Tod beim Fischerstechen - Helmut Gotschy - E-Book

Tod beim Fischerstechen E-Book

Helmut Gotschy

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Beschreibung

Der Ulmer Spatz ist spurlos verschwunden. Eklat beim traditionsreichen Ulmer Fischerstechen: Der Höhepunkt des Festes ist in Gefahr, denn Sebastian Unseld, der beim Finale den unverzichtbaren Spatz mimen soll, wird vermisst. Nicht nur der Schifferverein sorgt sich um ihn, sondern auch seine Affäre Sabrina Pohl. Hat womöglich ihr eifersüchtiger Ehemann etwas mit Unselds Verschwinden zu tun? Kommissar Konrad Bitterle und sein Team machen sich auf die Suche und geraten dabei in einen Fall, dessen Schatten weit über die Ulmer Grenzen hinausragen …

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Helmut Gotschy wechselte 2007 nach über drei Jahrzehnten erfolgreichen Musikinstrumentenbaus zur Schriftstellerei. Ein Stipendium ermöglichte ihm das Studium des kreativen Schreibens. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in einer ehemaligen Mühle in Süddeutschland.

www.helmut-gotschy.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich schwäbische Begriffe rund um das Fischerstechen.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Hans Braxmeier/Pixabay.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat.de, Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-713-2

Schwaben Krimi

Originalausgabe

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Every breath you take

Every move you make

Every bond you break

Every step you take

I’ll be watching you

Oh, can’t you see

You belong to me

Prolog

Egal, was die anderen mit mir machen, meine Gedanken sind bei dir. Tag und Nacht. Immer.

Wenn die anderen mich an das Heizungsrohr fesseln und mich mit Stöcken traktieren, sehe ich uns Hand in Hand unter lichten Blätterdächern am Ufer der Bäche wandeln.

Wenn die anderen mir löffelweise Salz in die Suppe schütten und mir den Kopf in die Schüssel tunken, bis ich aufgegessen habe, alles und immer wieder, denke ich an den Blaubeerkuchen, den du mir zu meinem siebzehnten Geburtstag gebacken hast.

Wenn die anderen mich nach dem Arbeitsdienst auf Kanten knien lassen, bis ich vor Schmerz das Bewusstsein verliere, sehe ich uns auf der Wiese, als wir uns das erste Mal geküsst haben.

Wenn ich das alles hinter mir gelassen habe und frei bin, werden wir zusammen das Leben führen, das wir uns immer erträumt haben.

Ich liebe dich.

Keiner kann uns diese Liebe nehmen.

Kein Gericht, kein Staat, niemand.

Wir gehören zusammen!

Und nichts und niemand wird uns je trennen können.

1

Sonntag, 18.Juli

»Frühstück!« Der Ruf aus der Küche klang fröhlich und munter.

Konrad Bitterle hingegen war noch verpennt. Er zog die Decke über den Kopf und knüllte das Kissen zurecht. Der Ulmer Kriminalhauptkommissar der Abteilung für Gewaltdelikte, kurz Mordkommission, wollte es drauf ankommen lassen und wartete.

Kühle Finger zupften an seinen Zehen. »Die Eier werden kalt, mein Schatz.«

»Dann wärm sie!« Blitzschnell griff er nach Iris’ Hand und führte sie an seinen Beinen entlang nach oben.

Iris Mützenrieder lachte und drückte kurz zu, Bitterle japste. »Du willst bestimmt keine Rühreier. Also komm schon, du Faulpelz. Wir haben uns für heute was vorgenommen.«

Bitterle lugte unter der Decke hervor, griff nach Iris’ Kopf und zog ihn sanft zu sich herunter. »Guten Morgen, mein Schatz. Soll ich gleich so, oder muss ich mir erst etwas überziehen?«

»Mir egal, ich habe mich an deine Wampe gewöhnt.«

»Pff!« Bitterle sah ihr nach, wie sie aus dem Schlafzimmer tänzelte. Er trottete ins Bad und betrat kurz darauf mit einem Badetuch um die Hüften die Küche. Er sog den Duft von warmen Brötchen und frisch gebrühtem Kaffee tief ein. »Wie gut, dass du gestern geblieben bist.«

»Sonst wärst du wieder irgendwo an einem Bratwurststand versackt. Stimmt’s?«

Bitterle gab auf, schnappte sich ein Laugenbrötchen und köpfte das Ei am dicken Ende mit einem gezielten Schlag. Das Eigelb rann über den Becherrand. Er strich mit einem Finger daran entlang und leckte ihn ab.

»Barbar!«, sagte Iris, während sie die Schale in kleinen Fitzelchen von der Spitze pulte.

»Die Menschen sind nun mal verschieden.«

»Komm mir jetzt bloß nicht philosophisch!« An ihrem Grinsen merkte Bitterle, dass es nicht ernst gemeint war. Mit Iris konnte er eh nicht streiten.

»Du hast es tatsächlich geschafft, noch Orangenmarmelade mit Stückchen zu besorgen, bevor sie demnächst wohl wie so vieles an den Brexit-Schranken hängen bleiben wird«, lobte Bitterle mit halb vollem Mund, während er das Glas in der freien Hand drehte.

»Ach, hör doch mit deiner blöden Politik auf«, sagte Iris, die sich mit der Zungenspitze einen Krümel vom Mundwinkel leckte.

Die Zeit bis zum Nachmittag vertrödelten die beiden mit Alltagskram, bis Iris bemerkte: »Ich denke, wir sollten so langsam.« Sie kam zu Bitterle ins Schlafzimmer und musterte ihn vom Kinn bis zu den Füßen. »Hmm«, sagte sie, trat einen Schritt auf ihn zu, zupfte an seinem Hemdkragen und zog die Knopfleiste stramm. Sie schüttelte den Kopf. »So geht das nicht. Ich finde, du solltest das blau-weiß gestreifte anziehen.«

»Du meinst, weil wir uns das Fischerstechen auf der bayerischen Seite ansehen? So weit kommt’s noch.« Er tippte sich gegen die Stirn.

»Unsinn! Ganz einfach weil es besser zu der hellen Leinenhose passt als dieses braun-grün karierte, das du ohnehin ständig trägst.«

»Wie du meinst«, seufzte Bitterle und wechselte das Hemd. Als er vor dem Spiegel stand, musste er Iris recht geben. Er sah darin unternehmungslustiger aus. Und freundlicher. Lächelnd wandte er sich ihr zu.

»Na also! Jetzt aber los. Das Stechen hat bestimmt schon längst begonnen.«

»Wieso? Es ist doch erst drei Uhr.«

»Eben, um drei geht’s doch los, und ich will unbedingt miterleben, ob der Ulmer Spatz heuer tatsächlich Sieger wird. Immerhin hat er es letzte Woche bis in die Endrunde geschafft.«

»Pff, das wäre das erste Mal, seit es das Fischerstechen gibt. Der Spatz und Sieger? Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Abwarten! Außerdem müssen wir in dem ganzen Gedränge Laura finden. Sie hat versprochen, uns Schattenplätze im oberen Tribünenteil frei zu halten, schließlich hat sie ja die Karten besorgt.«

»Na gut. Überredet.« Sie verließen den Bungalow und gingen den Weg entlang zum Illerkanal. Einzelne Böen zerrten an den Ahornbäumen, und Bitterle sah besorgt nach oben. Der Himmel zog sich zu. Ob da Schattenplätze nötig waren oder doch besser der Regenschirm?

Kurz vor der Kreuzung zur Adenauerbrücke bogen sie links ab und nahmen das Sträßchen beim ehemaligen Donaubadeingang, an dessen Seite immer wieder Handwerkerkombis standen und den Pendlern die wenigen Parkplätze raubten. Voller Abscheu schweifte Bitterles Blick entlang der Fassade des »Orange Campus«, dem Bau des Ulmer Pharmakonzerns, der dort für den Basketballnachwuchs ein Trainingszentrum errichtet hatte. Sport – schön und gut, dachte er, aber muss man alles derart übertreiben und Neu-Ulm immer weiter verschandeln?

