wie er schmunzelnd feststellte. Man kannte sich seit der Geburt, hatte über achtzig Jahre mehr oder weniger neben- und miteinander gelebt. Sie hatten die Wirren des Krieges überstanden, Sturmfluten erlebt und oftmals einander geholfen, wenn das Vieh in den Fluten zu ersäufen drohte, umkam, wenn Scheunen oder Ställe brannten oder wenn jemand durch einen Schicksalsschlag Hilfe, egal welcher Art, benötigte. In Krisenzeiten, Notsituationen hielt man zusammen. Da galt ein Wort noch etwas, war nicht nur leeres Gerede. Selbst Verträge waren da unnütz. Ein Handschlag reichte.

Nur wenige der alten Freunde lebten noch und die Zahl wurde von Jahr zu Jahr geringer. Sein Opa war 86, seine Oma 83 und die andere Großmutter 82. Sein Großvater war bereits vor drei Jahren verstorben. Wenn er die Lücken jedes Jahr bemerkte, stellte er sich die Frage, ob man das Fest im nächsten Jahr noch gemeinsam begehen würde. Exakt das wünschte er sich jetzt. Er schaute zu seinem Bruder, der den Kopf drehte, ihn anblickte. Ja, Einar hatte Analoges gedacht, sah er ihm an. Kurz berührten sie den Rücken des anderen, verständigte sich wortlos. Das Verhältnis war dermaßen eng, das man sich nur durch Blicke mitteilen konnte.

Nicht nur Andreas hatte seine zwei Söhne beobachtet, auch Andrees Klaasen seine Enkel. Er sinnierte dasselbe, wie diese. Er hatte keine Angst zu sterben, sondern das seine Frau vor ihm gehen könnte. Eine für ihn gruselige Vorstellung. Bei seinem Freund, Pieter Michaelsen war das der Fall gewesen und der hatte zwei Jahre benötigt, bis er den Schicksalsschlag verkraftet hatte. Seine Kinder, Enkel und Urenkel hatten ihm dabei geholfen, trotzdem war eine Lücke zurückgeblieben, die keiner schließen konnte. Bei ihm würde es ähnlich sein. 63 Jahre Ehe hatten ihn geprägt. Es hatte Ärger, Streit gegeben, trotzdem hatte er nicht einen Tag bereut, diese nüddeliche Deern geheiratet zu haben.

Eike sinnierte, dass er nie Urenkel kennenlernen würde, so wie sein Opa, der diese seit Jahren aufwachsen sah. Fünfzehn waren es. Tobias, sein Sohn wäre inzwischen sieben Jahre alt. Er war der erste Urenkel gewesen. Nun gab es Torben in seinem Leben, falls die Adoption erfolgreich verlief. Das allerdings würde, wenn überhaupt, noch viele Monate dauern. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er keine eigenen Nachkommen hatte. Von ihm würde nach seinem Tod nichts mehr weitervererbt, so wie von Einar und Doreen, seinen Geschwistern.

Nachdem die Biike erloschen war, fuhr man zum obligatorischen Grünkohlessen. Wie jedes Jahr waren über fünfzig Leute in dem hinteren Raum versammelt, den sein Vater reserviert hatte. Freunde seiner Großeltern, Eltern, seinen Geschwistern und ihm. So war es seit Jahrzehnten und so würden weitere Jahrzehnte verlaufen. Diese Freundschaften umfassten Generationen und diese würden weitere Generationen Bestand behalten. Neu war nur die Frau an seiner Seite, Carina. Seit Iris Tod war es das erste Mal, das eine Frau neben ihm saß. Ob es nächstes Jahr noch der Fall sein würde? Momentan sah es nicht unbedingt danach aus, da ihr Beruf sie ständig trennte. Carina zweifelte stark am Fortbestand einer Beziehung, da sie ihm in Bezug auf Treue misstraute. Darüber machte er sich allerdings augenblicklich keine Gedanken, da das sekundär für ihn war. Wie viele von den heute Anwesenden würden nächstes Jahr noch an den Tischen sitzen? Allein der Gedanke, dass seine Großeltern starben, bereitete seinem Inneren Schmerzen.

Frederik sprach ihn an und er unterbrach seine Grübeleien. Anscheinend hatte er heute seinen philosophischen Tag, dachte er belustigt, beteiligte sich nun an den Unterhaltungen.

Zu später Stunde schloss Eike sein Haus auf, ließ Carina eintreten.

„Weißt du, das war ein richtig netter Abend und ich habe einen Schwips“, belustige sie sich, strahlte ihn dabei an. „Alkohol ist einfach nichts für mich.“

