Tod gelacht - christine becker-schmidt - E-Book

Tod gelacht E-Book

Christine Becker-Schmidt

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Beschreibung

Eine tote nackte Frau wird an einem kalten Herbsttag blutleer am kleinen Leuchtturm an der Mole des Emder Außenhafens gefunden. Als die Kommissarin Josefine Herbst, gemeinsam mit ihrem Ex-Mann und Kollegen Friedjof Winter, den ersten Blick auf die Tote wirft, hat sie das Gefühl an etwas erinnert zu werden, was ihr aber partout nicht einfallen will. Erst die Recherchen ihres Emder Ermittlungsteams bringen sie letztlich darauf, wann und wo sie von einer ähnlichen Tat schon mal gehört hatte.

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Inhaltsverzeichnis

Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7

Ein halbes Jahr später

Nachwort

Die Autorin

»Test, Test, Test … Ah, es funktioniert. Das ist gut. Wer diese Sprachaufzeichnungen anhört, riskiert, sein Bewusstsein zu verändern, denn Sie hören das Bekenntnis eines Mörders. So hoffe ich jedenfalls. Gut, ich habe Sie gewarnt und Sie haben sich dafür entschieden …

Vor einer Woche erhielt ich die niederschmetternde Diagnose, dass meine Dauerkopfschmerzen durch einen irreparablen Tumor in meinem Kopf entstehen und dass dieser mich umbringen wird. Ich finde, der Zeitpunkt der Feststellung wurde von meinem Körper ausgezeichnet gewählt. Solche Nachrichten passen perfekt in den grauen regnerischen Herbst. Die Prognose lautet: Ohne Strahlentherapie lebe ich noch ein Jahr, mit Therapie vielleicht noch drei Jahre. Mein Arzt sprach sanft und versuchte mich zu trösten. Ich bin aufgestanden und stumm aus seinem Zimmer gegangen. Drei Jahre … Das ist nichts, das geht sehr schnell. Ich rechnete … 2022 würde ich vielleicht gerade noch schaffen. Können Sie sich vorstellen, was dieses Todesurteil auslöst? Nein! Ganz sicher nicht! Nur wahres Erleben beschert Ihnen wahrhaftige Erkenntnis. Wie viel von dieser Zeit werde ich noch mit Verstand erleben? Wie lange werde ich noch normal sein? Solche und ähnliche Gedanken gingen mir einige Tage wie eine Dauerschleife durch den Kopf. Dann geschah etwas Seltsames. Mein nahender Tod machte mir ganz plötzlich klar, dass mir in meinem Leben eine wesentliche Erfahrung fehlt. Wissen Sie, ich war zeitlebens langweilig, unscheinbar, angepasst, ordentlich und staatstreu. Was ich meine, ist, mir fehlt die Erfahrung, die Seiten zu wechseln. Die dünne Haut der Zivilisation zu durchbrechen und die Bestie herauszulassen. Das unerlaubte Böse in mir habe ich nie zugelassen. Jetzt, wo ich am Ende angekommen bin, will ich diese Seite meines Wesens unbedingt kennenlernen. Immerhin, mir bleibt dafür noch Zeit. Das empfand ich wie einen Wink des Schicksals. Ich musste eine Weile überlegen, wie ich diese Erfahrung erleben könnte. Es ist nicht leicht, jemand anderes zu werden als man ist. Dann habe ich entschieden. Ich möchte, nein, ich werde schlechte garstige Menschen mit dem Tod bestrafen. Da bleibe ich mir annähernd treu. Ich bin dann zwar böse, tue aber Gutes. Es soll mir ein Genuss sein, Macht über widerwärtige Menschen zu erlangen, sie in Angst zu versetzen, zu quälen und letztlich zu ermorden. Damit müsste ich in der Lage sein, das Böse in mir aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken. Seltsam, seitdem ich dieses Ziel formuliert habe, fühle ich neue Kraft in mir. Es gibt meinem Leben einen bedeutsamen Sinn. Sie werden sagen, es zu wollen, ist das eine, das andere, es zu tun. Sie haben recht. Ich werde das Morden üben müssen. Ich weiß auch schon wie …«