Am Ufer führte der Weg entlang der Donau. Ab dem Paddlerclub sah er die Massen, die das Spektakel hautnah erleben wollten. Keiner wollte sich das finale Aufeinandertreffen der Gruppensieger vom letzten Sonntag entgehen lassen, zumal der Spatz tatsächlich als der heimliche Favorit galt.

Um die Pfeiler der Eisenbahnbrücke strudelte das Wasser, die Donau wurde schmaler und schneller, die Besucherströme langsamer. Glücklicherweise war der Wasserstand trotz der Regenfälle der vergangenen Tage so weit zurückgegangen, dass das Turnier problemlos stattfinden konnte. Bitterle erinnerte sich noch an das Hochwasser vor einigen Jahren. Es hatte fast zum Abbruch des Fischerstechens geführt, da die Gefahr bestand, dass im Wasser treibende Baumstämme und Äste mit den Zillen kollidieren könnten. Er blieb stehen und sah gedankenversunken ans gegenüberliegende Ufer. Dabei musste er an den Fall mit der Toten in der Blau denken, die nur wegen des Hochwassers entdeckt worden war, bei dem Kula ihren Einstand als Kommissarin bei der Ulmer Mordkommission hatte.

Iris riss ihn aus seinen Gedanken, sie hatte sich bei ihm eingehakt und zog ihn in Richtung der Einlasskontrolle. Im Schneckentempo ging es vorwärts. Leute blieben stehen und suchten nach Freunden.

»Huhu, hier bin ich!« Laura Fois hatte wie versprochen Plätze in einer der hinteren Reihen der Mitteltribüne belegt und schwenkte wild die Arme. »Ich habe schon auf euch gewartet.«

Bitterle und Iris quetschten sich durch die Zuschauer, murmelten Entschuldigungen und ließen sich neben Laura nieder.

»Ja, wo habt ihr denn so lange gesteckt?«, fragte sie amüsiert. »Ihr habt das Narrenpaar verpasst. Stellt euch vor, alle beide sind nass geworden. Fast gleichzeitig sind sie von den Zillen in die Donau gesegelt, die eine wäre dabei fast gekentert. Unglaublich, wie die drei Fahrer das Bootle im letzten Moment abfangen konnten.«

Bitterle nuschelte ein »Tatsächlich«, tupfte sich den Schweiß von der Stirn und sah zum Wasser, während Iris und Laura Neuigkeiten austauschten. Drei schwarz-weiße Zillen lagen am Ulmer Ufer und warteten auf ihren Einsatz. Auf seiner Seite das gleiche Bild, nur mit schwarz-gelben Zillen. Die Fahrer in ihren weißen Uniformen mit den grünen Hüten mit den Federquasten hatten einen Moment Pause, die nächsten Stecher warteten auf ihren Einsatz. Und dann die Menschenmassen, überall hockten Tausende dicht an dicht. Auf der Tribüne gegenüber, auf dem Rasen direkt am Ufer und auf der Donauwiese, auf der zu Bitterles Jugendzeit die Freizeithippies ihre Joints hatten kreisen lassen und in Deckung gingen, wenn der Drogenfahnder unterwegs war. Die Schaulustigen saßen entlang der Stadtmauer, vor allem aber oben hinter dem Mäuerchen. Vom Durchgang zum Saumarkt bis zum Metzgerturm passte kein Hemd zwischen die Zuschauer. Alle starrten auf die beiden Zillen, die ablegten und zur Mitte fuhren, die eine stromab, die andere stromauf. Die Kontrahenten standen in Position, die Speere an die Schultern geklemmt und aufs Gegenüber gerichtet. Die Steuermänner hinten hatten ganze Arbeit geleistet, die beiden Stecher begegneten sich im perfekten Abstand, sodass ihre Speere den Gegner treffen konnten. Der Kuhhirt in seiner Bauernkluft mit dem blauen Käppi gegen den Ratsherrn im schwarzen Gehrock mit dem Barett und den Schnallenschuhen. Ein halber Meter noch, und sie hatten Kontakt. Jubel fegte über das Gelände, Applaus brandete auf, der Kuhhirt hatte den Ratsherren ins Wasser gestoßen. Eine Beförderung der besonderen Art, Bitterle klopfte sich auf die Schenkel.

Iris tätschelte seinen Rücken und fragte: »Und, ist doch wirklich schön, oder?«

Er legte seine Hand auf ihre und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Hast ja recht.«

Iris strahlte. »Siehst du den Kretschmann?«

Bitterle ließ den Blick entlang der Ulmer Seite schweifen. Vorbei an flatternden Fahnen mit roten, schwarzen und gelben Streifen auf weißem Grund und weiter hoch zum Kirchweihschiff, einem Ponton, zu dem ein schmaler Steg vom Ufer führte. Dort waren die Vereinsmitglieder in Tracht, das Kampfgericht, Ehrengäste und die Vorsitzende der Zunft versammelt. Einen Ministerpräsidenten entdeckte er nicht. »Ich seh niemand. Warum fragst du?«

»Letztes Mal war er dabei und hat sogar den Siegerpreis überreicht.«

»Ich glaub, der hat mit seinem Bahnhof grad andere Sorgen.«

Iris schmunzelte. »Oder er steckt auf der A8 im Stau. Schau mal, ich glaube, jetzt tut sich was.«

Die Vorsitzende, die das gesamte Fischerstechen moderierte, trat ans Mikrofon.

»Und nun, meine Damen und Herren, liebe Freunde des Fischerstechens, das Finale!«

Auf der Tribüne flussabwärts erhoben sich die Posaunenbläser und bliesen, was das Zeug hielt, die Trommler legten mit einem Wirbel los.

»Begrüßen wir die Kontrahenten, die um den Pokal stechen. Der Krättenweber tritt an gegen – und es ist tatsächlich kaum zu glauben – gegen den Ulmer Spatz.«

Zuschauer standen auf und reckten die Hälse, Köpfe drehten sich und beobachteten die beiden Zillen, die von den Ufern ablegten. Auf der Ulmer Seite flatterte der Spatz mit seinen Flügeln und ruckelte mit seiner Vogelkopfhaube in alle Richtungen. Siegesgewiss stieß er mehrmals mit dem zwei Meter achtzig langen Speer in Richtung der schwarz-gelben Zille, die langsam zur Flussmitte fuhr, und reckte dabei die linke Faust zur Siegerpose, er hatte allerdings zwischendurch Mühe, das Gleichgewicht zu halten.

»Warum hat der denn beim Finale auch noch seine Haube auf?«, fragte Iris. »Der sieht doch fast nichts.«

Laura sah sie mit großen Augen an. »Frag ich mich auch grad. Vielleicht will er sich wichtigmachen, oder es gibt neue Regeln. Ach, keine Ahnung.«

Der Krättenweber mit seiner grünen Schürze, dem bunten Käppi und dem angeklebten Rauschebart stand auf seiner Plattform und schleuderte dem Spatz wie üblich seine wüsten Beschimpfungen entgegen, wobei er obendrein noch mit Kohlköpfen und Rübenkraut nach ihm warf. »Dô hôsch dein Dreck, du Graabalaos, du hiiradibbliggerGluafamich’l! Hend’r schommôl a so a krauthuurigaFuuzguck g’seha wia den Seggl dô? Ond du willsch gwenna?«, rief er lauthals in Richtung der Ulmer Tribüne. »Ha! Dass i net lach!« Und wieder landete Gemüse aus des Krättenwebers Korb in der Donau.

Der Ulmer Spatz stellte sich in Position und hob den Speer in die Höhe wie ein Siegerschwert.