„Ich finde es nüddelich, wenn du beschwipst bist“, nahm er sie in den Arm und gleich schlang sie ihre Arme um ihn. „Jetzt werden wir den Abend noch vieler schöner beschließen“, flüsterte er ihr zu, bevor er sie küsste.

~~~

Verschlafen tastete Eike im Dunkeln nach dem surrenden Handy. Er fluchte, als das herunterfiel.

Carina bewegte sich etwas und endlich bekam er es zu fassen, stand gleichzeitig auf und verließ das Schlafzimmer, bevor er sich meldete. Er hörte zu und war in Sekundenbruchteilen völlig wach. „Da seid ihr ganz sicher?“ „Ja gut, ich komme. Hast du Doktor Hansen informiert?“ „Bis gleich.“

Er legte das Handy auf den Tisch, bediente die Kaffeemaschine, bevor er zurück in das Schlafzimmer schlich.

Carina saß im Bett, hatte bereits die Gardinen geöffnet.

„Musst du weg?“

„Ja. Tut mir leid, aber es wurde ein Leichnam gefunden. Ich hatte mir eigentlich einen schönen Tag mit dir gewünscht“, nahm er sie in den Arm, küsste sie ausgiebig.

Er fuhr zum Dockkoog, wo er bereits die Kollegen und Rolf Kristens vorfand.

„Moin.“

Er schaute die Überreste des Biikefeuers an, erkannte den verkohlten Schädel, Teile des Skelettes. Viel war von der Person nicht übrig geblieben.

„Gunnar, lass bitte das gesamte Terrain absperren. Vom Wasser bis zum Weg. Danke“, rief er einem der Polizisten zu. „Rolf, hast du alles fotografiert?“

„Ja, von allen Seiten, von oben.“

Er zog die Handschuhe über, nahm einen breiten Pinsel aus dem Koffer und entfernte die Ascherückstände. Der Körper nahm so Gestalt an.

Er griff in die schwarzen Holzrückstände, holte etwa Glänzendes heraus, betrachtete es von allen Seiten.

„Was ist das?“

„Könnte ein Armreif gewesen sein oder ein Stück von einer Handtasche. Keine Ahnung. Sacken wir es ein.“

„Eine Frau also.“

„Männer tragen ebenfalls Schmuck“, korrigierte Eike, schaute auf die dunklen Knochenüberreste. Die lagen wir gebogen. Prägnant erkennbar das Becken, Teile der Oberschenkel und die Füße, die fast am Rande der großen schwarz verbrannten Fläche lagen. Er ging näher heran, betrachtete diese.

„Nein, ich vermute ein Mann, sonst hätte sie immens große Füße gehabt.“ Er stand auf und schaute nochmals von allen Seiten die Knochenteile an.

„Ich bin mir sicher, er war ein Mann. Ein großer Mann. Betrachte die Spanne zwischen Schädel und Beckenknochen, die Krümmung und zwischen Becken und Füßen. Schätzungsweise meine Größe. Dazu passen die großen Füße, die man noch gut erkennt.“

„Leben dein Bruder, dein Vater und dein Opa noch?“, scherzte Felix, einer der Polizisten und bekam dafür einen bösen Blick von Eike zugeworfen. Nochmals bückte er sich, nahm ein kleines Stück verkohltes Holz auf und roch daran, warf es zurück, erhob sich, zog die Handschuhe aus.

„Diese Asche müssen wir mitnehmen. Eventuell findet man mehr Spurenmaterialien. Alles muss in Beutel geschaufelt werden, aber erst, nachdem man die Überreste abgeholt hat.“

An der Stelle, wo die Füße lagen, hockte er sich hin. „Rolf, komm bitte her. Fotografiere sie von allen Seiten. Er muss weder Schuhe noch Strümpfe getragen haben.“

„Ist mit verbrannt“, stellte Gunnar fest. „Das ist echt krass.“

Eike erhob sich, blickte den Polizeibeamten an. „Nein, da würde man Rückstände entdecken.“

Er ging zu den zwei Männern von der Feuerwehr. „Moin. Eike Klaasen. Sie haben den Leichnam gefunden?“

„Ja, wir wollten die Überreste einsammeln, eventuelle Hölzer verbrennen.“

„Wer war gestern vor dem Anbrennen hier?“

„Wir beide. Wir haben aufgepasst, dass man das richtig aufschichtete, und da lag keiner darunter.“

„Trotzdem muss der Tote vor dem Entzünden des Feuers dort abgelegt worden sein, wie ich vermute, da er stark verkohlt ist. Es riecht nicht nach Brandbeschleuniger.“

„Wir waren nur mittags einige Stunden weg, danach bis zum Abbrennen anwesend.“

„Wie lange waren Sie abwesend?“

„Etwa halb eins bis halb vier.“

„Als Sie nachmittags …“

„Moin, Eike, meine Herren“, hörte er Frederiks Stimme im Rücken.

„Moin. Staatsanwalt Doktor Kerper“, stellte der ihn vor. „Als Sie nachmittags zurückkehrten, ist Ihnen da irgendetwas aufgefallen?“

„Mir nicht, außer jemand hatte drei Weihnachtsbäume an die Seite geworfen. Das ist jedes Jahr so, eben Brauch. Der Stapel war da bereits aufgeschichtet und sah so aus, wie vorher. Glaube ich jedenfalls. Ich habe da nicht so darauf geachtet.“

„Bei mir ist es genauso. Wer denkt an so etwas?“

„Es lagen keine Zweige, Äste herum – nichts dergleichen?“, fragte Frederik.

„Nein, die Bäumchen haben wir darauf geworfen.“

„Sind Ihnen Reifenspuren aufgefallen?“

Beide schüttelten den Kopf.

„Da hatte jemand eine Menge Zeit. Reisig runter, Leichnam rein, Reisig aufschichten. Das am helllichten Tag und unter den Aspekten, dass jeden Moment jemand erscheint. Zum Beispiel die Leute mit den Weihnachtsbäumen.“ Frederik schaute sich um. „Dazu gute Sicht. Selbst jemand, der zum Hotel fuhr, hätte die Menschen oder ein Auto gesehen.“

„Man sieht es kurz und vergisst es. Morgens waren gewiss zwanzig Autos hier, um Bäume, Äste abzuliefern. Am Biiketag fällt es weniger auf, da viele gerade die Weihnachtsbäume herbringen“, räumte der eine Mann ein.

„Hat hier ein Auto geparkt, ist das garantiert niemand aufgefallen, weil es Usus ist. Viele Leute bringen, Äste, Sträucher oder eben ihre Bäume her. Etwas völlig Normales.“

„Was schätzen Sie, wie lange hat diese Aktion gedauert. Äste weg – Äste rauf?“

Die zwei Männer schauten sich an. „Fünf Minuten mindestens, eher länger.“

„Das ist verheddert und geht nicht so fix“, fügte der andere Mann hinzu.

Frederik nickte.

„Denken Sie noch einmal genauer nach. Hier bleibt vorerst alles so, wie es jetzt ist. Wir geben Ihnen Bescheid, wenn Sie Ordnung schaffen können. Wurde schon etwas beseitigt?“

„Nein“, erwiderten sie einstimmig.

„Sie können fahren. Danke.“

Neben Frederik schlenderte er langsam zu der Feuerstelle.

„Ist nur wenig erkennbar. Ich vermute Mann, unsere Größe. Wir haben etwas Schmuckähnliches gefunden. Nur ob das von dem Toten ist?“, zuckte er mit der Schulter.

Der Staatsanwalt schaute die Überreste an. „Gruselig.“

„Sie werden in Kiel mehr feststellen müssen und das wird Tage dauern.“

„Eventuell wird ja jemand vermisst?“

„Frederik, das ist unsere ganze Hoffnung, da wir sonst nicht wissen, wo wir ansetzen müssen. Der Mann war tot, als man ihn hineingeworfen hat. Schau dir die komische Lage des Rumpfes an.“

„Logisch. Hätte er gelebt, wäre er raus, hätte sich bewegt, gebrüllt.“

„Ich meinte etwas anderes. Der Tote war bereits länger tot, da die Leichenstarre eingesetzt hatte.“

„Du denkst, er hat in dieser gekrümmten Haltung vorher irgendwo gelegen?“

„Zum Beispiel in einem Kofferraum. Die Totenstarre beginnt bei Zimmertemperatur nach etwa ein bis zwei Stunden, wie du weißt. Nach sechs bis zwölf Stunden ist sie voll ausgeprägt. Entscheidender ist, dass die einzelnen Fasern eines Muskels erst nach und nach erstarren. Wird die Starre eines Muskels durch Fremdbewegungen gebrochen, bevor sie vollständig ausgebildet ist, innerhalb der ersten 14 bis 18 Stunden, setzt nach einiger Zeit an diesem Muskel eine neue Starre ein, bedingt durch die Fasern, die zuvor nicht erstarrt waren. Durch Zersetzungsvorgänge beginnt sich die Starre 24 bis spätestens 48 Stunden post mortem, bei Beginn der Autolyse, wieder zu lösen, und setzt danach nicht wieder ein.“

„Im Klartext, er wurde am Sonntagnachmittag ermordet oder Samstag und zwischendurch wurde er bewegt. So zum Beispiel wenn man ihn in den Kofferraum legte. Die Füße haben sie nicht richtig verdeckt. Ist das keinem aufgefallen?“

