Tod eines Jagdpächters - Thomas Sutter - E-Book

Tod eines Jagdpächters E-Book

Thomas Sutter

4,6

Beschreibung

Der aufreibende Job hat Komissar Manfred Beltel müde gemacht. Nicht nur, dass er sich um die kläffende Promenadenmischung seiner Haushälterin kümmern muss, im Bonner Präsidium wartet ein vertrackter Fall darauf, gelöst zu werden. Ein Jagdpächter ist mit einem Präzisionsgewehr erschossen worden, und es gibt viele Verdächtige. Zudem hinterlässt ein Unbekannter Gereimtes mit verschlüsselten Inhalten, das der Polizei einiges Kopfzerbrechen bereitet.

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Thomas Sutter

Tod eines Jagdpächters

Kriminalroman

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Für meinen Sohn Max, dem ich noch viele Bücher widmen möchte und für Ben, meinen treuen Begleiter auf dem Jakobsweg.

Der Rausch des Jägers

Allein der Gedanke an Pirsch erweckte ein großartiges Gefühl. Sich anschleichen, auflauern, im Hinterhalt geduldig warten, bis der Finger sich am Abzug leicht krümmte. Das erhabene Gefühl des Erlegens. Jedem Raubtier ist dieser Triumph bekannt.

Karl Nirbach hatte sich immer als Raubtier gefühlt, aber im Alltag hatten die Triumphe sehr nachgelassen. Im Geschäftsleben konnte er nicht mehr wie früher zuschlagen. Fette Beute machen war weitaus schwerer geworden. Erfolge waren lange nicht mehr so leicht wie in seinen Jahren in Köln und der ersten Zeit hier in der Eifel. Stattdessen zeichneten sich mittlerweile sogar Niederlagen ab. Die verflixte Staatsanwaltschaft wollte es doch wirklich wissen. Sie würde ihm nichts anhaben können, aber das Prozedere lähmte trotzdem, und die Firma, die er seiner Frau überschrieben hatte, in der er aber immer noch die Fäden zog, hatte Kunden verloren.

Deshalb hatte es ihn besonders gewurmt, in den letzten Wochen seiner Jagdleidenschaft nicht mehr frönen zu können. Seinem Ausgleich, bei dem die Triumphgefühle nie ausblieben.

Sämtliche Hochstände in seiner Pacht waren verwüstet worden. Leere Alkoholflaschen, Müll und Uringeruch waren noch das Harmloseste gewesen. Zwei Hochstände waren angesägt, und ein dritter war in Brand gesetzt worden. Zum Glück hatte er die Mistkerle erwischt. Auch ihnen hatte er, wie dem Wild, nachts aufgelauert. Er hatte sich in einer Art um sie gekümmert, die er seit seiner Jugend kannte und die er für richtig hielt: Keine Polizei. Was auf die Fresse, das wurde immer besser verstanden als Worte. Dabei war er nicht zimperlich vorgegangen. Die Burschen hatten richtig was abgekriegt.

Bei dem vollen Mond hatte er die Taschenlampe gar nicht erst eingeschaltet. Die Lichtstrahlen der matten Scheibe hatten den Weg durch die Tannen erkennen lassen, und es gab nicht viel Unterholz, über das er stolpern konnte. Ein leichtes Lüftchen bog die Bäume und das Knarren klang wie Seufzer. Kleinere Äste knackten unter seinen schweren Schuhen, dann fühlte er wieder leichten, federnden Boden. In der Ferne rief ein Käuzchen.

Mit seinem Schienbein stieß er gegen einen quer liegenden Stamm, aber er strauchelte nicht und brauchte auch jetzt die Lampe nicht einzuschalten, um darüber hinwegsteigen zu können.

Er hatte die Wildschweine flüchten gehört, aber er wusste, sie würden wiederkommen. Höchstens ein, zwei Stündchen in Ruhe auf dem Hochstand ausharren, dann waren sie wieder da.

Mit seinen fünfundfünfzig Jahren war er zeitweilig immer noch die Ungeduld in Person, aber nicht bei der Jagd. Da war Ungeduld ein Fremdwort für ihn. Das Adrenalin, das die Jagd im Körper aktivierte, verursachte genüssliche Wachsamkeit.

Der Wald wurde lichter, und es waren nur noch wenige Meter bis zur Rodung. Der Hochstand lag noch etwa zweihundert Meter weiter am Rande der Lichtung. Vor einer Woche hatte er ihn säubern und ausbessern lassen. Im Gegensatz zu den Wildschweinen würden diese jugendlichen Vandalen nicht noch mal hier auftauchen. Die hatten ihre Lektion bekommen und würden kein weiteres Unwesen mehr treiben. Dafür hatte er gesorgt.

Zuerst dachte Nirbach an ein Glühwürmchen. Aber der winzige glühende Punkt, der einige Meter von ihm entfernt stakkatoartig herumflirrte, war zu schnell für ein Glühwürmchen. Außerdem tanzte er über den Boden und flog nicht in der Luft.

Ein Schreckgedanke lähmte ihn. Konnte es wirklich das sein, was er befürchtete? Argwöhnisch beobachtete er, wie das rote Lichtchen im Zickzack auf ihn zuwanderte und ihn berührte. Wie es sprunghaft an ihm hochkletterte bis zur Brustgegend. Der Jagdpächter griff mit der Hand danach, aber da zeigte sich das rote Fleckchen auf seinem Handrücken, und als er die Hand zurückzog, blieb es wieder an seiner Brust kleben. Langsam bewegte es sich noch ein wenig nach links, wo es genau in der Herzgegend verharrte.

Er duckte sich, riss das Nachtsichtfernglas hoch und spähte in die Richtung, aus der der rote Punkt zu kommen schien. Entlang des Waldrandes war nichts zu erkennen. Auch zwischen den Tannen nahm er nichts Verdächtiges wahr. Dann aber erspähte er tief im Dickicht die Umrisse einer auf dem Bauch liegenden Gestalt in mindestens zweihundert Metern Entfernung, die mit einem Gewehr auf ihn zielte.

Bis zu den schützenden Bäumen war es zu weit, deshalb warf er sich zu Boden. Es gab ein paar Bodensenken und direkt vor ihm befand sich ein kleiner Hügel, dennoch fand das rote Lichtchen ungehindert den Punkt zwischen seinen Augenbrauen. Sofort zwängte er sich tiefer in die Kuhle.

Die Nacht war kühl, trotzdem begann ihm der Schweiß aus allen Poren zu strömen. Er spürte kein Adrenalin, das die Vorfreude der Jagd eben noch durch seine Venen gepumpt hatte, sondern nacktes, nervenzerreißendes Entsetzen.

Langsam tastete er nach seinem Gewehr, obwohl er befürchtete, dass dies seinen Beobachter zum Todesschuss anstacheln könnte. Sein Gewehr befand sich noch in der Tasche. Mit zittrigen Fingern begann er die Druckverschlüsse zu öffnen, und er fühlte das harte Holz seiner Waffe. Sollte er nicht einfach liegen bleiben? Was wollte der Schütze von ihm? Angst einjagen? Das war ihm gelungen. Aber Nirbach würde das nicht einfach so hinnehmen. Er hatte es schon mit einigen harten Jungs aufgenommen und er hasste es, sich vor diesem Mistkerl da drüben im Wald so zu erniedrigen. Der Kerl bluffte. Wahrscheinlich wollte er nur seinen Spaß haben. Aber dem Jagdpächter war absolut nicht nach Spaßen zumute. Er würde abdrücken, sobald er den Unbekannten im Visier hatte.