»Du bisch mr so an Ensnäschtneischeißer, du Flohwedel mit ma Entaschnäpper, glei’ wirsch nass!«

Die Zuschauer waren allerdings anderer Meinung. »Ulmer Spatz, Ulmer Spatz«, skandierten sie, es wurden immer mehr, und sie riefen immer lauter. Der Krättenweber und der Ulmer Spatz waren nur noch wenige Meter voneinander entfernt. Beide hoben ihre Speere, pressten die Enden mit den Querlatten gegen die Schultern und zielten auf die Brust des Gegenübers. Das eine Bein gegen den Zillenrand gestemmt, das andere leicht federnd angewinkelt und mittig auf der schmalen Plattform. Alle wussten es, nur ein Moment der Unachtsamkeit, ein Tritt daneben oder ins Innere der Zille genügte, und der Stecher galt als »nass« – selbst ohne einen einzigen Spritzer Donauwasser hatte er verloren.

Nur noch ein paar Handbreit Abstand. Die Luft vibrierte zu beiden Seiten der Donau. Zwischen Bayern und Baden-Württemberg herrschte eine ungewohnte Einigkeit. Alle wollten den Ulmer Spatz auf dem Siegerpodest sehen und miterleben, wie er von der Vorsitzenden – das erste Mal seit rund fünfhundert Jahren war es eine Frau, die dem Traditionsverein vorstand – den Siegerpokal in die Hand und womöglich einen Kuss auf die trocken gebliebene Backe gedrückt bekommen würde.

Gleichzeitig stachen beide zu. Der Krättenweber wankte und fuchtelte mit dem Speer. Laura erhob sich und warf wie viele andere die Arme in die Höhe, doch bevor der Jubel der Massen erschallte, fing er sich im allerletzten Moment. Der Ulmer Spatz jedoch, der wild mit den Flügeln um sich schlug und gegen die Schwerkraft ankämpfte, sich nach vorne beugte und zur Seite wich und damit die Zille zum Schaukeln brachte, konnte sich letztlich nicht mehr fangen und platschte mit ausgebreiteten Flügeln und in der Luft zappelnden Beinen in die kalte Donau.

Der Spatz wurde nass und hatte verloren.

Seine Vogelhaube flog vom Kopf, trieb ab und ging langsam unter. Der Krättenweber indes wurde wie schon ein paarmal zuvor Sieger. Er warf seinen Korb in Richtung Spatz, reckte die Hände in Siegerpose in die Höhe und hüpfte mit einem rückwärts gesprungenen Salto jubelnd stromaufwärts. Unter lautem Applaus, in den sich Hurrarufe und vereinzelte Pfiffe mischten, kraulte er direkt hinauf zum Kirchweihschiff und stemmte sich hoch. Barfuß und tropfnass stand er da, als ihm der Zunftmeister den Pokal in die Hand drückte und ihn zum Sieger erklärte, während kurz darauf die neue Vorsitzende das Publikum verabschiedete.

»Was meinst du?«, fragte Bitterle und drehte sich zu Iris. »Sollen wir los, bevor die Massen die Wege verstopfen?«

»Wie bitte?« Iris schob den Kopf vor. »Du willst doch nicht etwa schon nach Hause! Jetzt geht’s doch erst richtig los. Komm, lass uns schauen, ob wir vor dem Zunfthaus noch einen Platz kriegen. Bestimmt können wir uns irgendwo dazuquetschen.«

Träum weiter, dachte er, wollte ihr aber die Illusion nicht nehmen und schob sich an den Zuschauern vorbei, die noch beobachteten, wie die Zillen stromab zum Böfinger Kraftwerk ins Lager gefahren wurden und wie die Stecher, Vereinsmitglieder und Helfer die nassen Kostüme und Kampfutensilien durch das Tor beim Donauschwabendenkmal trugen.

»Hattest du nicht auch den Eindruck, dass die Zille mit dem Spatz nicht sauber gelenkt worden war?«, fragte Laura an Iris gewandt, als sie dem Pulk zur Eisenbahnbrücke folgten. »Mir kam das irgendwie komisch vor, als wäre das Absicht gewesen. Die hat doch geschaukelt.«

»Findest du? Mir ist nichts aufgefallen.«

Bitterle blieb einen Moment stehen, sah hinüber zum Einlauf der Blau und überlegte, wann er mal wieder seine Angel würde auswerfen können, und hörte deswegen nur mit halbem Ohr hin.

»Nicht nur das. Also soweit ich gesehen habe, war das gar nicht der Unseld, der den Ulmer Spatz gemacht hat.«

»Stimmt, jetzt, wo du es sagst.«

»Schon komisch, oder?« Laura blieb stehen und sah sich nach Bitterle um, der zu ihnen aufschloss.

Oben auf der Eisenbahnbrücke lehnten sie sich an einen Balkon und sahen den Fluss entlang. Fast die Hälfte der Besucher war noch an ihren Plätzen geblieben, die Leute plauderten oder sonnten sich, die Gewitterwolken hatten sich mittlerweile stromabwärts verzogen.

Bitterle zeigte auf ein rotes Vorhängeschloss in Herzchenform, das am Geländer hing. »Von wegen, Liebe rostet nicht. Schau dir mal den Bügel an.«

»Tja«, sagte Iris und lächelte ihn an, »Liebe muss halt auch gepflegt werden.«

Beim Tor zum Saumarkt bündelten die Vereinsmitglieder die Speere, sortierten die nassen Kostüme und packten sie in Truhen. Alle, die mit dem Fischerstechen zu tun hatten, waren beschäftigt und in Eile, denn sie wollten endlich feiern und das Adrenalin aus den Adern spülen. Bitterle warf noch einen Blick auf die Gedenktafeln der Banater Schwaben, die im 18. Jahrhundert ausgezogen waren, um flussabwärts ihr Glück zu finden, später aber von dort vertrieben worden waren.

Sie liefen weiter zum Fischerplätzle und schoben sich durch die Leute, die sich an Getränke- und Imbissständen stauten, und suchten nach einem freien Platz an einer der Biergarnituren.

Ein Kollege vom Drogendezernat entdeckte Bitterle, winkte ihm zu und rief den dreien entgegen: »Wemmer z’sammaruckat, hemmer au no a Plätzle fir eich.« Denzlauer strahlte übers ganze schon ziemlich gerötete Gesicht, hob seinen Bierkrug und leerte den Rest in einem Zug. Danach winkte er damit in Richtung der Bedienung.

Es war zwar eng, aber sie hatten einen Sitzplatz. Die Bedienung brachte Denzlauers Halbe, und Iris bestellte ein Hefeweizen und eine Apfelschorle, Laura orderte einen Pinot Grigio und – nach einem Blick in die Runde – drei Butterbrezeln.

»Das war ein Ding mit dem Ulmer Spatz, oder?« Denzlauer wechselte zu Hochdeutsch und musterte Bitterle aus leicht glasigen Augen. »Im letzten Moment ist der für den Unseld eingesprungen, weil der Kerle einfach nicht aufgetaucht ist.«

»Weiß man denn, warum?«, fragte Laura, die an ihrem Wein nippte und von der Brezel abbiss.

Denzlauer schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich konnte vorhin noch mit der Vorsitzenden deswegen reden. Er hat sich am Freitag bei ihr gemeldet und gemeint, er würde gerne auch beim Finale im kompletten Kostüm samt Spatzenkopf antreten. Obwohl er weiß, dass das schwieriger ist, da er ja kaum was sieht. Aber egal. Wenn ihr mich fragt, stimmt da was nicht.«

Die Unterhaltung wurde jäh unterbrochen, da die Band auf dem Musikwagen loslegte und man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte.

Es war spät geworden und dunkelte bereits, als sich die drei auf den Nachhauseweg machten. Hunderte flanierten zu beiden Seiten des Ufers und genossen diesen wunderbar warmen Sommerabend.

Abrupt blieb Laura auf dem Donausteg stehen und sagte: »Jetzt fällt es mir wieder ein, wie der – wie soll ich sagen – dieser Ersatz-Spatz heißt. Das war Bernhard Luibl.«

»Wie, sagtest du, war sein Name?« Bitterle sah Laura mit großen Augen an.