„Sie werden Tanne, Reisig oder etwas Ähnliches darübergelegt haben, nur später wird das Zeug mehr in die Mitte geworfen. Außerdem war es da dunkel und keiner achtet auf so etwas. Ich nicht und du nicht.“

„Bei der Deern, kein Wunder. Erzähle ich das meiner holden Gattin, geht sie nie wieder zum Biikebrennen.“ Er stocherte mit einem Stück Holz in der Asche herum. „Eike, komm her. Hier ist etwas.“

Der hockte sich neben seinen Freund. „Ein Fingerknochen - Daumen, schätze ich.“ Er winkte Rolf heran. „Bring bitte einen Beutel und leg es darein. Danke. Ich habe angeordnet, dass man die gesamte Asche mitnimmt. Muss man durchsieben. Mal sehen, ob sie im Labor mehr finden.“

„Sag, hast du heute nicht frei?“

„Ursprünglich wollte ich neben min Seute liegen. Sie hat Urlaub und ich eine Leiche, oder was davon übrig ist.“

„Wenn ihr keine Vermisstenmeldung findet, kannst du generell nicht viel ausrichten.“

„Ich forste es gleich durch. Danach werden wir bei den Pensionen und Hotels anfragen, ob alle Gäste gestern erschienen sind. Mehr können wir generell nicht tun. Nur einen Aufruf für morgen in den Medien. Wir wissen nicht einmal, nach was wir suchen. Mann von 18 bis 80, circa 185 bis 195 Zentimeter groß und ende.“

„Das kann Rolf allein erledigen. Widme dich Carina. Ihr seht euch sowieso selten genug.“

„Hatte ich vor. Ich hoffe, mein Boss sieht das nun nicht anders.“

„Gibt es da Probleme?“

„Bisher nicht. Da gab es generell nur Kleinigkeiten und er hat mit Papierkram und Statistiken zu tun. Renate ist im Dauerstress und wir müssen allein tippen.“

„Wat mut, dat mut!“, äußerte Frederik, schaute dabei auf die Überreste der menschlichen Gestalt.

Als die Männer mit dem Sarg erschienen, musterte Eike den Schädel genauer, während Rolf das alles in Bildern festhielt. „Hier sieht man die vermutliche Todesursache“, deutete Eike auf den Hinterkopf. „Mehrfache Fraktur. Da muss jemand fest zugeschlagen haben. Sieht wie etwas Stumpfes aus.“

Zwei Stunden später betrat er leise sein Haus und fand Carina im Wohnzimmer auf dem Boden liegend vor. Sie summte zur Musik, wackelte mit den Beinen, während sie gleichzeitig schrieb. Amüsiert betrachtete er sie eine Weile, bevor er sich näher heranschlich und die Füße festhielt. Sie schrie leise und er lachte.

„Du bist ein Biest“, stellte sie fest, drehte sich dabei auf den Rücken.

„Ein Liebes. Was schreibst du?“

„Einen Bericht.“ Sie setzte sich und er ließ sich ihr gegenüber nieder. „Wir haben in der Nordsee giftiges Benzotriazol gefunden. Die Chemikalie wird unter anderem in großen Mengen als Korrosionsschutz den im Flugverkehr verwendeten Enteisungsmitteln untergemischt.“

„Das Zeug ist wassergefährdend, fischgiftig und langfristig schädlich für Wasserorganismen.“

„Nicht nur das. Benzotriazol steht in Verdacht, krebserregend zu sein. Das Problem ist weit verbreitet. In Elbe, Ems, Weser, Rhein und so weiter wurden ebenfalls Benzotriazol nachgewiesen. Eine Langzeitstudie soll nun aufzeigen, ob es in allen Monaten die gleiche Belastung gibt. Die Belastungen sind höher als in der Nordsee. Ich gehe daher davon aus, dass es durch die Flussmündungen ins Meer transportiert wird. So wurden 300 Nanogramm Benzotriazol pro Liter in der Elbe im Hamburger Hafen nachgewiesen. Auf 20 Nanogramm pro Liter ist der Wert im äußeren Mündungsbereich gesunken. Im Ausfluss von Kläranlagen schwanken die Werte zwischen 1.000 bis 5.000 Nanogramm pro Liter. Das Interessante ist, das man in der Nähe vom Flughafen Zürich 3.700 Nanogramm pro Liter im Oberflächenwasser gefunden hat. Nanogramm entspricht einem milliardstel Gramm. Ein Picogramm ist einem billionstel Gramm.“

„Danke, du bist klug, ich weiß. Für den Menschen geht dabei noch keine Gefahr aus. “

„Du meinst in der Nordsee?“

Er nickte.

„Nein, das nicht. Primär für die Meeresumwelt muss man indes mit langfristigen Folgen und Wechselwirkungen mit anderen Stoffen rechnen.“

Sie legte den Stift beiseite, zog die Beine an und umschlang sie.

„Das ist die Problematik. So naiv wie du reagieren alle. Muss man erst reagieren, wenn es für den Menschen nachweisbar gefährlich wird?“, forschte sie aggressiv nach. „Man könnte statt Benzotriazol Ersatzstoffe, die nicht giftig sind, nicht die Umwelt belasten, verwenden.“

„Ist indes teurer.“

„Na und? Benzotriazol besitzt amphiprotische Eigenschaften, kann also im sauren Medium protoniert beziehungsweise im basischen Medium deprotoniert werden. Verstehst du? Gerade der Verbrauch von Benzotriazol liegt im starken Aufwärtstrend. Es wird in Geschirrspülmaschinen als Silberschutzmittel genutzt, für Textilien verwendet, um die Menschen vor UV-Strahlen zu schützen. In Kläranlagen wird Benzotriazol kaum abgebaut. Nach Berechnungen des Helmholtz-Zentrums Geesthacht gelangen jedes Jahr rund 80 Tonnen über Elbe und Rhein in die Nordsee. Regelmäßige Kontrollen sollen jetzt mehr Aufschluss geben. Man darf nicht abwarten, bis die Werte in die Bereiche gestiegen sind, wo sie für die Fische, die Meeresfauna, Vögel gefährlich werden könnten. Benzotriazol ist wasserlöslich, und wenn die Werte steigen, kann man nicht mehr eingreifen. Werden durch Benzotriazol bei den Menschen Erkrankungen festgestellt, ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Leider werden Maßnahmen jedoch meistens zu spät eingeleitet, weil man solche Gefahren zu gern verschleiert. Das ist keine Materie für Politiker, weil diese Projekte nur Geld kosten und sie sich damit kein Denkmal setzen können. Für einen Wahlkampf ist es generell kein Thema, da es die Allgemeinheit nicht wirklich interessiert. Da sind angebliche Steuervergünstigungen rentabler.“

„Du klingst zynisch“, stellte er fest. „Verständlicherweise interessiert es Millionen Menschen, ob sich am Monatsanfang 50 Euro mehr in ihrem Portemonnaie befinden. Es verdienen nicht alle so viel wie du.“

„Ich muss auch sehr viel dafür leisten.“

„Denkst du, eine Verkäuferin, die zehn, zwölf Stunden auf den Beinen ist, Kisten schleppt, Regale putzt, einräumt und Kunden bedient, nicht? Nimm einen Bauarbeiter, der bei Wind und jedem Wetter draußen ackert, dabei sogar seine Gesundheit aufs Spiel setzt. Sie leisten alle wesentlich mehr als du, erhalten nur eine miese Bezahlung dafür. Du sitzt in einem wohltemperierten Labor, hast eine Arbeitszeit von maximal 8 Stunden, davon noch zwei Stunden Pause, wo ihr nur labert. Dazwischen Kaffee trinken, quatschen. Ab und zu fährst du etwas durch den Norden, nimmst fünf Wasserproben am Tag, gehst toll essen, zwischendurch zigmal Kaffee trinken, lebst auf Staatskosten in teuren Hotels. Ein stupides, borniertes Denken.“

„Wenn du meinst. Ich bin Wissenschaftlerin.“

„Du bist Biologin, der Wissenschaftler ist Doktor Doktor Benjamin Klose, du nur seine Helferin, die weisungsgebunden arbeitet. Du darfst seine Erkenntnisse nachplappern. Hin und wieder gibst du Aufschlüsse zum Besten, die jeder Abiturient kennt. Eher peinlich.“

Sie warf ihm einen irritierten Blick zu, schaute dann auf ihre Knie.