Seine Finger krampften sich um den Gewehrschaft. Zentimeter für Zentimeter, sehr bedacht, die Waffe am Boden zu halten, zog er sie aus der Hülle zu sich heran. Der rote Punkt war nicht mehr zu sehen. Vielleicht hatte derjenige, der ihm nach dem Leben trachtete, aufgegeben und war abgehauen.

Mit einer schnellen Bewegung wagte Nirbach, das Visier des Gewehrs an das rechte Auge zu bringen. Dann nahm er den roten Punkt, der von seiner Nase zur Stirn wanderte, wieder wahr. In seinem Visier erschienen die fernen Umrisse einer menschlichen Gestalt. Nirbach hatte den Finger bereits am Abzug, aber die Millisekunde, ihn durchzuziehen, blieb ihm nicht mehr.

Ein Anfang ist gemacht

Zuerst hatte er geplant, den Wagen weiter weg zu parken und einige Kilometer durch den nächtlichen Wald zu gehen. Aber das wäre zu riskant gewesen. Er hätte dabei auf andere Jäger stoßen können.

So hatte er das Auto vor dem Fußballplatz abgestellt, der zwischen Loch und Aichen lag. Es war ruhig hier oben. Nachts kam niemand hierher. Das hatte er ausgekundschaftet. Und selbst wenn, der Wagen war gestohlen und nicht mit ihm in Verbindung zu bringen. Morgen würde er ihn irgendwo in Bonn abstellen.

Eine Sache war nun vom Tisch. Ein Teil der Rechnung war beglichen. Aber nur ein Teil, und damit war es nicht getan. Die Wahrheit musste vollständig ans Licht. Vorher würde er keine Ruhe geben. Er fühlte sich sehr gut mit seiner Aufgabe. Einer Aufgabe, die seinen Fähigkeiten entsprach. Schade, dass er heute Nacht nicht durch den Wald wandern konnte. Mit dem Gewehr auf dem Rücken durch den nächtlichen Wald. Wie beim Training, bei dem er immer der Beste gewesen war.

Zahllose Nächte hatte er nachts im Wald verbracht. Eine mondhelle Nacht wie heute war nicht nötig, um im Busch zurecht zu kommen. Er brauchte nur wenige Minuten, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann bewegte er sich nachts genauso sicher im Wald wie tagsüber.

Dieser Nirbach hätte sich vorher überlegen sollen, wem er übel mitspielt. Aber Männer wie er überlegen sich solche Dinge nicht. Sie verhalten sich rücksichtslos, so lange, bis sie schließlich an den Falschen geraten. Und dann kann es unter Umständen keine Zeit für Reue mehr geben. Nirbach hatte nichts mehr zu bereuen. Aber seine Frau und dieser Lakai Klötsch. Für die beiden hielt er noch einige Überraschungen bereit.

Langsam fuhr er mit dem Wagen vom Parkplatz in Richtung Aichen. Das Dorf bestand höchstens aus zehn, fünfzehn Häusern und war tausendmal verschlafener als Loch. Die Wahr-scheinlichkeit, hier gesehen zu werden, war gering. Unten bog er auf der Schnellstraße rechts ab. Beim Gasthof »Vier Winden« fuhr er links Richtung Neukirchen und Rheinbach.

Kriminalhauptkommissar Manfred Beltel kommt auf den Hund

Es war wirklich verflixt. Gestern hatte man Manfred Beltel diesen kleinen Köter untergeschoben. Heute war er von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte sein Plumeau zerbissen und die Treppe mit Federn übersät vorgefunden. Nun hatte er dem kleinen Biest den Gefallen getan und war mit ihm spazieren gegangen. Kaum war er unterwegs, klingelte sein Handy. Die Dienststelle. Er solle sofort in ein Waldgebiet nahe der Madbachtalsperre kommen. Ein Umweg nach Hause, um die Töle loszuwerden, kostete Zeit. Das Biest musste mit, aber scheinbar waren Autos nicht seine Sache. Auch nicht, wenn es sich dabei um einen wunderschönen Oldtimer handelte, wie den 501 BMW Baujahr 1956. Beltel hatte den Wagen vor drei Jahren von einem Onkel geerbt und restaurieren lassen.

Er liebte das Auto in erster Linie aufgrund von Erinnerungen. Als Dreikäsehoch hatte er auf dem Beifahrersitz neben seinem Onkel kaum über die Windschutzscheibe hinausgucken können. Auf herrlichen Spritztouren hatte er in dem Auto die Welt im Umkreis von bis zu fünfzig Kilometern entdeckt.

Es widerstrebte ihm von ganzem Herzen, den Hund in den Wagen und auf die Polster zu lassen, aber leider ging es nicht anders.

Beltel gab den Versuch sofort auf, den Stinker in den Wagen zu hieven. Der Dackel – oder was für eine Rasse war es eigentlich? – hatte sofort gefährlich geknurrt, als Beltel sich nur zu ihm hinuntergebeugt hatte. Außer Dackel wusste Beltel wirklich nicht, was für eine weitere sture Promenadenmischung da noch seine Gene hinterlassen haben könnte.

Mist, es eilte doch! Trick siebzehn half. Ein Leckerli als Vorspeise, ein weiteres auf den Rücksitz. Der Hund war drin. Aber noch mehr Leckerlis halfen nicht, das Bellen abzustellen. So klein wie er war, so frech und so laut gebärdete er sich. Beltel musste das Viech unbedingt wieder loswerden und zwar schon morgen!

Er stellte das Auto auf dem Waldparkplatz oberhalb der Madbachtalsperre ab. Einige Abendschwimmer hatten ihre Fahrzeuge ebenfalls dort geparkt. Der Sommer hatte gerade erst angefangen und wirklich warm konnte das Wasser noch nicht sein. In jungen Jahren war er selbst sogar schon im Frühling in einen der Seen gesprungen und hatte es von allen seinen Freunden immer am längsten im Wasser ausgehalten. Er konnte Plantschen und Kindergeschrei hören. Das Kläffen des zurückgelassenen Hundes begleitete ihn weit auf dem Waldweg. Dann vernahm er die Stimmen der Kollegen und nach circa hundert Metern, zwischen den Bäumen, sah er sie auf einer Lichtung. Der Köter klang nun, Gott sei Dank, weit entfernt. Kriminalhauptkommissar Hans Funk kam ihm entgegen. Er sah mitgenommen aus.

»Verdammte Sauerei, Manfred«, sagte Funk und wies auf einen jungen Beamten in Uniform. »Der Kollege aus Euskirchen hat kotzen müssen.«

Der junge Mann war leichenblass, aber Funk sah ebenfalls danach aus, als könne sich sein Magen bald umdrehen. Beltel ahnte, was ihn erwarten würde. Die Spurensicherung war noch nicht abgeschlossen.

Langsam ging er auf den Körper zu, der wenige Meter vor ihm lag.