»Luibl, Bernhard Luibl. Warum fragst du?«

»Der Name sagt mir was, mit dem hatte ich schon zu tun.«

»Ach was! Und wann?«

»Bei dem Toten aus dem Seniorenheim in der Friedrichsau, diesem russischen Wissenschaftler. Kula hatte in dem Fall ermittelt, und ich habe Luibls Frau dazu befragt.«

»Davon hast du ja noch gar nichts erzählt«, sagte Iris.

»Hat sich auch erledigt.«

»Trotzdem, jetzt sag schon.«

Bitterle gab sich geschlagen. »Also gut, dann schauen wir mal, ob der Biergarten gegenüber noch auf hat.«

Schon von Weitem waren die bunten Birnchen zwischen den Bäumen zu sehen. Bitterle holte sich ein Weizen, brachte für Iris einen Pinot Grigio mit und erzählte vom Leichenfund in der Friedrichsau vor zwei Wochen.

2

Donnerstag, 1. Juli

Nur im Sommer gibt es diesen ganz speziellen Geruch. Und auch nur, wenn es tagsüber so heiß ist, dass der Asphalt fast Blasen geworfen und es in der Folgenacht aus vollen Eimern geschüttet hat.

Den Pfützen am Straßenrand, in denen sich die Baumkronen spiegeln, weicht Kula Skoulatopulos, Hauptkommissarin des Ulmer Dezernats für Tötungsdelikte, elegant aus. Sie ist mit ihrer neuen 400er Ninja auf dem Weg in die Friedrichsau. Schon vom Parkplatz vor der Donauhalle aus kann Kula eine ASB-Ambulanz, den Kombi der KTU und mehrere Einsatzfahrzeuge sehen, deren Blaulichter den frühen Morgen durchzucken. Kula fährt im Schritttempo den Fußweg entlang, bockt ihr Motorrad bei den Sitzstufen mit Blick auf den Unteren Ausee mit den Seerosen auf und hängt den Helm an den Lenker. Die restlichen paar Meter zu der Stelle, die mit rot-weißem Band abgesperrt ist, geht sie zu Fuß.

Trotz der frühen Morgenstunde ist es bereits schwül. Sie schüttelt die Haare durch und reißt am Zipp ihrer Jacke.

Ein Uniformierter eilt energisch auf sie zu und hebt abwehrend beide Hände. »Dies ist ein Tatort. Hier ist der Zutritt untersagt!«

»Das will ich doch hoffen«, sagt Kula, zückt ihren Ausweis, hält ihn dem Beamten direkt unter die Nase und lässt ihn stehen. Sie hebt das Absperrband an und schreitet darunter hindurch. Der Uniformierte sieht ihr kopfschüttelnd nach.

»Guten Morgen.« Kula nickt den Einsatzkräften zu, die den Boden um den dort Liegenden nach Spuren absuchen. »Weiß man schon was Näheres?«

»Die ältere Frau dort auf der Bank hat uns alarmiert. Bei ihrer Morgenrunde um den Mittleren Ausee ist ihr Hund wohl über die Leiche gestolpert.« Der Sanitäter weist über die Schulter, während er sein Handy wieder einsteckt. »Die Gerichtsmedizinerin ist unterwegs. Uns braucht man ja wohl nicht mehr.«

»Darf ich?«, fragt Kula, als sie vor der Bank unter der Linde steht, von der hin und wieder ein paar Wassertropfen in ihren Nacken perlen. Sie zeigt auf den Platz neben der Seniorin, die einen zitternden mokkabraunen Pudel auf dem Schoß hält und mechanisch über seinen Rücken streicht. Dabei starrt sie in Richtung des Rondells und der Leiche, von der aufgrund der umherwuselnden Beamten und Kriminaltechniker nur noch Umrisse zu sehen sind.

»Wie lange dauert das denn noch, junge Frau? Wissen Sie, Püppi müsste längst ihr Fresschen bekommen haben. Sie sehen ja selbst, wie’s ihr geht.«

Kula lässt sich nieder, krault den Hund unterm Kinn, der ihr dankbar die Hand leckt. »Sie haben den Mann also gefunden. Erzählen Sie doch mal, wann genau das war.«

»Habe ich doch schon alles haarklein ihren Kollegen gesagt«, murrt sie, dabei schiebt sie das Kinn in Richtung der Leiche. »Aber bitte …«

»Tut mir leid, aber ich untersuche den Fall und muss Sie das fragen. Oh, Verzeihung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Skoulatopulos, Kriminalpolizei Ulm.«

»Ach, das ist ja mal ein schöner Name. Skou-la-to-pu-los.« Die Seniorin scheint die Aneinanderreihung der Silben zu genießen, denn sie lächelt verträumt. »Sie stammen bestimmt aus Griechenland. Liebe Güte, wenn ich an das Meer denke und die schönen Strände, seinerzeit, als ich mit meinem Mann noch unterwegs war, da wird mir gleich ganz wehmütig ums Herz. Aber heutzutage? Bin ich froh, dass das damals alles noch so einfach war, denn –«

»Ich unterbreche Sie ja nur ungern, Frau …?« Kula neigt den Kopf zur Seite und nimmt ein wenig Abstand.

»Wagner, Elisabeth Wagner. Aber das habe ich doch auch schon alles zu Protokoll gegeben.«

»Wie gesagt, dauert bestimmt nicht lange, Frau Wagner, denn wie es aussieht, scheint Ihre Püppi wirklich bald ihr Futter zu brauchen. Also noch mal, Frau Wagner, wann haben Sie den Toten gefunden, und was ist dann passiert?«

»Also, wie jeden Morgen drehe ich meine Runde. Vom Wohnpark aus, da gleich gegenüber«, Frau Wagner weist quer über den Ausee in Richtung Wielandstraße, über die im gleichen Moment die Straßenbahn rattert, »wo ich eine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung habe. Mein Weg führt über den Steg, am Aquarium entlang und rüber zu diesem See. Eigentlich ist das ja Püppis Strecke, ich gehe ihr einfach hinterher, seit Jahren ist das schon so.«

»Können Sie sich an die Uhrzeit erinnern?«

»Uhrzeit? Da fragen Sie mich was. Ich denke, es wird wohl so gegen halb sieben gewesen sein. Wissen Sie, Frau Kommissarin, schon lange vor sechs steht Püppi an der Tür und fiept. Jeden Morgen macht sie das.« Als der Pudel seinen Namen hört, spitzt er wieder die Ohren und stupst Frau Wagner an. »Gleich, mein Herzchen, gleich gibt’s Fressi-Fressi.«

Kula hat inzwischen das kleine Buch mit der Gummischlaufe hervorgeholt und macht sich Notizen. »Gut. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Ist Ihnen jemand begegnet, oder war etwas anders als sonst?«

»Begegnet? Nein. Ich habe niemand gesehen. Und es war auch nichts anders als sonst. Was soll denn anders gewesen sein? Alles war wie immer. Aber dass der Herr Schwan so enden muss, das hat er nun wirklich nicht verdient.«

Kula macht ein erstauntes Gesicht, ihre Augen werden groß. Sie beugt sich dicht an Frau Wagner. »Wie bitte? Habe ich das eben richtig verstanden? Sie kennen oder besser Sie kannten den Toten?«

»Was schauen Sie mich denn so an? Habe ich das nicht gesagt? Natürlich kenne ich den Toten. Das ist Herr Schwan, Arthur Schwan. Mindestens einmal die Woche haben sich unsere Wege gekreuzt, mal hier an dem Rondell, mal hinten am Donauufer, allerdings zumeist erst nachmittags.« Frau Wagner kneift die Lippen zusammen, schüttelt den Kopf und wischt sich verstohlen über die Augen. Mit belegter Stimme fährt sie fort: »Er muss wohl irgendwo aus Russland gekommen sein. Viel geredet haben wir nicht miteinander. Herr Schwan hat ja ziemlich undeutlich gesprochen. Trotz allem war er immer höflich, ein wirklich netter Herr. Manchmal hat er sogar ein Leckerli für meine Püppi dabeigehabt. Und jetzt ist er einfach tot. Ich kann es immer noch nicht fassen. Was passiert denn jetzt?«

Kula gibt Frau Wagner keine Antwort, sondern fragt stattdessen: »Wissen Sie, wo Herr Schwan wohnte?«

»Wenn ich ihn richtig verstanden habe, wohnte er«, Frau Wagner macht eine vage Handbewegung über den See hinweg, »da hinten in diesem Altersheim, aber so ganz genau weiß ich das nicht. Am besten wird es sein, Sie fragen vor Ort nach. Er wohnte wohl noch gar nicht so lange dort, erst seit seine Frau verstorben war. Es ging wohl nicht mehr so allein, er war ja auch nicht mehr der Jüngste, und dann noch die Sache mit seiner Hüfte. Ach, was ist das alles schrecklich!«

Püppi beginnt zu winseln und schiebt die Schnauze ständig unter Frau Wagners Ellbogen.