„Das beste Beispiel haben wir gerade erlebt. Vor wenigen Wochen hieß es, unsere Atomkraftwerke sind sooo sicher und wir verlängern die Laufzeit. Was die Bevölkerung wünscht, ist den Politikern schietegal. Die Demonstranten werden zu alternativen Spinnern, ahnungslosen Unruhestiftern degradiert. Es sitzen schließlich von den noblen Politikern gewiss einige in den Aufsichtsräten sowie in zig anderen Konzernen. Ergo muss man sich mit RWE und Konsorten gut stellen. Dass es zig kleinere Störfälle gab, wird permanent verschwiegen. Dass Kinder in der Nähe von diesen teilweise veralteten Anlagen häufiger krank sind, nachweisbar. Irrelevant. Sind bloß Leute vom Volk. Wen interessieren die? Japan und Fukushima geschieht. Plötzlich mehren sich die Stimmen gegen Atomkraftwerke bei uns. Die Umfragewerte der Schwarzen wandern in den Keller und schwupp, sind die Regierenden umweltbewusst. Eine dümmliche Heuchelei, eine Verdummung des Volkes. Es ist die pure Machtgier, die unsere Politiker zu diesen Schritten veranlasste. In einem Jahr heißt es, ach was haben wir für tolle Politiker an der Spitze sitzen. Sie sind ja sooo vorausschauend. Das andere wird vergessen, weil man die Menschen bis dahin mit Parolen vollgestopft hat.“

„Denkst du, es wird eine Änderung unserer Atomkraftwerke geben?“

„Sicher, vorübergehend. Die CDU benötigt Erfolge und Grün zu sein, ist gerade in. Damit haben sie ein neues Thema, das von dem ganzen anderen Schlamassel ablenkt: Familienväter, die trotz zwei Jobs, die Familie nicht ernähren können, weil sie zu wenig verdienen. Kinder, die am Existenzminimum dahinvegetieren, weil das Geld bei den Eltern für alles fehlt. Da wären die Jugendlichen, die nie ein Gymnasium besuchen können. Nicht etwa, weil sie es nicht schaffen, sondern weil es für Eltern nicht finanzierbar ist, weil sie die Lehrer nicht interessieren. Kranke, die sich nicht mehr behandeln lassen können, weil das Geld fehlt, die Krankenkassen Milliarden anhäufen. Rentner, die trotz vierzig Jahre Arbeit, sich keine Tasse Kaffee oder eine Pizza im Restaurant leisten können, froh sind, wenn sie täglich etwas zu essen bekommen. Sicher, warum benötigt ein Arbeiter, der für einen Stundenlohn von fünf Euro schuften muss, ein Arbeitsloser, der wegen seines Alters keinen Job findet oder ein Rentner, der ein arbeitsreiches Leben hinter sich hat, auch mal eine Flasche Bier, ein Stück Kuchen oder gar ein Auto? Ist ungesund, nicht notwendig, infam, stellt die nette Frau Ministerin fest und solche Dinge sind nicht lebensnotwendig. Die Leute sind sooo verwöhnt, wollen auf Kosten der Allgemeinheit schlemmen, einmal im Monat ins Theater. Dreistigkeit. Warum muss ein Kind von einer alleinerziehenden Mutter, die meinetwegen als Verkäuferin, Friseuse oder dergleichen arbeitet, in einem Verein Fußball spielen, Nachhilfeunterricht erhalten? Eine Impertinenz solche Forderungen. Die Wünsche, nach einem Paar neue Schuhe, genauso skandalös. Wenn die Kinderfüße wachsen, kann man die schließlich in zu kleine Schuhe zwängen. Wir armen Politiker müssen sparen, uns die Diäten erhöhen. Den Reichen, zu denen wir gehören, bloß nichts wegnehmen. Wir sind eher bemüht, denen zu noch mehr Gewinnen verhelfen, deswegen sollten die Arbeiter besser für vier Euro arbeiten.“

„Das ist polemisch. Alle Unternehmen agieren gewiss nicht so. Du verallgemeinerst die Thematik zu gern“, Eike erbost. „Bleibe sachlich, auch wenn du dann weniger mit deinem Wissen prahlen kannst.“

„Du schaust anscheinend keine Nachrichten oder du begreifst es nicht, wie das Volk ständig belogen wird. Der Trend wird von Jahr zu Jahr größer, da sie Leute finden, die dafür Arbeiten müssen oder sie nehmen Ausländer. Gehe du als Arbeitsloser hin und sag, fünf Euro Stundenlohn sind eine Frechheit. Du und deine Familie dürften zum Ausgleich eine Weile hungern, weil man dich als faul hinstellt und dir die Bezüge kürzt. Es ist eine Schande, dass es in unserem ach so reichen Land Menschen gibt, die für Kinder Gelder sammeln müssen, damit diese einigermaßen menschenwürdig leben können, eine warme Mahlzeit am Tag erhalten oder gebrauchte Kleidung bekommen. Frage mal die Supermutter der Nation, die werte Frau Ministerin mit sieben Kindern, was ihr allein die Nannys und Hausangestellte monatlich kosten und was ihre Kinder alles erhalten? Wird sie nicht wissen, da sie ja in der Zweitwohnung lebt. Spielsachen sind für andere Kinder Fremdwörter. Das sind nicht nur Kinder von Arbeitslosen oder Leuten, die nicht arbeiten wollen, wie sie weiß. Das nennt man, wir haben eine Wirtschaftskrise und alle müssen sparen. Sicher haben wir die, nur sparen müssen nie die Oberen, unsere Politiker, sondern die Millionen Arbeiter, Arbeitslosen, Rentner, Kranke. Verliert ein Konzernchef eine Million, weint die halbe Nation, dabei sind es Peanuts. Das Luxusleben kann er weiterführen. Verliert ein Mann, der Frau und Kind ernähren muss im Monat einen Hunderter, weil man die Löhne senkt, Steuern erhöht, die Sozialabgaben nach oben schraubt, die Inflationsrate steigt, bedeutet das wirklich eine Katastrophe. Nur diese Millionen Betroffener haben keine Lobby. Meckern welche, heißt es, sie sind faul, können nicht mit Geld umgehen, wir müssen alle sparen. Sie stellen sich hin, tönen jeden Monat lautstark, klopfen sich dabei auf die Schulter, die Arbeitslosenzahlen sinken, wir sind so gut. Lüge. Man wirft kurzerhand die Menschen, welche Langzeitarbeitslose sind, aus den Statistiken, aber ein großer Teil der Menschen glaubt ihnen. Ein anderer Teil wird gezwungen, für Dumpinglöhne zu arbeiten. Satt wird man davon nicht. Ein dänischer Unternehmer sagte neulich im Fernsehen, wir verlagern unsere Produktionsstätte nach Deutschland, weil das inzwischen eines der Niedriglohnländer geworden ist. Kein Unternehmen muss heute mehr nach Asien wandern, da mit Deutschland alles vor der Haustür liegt. Bei unseren Politikern heißt das, wir sind die größten, besten, da die Arbeitslosenzahlen sinken, die Auftragsbücher sind gefüllt. Die armen Krankenkassen müssen sparen, weil ja alles sooo teuer ist, sich Menschen erdreisten, krank zu werden. Gelogen. Sie machen Milliarden Gewinne. Rentner verzeichnen seit Jahren finanzielle Einbußen. Die kriegen doch genug, heißt es aus der Regierung. Die sind schließlich alt. Der Bevölkerung wird mit tollen Parolen suggeriert, diese alten Leute kosten euch nur Geld, sind allen ein Klotz am Bein, deswegen habt ihr alle so wenig im Portemonnaie. Die armen Unternehmer wollen ja zu gern ihre Angestellten behalten, nur die müssen eben auf Lohnkürzungen eingehen, schließlich wollen die Aufsichtsräte, Anteilseigner, Millionen hamstern. Unsere Wirtschaft muss weltweit als sooo gesund angesehen werden und dafür geht diese Frau über Leichen. Sie interessiert nicht, wenn da Millionen Menschen vor die Hunde gehen, Hauptsache den größeren Betrieben geht es gut. Zurück zur Atomkraft. Es werden einige alte Meiler abgeschaltet, versprochen bis zum Jahr X gehen alle vom Netz. Ist in zehn Jahren bei den meisten Menschen eh vergessen. Wie ernst es Schwarz-Gelb meinen, sieht man daran, dass sie planen, obwohl sooo umweltbewusst, die Subventionen im Bereich Solar- und Windenergie zu streichen. Gerade jetzt wäre sie sinnvoll, dass man die Fotovoltaik ausweitet, deutsche Unternehmen, keine Ausländischen, in den beiden Bereich zu unterstützen. Daran sieht man, für wie dumm die Regierung, die Bevölkerung hält. Nur Sprüche, damit man ja wiedergewählt wird. Eine Lüge jagt die nächste. Aber lassen wir das Thema. Was macht deine Leiche?“

„Ein unbekannter Mann. Wir müssen warten, bis uns das Labor in Kiel mehr dazu sagen kann“, war er erfreut über den Themenwechsel.

„Hatte er keine Papiere bei sich?“

„Nein, er ist völlig verbrannt. Nur noch ein Skelett. Wir wissen nur, ein Mann, der Größe der Füße nach zu urteilen. Gehen wir essen oder zaubern wir uns hier etwas?“

„Auch Frauen haben große Füße. Du kannst doch nicht aus so etwas Profanen schließen, es ist ein Mann?“

„Überlasse es mir, was ich woraus schließe“, erwiderte er gereizt.

„Zaubern wir uns hier etwas Schönes“, lenkte sie ab.

Er stand auf, zog sie empor und sie presste sich an ihn. Das Essen musste warten.