Der Kopf des Mannes war halb weggeschossen und das, was von seinem Schädel noch übrig war, bot einen grausigen Blick auf Gehirnreste. Er trug Jägerkleidung. Ein Gewehr war halb unter ihm eingeklemmt.

Die Wiesenblumen und das Gras hinter ihm waren über mehrere Quadratmeter blutrot gesprenkelt, dazwischen klebten verteilt Klümpchen von Hirnresten.

Beltel hatte in den langen Jahren, die er bei der Mordkommission war, schon einiges zu Gesicht bekommen. Trotzdem konnte er sich, genau wie Kollege Funk, eines flauen Gefühls im Magen nicht erwehren. Die von der Spurensicherung waren da schon um einiges hartgesottener. Die haute so schnell nichts um. Da die Sonne schon ziemlich tief stand und nicht mehr viel Licht gab, wurden die ringsum aufgebauten Flutlichter aktiviert. Dem sich bietenden Bild wurden Sequenzen eines Horrorfilms beigemischt: Rotglühendes Sonnenlicht, das durch den Wald bis auf die Lichtung vordrang, dazu das künstliche Scheinwerferlicht, das sich auf das Blut und die grausigen Hirnreste konzentrierte.

Funk war Beltel gefolgt und stand jetzt neben ihm.

»Wer hat ihn gefunden?«, wollte Beltel von seinem Kollegen wissen.

»Ein Mitarbeiter namens Klötsch«, erklärte Funk. »Der Tote heißt Nirbach. Bauunternehmer, oder vielmehr Ex-Bauunternehmer und Jagdpächter. Klötsch ist der Geschäftsführer der Firma, die Nirbachs Frau Viola gehört. Er war heute Morgen mit ihm verabredet, Nirbach ist aber nicht aufgetaucht. Da er auch den ganzen Tag über telefonisch nicht erreichbar war, ist Klötsch am späten Nachmittag bei ihm zuhause vorbei gefahren. Da er wusste, dass Nirbach letzte Nacht jagen wollte, hat er sich dann hier im Waldgebiet umgesehen.«

»Was wissen wir über den Toten?«, erkundigte sich Beltel.

»Ziemlich wohlhabend. Seine Villa ist nicht weit von hier. Seine Frau ist zurzeit im Urlaub. Klötsch wird sie anrufen und ihr mitteilen, was passiert ist. Er hatte leider nicht mehr die Zeit, auf dich zu warten, aber er kommt morgen früh ins Präsidium. Hab ihn für halb neun bestellt. Er hat was von drei Jungs erzählt, mit denen sein Boss vor vier Nächten ein unangenehmes Zusammentreffen hatte. Ich hab ihre Namen notiert. Sie wohnen hier in Loch. Da sollten wir am besten heute Abend noch vorbeischauen.«

»Unangenehmes Zusammentreffen?«, hakte der Kriminalhauptkommissar nach.

»Die Burschen haben sich an Hochständen vergriffen. Jugendlicher Vandalismus. Klötsch wollte nicht so richtig mit der Sprache raus. Er sagte nur, Nirbach hätte sich die Jungs ordentlich vorgeknöpft. Scheinbar hat er sich dabei aber arg gehen lassen. Ich konnte so viel verstehen, dass Nirbach es nicht bei einer kleinen Abreibung belassen hatte. Einer der Jungs hat angeblich gedroht, Nirbach umzubringen«, erklärte Funk.

»Gut, fahren wir gleich mal nach Loch. Ich rede noch kurz mit den Leuten von der Spurensicherung.«

Der Kriminalhauptkommissar erfuhr, dass keine tatrelevanten Spuren gefunden worden waren. Es gab auch keinerlei Kampfspuren und nur Fußabdrücke, die von Nirbach selbst stammten. Auch das Todesgeschoss war noch nicht aufgetaucht. Wahrscheinlich war das Projektil genau unter dem Toten tief in den Boden eingedrungen. Im Falle eines Querschlägers oder mehrerer abgegebener Schüsse würde man die Erde in einem großen Umkreis sieben müssen. Aber dass Nirbach aus einiger Entfernung mit einem Präzisionsgewehr erschossen worden war, stand fest.

Auf dem Rückweg zum Auto war Beltels Kopf voller dunkler Gedanken. Funk redete, aber der Hauptkommissar hörte nur mit einem Ohr hin.

»Sieht so aus, als hätten diese Jungs dem Jagdpächter einen Grund zum Hass geliefert«, sagte Funk. »Wenn du mich fragst, ich glaube, da wollte sich jemand rächen.«

Beltel wusste, dass man mit voreiligen Schlüssen vorsichtig sein musste. Dieser Job im Wald sah nicht nach der Tat von ein paar Jungs aus. Vielmehr schien dies das Werk eines Profis zu sein. Sein Gefühl sagte ihm, dass die Lösung nicht einfach sein würde.

Dann spukte da auch plötzlich wieder das Problem mit dem Hund in seinem Kopf herum. Diese kleine Plage brachte sein Leben vollkommen durcheinander.

Im Moment hatte er sich offenbar beruhigt. Kein Kläffen war zu hören. Aber so wenig Beltel das Tier kannte, so sicher war er, dass das Kerlchen gleich wieder nerven würde.

»Kennst du dich mit Hunden aus?«, wandte er sich an Funk, der neben ihm ging.

»Mit Hunden? Wieso?«

»Seit gestern Abend habe ich einen. Vollkommen unfreiwillig. Der Nachbar meiner Haushälterin hat ihn mir gebracht. Sie musste plötzlich ins Krankenhaus und der Nachbar kann sich nicht um das Tier kümmern, da er allergisch gegen Hundehaare ist.« Beltel erwähnte nicht, dass seine Haushälterin zur Alkoholentgiftung in die Ehrenwallsche Klinik nach Ahrweiler eingeliefert worden war. Er war selbst total überrascht gewesen, als er davon erfuhr. Karin Münch hatte ihre Arbeit immer sehr gut erledigt. Sie war sauber und zuverlässig. Beltel hätte bei ihr nie ein Suchtproblem vermutet, aber seit sie geschieden war, hatte sie anscheinend ihre Probleme mit Alkohol zu lösen versucht und dies vor ihrer Umwelt längere Zeit verborgen.

Beltel mochte die Frau, sie hatte ihre Arbeit immer gut gemacht, aber die Sache mit dem Hund war zu viel. Er musste das Tier in eine Tierpension geben. Nur wie sollte er auf die Schnelle eine geeignete finden? Dieser Fall mit dem toten Jagdpächter würde ihn vollkommen in Anspruch nehmen. Da konnte er nicht mit einem Dackel in der Gegend herumfahren und Hundepensionen abklappern.

Funk grinste. »Du bist also auf den Hund gekommen?« Etwas ernster fügte er hinzu: »Meine Eltern hatten mal einen Hund. Ich bevorzuge aber Katzen. Marga und ich haben eine. Molly, ein Schmusetier.«

»Das heißt, du kannst mir also auch nicht weiter helfen?«

»Du dachtest, ich hätte mich um den Hund kümmern können?«

»Hätte ja sein können. Aber ich versteh schon. Du hast ’ne Katze und ich nehme an, Marga …«

»Richtig, Marga wäre da garantiert nicht mit einverstanden.«

Beltel hatte es schon geahnt. Terror Dog, weiß Gott, welche Rasse, erwachte sofort, als sie auf den Parkplatz traten und ließ seinen Aggressionen freien Lauf. Funk grinste und Beltel schüttelte verdrossen den Kopf.