»Wissen Sie was, Frau Wagner, ich denke, das Beste wird sein, wir lassen Sie nach Hause bringen.«

Doch bevor Kula einen der Uniformierten darum bitten kann, entrüstet sich Frau Wagner: »Also wirklich, das wäre ja noch schöner. Als ob ich nicht alleine nach Hause finden könnte. Die paar Meter.«

»Wie Sie wünschen, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich bei uns melden, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte.« Kula zieht ihr Kärtchen hervor und drückt es Frau Wagner in die Hand. »Hier, unter dieser Nummer können Sie mich erreichen. Jederzeit. Egal, wann.«

Frau Wagner nimmt es wortlos entgegen und schiebt es in ihre Jackentasche. Kula blickt ihr nach, wie sie mit ihrem Pudel den Weg entlangwatschelt.

Dann geht sie zum Tatort und beugt sich über die Leiche, über Herrn Schwan, dessen Frau kürzlich verstorben ist und der in einem Altersheim seine letzten Tage verbringen musste, ganz allein. Bis heute Nacht.

Kula sieht in ein Gesicht, das von zahlreichen Lach-, aber auch von Sorgenfalten durchzogen ist. Der Dreitagebart ist sorgfältig gestutzt, den grauen Haaren mit ein paar übrig gebliebenen dunkleren Strähnen sieht man ebenfalls einen regelmäßigen Friseurbesuch an. Doch Kulas Blick bleibt an den Augen hängen. Diese haben auch im Tod noch ein eishelles Blau. Es fällt Kula schwer, den Ausdruck, der irgendwo zwischen Entsetzen, Schmerz, vor allem aber Verwunderung liegt, zu deuten. Ja, das ist es am ehesten – Verwunderung und Ungläubigkeit, als ob etwas völlig Unvorhergesehenes geschehen wäre. Aber ist das der Tod nicht in den meisten Fällen?

Sie löst sich von den Augen und besieht sich den Rest des Gesichts. Oberhalb der rechten Schläfe klafft eine Wunde, Blut ist über die Wange gelaufen und teils geronnen, teils vom Regen verwischt. Neben Arthur Schwan, dessen leichter Sommermantel an der Oberseite durchnässt ist, liegen die Scherben einer Wodkaflasche, ein Rollator dümpelt im See, die leichte Strömung hat ihn zu den Seerosen getrieben, zwischen deren Stängeln er hängen geblieben ist.

Inzwischen ist die aus Wien stammende Gerichtsmedizinerin Ina Weichselbraun eingetroffen und begrüßt Kula mit zwei flüchtigen Wangenküsschen. »Ja, da schau her, die Kula, so fruah scho unterwegs?«

»Was soll ich machen? Und du? Ich dachte, du wolltest sprachlich mehr ins Hochdeutsche.«

»A geh, bleib ma bloß fuat. Dös wiad eh nix meah, do bin i scho z’oid. ’s bleibt ois, wias is. Oba der ander, der Bitterle, wo host dann den gloss’n?«

Kula zieht den Ärmel hoch, sieht auf die Uhr und stutzt. Halb zehn. »Tja, ich denke, jetzt hat er ausgeschlafen. Ich werde ihn von dir grüßen. Alles Weitere, wenn du so weit bist. Der Tote heißt übrigens Schwan, Arthur Schwan, und hat in einem Altersheim gelebt. Werde mich gleich darum kümmern. Bis später, Ina.«

»Servus, baba.«

3

Kula fährt im Schritttempo und ohne Helm den Fußweg zurück zum Parkplatz, der sich mehr und mehr mit Berufspendlern gefüllt hat, biegt kurz darauf in die Eberhardstraße ab und steuert das Altersheim an. Die Terrassenplätze des Cafés sind ausnahmslos von Senioren besetzt, die ihr Gesicht in die Sonne halten. Viele sitzen allein und nippen an ihren Saftschorlen. Als Kula ihr Bike aufbockt und zum Eingang geht, heben die Herren ihre Köpfe und blicken ihr nach. Sie schenkt ihnen ein Lächeln, zeigt ihre Wangengrübchen und ist sich sicher, dass sie einigen dadurch den Schlaf rauben wird.

Kula betritt das Seniorenheim durch eine Automatiktür. Im Inneren ist es kühl. Mannshohe Pflanzen stehen im Foyer in den Ecken, mehrere Sitzgelegenheiten reihen sich entlang der Wand, die hell und mit pastellfarbenen Phantasieblumen bemalt ist. Eine alte Frau hockt auf einem Stuhl vornüber auf ihren Rollator gebeugt und sieht teilnahmslos auf den Boden.

Aus kleinen Deckenlautsprecherboxen scheppern nach dem Donau-3-FM-Jingle und zwei Blitzerwarnungen harte Gitarrenriffs, und eine hohe Stimme kreischt los: »Living easy, living free, season ticket on a one-way ride«. »Highway to Hell«! Genau das Richtige für ein Seniorenheim, denkt Kula und muss dabei an Bob Dylans näselnd genuscheltes »Knock, knock, knockin’ on Heaven’s door« denken. Wie heißt es doch so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Kula geht zum Empfangstresen, hinter dem eine müde wirkende Endvierzigerin sitzt, die auf ihren Bildschirm stiert und gleichzeitig mit einem Arzt und einem jüngeren Ehepaar debattiert. Es fallen Begriffe wie »Magen-Darm-Infekt«, »Vernachlässigung«, »unsachgemäße Pflege« und »Gesundheitsamt«. Niemand nimmt von Kula Notiz, bis es ihr zu dumm wird, sie sich über den Tresen lehnt und ihren Ausweis auf die Platte schnappen lässt. »Guten Morgen, mein Name ist Skoulatopulos, Kripo Ulm. Ich unterbreche ja nur ungern, aber ich denke, mein Anliegen wird Sie sicher interessieren.«

Sie erntet einen mürrischen Blick des Arztes. Bevor dieser sie abwimmeln kann, zieht Kula das Handy aus der Jacke, scrollt zu einer Nahaufnahme der Leiche und hält es ihm unter die Nase. »Kennen Sie diesen Mann?«

Er zuckt beiläufig mit den Schultern. »Nicht dass ich wüsste, wie kommen Sie darauf?«

»Sein Name ist Schwan, und meines Wissens«, Kula spießt den Arzt mit ihren Blicken auf, »wohnt er hier in Ihrer Einrichtung.«

Während der Arzt weiterhin auf das Handy starrt und nicht aufhört, den Kopf zu schütteln, kommt Leben in die Empfangsdame. »Wie, sagten Sie, ist der Name?«

»Arthur Schwan, und er wurde heute früh am Mittleren Ausee tot aufgefunden. Es scheint, als ob er die ganze Nacht dort gelegen hätte. Was können Sie mir über ihn sagen?«

»Tot, sagen Sie?« Ihre Gesichtszüge fallen zusammen. »Das ist ja schrecklich. Sind Sie sicher?«

Kula holt tief Luft. »Sonst wäre ich wohl kaum hier. Also, auf welcher Station war Herr Schwan untergebracht, und wer kann mir zu diesem Herrn nähere Auskünfte geben?«

Nach kurzem, hektischem Tastaturgeklapper sagt sie: »Station drei, Schwester Gertrud, Gertrud Mulch.«

»Und wie komme ich dahin?«

»Den Gang vor, danach links, dort finden Sie die Aufzüge. Und dann hoch in die dritte Etage.«

Sobald sich die Aufzugstür im dritten Stock geöffnet hat, umhüllt Kula dieser besondere Geruch, der anscheinend in vielen Altersheimen zu finden ist. Diese Mischung aus Ausscheidungen, Schweiß und Desinfektionsmitteln. Nur schnell wieder raus hier! Kula hört nach dem Schließen einer Tür das Quietschen von Gummisohlen. Um die Ecke eilt eine Frau mit einer Einwegplastikschürze auf sie zu, vor ihrer Brust hält sie zusammengeknülltes Bettzeug.