Seine Tante rief an und teilte ihm mit, dass Torben fest schlafe und er den Jungen noch eine Nacht bei ihnen lassen solle.

Er entzündete den Kamin im Wohnzimmer, da er den Abend nun ganz ungestört mit Carina verleben konnte.

Irgendwann im Laufe des Abends rückte er mit der Frage heraus, die ihn den ganzen Tag beschäftigt hatte.

„Carina, warum ziehst du nicht ganz zu mir?“

Sie blickte ihn verständnislos an, bevor sie lachte. „Sicher und ich fahre jeden Tag nach Wilhelmshaven. Sind nur 200 Kilometer. Ich fahre nachts um drei los und bin abends gegen neun zurück, ein wenig kochen, putzen, Sex und drei Stunden Schlaf. Die wenigen freien Tage sind ebenfalls mit putzen, Haushalt ausgefüllt. Tolle Aussichten.“

„Man kann da eine Lösung finden. Habe ich vom Putzen oder Haushalt gesprochen? Selbst wenn du hier bist, erledige ich alles allein.“

„Mein Arbeitsplatz ist in Wilhelmshaven und den kann ich nicht nach Husum verlegen. Hier in der Nähe gibt es nichts Vergleichbares. In meinen Beruf muss man sich dem Arbeitgeber anpassen. Eike, wie stellst du dir meinen Beruf vor? Ich arbeite oftmals sechs Tage in der Woche, stehe von morgens bis zum späten Abend im Labor, danach Berichte. Ich habe Konferenzen, treffe mich mit anderen Biologen, zwecks Austauschs und das erfolgt oftmals temporär. Es gibt Situationen, wo ich kurzfristig irgendwo eingesetzt werde. Da kann ich nicht sagen, ich arbeite nur Dienstag und Donnerstag, ergo müssen wir das auf diese Zeiträume verlegen.“

„Du übertreibst. Ben hat mir erzählt, wie viel Freizeit du hast, da du Berichte zu Hause tippst, meistens am frühen Nachmittag Feierabend hast.“

Sie verzog wütend ihr Gesichtszüge, überlegte eine Weile, schaute dabei in die rot glühende Glut.

„Das Ganze war von Beginn an ein Fehler. Beenden wir es. Ich fahre morgen zurück“, gab sie schnippisch zurück.

„Warum lehnst du generell ab, dass wir versuchen, eine feste Beziehung aufzubauen? Man kann darüber reden, eine Lösung suchen.“

Sie zögerte mit der Antwort.

„Weil ich nicht noch einmal verletzt werden möchte“, hauchte sie leise, bevor sie sich gerade hinsetzte. „Eike, du merkst selbst, dass mein Beruf, meine Arbeit zwischen uns steht. Es ist nur eine Frage von einigen Wochen, bis dir das nicht mehr genügt, du mich belügst und betrügst.“

„Du suchst ständig etwas, was du mir unterjubeln willst. Machst du das permanent so, und gingen deswegen deine Beziehungen in die Brüche? Ich habe noch nie irgendeine Frau betrogen oder hintergangen, unterstelle mir daher nichts.“

„Bei dir hört sich das so leicht an, nur das ist es nicht. Es würde eine Fernbeziehung bleiben. Komme ich dann am Wochenende her, habe ich nur jede Menge Arbeit und dazu noch Torben.“

„Du tust generell nichts, wenn du hier bist. Egal. Beenden wir das Ganze. Warum bist du überhaupt hergekommen?“

Entsetzt schaute sie ihn an, umarmte ihn stürmisch und sie küssten sich lange. Sie ließ ihre Hände unter sein Shirt gleiten, kratzte mit den Fingernägeln über seine Brust, hinunter über den Bauch. „Lass uns ins Schlafzimmer gehen und dort zieh dich aus.“

„Das hört sich gut an“, griente er und zog sie hoch.

Sie ließ ihn los, schaute ihm zu, wie er aus seinen Sachen schlüpfte. „Hast du Tücher oder Gürtel?“

„Was wird das?“, erkundigte er sich amüsiert.

„Fünf Stück.“

Er kramte in einer Schublade und kam mit Tüchern wieder.

„Die sind ja alle so düster“, stellte sie fest.

„Die binde ich zuweilen beim Kiten um.“

„Du darfst dich hinlegen.“

Sie kniete sich neben ihn, band seine Hände am Bett fest, zog ihm den Slip aus, danach wurden die Füße festgebunden.

Eike fühlte sich unwohl. Mit Iris hatten sie bisweilen solche Spielchen getrieben, aber sie kannte und vertraute er. Jetzt fühlte er sich jemand Fremden hilflos ausgeliefert und das missfiel ihm.

„Es wird dir gefallen, sagst du zu mir“, kicherte sie, gab ihm einen Kuss, griff nach dem letzten Tuch und verband ihm die Augen.

Sie stand auf, kam nach wenigen Minuten zurück und er hörte, wie sie etwas eingoss.

„Du darfst etwas trinken, damit du nicht einschläfst“, hielt sie ihm das Glas mit dem Saft an den Mund.

„Bei solchen Spielchen schlafe ich bestimmt nicht ein. Was treibst du?“

„Ich ziehe mich aus, trage nur noch zwei aufregende Stofffetzen. Das darfst du dir später ansehen“, schäkerte sie.

„Darf ich gleich gucken?“

„Nein. Nur genießen.“

Sie kniete sich auf das Bett und streichelte seinen Oberkörper, kratzte mit den Fingernägeln. Ihre Zunge wanderte den Hals bis zu seinen Ohren entlang, an denen sie knabberte, bevor sie mit dem Mund abwärts glitt. Sie machte eine Weile an seiner Brust halt, während ihre Hände seinen Oberkörper streichelten.

Langsam entfernte sie sich Richtung Bauch zu seinen Schamhaaren. Sie zupfte mit den Zähnen leicht daran, ließ ihre Zunge darin spielen.

Allmählich fand er Gefallen daran, genoss seine einsetzende Erregung.

Ihre Zunge glitt an seinem Oberschenkel hinab. Ihre Hände massierten seine Hüfte und gemächlich wanderte ihr Mund höher.

„Nimm bitte ein Kondom aus der Schublade.“

Sie massierte ihn, hauchte leise: „Heute nicht. Natur pur.“

„Nein, Carina.“

„Du wirst es genießen. Dagegen wehren kannst du dich generell nicht.“

Er spürte ihren warmen Atem und erwiderte nichts.

Als sie mit dem Mund seine Männlichkeit berührte, zuckte er erschrocken zusammen, da es so kalt war. Es dauerte Sekunden, bis er begriff, was sie da gerade veranstaltete.

„Du kleines Biest“, lachte er.

Nach nur kurzer Zeit war er abermalig stark erregt.

„Oh ja“, stöhnte er leise, um sich im nächsten Moment aufzubäumen, da er abermals die Eiseskälte fühlte.

„Du bist zu heiß. Du musst abkühlen“, lästerte sie.

„Das hat ein Nachspiel. Du bringst mich damit zur Raserei.“

Eine Weile lag er ausgepowert auf dem Bett und sie befreite ihn von den Tüchern. Er zog sie an sich.

„Der Lyriker Christian Hofmann von Hofmannswaldau schrieb“, sagte er nach einer Weile der Entspannung. „So soll der Purpur deiner Lippen meiner Freiheit Bahre sein? Soll an den korallenen Klippen mein Mast nur darum, laufen ein, das er anstatt dem süßen Lande, auf deinem schönen Munde Strande? Ja, leider. Es ist gar kein Wunder, wenn deiner Augen Sternenlicht, das von dem Himmel seinen Zunder, und Sonnen von der Sonne bricht, sich will bei meinem morschen Naschen, zu einem schönen Irrlicht machen. Jedoch der Schiffbruch wird versüßet, weil deines Leibes Marmelmeer. Der müde Mast entzückend grüßet, und fährt auf diesem Hin und Her, bis in dem Zuckerschlunde die Geister selbst gehen zugrunde. Wohl. Dies Urteil mag geschehen, das Venus meiner Freiheit Schatz in diesen Strudel möge, drehen, wenn nur auf einem kleinen Platz, in deinem Schoß durch vieles schwimmen, ich kann mit meinem Ruder klimmen.“

„Da kann man sehen, wie die Leute früher drauf waren“, schmunzelte sie. „Nach außen züchtig, aber halbe Pornografie.“

„Ich liebe halbe Pornografie mit einer netten Deern.“

Eine halbe Stunde später erhob er sich. „Jetzt gehe ich duschen, bringe uns, etwas zu trinken mit, lege Holz auf, damit du nicht frierst und danach spielen wir weiter.“

Unter der Dusche breitete sich das Gefühl des Unbehagens in ihm aus. Er hatte das vorhin kurz gespürt, aber dann war es verschwunden gewesen. Nur jetzt meldete es sich ganz stark. Es war das erste Mal, dass er Sex mit einer Frau hatte, seit Iris tot war, ohne ein Kondom benutzt zu haben. Sie hatte ihn heute damit überrollt und er hatte es im Rausch vergessen. Snaksch sagte er sich. Carina nahm die Pille und da würde nichts passieren. Sie war nicht der Typ, die unbedingt ein Kind wollte.