Die netten Kollegen

Irgendein Witzbold hatte Beltel das Kalenderblatt vom Mai auf den Tisch gelegt, auf dem ein Dackelwelpe mit großen Augen aus dem Körbchen lugte. Solche Albernheiten waren Standard in seiner Abteilung. Aber nicht nur dort wurde ihm blöd und albern mitgespielt. Sondern auch in seiner Verwandtschaft. Seine Nichte Susanne, die in Bonn studierte, hatte ihn ohne sein Wissen bei einer Internet-Single-Börse angemeldet.

Susanne, die Tochter seiner Schwester, war sein Liebchen. Zwar total schräg, schrill und verzogen, aber tiefsinnig, intelligent und mitfühlend, wenn es drauf ankam. Insofern war er gern der Ansprechpartner, wenn es um Probleme der jungen, selbstbewussten Studentin ging. Meistens waren es wohlhabende Liebhaber, mit denen regelmäßig Beziehungsstress auftauchte, über den sie offen und ausführlich mit ihm, dem eingefleischten Junggesellen, sprach. Mitfühlend, wie sie sein konnte, schien sie es für nicht glaubhaft zu halten, dass er mit seinem Junggesellendasein zufrieden sein könnte. So hatte sie ihm eine Internet-Annonce als Partnersuchender Single eingebrockt. Dummerweise hatte er auf der Arbeit davon erzählt und einige der »netten« Kollegen hatten sofort komplottartig etwas ausgeheckt. Sie hatten ein zu ihm passendes weibliches Profil erfunden, sich ebenfalls in der Internet-Partnerbörse angemeldet und ihn mit charmanten E-Mails aus der Reserve gelockt.

Aus Spaß hatte er sich tatsächlich dazu verleiten lassen, der Anfrage einer vermeintlichen Dame, die so kultiviert und intelligent schreiben konnte, zu antworten. Von Anfang an hatte er aber durchblicken lassen, dass er keinesfalls an einer Partnerschaft interessiert sei, aber er könne sich so etwas wie eine E-Mail-Freundschaft vorstellen. Es war zu dem Austausch einiger Mails gekommen, im Laufe derer die vermeintliche Dame langsam dann doch irgendwie zu aufdringlich wurde und er an dem Punkt angelangt war, nicht mehr zu antworten. Hinterher stellte sich heraus, dass seine lieben Kollegen regelmäßig die Köpfe zusammengesteckt hatten, um diese Mails zu verfassen.

Zwar hatten sie den Scherz nicht auf die Spitze getrieben und sich davor gehütet, eine dieser Mails auszudrucken und irgendwo auf der Etage an ein schwarzes Brett zu hängen, aber das Getuschel und Gekicher in den Büros hatte sie entlarvt.

Er hatte einige Tage gebraucht, um dem Kollegenkreis den dämlichen Scherz zu verzeihen. Auch mit Susanne, die ihm diese Geschichte eingebrockt hatte und der er bis dahin noch nie etwas übel genommen hatte, hatte er eine ganze Woche nicht reden wollen. Aber da er gerade Susanne nicht lange böse sein konnte, hatte er hinterher sogar ein wenig darüber lachen können.

Nun ergötzten sich die Dämel an seiner Hundemisere, aber ihm war wieder nicht nach Witzen zumute. Letzte Nacht hatte der Hund ihn zwar schlafen lassen, und heute hatte er alle Decken, Kissen und was sonst noch den Zähnen des Biests anheimfallen könnte, in einem Schrank in Sicherheit gebracht, aber die Befürchtung, wieder eine böse Überraschung zu erleben, sobald er nach Hause käme, ließ ihn nicht los.

Anfangs hatte er versucht, Susanne anzurufen, in der Hoffnung, dass sie das Tier vielleicht zu sich nehmen könnte, aber nur ihren Anrufbeantworter erreicht. Dann hatte er mit dem Nachbarn seiner Haushälterin telefoniert und ihn gebeten, in Hundepensionen nach einem freien Platz zu fragen.

Der Nachbar informierte ihn über die Hintergründe, die Frau Münch betrafen. Von ihm hatte er erfahren, dass seine Haushälterin mit einer Überdosis Tabletten in ihrer Wohnung aufgefunden worden war. Ein Selbstmordversuch? Beltel hatte es erst nicht glauben wollen. Karin Münch befand sich mittlerweile auf der geschlossenen Abteilung der Dr. von Ehrenwallschen Klinik und war vorerst telefonisch nicht erreichbar. Beiläufig hatte Beltel nach dem Namen des Hundes gefragt. »Butz« klang ja eigentlich niedlich und gestern Abend hatte der Kriminalhauptkommissar auch eine andere Seite des Tieres kennengelernt. Nach einem Spaziergang hatte der Dackel im Wohnzimmer auf dem Sessel gelegen und ihn beim Grübeln beobachtet. Beltel sah es überhaupt nicht gern, dass sich ein Tier auf seinem bequemen Sessel breitmachte, dies hatte ihn geärgert. Er hatte erst gar nicht versucht, den Hund dort runterzujagen, weil er ahnte, dass er nicht nur niedlich, sondern eigensinnig und vielleicht auch bösartig sein konnte, wenn man ihm nicht seinen Willen ließ.

Seiner Gewohnheit, in einem Buch abendliche Entspannung zu finden, war er nicht nachgegangen. Noch hatte er, wie sonst, Musik aufgelegt und etwas Jazz gelauscht. Zu dieser Entspannung gehörte das Alleinsein, und da war dieses beobachtende Wesen in seinem Sessel, das den gewohnten Rhythmus total störte. Als er auch noch ein überlegenes Grinsen in dem Hunde-mischlingsgesicht zu entdecken glaubte, hatte er kapituliert und sich entschieden, sofort ins Bett zu gehen.

Er warf das Kalenderblatt in das Altpapier. Dann entdeckte er das Fax, das halb unter dem Dackelbild gelegen hatte.

Die Anfrage bezüglich Nirbachs und Klötschs etwaigen Vorstrafen war eingetroffen. Nirbach hatte in Köln einen Saunaclub betrieben. Eine Anzeige wegen Förderung der Prostitution hatte ihm eine Geldstrafe eingebracht und eine Betrugsgeschichte hatte zu einer Bewährungsstrafe geführt.

Klötsch hatte noch Besseres zu bieten. Schwere Körperverletzung, Förderung der Prostitution und Einbrüche waren mit einigen Jahren hinter Gittern geahndet worden. Seit den letzten vierzehn Jahren jedoch gab es keinen Eintrag mehr in der Strafregisterkartei.