Die alte Dame lag regungslos in ihrem Bett und starrte auf das Blumenmuster der Tapete auf der anderen Seite des Zimmers. Sie hatte die kleinen hellblauen Blüten, die sie mit ihren Augen sehen konnte, schon hunderte Male im Kopf gezählt. An trüben Tagen ebenso wie bei Sonnenlicht, das manchmal durch die Scheiben des Fensters fiel und ihr Gesicht wärmte. Sie wusste nicht, welcher Tag war, welche Stunde oder welches Jahr und sie wusste nicht mehr, wie lange sie schon so lag. Mehrmals am Tag kamen Frauen in weißen Kitteln in ihr Zimmer, um sie zu waschen, sie zu füttern oder ihre Beutel zu leeren. Diese sprachen mit freundlichem Ton auf sie ein. Sie hörte sie reden und bemerkte das Oberflächliche in ihren Worten, wollte aber nicht antworten und darauf hinweisen. Sie hatte entschieden, alles hinzunehmen. Es war ihr bewusst, dass ihr Körper lebendig verfallen würde, denn der Kopf konnte noch denken, mehr aber nicht mehr. Nichts konnte sie tun als die kleinen hellblauen Blüten der Tapete zu zählen. Es waren in ihrem Blickfeld zweihundertsiebenundzwanzig Blüten. Das wusste sie und trotzdem zählte sie immer wieder aufs Neue. Allerdings musste sie einige von ihnen schätzen, denn mitten in ihrem Blickfeld auf der Tapete hing ein gerahmtes Foto und die Blüten dahinter konnte sie dadurch nicht sehen. Auf dem Foto war sie als junge Frau festgehalten worden. Sie hielt die Hand eines kleinen Jungen, der auf einem Tisch saß und die Beine baumeln ließ. Es war ihr Sohn. Jedes Mal, wenn sie das Bild sah, erinnerte sie sich daran, dass es schwierig gewesen war, das Kind für das Foto zu bändigen. Er hatte viel lieber in dem kleinen Garten hinter dem Haus spielen wollen als mit ihr fotografiert zu werden. Es hatte lange gebraucht, die Tränen in seinem Gesicht zu entfernen und ihn zum Lächeln zu bewegen. Heute war er längst ein erwachsener Mann und kam nur noch sehr selten zu Besuch. Sie vermutete, dass er es nicht ertragen konnte, ihr beim langsamen Sterben zuzusehen. Vielleicht war er aber auch nur zu beschäftigt mit seinem eigenen Leben. Er war ein Eigenbrötler geworden, hatte keine Familie und vermutlich keinen Spaß. Sie hatte oft überlegt, warum das so war. Er erklärte ihr immer wieder auf ihre Fragen, dass er glücklich und zufrieden sei und sie sich um Gottes Willen um ihn nicht sorgen müsse. Sie tat es trotzdem. Er war ihr fremd und sogar ein bisschen unheimlich.

Sie begann die Blüten zu zählen. Bei der hundertachtunddreißigsten Blüte öffnete sich die Tür.

»Wer ist da?«, fragte sie vorsichtig.

»Ich bin es, Mutter, dein Sohn.«

»Du? Ich freue mich. Komm bitte in mein Blickfeld, dass ich dich sehen kann.«

Er tat ein paar Schritte und beugte sich über sie. »Es wird dir nicht gefallen, was ich dir zu sagen habe, oder sagen wir lieber, was ich vorhabe.«

»Ist es schlimm? Ist irgendetwas passiert?«

»Ja, Mutter, es ist etwas passiert. Ich habe entschieden, mein Leben zu ändern und du wirst mir dabei helfen müssen.«

»Ich soll dir helfen? Wie soll das gehen? Den Zugriff auf mein Geld hast du längst und zu irgendetwas anderem bin ich doch nicht mehr in der Lage.« Sie blickte in seine Augen und erschrak über die Kälte, die sie darin sehen konnte.

»Doch, Mutter, das bist du. Denk dir, ich muss lernen, einen Menschen zu töten.«

»Was? Was redest du da?«

Sie spürte, dass er sich an der Kanüle an ihrem Arm zu schaffen machte.

»Was tust du da?«, fragte sie ängstlich.

»Es wird schnell gehen, Mutter, glaube mir. Ich will nur lernen, diese Hemmung zu überwinden. Einem Menschen das Leben zu nehmen, ist nicht so einfach. Aber wenn man es einmal gemacht hat, sollte es leichter werden. Ich sehe dir doch schon ewig beim Sterben zu. Jetzt wird es nur schneller gehen. Es ist ein großer Gefallen, den du mir erweist. Ich danke dir.«

»Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?« Sie blickte voller Angst auf die blauen Blüten der Tapete, die vor ihren Augen langsam undeutlich wurden. »Was hast du getan? Mir schwinden die Sinne«, brachte sie mit letzter Kraft hervor.