~~~

Im Büro hörte er sich an, was es in den letzten Tagen ansonsten gegeben hatte: Zwei Einbruchsversuche in Arztpraxen, die indes beide gescheitert waren, wie ihm Rolf berichtete. Bei beiden Versuchen hatten Zeugen das Vorgehen bemerkt und die Polizei gerufen. Die Beschreibung der Zeugen eher dürftig, widersprachen sich, daher suchte man nach weiteren Hinweisen aus der Bevölkerung.

Ein Mann hatte vorgestern an einer Tankstelle umsonst getankt, konnte jedoch anhand der Überwachungskamera bereits entlarvt werden. Ein Geständnis lag vor. Davor war er in Heide und Friedrichstadt wegen des gleichen Deliktes aufgefallen. Dort waren die Bilder aus den Kameras weniger gut gewesen und hatte daher zu keinem Fahndungserfolg geführt. Er fuhr fünf Tage in der Woche nach Heide zur Arbeit und die hohen Spritpreise waren für ihn nicht mehr bezahlbar. Nun würde es noch teurer.

Über den unbekannten Toten lag erwartungsgemäß nichts vor. Rolf hatte recherchiert, es gab weder einen vermissten Mann in Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen oder Niedersachsen. Keine Pension oder Hotel hatte bisher gemeldet, das ein Gast nicht mehr erschienen sei. Man wusste, dass ein Mann gegen 14.45 Uhr dort die drei Bäume abgelegt hatte. Den Fahrer des Pick-ups hatte man rasch gefunden, da er bekannt war. Er gab zu Protokoll, das er weder ein Auto noch einen Menschen vor Ort gesehen habe. Nur ein kleinerer Ast habe der Wind wohl weggeweht und er warf den zu den Bäumen. Danach war er zu dem Hotel gefahren, habe mit dem Hotelier eine Weile gesnakt. Irgendwann wären die Feuerwehrleute aufgetaucht.

Genaue Berichte vom Gerichtsmediziner und dem KTI fehlten noch.

Das Telefon klingelte und Eike hörte der Frau zu.

„Wir kommen gleich hin. Danke, dass Sie uns informiert haben.“

„Rolf, wir fahren zum Südfriedhof. Da ist eben ein junger Mann mit dem gestohlenen Motorroller vorgefahren.“

„Wo ist der Südfriedhof?“

„Der Roller steht im Eekenhof. Friedrichstraße über die B5, dann sind wir fast da.“

„Friedrichstraße kenne ich.“

Sie warteten vor dem Friedhof auf den jungen Mann, der, kaum dass er sie gewahrte, abhauen wollte. Rolf lief hinter ihm her, während Eike langsam zu dem anderen Ausgang schlenderte und dort auf ihn wartete. Er stellte ihm ein Bein und der fiel hin. Da fasste Eike zu, band seine Hände auf dem Rücken zusammen und half ihm auf die Beine.

„Schiet, meine Knie bluten. Das tut weh.“

„Wärst du nicht abgehauen, hättest du dir das erspart.“

Rolf kam japsend an.

„Du bist nicht in Form“, stellte Eike fest. „Ruf bitte an, damit man den Roller sicherstellt.“

Er griff in die Taschen der Jacke des Jugendlichen und fand schließlich einen Ausweis.

„Jochen, wir fahren ins Büro und du erzählst uns, wo die anderen drei Motorroller sind, die du entwendet hast. Wieso bist du nicht in der Schule?“

„Weil die blöd ist.“

„Blöd bist du, weil du nicht kapierst, dass man durch Klauen gewiss nichts im Leben erreicht. Schule, Beruf, ist da wesentlich sinnvoller und auf Dauer lukrativer.“

„Klar und dann werde ich Bulle“, höhnte er.

„Eher unwahrscheinlich, da dort keine straffällig gewordenen Jugendlichen, die nicht denken können, genommen werden. Lieber Bulle, als Zelle mit Gittern vor dem Fenster. Ich verfüge wenigstens über Geld, könnte mir einen Motorroller kaufen“, erwiderte Eike lakonisch und der junge Mann schaute ihn verdutzt an. „Ich kann heute Abend in meinem eigenen Bett schlafen, kann mir einen Hamburger und Salat schmecken lassen, später mit Blick auf den Hafen ein Bier genehmigen. Und du? Dösbaddel! Gefängniskost, zig Kerle, die dich nicht gerade nett behandeln werden, weil du ein neuer Insasse bist. Ja, erstrebenswert“, setzte er noch bewusst übertreibend nach.

Im Büro angekommen, schaute er sich das blutende Knie an, verarztete ihn kurz, reichte ihm eine Cola.

„Wer bezahlt jetzt meine kaputte Jeans?“, erkundigte der sich trotzig, nahm den Helm ab.

„Wenn deiner Eltern clever sind, lassen sie dich dafür arbeiten. Jetzt erzählst du uns, wo die drei geklauten Roller stehen.“

Die hatte er in einem Wäldchen abgestellt, da der Tank jeweils leer gewesen sei.

Eike gab den Auftrag, damit man die sicherstellte.

Der 17-jährige Jugendliche hatte diese gestohlen, weil es ihm Spaß bereitete, damit herumzufahren, gab er weiter zu Protokoll.

„Wie kann man nur so dusselig sein, sich deswegen sein ganzes Leben zu versauen? Da sucht man sich einen Job neben der Schule. Was würdest du sagen, wenn ich dir deine Jacke oder dein Geld wegnehme? So, jetzt fahren wir dich nach Hause, informieren deine Eltern und schauen uns dort ein wenig um, ob wir da noch mehr Diebesgut finden. Danach klopfe ich dir einige Male auf den Kopf. Morgen früh gehst du in die Schule und lernst, damit deine grauen Gehirnzellen mal etwas zu tun bekommen. Wenn nicht, heißt es Jugendarrest. Alles verstanden?“

„Mann, die Dinger sind da und nicht kaputt.“

„Mann, die Dinger gehören drei jungen Frauen und einem Schüler, der dafür morgens vor der Schule Zeitungen ausgetragen hat. Du Depp gehst hin und stiehlst, was dir gerade gefällt. Bist du so blöd, dass du nicht kapierst, dass man andere Menschen nicht beklaut? Hältst du dich für so etwas Besonderes, dass du hingehen kannst, stiehlst, nur weil du zu faul zum Arbeiten bist? Das wird sich nun ändern. Wir behalten dich hier und du kannst erleben, wie es in der Zelle ist. Mit Worten, an deinen Verstand zu appellieren, - zwecklos, wie man hört. Das ist oftmals so bei Leuten, die zu dämlich sind, einen Schulabschluss zu schaffen.“

„Den würde ich schaffen. Ich habe nur keinen Bock.“

„Angeber, das kann jeder sagen. Beweise es.“

„Was krieg ich dafür?“

„Was willst du mal werden?“

„Ein zweiter Bill Gates.“

„Schön, er hatte Abitur, studierte an der Harvard University, hat Köpfchen und klaute nicht.“

„Gleich geht es wieder los.“

„Dann quatsch nicht so einen Mist. Zeige mir deine Abiturnoten, dann reden wir darüber. Erspare mir irgendwelche blöden Sprüche.“

„Ich Abi und du vergisst das alles.“

„Geht nicht. Du stehst demnächst deswegen vor Gericht, aber eventuell ist der Richter weniger streng, wenn die Schule bestätigt, dass du inzwischen kapiert hast, dass man nur durch Leistung ein weiterer Bill Gates wird.“

„Was krieg ich nu dafür?“

„Komm im Sommer mit deinem Zeugnis her, dann reden wir weiter. Bis dahin hat deine Verhandlung stattgefunden und mal abwarten, wie es dir danach geht. Bill Gates sagt übrigens – bekomme. So Ende der Diskussion. Fahren wir zu deinen Eltern.“

Eike parkte den Wagen, wollte zu seinem Haus gehen, als er seinen Vater mit Torben auf dem Arm erblickte, die gerade aus dem Pferdestall kamen.

„Moin, Vadding.“ Er nahm ihm den Jungen ab. „Hast du dir die Pferde angesehen?“, sprach er mit Torben.