Der Kriminalhauptkommissar hatte auch die Jugendlichen überprüfen lassen. Frank Bach und Markus Fromm waren noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, Ralf Schmitter dagegen hatte schon einiges auf dem Kerbholz. Wiederholte Körperverletzung und mehrfacher schwerer Diebstahl waren im Strafregister des Jungen vermerkt. Er hatte jede Menge Sozialstunden leisten müssen und er hatte auch schon den Jugendknast kennengelernt. Zurzeit gab es noch eine offene Bewährung, die er sich eingehandelt hatte, weil er einem Erzieher des Heims, in dem er noch vor einem Jahr gewohnt hatte, eine Cola-Flasche über den Kopf geschlagen hatte. Ralf Schmitter war offensichtlich ein schlimmes Früchtchen. Gestern Abend hatten Beltel und Funk noch mit Frank Bach und Markus Fromm geredet. Schmitter hatten sie nicht angetroffen.

Beltel sah auf die Uhr. Es war neun und Klötsch war noch nicht erschienen. Er wählte Funks Nummer.

»Was ist mit unserem Besuch, hat er sich vielleicht bei dir gemeldet?« Auch Funk hatte nichts gehört.

»Wer hat das Kalenderblatt auf meinen Tisch gelegt, Hans?«, fuhr der Hauptkommissar ärgerlich fort.

Funk erklärte, nichts von einem Kalenderblatt zu wissen.

»Okay«, sagte Beltel, wohl wissend, dass Funk flunkerte, »aber ich finde die Geschichte wirklich nicht lustig. Das Fax aus dem Vorstrafenregister ist mir erst gar nicht aufgefallen, und da geht es mir nah, wie ernst hier die Arbeit genommen wird.«

Natürlich wurden auch in der Mordkommission trotz der Ernsthaftigkeit der Fälle oft Späße getrieben und gelacht. Das gehörte einfach dazu. Eine ständige dunkle, ernste Stimmung trug nicht viel zu klaren Gedanken bei. Aber Beltel war von dem Problem mit dem Köter genervt und er hatte sich Luft machen müssen. Augenblicke später tat ihm seine Verärgerung schon wieder leid. »Schon gut, Hans, aber mir ist wirklich nicht nach Lachen zumute. Ich komme mit einer Menge klar, aber so was …«

Herrmann Klötsch

Klötsch kam um viertel nach neun ins Präsidium. Kein Wort der Entschuldigung für das verspätete Auftauchen. Er sah in keiner Weise vom Tod Nirbachs betroffen aus. Protziges Selbstbewusstsein ausstrahlend, nahm er Beltel gegenüber Platz.

Die tiefe Sonnenbräune konnte Anfang Juni nicht echt sein und Beltel vermutete, dass Klötsch Stammkunde im Sonnenstudio war. Das Goldkettchen, die teure Breitling-Uhr, das offen getragene weiße Hemd, die kurz geschorenen schwarzen Haare, die Rasierwasserwolke und Klötschs Figur, die garantiert durch Eisenstemmen im Fitnessstudio entstanden war, ließen ihn eher wie einen Zuhälter als einen Bauleiter aussehen. Vielleicht war er ja auch noch in beiden Bereichen tätig.

Beltel erkundigte sich nach Nirbachs Frau und erfuhr, dass sie den Urlaub in Spanien abbrechen würde. Sie musste nur einen Flug finden und das würde jetzt in der Urlaubssaison nicht einfach.

Im Gegensatz zu seinem äußeren Erscheinungsbild konnte Klötsch sich gewählt ausdrücken. Das hatte er sich sicherlich in der Geschäftswelt aneignen müssen. Und er schien zu wissen, was er der Polizei zu erzählen hatte und was nicht.

Beltel ließ sich schildern, was sich zwischen Klötsch und Nirbach und den Jugendlichen abgespielt hatte. Hatte Klötsch gestern Funk gegenüber noch angedeutet, dass Nirbach vielleicht ein bisschen übertrieben hatte, so war er heute viel vorsichtiger. Seine Aussage stand im Gegensatz zu dem, was Beltel gestern Abend von den Jugendlichen erfahren hatte. Den Jugendlichen zufolge – sie waren fünfzehn und sechzehn Jahre alt – hatte Nirbach sich an ihnen wie ein Berserker ausgetobt. Die beiden Jungs hatten sogar gestern noch Blessuren im Gesicht gehabt. Aber den fünfzehnjährigen Ralf Schmitter, den Beltel und Funk nicht angetroffen hatten, hatte es nach Aussage seiner beiden Freunde noch übler erwischt. Nirbach hatte ihm die Nase angebrochen und einen Zahn locker geschlagen. Beltel spürte Wut in sich hoch steigen, weil er Klötschs Verharmlosung zuhören musste. Als kleine Abreibung bezeichnete der Mann vor ihm das, was den Jungs widerfahren war.

Beltel wollte nicht länger drumherum reden. »Wie groß sind Sie und wie viel wiegen Sie?«

Klötsch grinste unverschämt. »Wenn Sie mir erklären, was die Frage soll, werde ich sie gerne beantworten.«

»Nun, ich schätze Sie auf über eins neunzig und wahrscheinlich an die hundertzehn Kilo schwer?«

»Ja und?« Klötsch blieb weiter vollkommen gelassen.

»Ihr Chef war nicht viel kleiner und ein Leichtgewicht war er auch nicht gerade. So wie Sie hier erzählen, hört es sich an, als hätten die Jungs ein paar Ohrfeigen bekommen. Die Teenager haben mir etwas ganz anderes erzählt. Nirbach hat mit voller Wucht und mit der Faust zugeschlagen und Sie haben sich auch nicht zurück gehalten«, erwiderte der Hauptkommissar.

»Die Bürschchen sind frech geworden und wollten Streit. Sie haben Karl zuerst angegriffen. Da hat er sich einfach gewehrt und ich habe ihm beigestanden«, verteidigte sich Klötsch ohne einen Anflug von Schuldgefühl.

»Herr Klötsch, ich werde den Eltern raten, Anzeige zu erstatten. Da steht die Aussage der drei gegen Ihre und da ich die Burschen gesehen habe, glaube ich kaum, dass die es gewagt hätten, jemanden wie Herrn Nirbach oder Sie anzugreifen. Ein Richter wird da sicher ähnlich denken. Ganz klar war die Verwüstung der Hochstände eine Straftat, aber für so was sind wir zuständig und die Zeiten der Selbstjustiz sind zum Glück lange vorbei.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber es geht hier um einen Mord und nicht um ’ne kleine Abreibung. Eins von den kleinen Arschlöchern hat geschrien, er würde Nirbach umlegen. Ich dachte, deshalb soll ich meine Aussage machen? Ich bin sicher, diese Drecksäcke stecken hinter Nirbachs Tod. Das aufzuklären, sind Sie in der Tat zuständig.« Er stand auf. »Kann ich jetzt gehen, ich hab noch zu arbeiten?« Klötsch klang nun nicht mehr wie ein seriöser Geschäftsmann, sondern eher wie ein Zuhälter.

Beltel war von der arroganten, herablassenden Art des Mannes aufgewühlt. Aber er war Profi genug, ruhig zu bleiben. »Einen Moment noch bitte, Herr Klötsch. Ihr Boss ist mit einem Präzisionsgewehr erschossen worden. Das sieht mir nicht nach jugendlichen Tätern aus. Könnte es vielleicht sein, dass Sie uns absichtlich auf eine falsche Spur führen möchten? Gab es eventuell noch irgendwelche alte oder neue Konflikte im Rotlichtmilieu, die zum Tod Nirbachs geführt haben könnten?«

Klötsch lächelte ungerührt. »Rotlichtmilieu? Herr Nirbach war bis vor einiger Zeit im Baugeschäft tätig. Er hat für einflussreiche Leute gearbeitet. Zu irgendeinem Rotlichtmilieu hatte er garantiert keine Kontakte. Herr Kommissar, ich habe noch einen wichtigen Termin. Bitte tun Sie Ihre Arbeit und lassen Sie diese falschen Verdächtigungen.«

Ohne abzuwarten erhob sich der Hüne, nickte Beltel noch einmal arrogant lächelnd zu und verließ das Büro.