»Verzeihung, wo finde ich Frau Mulch?«

»Das bin ich. Was wollen Sie?«

Kula zeigt ihren Ausweis. »Skoulatopulos mein Name, Kripo Ulm.«

»Und? Wie Sie sehen, bin ich beschäftigt.« Dabei streckt sie Kula das Wäschebündel entgegen, das nach Exkrementen riecht, und will sich an ihr vorbeidrücken.

Kula stellt sich ihr in den Weg. »Mo-ment! Ich bin dienstlich hier. Und es geht dabei um einen Bewohner Ihrer Einrichtung, der heute Morgen tot aufgefunden wurde. Genauer gesagt um Herrn Arthur Schwan.«

»Wie bitte? Was sagen Sie da? Das ist unmöglich. Herr Schwan muss auf seinem Zimmer sein, sonst hätte ich ihn doch gesehen.« Frau Mulchs Gesichtsausdruck wird ernst. »Augenblick bitte.« Sie geht zur nächsten Tür, öffnet sie mit dem Ellbogen und wirft die Bettwäsche in eine Tonne. »Kommen Sie bitte mit. Herr Schwan sitzt sicher vor seinem Schreibtisch und liest. Er ist ja sehr gebildet.«

Frau Mulch klopft an Schwans Tür, wartet einen Augenblick, klopft nochmals, diesmal fester, und drückt die Klinke nach unten. »Abgeschlossen.« Eine tiefe Falte teilt Frau Mulchs Stirn in zwei Hälften. »Verstehe ich nicht. Ich hätte ihn doch sehen müssen, wenn er die Einrichtung heute früh verlassen hätte.«

Sie nimmt den Generalschlüssel und sperrt auf. Schwans Bett ist unbenutzt, diverse Bücher und ein geschlossener Laptop liegen ordentlich nebeneinander auf dem Tisch, die Figuren auf dem Schachbrett zeigen eine begonnene Partie.

»Bitte lassen Sie alles, wie es ist«, sagt Kula, als sie Schwans Zimmer verlässt. »Ich schicke Kollegen vorbei, die den Raum nach Spuren untersuchen werden und –«

»Was um Himmels willen ist passiert?« Frau Mulchs Stimme wird panisch, denn im selben Augenblick leuchten zwei rote Signallampen an verschiedenen Zimmern auf, und ein Alarmton mischt sich mit einem anderen.

»Arthur Schwan wurde heute früh am Mittleren Ausee mit einer massiven Kopfverletzung tot aufgefunden. Dem Anschein nach muss er die ganze Nacht über dort gelegen haben. Mehr kann ich im Moment nicht dazu sagen.« Kula blickt in ein vor Entsetzen geweitetes Augenpaar. »Wer hatte gestern Nacht Bereitschaft?«

Frau Mulch steckt die paar Strähnen hinters Ohr, die sich aus ihrem Knoten gelöst haben, und sagt mit brüchiger Stimme: »Das war Ulyana. Ulyana Danylenkowa hatte Dienst, und die ist absolut zuverlässig, vor allem was die nächtlichen Kontrollgänge anbelangt – eigentlich.«

»Eigentlich?«

»Sie machen sich keine Vorstellungen, unter welchem Druck sie gestanden haben muss, die Ärmste.«

»Wieso die Ärmste?«

»Hier ist zurzeit die Hölle los.«

»Wo bitte finde ich Frau Danylenkowa?«

»Sie wohnt in der Gaisenbergstraße, schräg gegenüber von Radio 7.«

»Nummer?«

»Weiß ich nicht. Es ist gleich das erste Haus, nach dem ›Eden‹-Club, da an der Karlstraße.«

»Danke. Und wie gesagt, bitte lassen Sie in Herrn Schwans Zimmer alles so, wie es ist. Niemand darf es betreten oder etwas verändern. Die Kollegen von der Spurensicherung werden demnächst hier eintreffen. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Frau Mulch – und machen Sie’s gut.« Kula wendet sich um und nimmt diesmal die Treppe.

Rasch geht Kula zu ihrem Motorrad, wobei sie, als sie an Schuberts Café vorbeikommt, wieder die Blicke der Senioren in ihrem Rücken spürt. Ich gönn’s euch!

Beim Lidl-Markt biegt sie nach rechts in die Örlinger Straße ab, dann links in die Heidenheimer und beim Italiener wieder rechts in die Karlstraße, bis sie den »Eden«-Club vor sich sieht, hinter dem ein wuchtiges Wohnhaus aus dem frühen 20. Jahrhundert steht. Kula stellt ihr Bike an der Ecke ab und sieht die Gaisenbergstraße entlang. Am oberen Ende hängt das Schild des Regionalsenders Radio 7. Sie studiert die Namensschilder. »Luibl/Danylenkowa« entdeckt sie ganz oben, vierter Stock. Sie blickt kurz die Fassade empor und drückt auf Verdacht gegen die Tür, die aufgeht. Der Temperaturunterschied ist gewaltig. War es draußen drückend warm und schwül, schlägt ihr drinnen feuchte Luft mit den altbautypischen Keller- und Treppenhausgerüchen entgegen. Sie widersteht der Versuchung, sich am Geländer festzuhalten, und spurtet nach ganz oben. Durch ein schmales Fenster dringt Licht auf den abgewetzten Boden, vor einer Tür liegt eine Sisalmatte, daneben stehen zwei Paar Laufschuhe mit erheblichem Größenunterschied. Über den Türknauf sind Namensschilder mit Prägebuchstaben geklebt. »Bernhard Luibl«, darunter »Ulyana Danylenkowa«. Kula drückt den Klingelknopf, und im Inneren erklingt ein Gong mit dezentem Wechselton.

Ein Mann öffnet. Er hat das Kinn vorgeschoben und riecht frisch geduscht. Mit der einen Hand hält er die Tür, die andere hat er in die Hüfte gestemmt. Sein verwaschenes »Einstein-Marathon«-Shirt mit dem roten »e« unter den zauseligen Fransen spannt an den Oberarmen. »Was wollen Sie?«

Kula mustert ihn. Er ist groß und hat ein kantiges Gesicht mit modischem rötlich blonden Kurzhaarschnitt. Bartstoppeln sprießen an Wangen, Kinn und am Hals.

»Was ist jetzt? Was wollen Sie? Wer sind Sie?«

»Skoulatopulos, Kripo Ulm.« Kula fummelt den Ausweis aus der Tasche und hält ihn Luibl entgegen.

»Und? Habe ich was verbrochen? Bin mir keiner Schuld bewusst.« Seine Stimme ist rau, und er wirkt ungehalten.