»Ich liebe dich, Mutter.« Es waren die letzten Worte, die sie hörte, als es dunkel und still wurde.

»Wir haben Dezember 2019. Meine Mutter wurde beerdigt, sie erlebte die Festtage nicht mehr. Ich half ihr hinüber und dafür ist sie mir dankbar, denke ich. Mit ihrem Tod hat sie mir ein letztes Mal geholfen, denn ich wusste jetzt, dass ich des Mordens fähig bin. Leider tauchte danach ein weiteres kleines Problem auf: Wen wähle ich für meine Mission aus? Es soll sich um grausame Menschen mit schlechtem Charakter handeln. Wie erkenne ich einen solchen Menschen? Das war gar nicht so einfach zu entscheiden. Es kommt schließlich auch immer auf die Perspektive desjenigen an, der es beurteilt. Wie denken Sie darüber? Sind es die Erfolgreichen, die für die Karriere über Leichen gehen, wie der Volksmund sagt? Sind es die stillen Unscheinbaren, die harmlos tun und zu Hause ihre Kinder quälen? Sind es die Lügner, Heuchler und Korrupten der Politik? Was zeichnet einen schlechten Charakter aus? Irgendwann hatte ich einen rettenden Gedanken. Ich erinnerte mich an meine schmerzlichen Erfahrungen mit Grausamkeit, die ich in meiner Jugend in der Schule gemacht hatte. Einige meiner Mitschülerinnen und Mitschüler waren ekelige Kinder, mit fiesen Methoden, die anderen hereinzulegen und zu quälen. Wissen Sie, ich glaube nicht an Läuterung, ohne dass wirklich einschneidende Strafmaßnahmen das schlechte Gewissen hervorrufen. Wer schon als junger Mensch die Schwächeren quälen kann, wird dies auch als Erwachsener noch können und mit großer Wahrscheinlichkeit auch tun. Ein Charakter wird sich nicht ändern. Der Anführer der Quälgeist-Bande meiner Jugend hieß Alfred Stransky. Vermutlich heißt er auch heute noch so. Ihn habe ich als erstes Opfer ausgewählt. Wissen Sie, das Internet ist wirklich eine hervorragende Errungenschaft und sehr hilfreich … Ich habe Alfred Stransky ganz einfach finden können. Er lebt jetzt in Oldenburg, ist Versicherungsvertreter und verheiratet mit Beate Stransky. Kinder hat das Paar keine. Seit einigen Wochen beobachte ich seinen Tagesablauf. Nach ersten Erkenntnissen dürfte er seinen schlechten Charakter noch optimiert haben. Sein Leben ist gewöhnlich. Büro, Fitnesscenter, Friseur, Geschäftsessen, Kneipe, ab und zu Theater und selbstverständlich eine erheblich jüngere Freundin. Blond versteht sich. Diese arbeitet passenderweise in seiner Agentur. In Kürze ist Weihnachten. Ich bin gespannt, wie er den Spagat zwischen den Erwartungen seiner Frau und seiner Freundin lösen will. Bei ihm zu Hause habe ich während meiner Observierung schon mehrfach heftige Streitereien beobachten können. Häufig verlässt er seine Frau in solchen Situationen und verbringt die Nacht bei der anderen. Ich gehe davon aus, dass die Ehe vor dem Ende steht. Allerdings ist seine Frau sehr vermögend und auch die imposante Stadtvilla am Schlosspark stammt aus ihrem Erbe. Ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn ihm das nicht schwerfallen würde, im Falle der Trennung darauf zu verzichten. Heute hat er ein Anwaltsbüro besucht. Dort war er seit meinen Beobachtungen zum ersten Mal. Könnte berufliche Gründe haben, könnte aber auch meine Vermutung bestätigen. Ich überlege, ob ich ihm den Stress mit den beiden Frauen zur Heiligen Nacht abnehme und ihn schon vorher ermorde. Das würde ihm viel Ärger ersparen. Günstig wäre es, ihn bei einer seiner nächtlichen Fluchten nach einem Streit abzufangen. Seine Frau würde ihn nicht so schnell vermissen und die andere Schickse wüsste gar nichts davon. Guter Plan, so werde ich es machen, ich muss nur noch ein paar Dinge besorgen.«