»Kotzbrocken«, dachte Beltel, dann begab er sich rüber zu Funks Büro.

Naturkindergarten

Hans Funk wartete mit einer Neuigkeit auf. Ralf Schmitter war von seiner Pflegemutter bei der Polizei als vermisst gemeldet. Er war letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Die Kollegen aus Rheinbach und Euskirchen suchten bereits nach ihm.

Der Junge lebte seit einem Jahr bei dem Erzieherehepaar Gaby und Wolfgang Dederichs in Loch bei Rheinbach. Von seinem neunten bis zum vierzehnten Lebensjahr war er in einem Heim in Köln untergebracht gewesen. Wahrscheinlich hatten seine beiden Freunde ihm gestern Abend erzählt, dass die Polizei mit ihm sprechen wollte und nun war er untergetaucht. Aufgrund eines Motivs und der Vergangenheit des Jungen war es erforderlich, ihn unter die Lupe zu nehmen. Sein Verschwinden machte ihn nicht gerade unverdächtig.

Gaby Dederichs war halbtags im Naturkindergarten angestellt. Auf der Fahrt dorthin hatte Beltel mit einem Beamten aus Rheinbach telefoniert und erfahren, dass Ralf Schmitters Freundin Jessica Carlius ebenfalls von ihren Eltern als vermisst gemeldet worden war. Das Mädchen wohnte in Merzbach, nur wenige Kilometer von Rheinbach entfernt.

Den Eltern war erst am Morgen aufgefallen, dass ihre Tochter in der Nacht nicht zuhause war. Offensichtlich waren die beiden Teenager zusammen ausgerissen.

Die Rheinbacher Kollegen erklärten, dass sie die Mitschüler von Ralf und Jessica in der Schule aufsuchen und befragen würden.

Funk parkte auf dem Weg, der zum Naturkindergarten führte. »Ich frage jetzt echt nur aus Neugier: Konntest du eine Lösung wegen der unfreiwilligen Hundepatenschaft finden?«, erkundigte sich Funk, während sie in Richtung Naturkindergarten schritten.

Beltel wollte eigentlich überhaupt nicht daran erinnert werden. »Der Nachbar meiner Haushälterin will sich nach einer geeigneten Hundepension erkundigen«, brummte er. »Aber aufgrund seiner Allergie kann er den Hund dort nicht hinbringen und seine Frau hat keinen Führerschein. Das muss ich dann nach Feierabend machen, und du weißt selbst, wie lange momentan unsere Arbeitstage sind. Na ja, vielleicht kann ich Butz heute Abend schon loswerden. Dann werde ich erst mal tief durchatmen. Zum Glück konnte ich der Nachbarin meinen Hausschlüssel dalassen, so dass sie den Hund ein paar Mal am Tag zum pinkeln nach draußen führt. Das Kerlchen würde mir sonst noch den Teppich einsauen.«

Funk legte eine Hand auf seinen Bauch. »Also, wenn es nach mir ginge, würde ich dir ja helfen. Ich würde mir am liebsten sowieso einen Hund anschaffen. Viel spazieren gehen wäre nicht schlecht. Allein schon wegen meinen Kilos. Aber Marga mag nur Katzen und da zieh ich den Kürzeren.«

Beltel nickte kurz, ohne auf Funks Bauch zu schauen. »Hast in der Tat letzte Zeit einiges zugelegt.«

»Meine Frau hat so eine Scherzkarte an den Kühlschrank gepinnt: ›Alles schläft, einer frisst‹. Das passt leider wirklich. Nachts überkommt mich furchtbarer Heißhunger. Da kann ich gar nicht anders. Meistens spachtele ich drei Joghurts nacheinander rein. Und was es da für Sorten gibt. Im Moment steh ich total auf weiße Schokolade.«

»Ja, dann mach mal weiter so«, sagte Beltel schadenfroh lächelnd.

»Dann hab ich nachts sogar Ideen für weitere exotische Joghurt-Geschmacksrichtungen. Die vergesse ich dann wieder, weil ich schnell wieder einschlafe.«

»Schreib sie mal auf und dann schickst du sie an einen Joghurthersteller. Vielleicht kriegst du sogar Geld für die Erfindung einer neuen Joghurtkreation«, schlug Beltel scherzhaft vor.

»Habe ich auch schon dran gedacht«, nickte Funk und merkte gar nicht, dass sein Kollege ihn auf die Schippe nahm.

Nach wenigen Schritten standen sie vor dem Grundstück, auf dem sich die herrlich ausgebauten Bauwagen befanden, die den Kindern bei Regenwetter, anstatt eines Steinhauses, zur Verfügung standen. Beltel war froh, dass die Joghurtschwärmerei ein Ende gefunden hatte.

Letzte Nacht hatte es geregnet, und die Wiese des abgezäunten Grundstücks war nass. Fast zehn Kinder liefen in Gummistiefeln herum. Einige hatten Matschflecken an den Knien der Jeans und auch die T-Shirts und Hemdchen strahlten nicht gerade vor Sauberkeit.

Zwei Kleine saßen in einem Holzanhänger und ein Junge, der sicher nicht älter als vier war, versuchte den Wagen zu ziehen. Verzweifelt rief er nach Verstärkung, aber die anderen waren so beschäftigt, dass sie seiner Bitte nicht nachkamen. Der Junge gab auf, versetzte dem Holzkarren einen Tritt und blieb mit verschränkten Armen und Schmollmund stehen.

Beltel fühlte sich an seine eigene Kindheit erinnert. Obwohl er nie einen Kindergarten kennengelernt hatte. Er hatte sich auf dem Bauernhof seiner Eltern ausgetobt und ständig so ausgesehen wie diese Kids. Scheinbar gab es kein Plastik- und Lego-Spielzeug. Hier galt es, Pflanzen und Tiere zu erkunden. Beltel sah den angelegten kleinen Teich und hörte das Quaken der Frösche.

Für ihn waren seine ersten naturverbundenen Jahre die glücklichsten seines Lebens gewesen. Es gefiel ihm, dass es Kindergärten gab, die das »Zurück zur Natur« mit den Kleinen praktizierten.

Zwei Erwachsene standen vor einem großen braunen Bauwagen, der eher einem wunderschönen Zirkuswagen glich, und unterhielten sich. Nicht nur von außen war der Wagen mit dichten Pflanzen bewachsen. Durch die Fenster konnte man auch im Inneren Grünzeug erkennen, das die Funktion von Gardinen eingenommen hatte.

Die Frau sah Beltel und Funk kommen und ging ihnen entgegen.

»Sind Sie von der Polizei? Gaby Dederichs.« Sie reichte den Polizisten die Hand. Beltel und Funk stellten sich ebenfalls vor.