»Es geht um Frau Danylenkowa. Sie wohnt hier?«

»Was wollen Sie von meiner Frau? Wieso Polizei?«

»Soweit ich informiert bin, hatte sie letzte Nacht Dienst. Ich habe deswegen ein paar Fragen.«

»Hören Sie, Ulyana schläft. Ich werde einen Teufel tun und sie wecken, sie hatte Nachtdienst. Kommen Sie später wieder«, sagt er und drückt die Tür vor Kulas Nase zu.

Da kannst du sicher sein, du Idiot.

Bevor sie weiter über die rüde Abfuhr nachdenken kann, meldet sich ihr Handy mit dem Eingang einer WhatsApp-Nachricht von Svenja.

Wir haben eine Wohnung in Aussicht. Bitte komm in die Memelstraße, Ecke Tilsiter. Subito!!! Küsschen!

Sie überlegt einen Moment, die Besichtigung zu verschieben, aber schnell wird ihr klar, dass sie diese Chance nutzen müssen. Unbedingt, denn es ist die erste Rückmeldung, seit sie die Annonce aufgegeben haben. Anschließend will sie Bitterle trotz seines freien Tages bitten, sich der Sache anzunehmen.

4

Svenjas Smart Roadster parkt an der Ecke Tilsiter/Memelstraße gegenüber dem Durchgang zur Ringstraße. Mit den zitronengelben Streifen und dem Überrollbügel sieht der Wagen aus wie ein Hümmelchen von Andy Warhol. Svenja muss Kulas Kawasaki schon von Weitem gehört haben, denn als sie sich nähert, hüpft sie mit einem Satz aus dem Wagen, wartet, bis ihre Partnerin das Bike abgestellt hat, und begrüßt sie mit einer innigen Umarmung. »Bin mir sicher, dass es diesmal klappt! Das Ehepaar, schon etwas älter, scheint sehr nett zu sein. Du bist heute Morgen früh verschwunden. Gab’s was Besonderes? Du siehst ganz schön müde aus.«

»Bin ich auch.«

»Erzähl.«

»Ach, Svenja.« Kula zieht die Stirn in Falten. »Du weißt doch – andererseits steht’s ja morgen sowieso in der Zeitung. Also, in der Au wurde ein Rentner tot aufgefunden. Wie’s aussieht, Totschlag.«

»Wer macht denn so was?«

»Keine Ahnung. Neben der Leiche lagen Scherben einer Wodkaflasche. Das Schlimmste aber ist, niemand im Seniorenheim hat sein Fehlen bemerkt.« Kula blickt in zwei große fragende Augen.

»Komm, jetzt schauen wir uns die Wohnung an, dann kommst du auf andere Gedanken, das da drüben ist das Haus.« Svenja zeigt auf ein Gebäude gegenüber, hakt sich bei Kula unter und zieht sie ein Stück zu sich her. »Du brauchst bald eine Dusche.«

»Nerv nicht! Meinst du das große mit dem grauen Dach?«

»Nein, das daneben, das mit dem netten Vorgarten.«

Die beiden werden erwartet. Gleich nach dem Läuten bei Eduard und Helene Lisson surrt der Öffner, und die Haustür springt auf. Sie stehen in einem Treppenhaus mit beigefarbenen Fliesen; ein Metallgeländer mit bunten Ringen zwischen den Streben und einem schwarzen Handlauf führt nach oben zu der Wohnung, die zu vermieten ist. Frau Lisson, eine weiß gelockte Seniorin in geblümtem Sommerkleid, hält die Tür weit auf und zwinkert ihnen mit fröhlich blauen Augen zu. Ihre Freude wirkt echt. »Schön, dass Sie es einrichten konnten.« Sie wendet sich um und ruft nach innen: »Eduard, unsere neuen Mieter sind da.«

»Na, dann mach ich den Eiskaffee fertig und bring ihn auf die Terrasse«, murmelt es von drinnen. »Geht schon mal vor.«

Kula fragt nach der Toilette. Vor dem Spiegel meldet sich ihr schlechtes Gewissen. War es richtig, Bitterle in die Karlstraße zu schicken, um die Altenpflegerin zu befragen? Die vielen Treppen hoch bis zur ihrer Wohnung? Wäre es nicht ihr Job gewesen, die Sache zu Ende zu bringen? Dabei hätte sie sie gerne selbst kennengelernt. Sie weiß keine Antwort darauf, macht sich kurz frisch und geht wieder zurück.

Svenja lässt sich von der Hausbesitzerin durchs Wohnzimmer nach draußen führen. Für einen Moment bleibt Svenja in der großen Schiebetür stehen und staunt. »So ein schöner Garten, da steckt bestimmt jede Menge Arbeit drin.«

»Wie ich sehe, haben Sie Ahnung vom Gärtnern. Freut mich, dass er Ihnen gefällt. Und für Kinder ist es hier ideal.«

Svenja neigt den Kopf zur Seite und lächelt.

»Die Schule ist gleich in der Nähe, quasi gegenüber, zum Donaubad sind es nur ein paar Meter, für den Winter gibt’s die Eislaufanlage. Und das Beste, Sie sind ruck, zuck in der Stadt. Sie erwähnten in der Anzeige doch was von Kindern, oder?«

Kula kommt hinzu. Als sie den letzten Satz hört, ist sie völlig verblüfft von Frau Lissons Aufgeschlossenheit. Eine derart moderne Einstellung hätte sie in dem eher piefigen Neu-Ulmer Villenviertel nicht erwartet, in Berlin vielleicht oder München, ja – aber hier? Wer will schon zwei Lesben mit dem Wunsch, ein Kind zu adoptierten, bei sich unterm Dach haben? Die Antwort wird postwendend mit den vier perfekt arrangierten Bechern Eiskaffee präsentiert. »Wissen Sie«, sagt Herr Lisson, während er die Getränke auf silberne Untersetzer stellt, »heutzutage ist es einfach beruhigend, wenn man weiß, dass die Polizei mit im Haus ist. Bei all dem, was man so hört und was um einen herum geschieht, bedeutet das doch Sicherheit. Das ist uns enorm wichtig. Da spielt es keine Rolle, was jemand für Vorlieben hat.«

Svenja schnappt sich einen Eiskaffee, saugt am Röhrchen und lehnt sich zurück. Sie lässt den Blick über die Buchenhecke zum Nachbargrundstück schweifen. Zu den Himbeerstauden am Spalier, die voll reifer Früchte hängen. Hunderte lachsroter Rosen klettern an einem Holzgerüst hoch, sie verdecken die fast drei Meter hohe Betonwand, die den Garten von der Stadtautobahn trennt. Trotz des Lärms träumt Svenja weiter. Sie stellt sich eine Idylle mit Planschbecken, Sandkasten und einer kleinen Rutsche vor, in der ihr gemeinsames Kind demnächst würde herumtollen können. Nach einem tiefen Atemzug sagt sie: »Sie haben es wirklich schön hier.«

Die beiden Lissons nicken.

Als dem Geräusch nach ein Baustellenlaster hinter der Betonwand vorbeirumpelt, gefolgt von einem wild aufheulenden Motorrad, sieht Kula von ihrer selig vor sich hin träumenden Partnerin zu Frau Lisson und schürzt die Lippen. »Sagen Sie, ist das immer so laut hier?«

»Ach, wissen Sie, das hören wir schon gar nicht mehr. Daran werden Sie sich im Handumdrehen gewöhnt haben.«

»Und nachts?«, bohrt Kula weiter.