„Eike, darf ich mal fragen, was der Zirkus mit deinen Weibergeschichten bedeutet?“, erkundigte sich Andreas ungehalten. „Carina hätte dir, bevor sie gefahren ist, eine runterhauen sollen. Es reicht langsam. Wir wollten heute weg, mussten jedoch auf Torben aufpassen. So funktioniert das nicht. Wir hatten Absprachen und du wirst dich daran halten. Deine Mutter und ich haben trotz deines Kinderwunsches ein Privatleben.“

„Wieso ist Carina weg? Sie wollte Torben heute Morgen abholen.“

„Sie hat ihn abgeholt, gefüttert, mit ihm gespielt, bis deine andere Freundin oder wie man sie nennt, auftauchte. Danach kam sie zu uns, weil sie den Zug um zwei Uhr bekommen wollte. Sie hat genug, will sich nicht weiter hinters Licht führen lassen.“

„Vadding, welche andere Frau? Ich verstehe gerade nicht, von was du redest.“

„Diese Tina oder wie sie heißt. Die Frau, die du Dösbaddel geschwängert hast, die Carina einige Wahrheiten erzählte. Mach von mir aus mit zehn Frauen gleichzeitig herum, aber nicht auf Kosten von deiner Mutter und mir. Sieh zu, dass sich diese Tina wenigstens die nächsten Tage um Torben kümmert. Deine Mutter und ich fahren so wie geplant nach Hamburg, wenn durch dich bedingt, einen Tag später. Kann deine Freundin ja schon für euren gemeinsamen Nachwuchs üben. Gratulation übrigens.“

„Wer ist Tina? Wieso habe ich eine Frau geschwängert? Es gab vor Carina monatelang keine Frau.“

„Interessiert mich nicht. Ich will jetzt den Abend mit meiner Frau verbringen. Kläre das, besonders, wer sich um Torben kümmert. Einar und Inger haben keine Zeit, da sie Praxisvertretung übernehmen“, erklärte Andreas barsch. „Eike, handelst du so weiter, ist der Pflegejunge weg. Wir bekamen die Pflegschaft für den Jungen, nicht du. Demnächst kannst du ja bei deinem eigenen Nachwuchs Vater spielen, allerdings nicht auf Kosten von deiner Mutter und mir. Damit ist Schluss. Das hast du verstanden?“

Sein Vater ließ ihn stehen. Torben meldete sich, da er nicht beachtet wurde. Er schloss auf, zog den Lütten aus, schaute im Schlafzimmer nach: Carinas Sachen waren fort. Was war hier heute passiert? Wer war diese Frau, diese Tina? Er verstand nichts.

Torben legte er auf den Boden, rollte ihm den kleinen Ball zu.

„Ich koche dir deinen Brei, mein Großer und danach rufen wir Carina an.“

Als wenn er ihn verstehen würde, erzählte er ihm etwas und seine schlechte Laune verschwand, als er das „da, da, da“ hörte.

Er hatte gerade Torben ins Bett gelegt, als es klingelte. Wer war das denn? Er riss die Tür auf und starrte Sina an.

„Du hast mir gerade noch gefehlt. Verschwinde, da du Verbot hast, das Grundstück zu betreten“, schnauzte er sie böse an.

„Eike, bitte. Ich muss mit dir sprechen.“

„Ich nicht mit dir, ergo geh.“

„Ich bin schwanger und du wirst Vater“, hauchte sie leise, wollte sich an ihm vorbei ins Haus drängen. Eike versperrte ihr den Weg.

„Duuu? Duuu warst heute hier? Duuu hast meiner Freundin diesen Mist erzählt?“

„Es ist kein Mist, sondern wir bekommen Nachwuchs.“

Er erblickte seinen Bruder. „Moin. Störe ich?“

„Nein, komm herein. Mir will gerade jemand ein Kind andrehen.“

„Ach, sie ist das? Ich habe es schon von Vadding gehört, was sie mit Carina abgezogen hat. Ich glaub es nicht. Da kommt eine Braut daher und verkauft Carina nur Lügen, weil sie einen Erzeuger für ihr Kind sucht?“, schüttelte Einar den Kopf. Seine kaltschnäuzige, direkte Art ließ Sina weinen.

„Sie … Sie sind unverschämt. Eike und ich erwarten ein Baby, obwohl Ihnen das anscheinend missfällt.“

„Sina, das kann nicht sein, da ich Kondome benutze, und zwar immer, außer bei meiner Freundin.“

„Doch, es ist aber so.“

„Wenn dein Kind auf der Welt ist, komm her und wir lassen einen Vaterschaftstest durchführen. Ganz einfach. Bis dahin belästigst du mich jedoch nicht. Ich will dich nicht, egal ob mit oder ohne Kind, da ich liiert bin.“

„Aber wieso? Du wolltest ein Kind und jetzt bekommst du ein eigenes“, schluchzte sie. „Wir sind deine Familie.“

„Du spinnst! Sollte es mein Kind sein, was ich zu 99 Prozent ausschließe, zahle ich dir die dreihundert Euro und Schluss. Ich habe jederzeit und absolut immer ein Kondom benutzt. Es ist kein Spermatropfen an dich herangekommen und da bin ich sehr penibel und passe zu 1.000 Prozent auf, ziehe deswegen schon früh ein Kondom über. Zerstört war ebenfalls keins. Ergo ist es ausgeschlossen, dass ich der Erzeuger deines Kindes bin.“

„Wir hatten so Sex.“

„Nie! Ich hatte seit dem Tod meiner Frau nie Sex, keinen Oralverkehr mit einer Frau, ohne Kondom. Nie! Jedenfalls, bis ich meine Freundin traf. Nie mit dir, aber wie gesagt, komme her, wenn dein Baby auf der Welt ist und ein Vaterschaftstest wird es bestätigen. Wo ist das Problem?“

„Ich dachte, du freust dich über unseren Nachwuchs und wir könnten zu dir ziehen.“

„Wir?“

„Eike, schicke sie zum Psychiater. Das ist anomal. Ein Wochenende Sex und sie will bei dir einziehen. Deswegen hat sie Carina belogen. Ich gehe rein und hole mir ein Bier.“

„Für mich eins mit. Ich bin gleich fertig. Was hast du meiner Freundin erzählt?“

„Nur dass wir ein Baby erwarten. Man sieht es bereits. Ich lüge nicht. Sie ist nur eine weitere deiner Affären und nicht mehr. Das hat sie mir so gesagt, deswegen war sie sofort bereit, auszuziehen, damit wir uns auf unseren Nachwuchs vorbereiten können. Es wird übrigens ein Junge.“

„Dass du schwanger bist, mag sein, aber nicht von mir. Das ist eine primitive miese Art. Hast du gedacht, so bekommt man mich herum? Ich muss dich enttäuschen. Du bist nicht mein Typ, noch habe ich irgendwelche Gefühle für dich. Du warst eine Frau, die ich zehn Minuten kannte, kurz abgeschleppt habe und das war alles. Ich habe eine feste Beziehung, einen Sohn und meine Familie lasse ich mir nicht von irgendeiner Frau zerstören, die nicht den Erzeuger ihres Kindes kennt. Du kannst gehen und behauptest du weiterhin, ich wäre der Vater, zeige ich dich an, weil ich es nicht sein kann. Suche dir woanders jemand, der für dich zahlt. Ich bin es nicht und du wirst nie bei mir wohnen.“

„Eike, bitte. Warum willst du unser Kind nicht und es ist von dir, da ich mit keinem anderen Mann im Bett war.“

„Ich will dich nicht, nicht dein Kind.“

„Ein fremdes Kind nimmst du auf, aber nicht deinen eigenen Sohn?“

„Torben ist mein Sohn. Werde mit deinem Kind glücklich, aber ohne mich. Ich sage es zum dritten Mal. Ist es da - Vaterschaftstest. Bin ich es wider Erwarten, bekommst du die 300 Euro monatlich und Ende. Ich will nichts mit euch zu tun haben. Ich habe Besuch. Tschüss.“ Ehe sie etwas erwidern konnte, schloss er die Tür. Im Wohnzimmer griff er nach der Bierflasche und trank durstig, setzte sich danach.

„Und? Könntest du der Erzeuger sein?“

„Snaksch! Sie spinnt, will mir ihr Kind andrehen.“

„Du warst aber zu der Zeit mit ihr zusammen.“

„Einar, zu 99 Prozent ist das ausgeschlossen. Ich bin in keiner Beziehung so penibel wie gerade in Bezug auf Verhütung. Ohne Ausnahme oder Spielart.“

„Du hast sieben Jahre nur Sex mit Kondom gehabt?“, erkundigte sich Einar ungläubig.