»Alles ist vorbereitet. Ich warte nun schon die dritte Nacht vor seinem Haus auf eine Gelegenheit. Bisher blieb alles ruhig. Heute ist er erneut bei dem Anwalt gewesen. Mein Kopf schmerzt. Das könnte allerdings auch die Anspannung sein, muss gar nichts heißen. Man begeht ja nicht jeden Tag einen Mord. Irgendwie freue ich mich darauf. Ich habe Alfred Stransky als junger Mensch gehasst. Er verkörperte alles, was ich niemals sein konnte. Er war gutaussehend, sportlich, hatte beste Schulnoten und vor allem scharenweise Mädchen, die hinter ihm herliefen wie läufige Hündinnen. Der Inbegriff des Rudelführers. Das hätte ihn auch sympathisch machen können. Ihm ist es aber zu Kopf gestiegen. Er fühlte sich allmächtig und ließ es alle anderen spüren. Die meisten unterwarfen sich einfach. Das wollte ich nicht. Kein Wunder also, dass mich sein Zorn traf. Um seinen Bestrafungen zu entgehen, blieb mir nichts anderes übrig, als unsichtbar zu werden. In beständiger Anspannung ging ich zur Schule. Immer im Bewusstsein der Gefahr, ihn ungewollt zu provozieren und damit seinen Reaktionen ausgesetzt zu sein. Wen mag es da wundern, dass meine Schulnoten in dieser Zeit nicht die allerbesten waren. Das machte meinen Vater wütend. Der war als junger Mann Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen. Diese Erlebnisse haben ihn vermutlich geprägt. Meine Mutter war erheblich jünger als er. Er war hart zu ihr und zu mir. Ich habe ihn niemals lachen sehen. Mein Schulversagen hatte harte Strafen zur Folge. Schläge mit Riemen, Essensentzug und tagelanger Hausarrest. Ich war zu feige, meinem Vater die Ursachen meines Schulversagens zu beichten. Sicher hätte er mich für meine Schwäche noch einmal bestraft. Ja, ich habe Alfred Stransky gehasst. Es war jener Hass des Ausgelieferten, des schweigenden Schmerzes. Eine tiefe Verbitterung. Jetzt sitze ich hier in meinem kalten Auto und beobachte seine wunderschöne weiße Villa. Das Wohnzimmer erstrahlt in fantastischer Weihnachtsbeleuchtung. Funkelnde Lichterketten zaubern eine warme Atmosphäre in eine eisige Umgebung. Seine Frau ist aufgesprungen. Oh, sie schmeißt mit einem Weinglas nach ihm. Er bleibt auf dem Sofa sitzen. Jetzt läuft sie hektisch im Raum auf und ab. Sie weint und scheint zu schreien. Er steht auf. Er lacht. Sie wirft sich ihm an den Hals. Selbst jetzt, wo sie vermutlich erfahren hat, dass er längst seine Pläne ohne sie macht. Wie ist es möglich? Er schüttelt sie ab. Sie läuft aus dem Zimmer. Ich weiß es, gleich wird er sie für diese Nacht verlassen. Ich mache mich fertig und warte.«

»Ich sitze in Alfred Stranskys Auto vor einem von mir gemieteten Schuppen im Hafengelände Oldenburgs. Es hat alles bis hierher geklappt. Wie ich vermutet hatte, kam Alfred kurze Zeit später aus dem Haus. Er hatte einen Koffer dabei. Dies sollte wohl sein Abschied für immer werden. Nur ich wusste zu dem Zeitpunkt, dass es wirklich so kommen würde. Kurz bevor er in sein Auto stieg, habe ich ihn angesprochen. Er hat mir genau in die Augen gesehen, als ich ihn mit dem Elektroschocker außer Gefecht setzte. Er sackte zu Boden. Als ich ihn aufhob, um ihn in seinem Auto auf die Rücksitzbank zu legen, sah ich, dass er verletzt war. Blut tropfte auf die Pflastersteine. Seine Frau muss mit einem Messer versucht haben, ihn aufzuhalten. Es war sein Arm, den sie erwischt hat. Damit hätte er eigentlich ins Krankenhaus gemusst. Ich spritzte ihm das Morphin, das mir mein Arzt vorausschauend verschrieben hatte. Das würde nicht nur ihn, sondern auch seine Schmerzen ausschalten. Auf diese Weise ist mein Gehirntumor doch noch zu etwas nützlich. Ich steckte ihm einen Knebel in den Mund und klebte ihm mit Panzerband Arme und Beine zusammen. Genau wie man es in einem Krimi immer sieht. Als ich mit seiner Luxuskarosse hierherfuhr, war ich nahezu euphorisch. Was für ein Gefühl! Der Alfred Stransky, der Wahnsinnstyp, betäubt in seinem eigenen Wagen, kurz vor seinem Tod.