»Nachts? Da hören Sie gar nichts. Wir haben schon vor Langem Schallschutzfenster einbauen lassen.«

Mit einem Ruck richtet sich Svenja auf. »Das heißt, dass die Fenster nachts geschlossen sein müssen?«

»Es ist besser so. Im Alter hat man ja keinen so tiefen Schlaf mehr, und außerdem gibt es ja noch Tabletten oder«, mit einem Blick zu ihrem Mann, »das eine oder andere Bier.«

Der winkt lässig ab. »Alles halb so schlimm. Man gönnt sich ja sonst nichts.«

Svenjas und Kulas Blicke treffen sich und ruhen für den Moment ineinander. Kula wiegt den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz leicht wippt, sieht Frau Lisson direkt an und fragt: »Bis wann müssen wir uns denn entscheiden?«

Frau Lissons freundliche Miene verschwindet, und ihr Gesicht bekommt einen bitteren Zug. »Ja, nun, am besten sofort. Aber jetzt schauen Sie sich die Wohnung doch erst einmal an. Ich bin mir sicher, Sie werden begeistert sein. Vor allem vom Bad, erst vor ein paar Jahren wurden die Dusche eingebaut und die Armaturen erneuert.«

»Gut«, sagt Svenja und sieht verstohlen zu Kula, die ihre Augen verdreht. »Dann zeigen Sie uns doch bitte die Wohnung.«

Frau Lisson greift nach dem Schlüsselbund, der auf dem Garderobenschränkchen liegt, und zieht sich am Geländer hoch. Oben angekommen schließt sie auf und tritt zur Seite. »Hier bitte, lassen Sie sich alle Zeit der Welt.«

»Machen wir, danke«, sagt Kula und geht voraus. Der Flurboden ist mit grauem Nadelfilz belegt, die Luft ist abgestanden, und es riecht nach frischer Malerfarbe. Svenja wirft einen Blick in das Zimmer zur Ostseite, tritt ans Fenster und stiert nach unten. Nichts als Autos. Auf beiden Spuren Stillstand.

»Da, guck mal da runter«, sagt sie und zeigt aus dem Fenster.

Kula stellt sich neben sie.

»Soweit ich weiß, reicht der Stau manchmal vom Dreieck Hittistetten quer durch Ulm bis zum Blaubeurer Ring.« Svenja schüttelt sich und öffnet das Fenster. »Das ist unerträglich, an den Lärm werde ich mich nie und nimmer gewöhnen.« Sie dreht sich um, da Kula nicht reagiert und abwesend an ihr vorbeisieht. »Hallo?« Sie stellt sich vor Kula und legt ihre Hände auf deren Schultern. »Wo bist du mit deinen Gedanken?«

»Wie? Ach so, sorry.«

»Hast du an den Fall gedacht?«

»Nicht direkt. Mir fiel der Tote beim Ausee ein. Und ob wir auch mal so enden werden, einsam, in einem Pflegeheim?«

»Du hast vielleicht Nerven. Ich bitte dich.«

Kula quält sich zu einem Lächeln. »Hast ja recht.«

Frau Lisson tritt wieder in den Raum. »Sie glauben ja nicht, wie viele Anfragen wir sonst noch haben. Eine Wohnung in der Stadt zu finden ist im Gegensatz zu früher nicht mehr so einfach. Das wissen Sie doch. Also sollten Sie nicht zögern und sich am besten gleich entscheiden. Falls es an der Miete liegen sollte …« Sie sieht zu ihrem Mann, der mittlerweile nachgekommen ist und den Gesprächsfaden aufgreift.

»Also darüber können wir natürlich noch reden, Spielraum ist immer.«

Kula zuckt innerlich zusammen. Über Geld ist doch noch kein Wort gefallen. Die wollen die Bude loswerden, unbedingt. Und wieder dröhnt es hinter der Mauer, ein Sattelschlepper ist wohl dabei, in den nächsten Gang zu schalten.

Svenja dreht sich um. »Wir wollen auf keinen Fall unhöflich erscheinen, aber ich denke, wir lassen uns die Sache noch einmal durch den Kopf gehen. Wir melden uns spätestens bis morgen. Ist das okay für Sie?«

»Wie Sie meinen«, kommt es spitz von Frau Lisson. Sie folgt den beiden mit Abstand hinunter und hält die Haustür auf. Nach einem: »Also bis dann, auf Wiedersehen«, fällt sie ins Schloss.

»Und?«, fragt Svenja, als sie auf der Straße stehen.

»Sind wir wahnsinnig?«

5

Mit ihrem Dickkopf hat Iris Mützenrieder es geschafft und Bitterle dazu gebracht, sie in den Botanischen Garten der Ulmer Uni zu begleiten. Sie ist eine Närrin, was Rosen anbelangt, war sie immer schon. Ab April fiebert sie dem Moment entgegen, wenn aus den Knospen die ersten Blüten hervorspitzen, und jetzt will sie sich auf keinen Fall die Sommerblüte entgehen lassen. Nur noch wenige Wochen, dann ist es eh vorbei für dieses Jahr.

Während sie noch zwischen den Beeten des Apothekergartens entlangschnuppert und den Duft der Kräuter tief einsaugt, sitzt Bitterle auf einer Bank, hält die Beine von sich gestreckt und blickt Richtung Süden. Vor ihm spannt sich eine Wiese mit Wildblumen und Obst- und Laubbäumen, die sanft abfällt. Wege durchziehen das Gelände, auf denen Naturliebhaber bummeln. Sein Blick schweift vom Münsterturm nach Süden zu den Alpen, deren Gipfel wie eine Kette den Horizont begrenzen und zum Greifen nahe scheinen. Vereinzelt türmen sich weiße Wolken. Vorboten eines Wetterwechsels – oder auch nicht.

Hin und wieder überkommt Bitterle ein flaues Gefühl, wenn er an die letzten Monate denkt. Beinahe ein Jahr ist es nun her, dass Iris in mein Leben getreten ist, dass ich sie erst eingeladen und dann eingelassen habe, daran teilzuhaben. Wie lange das wohl gut geht? Zwei Menschen, jeder mit einem Paket voll Vergangenheit, mit Höhen und Tiefen, mit Verletzungen und Wunden, von denen einige verheilt und andere vergessen sind, manche einen auf ewig plagen werden. Was Petra wohl macht? Ob sie glücklich ist in ihrer neuen Beziehung, die sie nach unserer Scheidung eingegangen ist? Auch schon wieder bald zehn Jahre her. Ob sie mehr Kontakt zu Patrick hat? Der Schlingel. Hat sich einfach nach Südafrika aufgemacht und in ein niederländisches Weingut eingeheiratet. Jedenfalls wird die Kiste Wein, die er mir regelmäßig zu Weihnachten schickt, dieses Jahr auch getrunken werden. Iris war völlig aus dem Häuschen, als sie die Schätze in meinem Keller entdeckt hat, und meint, wir müssen ihn dort einmal besuchen. Unbedingt. Will ich das? Nach Südafrika, ans andere Ende der Welt?

Das Vibrieren seines Smartphones reißt ihn aus seinen Zweifeln. Kula. Es gibt Arbeit, und sie müssen die Rosenschau auf ein andermal verschieben.

Es ist noch heißer geworden. Die Knöpfe für die Klimaanlage sucht Iris vergeblich, denn Bitterles Ascona ist schon achtunddreißig Jahre alt, die Rückfahrt vom Botanischen Garten wird zur Qual. Kein Lüftchen weht, die Nachmittagshitze hat sich wie eine Wand in die Stadt geschoben und das Leben in und um Ulm lahmgelegt. Mit Sicherheit sind aber alle Straßencafés überfüllt, und an Eisdielen finden sich endlos lange Schlangen.

Am Illerkanal angekommen, hat sich Iris knapp mit dem Hinweis auf den Italienischkurs bei Laura Fois verabschiedet. Sie ist sauer. Bitterle stellt sich so lange unter die Dusche, bis er zu frösteln beginnt. Das muss an seinem freien Tag einfach sein. Obwohl Kula ihn gebeten hat, Ulyana Danylenkowa noch vor der Spätschicht aufzusuchen, bleibt genügend Zeit, bis ihre Nachtschicht im Seniorenheim beginnt. Trotzdem will Bitterle die Befragung möglichst schnell hinter sich bringen, um mit Iris in der gegenüberliegenden Gartenwirtschaft, die inzwischen wieder wie seit Urzeiten »Done’s Biergarten« heißt, bei einem oder zwei Glas Weizen den Abend ausklingen zu lassen. Er freut sich darauf.