„Indes hatte ich mich daran gewöhnt. Lieber so, als das man mir ein Kind anhängen will, so wie jetzt. Das ist die dritte Frau, die das probiert. Ich war nie der Erzeuger, bin es auch dieses Mal nicht. Schiet, wegen dieser Person ist Carina weg. Da freue ich mich wochenlang auf ihren Urlaub und nun der Zirkus.“

„Hast du sie schon angerufen?“

„Zig Mal, aber sie nimmt nie ab. Wir hatten gerade gestern Abend das Thema, weil sie denkt, ich könnte sie betrügen, wenn sie unterwegs ist. Wir reden, klären das und nun … Finis. Alles wegen so einer … Was gibt es? Du kommst ja nicht zum Klönen.“

„Du kannst den Lütten morgen früh zu Oma bringen, falls sich deine Sina nicht um ihn kümmern will“, amüsierte der sich.

„Sehr witzig. Ja, danke. Ich wollte sie sowieso fragen. Wegen dieser dusseligen Frau herrscht hier purer Kuddelmuddel.“

Einar stand auf. „Gehe ich zu meiner holden Gattin. Ab morgen sind wir vollbeschäftigt. Du bist übrigens morgen Abend mit den Pferden an der Reihe.“

„Ich weiß. Bis dann.“

Er trank das Bier aus, räumte die Flaschen weg und versuchte abermals Carina zu erreichen - vergebens.

Unter der Dusche tobte und fluchte er vor sich hin. Warum war er damals so blöd gewesen, diese Frau je mitgenommen zu haben, fragte er sich. Dabei hatte sie so einen netten und lieben Eindruck hinterlassen. So geirrt hatte er sich noch nie in einer Person, wie bei Sina.

Während er die Haare trocken rubbelte, schaltete er den Fernseher an, da gleich das Regionaljournal gesendet wurde.

Er legte sich auf die Couch, hörte nicht wirklich zu, sondern war gedanklich bei Carina. Alles wegen so einer dusseligen Frau wütete es erneut in ihm.

Sein Telefon klingelte und rasch sprang er auf, las die Nummer, griff danach.

„Carina, höre mir bitte zu“, unterbrach er sie.

„Ich habe dir alles über Sina erzählt und mehr war da nie, egal was sie dir für Lügen aufgetischt hat. Ich war nur dieses eine Wochenende mit ihr zusammen. Das weiß in meinem Umfeld jeder. Ich kann nicht der Erzeuger ihres Kindes sein. Sehr deutlich habe ich ihr das vorhin persönlich gesagt. Ist das Baby da, wird das ein Vaterschaftstest bestätigen. Diese Frau interessiert mich nicht. Ich hatte Sex mit ihr. Finis. Warum hast du mich heute Mittag nicht angerufen, damit wir das gleich klären?“

Er hörte ihr zu.

„Carina, das ist inkorrekt. Ich habe sie definitiv zweimal gesehen. Einmal an dem Dienstag vor Silvester und als du da warst. Nur kurz gesehen, nie mehr. Sie hat dich belogen, weil sie denkt, sie könnte mir ihr Kind andrehen. Ich bin nicht der Erzeuger. Bitte komm morgen her.“

Neuerlich lauschte er.

„Snaksch! Sie spinnt! Diese Frau hat eine Macke, sucht anscheinend jemand, dem sie das Baby andrehen kann. Was weiß ich, wer der Vater ist. Ich – bin – es – nicht.“

Eike lachte. „Dumm Tüch. Die Frau hat real eine Macke. Sie zieht gewiss nicht bei mir ein, selbst wenn sie Drillinge von mir bekommen würde. NIIIEEE! Sie war eine Frau, die man nach zehn Minuten Unterhaltung, einem Drink ins Bett bekam und ende. So war es Silvester, da sie da ein Bekannter abgeschleppt hat, nachdem sie vergeblich mit meinen Kollegen flirten wollte. Das, obwohl sie da bereits wusste, dass sie schwanger ist. Ich habe seit dem Tod meiner Frau noch nie jemanden angeboten oder gewünscht, dass eine Frau bei mir einzieht. Bitte komm morgen her. Carina, mich interessieren augenblicklich keine Frauen, geschweige abgelegte Affären. Das war noch nie der Fall. Ich möchte mit dir zusammenleben.“ Für einen Moment war er selber verblüfft, dass er das gesagt hatte. „Das wollte ich dir eigentlich persönlicher sagen, aber so ist es“, fügte er leiser an.

Nach weiteren fünf Minuten stimmte sie endlich zu und er legte auf. Nun freute er sich bereits auf den morgigen Tag. Der Ärger über Sinas Auftauchen war verflogen.

Die Nacht war so mild, dass man das Fenster offenlassen konnte. Er schaute zum Garten hinaus, und hinter den Ahornbäumen konnte man den Vollmond aufsteigen sehen. Irgendwo unterhielten sich zwei Möwen, wie sich ihr Schreien anhörte. Er versuchte, das flaue Gefühl in seinem Inneren zu analysieren, aber es funktionierte nicht.

~~~

Der März hatte mit viel Sonnenschein und Wärme Einzug gehalten. Mit Torben auf dem Arm spazierte er zu den Pferden, die bereits auf der Koppel fraßen. Das mandarinenfarbene Sonnenlicht fiel funkelnd auf die Sträucher. Irgendwo kläffte ein Hund. Da schien schon jemand spazieren zu gehen.

Als er an dem großen Rondell vorbeischlenderte, in denen unzählige Krokusse weiß und lila blühten, hockte er sich hinunter und zeigte die dem Jungen. Das interessierte den inzwischen sechs Monate alten Torben sehr, da er das bunte Etwas zu gern anfassen wollte.

„Da bekommen wir beide viel Ärger mit der Oma“, lachte Eike und schlenderte weiter, vorbei an den noch nicht blühenden Blumenrabatten. In wenigen Wochen würde diese Farbenpracht berauschend aussehen. Die Büsche würden weiß und rosa blühen, davor Blumen von weiß bis dunkellila. Seine Mutter hatte da ein perfektes Farbenspiel im Laufe der Jahrzehnte geschaffen. Die Farben blieben, nur die blühenden Blumensorten wechselten mit den Jahreszeiten.

Überall sah man den beginnenden Frühling, der in diesem Jahr früh Einzug hielt. Die Blätter der Bäume noch klein in einem frischen Hellgrün. Die Sträucher bekamen ebenfalls ihr Blattwerk, eher dunkelgrün. Die Wiese vor ihm war mit Tau übersät, der herrlich in dem Morgenlicht der Sonne leuchtete. Wie mit Kristallen überstreut funkelte es. Die Sonne würde später die Oberhand behalten und es würde ein schöner Tag werden.

Die beiden Füllen tollten übermütig auf den noch dünnen Beinchen herum, unterdessen die Mütter fraßen. Eins der Jungtiere kam näher und er streckte die Hand aus, streichelte das schwarze Fohlen. Torben brabbelte vor sich hin, versuchte zuzugreifen.

„Du ziehst immer an der Mähne. Das lassen wir lieber. Gehen wir zum Deich und gucken dort.“

Der Deich, saftig grün, mit frischem Gras bewachsen, auf dem sich unzählige Schafe tummelten. Er nahm den schmalen Pfad, schloss hinter sich sorgfältig das Gattertor. Oben hatte man einen herrlichen Ausblick über das weite Wattenmeer. Er blickte zu der zyklopisch grausilber-schillernden Wasseroberfläche. Momentan war Flut und somit bis zu den aufgetürmten großen Steinen am Rand Wasser.

Ein Fischreiher stolzierte imposant daher. Die Federn glänzten bläulich, schimmerten im Sonnenschein. Auf dem glitzernden Wasser schwamm eine ganze Flottille von Enten. Weiche, spiralförmige Wellen breiteten sich aus. Die gefiederten Bürzel hoch in der Luft, wenn ihre Köpfe untertauchten. Möwen überflogen sie laut kreischend, bevor sie sich irgendwo niederließen.

„Hör mal, wie laut die schreien, viel lauter als du“, sprach er mit dem Knirps, der gerade die braunen Haare seines Pflegepapas untersuchte, nun das Ohr entdeckte.

Eike lachte, zog aus seiner Jackentasche eine bunte Stoffente, die leise schnatterte, wenn man sie bewegte. Ein Geschenk von Bille.

Sein Telefon störte die morgendliche Idylle, und als er die Nummer sah, ahnte er nichts Gutes.

„Moin. Was gibt es?“ Er hörte Martin zu. „Gut, in zwanzig Minuten bin ich da. Bis gleich.“

„Warum am Samstag?“, murmelte er. „Papa muss weg und du musst bei Oma schlafen.“

Er musterte die Frau, die im Büro saß, Kaffee trank.