»Mordkommission?«, fragte sie ungläubig, ihr war die Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Ralf ist doch nichts …?«

Beltel unterbrach sie. »Nein, Ihrem Pflegesohn ist nichts passiert. Aber vorletzte Nacht ist ein Mann namens Nirbach in einem Waldgebiet ganz in der Nähe von Ihrem Wohnort erschossen worden, und in dieser Angelegenheit würden wir gerne mit Ralf sprechen.«

»Aber Sie wissen sicher, dass Ralf letzte Nacht nicht nach Hause gekommen ist?« Gaby Dederichs konnte den sorgenvollen Ton in ihrer Stimme nicht verbergen.

»Das wissen wir. Seine Freundin Jessica Carlius ist letzte Nacht auch nicht zu Hause gewesen. Es sieht so aus, dass die beiden zusammen abgehauen sind. Haben Sie eine Ahnung, wo sie stecken könnten?«, fragte Funk.

»Eigentlich wollte ich mir heute hier frei nehmen. Leider sind aber zwei Kolleginnen krank und es ging nicht. Na ja, ich hätte sowieso nicht gewusst, wo ich nach Ralf suchen sollte.«

Eines der Kinder fiel hin und Gaby Dederichs musste die Unterredung kurz unterbrechen. Ihr Kollege eilte herbei und nahm ihr die Aufgabe ab, sich um den kleinen Jungen zu kümmern. Das Kind hatte zu weinen begonnen, weil es nass geworden war. Der Erzieherkollege verschwand mit dem Jungen im Bauwagen und Gaby Dederichs wandte sich wieder an die Polizisten. »Wissen Sie, Ralf war sehr schwierig. Die ersten Monate mit ihm beanspruchten die Kräfte meines Mannes und mir dermaßen, dass wir schon aufgeben wollten. Aber nach und nach ging es besser. Teilweise hat er etwas Vertrauen zu uns aufbauen können. Nur was er mit seinen Freunden so treibe, ginge uns nichts an und erst recht nichts, was seine Freundin betraf. Darüber wollte er nicht mit uns reden. Wahrscheinlich haben die meisten Teenies in der Pubertät keine Lust, mit den Eltern über ihre Privatsphäre zu sprechen. Wo die beiden sich getroffen haben, was sie zusammen unternommen haben, weiß ich leider nicht.«

»Frau Dederichs, Ralf hat keine einfache Geschichte. Einiges ist uns bekannt. Auch, dass er bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, unter anderem wegen Gewaltdelikten. War Ihr Pflegesohn immer noch bereit, Gewalt anzuwenden?«, wollte Beltel wissen.

Gaby Dederichs seufzte. »Die Erzieher im Heim sind überhaupt nicht mehr mit ihm klargekommen. Dort hätte wahrscheinlich bald wieder die Jugendstrafanstalt angestanden und wie gesagt, waren auch mein Mann und ich anfangs total überfordert. In den ersten Monaten wollte ich so wenig wie möglich mit dem Jungen alleine bleiben. Von mir hat er sich überhaupt nichts sagen lassen. Das war schon frustrierend. Wenn Sie definitiv nach Gewalt fragen, dann muss ich sagen, dass ich anfangs auch Angst vor ihm hatte. Ralf war sicher ein ganz schwieriges Kind, aber es hat eine – für seine Maßstäbe – enorme Entwicklung stattgefunden. Mein Mann und ich haben da echt was hingekriegt. Aber sicherlich lag es auch an diesem Medikament. Ich war eigentlich dagegen, dass Kinder so ein Zeug nehmen. Dennoch gab ich nach, denn die Ärzte hatten bei Ralf dieses so genannte ADHS diagnostiziert und ihm Ritalin verschrieben. Wie gesagt, hat mir das anfangs gar nicht gefallen, dann aber sah ich ein, dass etwas geschehen musste. Und ja, dieses Medikament hat wirklich eine extreme Änderung herbeigeführt.«

Funks Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »ADHS?«, hakte er nach.

»Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. So genannte Hyperaktivität. Kinder, die extrem den Unterricht stören und durch Ritalin dann viel ruhiger werden«, erklärte Beltel.

»Stimmt«, fuhr Gaby Dederichs fort. »Aber die Ursachen für diese Diagnose sind seelischer Art. Das Medikament hilft den Kindern, besser in ihrer Umwelt zu funktionieren. In ihrer Seele sind sie aber trotzdem weiter leidende Wesen. Sie müssen wissen, dass Ralf von seinem leiblichen alkoholkranken Vater sehr viel Prügel einstecken musste. Im Heim hat er im Prinzip auch einiges über Faustrecht kennengelernt. Sich nichts gefallen lassen und zuschlagen, bevor der andere zuschlägt, das war lange sein Motto. Aber nach einiger Zeit bei uns ist er wieder in die Schule gegangen, und die Lehrer haben uns nicht einmal wegen einer Prügelei oder Ähnlichem kontaktiert.«

»Wussten Sie, dass Ralf von dem Ermordeten dabei erwischt worden ist, dass er Jäger-Hochstände verwüstet hat und deshalb von ihm zusammengeschlagen wurde?«, erkundigte sich Funk.

Die Erzieherin war betroffen. »Ich habe seine Nase und die geschwollene Lippe gesehen und sein blutiges Sweatshirt in der Wäsche gefunden. Er hat mir gesagt, er sei hingefallen. Ich habe nicht weiter nachgehakt. Sicher war ich besorgt und hatte die Befürchtung, dass da was anderes vorgefallen ist. Aber ich wusste, dass Ralf nichts weiter dazu sagen würde.«

Der Erzieher kam mit dem kleinen Jungen wieder aus dem Bauwagen. Das Kerlchen hatte frische Sachen an und rannte sofort wieder freudestrahlend zu seinen Spielkameraden. Beltel ahnte, dass auch die frische Kleidung nicht lange trocken bleiben würde und lächelte in sich hinein. Dann kam er zu der Frage, die ihm am Herzen lag: »Frau Dederichs, könnten Sie sich vorstellen, dass Ralf für die Prügel, die er bezogen hat, Rache genommen haben könnte?«

Die Frau zögerte kurz. Dann klang ihre Antwort umso entschlossener. »Herr Beltel, Ralf ließ sich nichts gefallen, und er reagierte auf Gewalt mit Gegengewalt. Aber kaltblütig jemanden ermorden? Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Er konnte in enorme Wut geraten. Insofern wäre es möglich, dass er im Affekt reagiert hätte. Dennoch traue ich es ihm nicht zu, einen Racheakt über Tage zu planen und dann mit einem Mord in die Tat umzusetzen.«

»Aber was glauben Sie, weshalb Ralf nun abgehauen ist?«

»Wie Sie wissen, hat Ralf in der Vergangenheit schon Be-kanntschaft mit der Polizei gemacht, und er hatte noch dieses Misstrauen, dass man ihm immer nur was anhaben wollte. Wahrscheinlich hat er erfahren, dass Sie nach ihm gefragt haben. Ich kann mir denken, dass er Panik bekommen hat, weil Sie ihm sowieso nicht glauben würden und dann seine Bewährung futsch wäre.«

»Hat Ihr Mann Waffen im Haus? Oder wissen Sie von Nachbarn, bei denen Ralf ein Gewehr geklaut haben könnte? Hatte Ralf sonst irgendwie Kontakt zu Waffen, war er vielleicht in einem Schützenverein?«

Die Erzieherin schüttelte vehement den Kopf. »Mein Mann hasste Waffen und in unserer Nachbarschaft ist mir niemand bekannt, der ein Gewehr besitzt. Und zu Ihrer dritten Frage: Ralf war nicht in einem Schützenverein, und ich kann mir nicht denken, dass er jemals mit einem Gewehr geschossen hat.«

Beltel nickte und lächelte freundlich. »Wir danken Ihnen für Ihre ehrliche Auskunft, Frau Dederichs. Sie wissen sicher, dass Sie einen weiteren Mann namens Klötsch, der Nirbach geholfen hat, Ralf zusammenzuschlagen, anzeigen können? Ich an Ihrer Stelle würde dies tun.«

»Eine Anzeige ist erst mal nicht das Wichtigste. Die können wir in die Wege leiten, sobald Ralf wieder da ist. Ich hoffe nur, dass ihm nichts passiert ist.« Die Erzieherin begleitete die beiden Polizisten zum Ausgang des Kindergartengeländes. Beltel und Funk verabschiedeten sich und begaben sich in die Richtung ihres Wagens.

Der Poet

Er war schon lange nicht mehr in so einem Waldgebiet gelaufen. Er hatte nicht vor, sich noch einmal richtig in Form zu bringen. Diese Art von Ehrgeiz wäre sinnlos. Es ging nur um dieses herrliche Gefühl der Freiheit beim Laufen, das er lange vermisst hatte. Die frische Luft, fernab von Verkehrsstraßen. Die Ruhe des Waldes und die Erinnerung an den militärischen Drill, der ihm vor langer Zeit so viel gegeben hatte. Außerdem hatte er vor diesem kleinen Lauf die Aufgabe eines Boten erfüllt. Eine Nachricht hinterlassen. Verschlüsselt, aber klar genug, um ein wenig Licht in eine Angelegenheit zu bringen, die ihm seit Langem am Herzen lag. Er grüßte die beiden Männer, von denen er wusste, dass sie Polizisten waren und er war sicher, dass sie seine verschlüsselte Nachricht als richtige Spur deuten würden. Etwas schneller trabte er in die Frische des Waldes.

Außerhalb einer größeren Stadt wie Bonn sind die Menschen in der Regel freundlicher, dachte Beltel mit einem Blick auf den Sportler. Deshalb lebte er auch in Altenahr. Dort waren sogar die großstädtischen Kegelclubtouristen freundlich, besonders, wenn sie besoffen und ausgelassen waren.

Noch wenige Meter vom Auto entfernt, glaubte Beltel an ein Knöllchen. Aber beim Näherkommen sah der Zettel unter der Windschutzscheibe nicht nach etwas Amtlichem aus. Funk hatte ihn zuerst in der Hand. Er entfaltete das Blatt vor den Augen seines Vorgesetzten und las laut:

Der Jäger jagte nicht nur das Tier

Auch Frauen gehörten in sein Revier

Da war ein schönes Mädchen aus Polen

Dem hat er die Unschuld gestohlen

Das arme Mädchen wurde schwanger

Der Jäger wollte nicht an den Pranger

Ivonna Martiniak pflückte Erdbeeren in Loch

Wahrscheinlich tut sie das immer noch

Funk sah Beltel fragend an. »Was für ein Poet hat uns denn dieses Gedicht untergejubelt?«

Beltel war überfragt. Reimen konnte die Person, aber als Poet wollte der Kriminalhauptkommissar sie nicht unbedingt betiteln.

»Da will uns offensichtlich jemand etwas über Nirbach mitteilen.«

»Meinst du wirklich?«

»Es scheint mir, dass wir die Zeilen ernst nehmen sollten.«

Funk nahm ein Tütchen aus dem Handschuhfach und steckte den Zettel dort hinein. »Ja und, was nun?«, wollte er wissen.

»Fahren wir nach Loch. Dort arbeiten polnische, rumänische und Menschen anderer osteuropäischer Nationalitäten als Saisonarbeiter. Fragen wir mal nach einer Ivonna Martiniak. Lassen wir die Kollegen weiter nach Ralf Schmitter suchen. Heute Nachmittag können wir noch mal mit seinen beiden Kumpeln reden, aber du glaubst doch auch nicht, dass der Junge dahintersteckt?« Beltel hatte schon die Wagentür geöffnet und stieg ein.

»Warum ist er dann abgehauen? Das sieht doch sehr nach einem schlechten Gewissen aus. Außerdem war er kein pubertierendes Bürschchen mehr, Manfred. Bei so einer Vergangenheit hat eine ganz andere Entwicklung stattgefunden als bei einem Kind aus normalen Verhältnissen. Wie oft ist es in der letzten Zeit vorgekommen, dass Jungen in seinem Alter dutzendweise Mitschüler und Lehrer abgeballert haben?« Funk war ebenfalls eingestiegen. Vor ihnen ging eine Frau mit einem Dackel an der Leine in Richtung Wald.

Beltel musste wegsehen. »Die Kollegen von der Spurensicherung gehen trotz weniger Anhaltspunkte davon aus, dass der Schuss aus etwa zweihundert Metern abgegeben wurde. Das heißt, der Täter muss mindestens hundert Meter von der Lichtung entfernt und dicht von Bäumen umgeben gewesen sein. Nirbach befand sich zwar auf der Lichtung, aber dennoch, da muss man erst mal einen Standpunkt finden, der einigermaßen freie Sicht und Flugbahn erlaubt. Hat man den, muss man die Konzentration eines Schachweltmeisters beibehalten. Ich habe beim Bund nicht viele Scharfschützen kennengelernt, die so etwas hingekriegt haben. Wir kennen zwar den Gewehrtyp noch nicht, aber es handelt sich in jedem Fall um eine Präzisionswaffe. Da kommt man nicht leicht ran. Also erstens traue ich einem fünfzehnjährigen, an der Waffe unausgebildeten Jungen so einen Schuss nicht zu und zweitens glaube ich auch nicht, dass er sich so ein Gewehr besorgt haben könnte.«

»Okay, Manfred, gehen wir diesem mysteriösen Gedicht nach und fahren nach Loch. Dennoch sollten wir keine Scheuklappen anziehen. Auch wenn ich deine Überlegung nachvollziehen kann, unser Hauptaugenmerk sollte trotzdem auf Ralf Schmitter liegen.«

»Früchte des Zorns«

Kurz hinter Rheinbach begannen die Hügel. Willkommen in der Eifel, hieß es hier für die Flachländer. Es war sonderbar. Plötzlich befand man sich in einer vollkommen anderen Landschaft. Irgendwie hatte man das Gefühl, als würden hier die Uhren anders ticken.

Nach fünf Kilometern Waldstrecke erblickte man Loch in einem Tal. Die Hütten, in denen die Erdbeerpflücker untergebracht waren, befanden sich oberhalb von Loch, einem Teil, der sich Queckenberg nannte. Hinter der Kreuzung, an der es rechts nach Flamersheim und Euskirchen und links nach Altenahr ging, wand sich die Straße durch einen relativ neuen Dorfteil nach oben.