Ich habe nicht im Entferntesten geahnt, wie schwer ein Mensch sein kann, wenn er wie ein nasser Sack an einem hängt. Es war für mich unmöglich, ihn die paar Schritte bis zum Schuppen zu tragen. Kurz geriet ich in Panik, doch dann fiel mir ein, dass ich in dem dreckigen Raum eine Schubkarre gesehen hatte. Ich ging sie holen. Das machte es einfacher und es gelang mir, ihn in das Gebäude zu bringen. Ich setzte ihn auf den Stuhl mitten im Raum und machte ihn mit Kabelbindern an seinem Sitz fest.

Über ihm leuchtet jetzt eine helle Halogenlampe. Ich mache es mir, ihm gegenüber, in meinem Sessel bequem und warte. Mir wird nicht entgehen, wenn er zu sich kommt. Auf der alten Werkbank hinten im Schuppen liegen die Spritzen und Schläuche, die ich gleich brauchen werde, um sein böses Blut aus ihm zu entfernen. Ich werde ihn innerlich reinigen. Oberhalb der Werkbank hängt eine große Bahnhofsuhr, die immer noch läuft. Der Vormieter des Schuppens hat sie wohl hängen lassen. Ich beobachte den Sekundenzeiger, wie er langsam voranschreitet. Mein Gefühl ist großartig. Nie zuvor in meinem Leben war ich so lebendig, so sehr in der Gegenwart und so wach, obwohl ich einfach nur dasitze und warte.

Zwei Stunden sind vergangen. Ich sehe, dass er sich bewegt. Langsam kommt er zu sich. Er öffnet die Augen und schaut mich an. Ich sehe die pure Angst. Er versucht tatsächlich, sich zu befreien und zerrt an den Fesseln. Dazu macht er stammelnde Geräusche. Wie sinnlos. Ein hilfloses Häufchen Elend. Ich deponiere mein Handy auf dem Tisch an der Wand und lasse das Diktiergerät für die Aufzeichnung laufen. Können Sie ihn hören? Er klingt wie ein Tier kurz vor dem Schlachten. Ich hole jetzt die Nadel mit dem Schlauch und die Unterdruckflaschen. Beides deponiere ich neben ihm. Sein Wimmern wird lauter. Ich werde innerlich ruhiger und spreche mit ihm.

Ich denke, jetzt weißt du, was ich vorhabe, nicht wahr? Lass mich dein Gesicht streicheln … Ich werde das Böse aus dir entfernen. Leider kannst du das nicht überleben. Gib es auf, dich zu wehren.

Langsam führe ich nun die Nadel in seine Vene. Ich schließe den Schlauch und die erste Unterdruckflasche an. Er hat keine Chance. Das Blut beginnt aus seinem Körper herauszufließen. Auf dem kleinen Regal hinter mir habe ich einen alten CD-Player abgestellt. Ich drücke die Taste und starte die Musik. Samuel Barbers Adagio for Strings habe ich für seinen Tod ausgewählt. Jetzt setze ich mich in meinen Sessel und werde das Schauspiel genießen. Es ist zu verlockend. Ich muss doch nochmal zu ihm sprechen.

Alfred Stransky, du warst so ein schlechter Mensch. Schon als Teenager hast du schwächere Jugendliche gequält, ausgenutzt und dich ihrer entledigt, wenn sie dir nicht mehr nützlich waren. Deine Frau hast du betrogen, deine Kunden und deine Geliebte auch. Aufrichtigkeit, Treue, Loyalität, Barmherzigkeit und Empathie sind dir vollkommen fremd. Du benutzt sie nur bei anderen für deinen Vorteil. Das hat jetzt ein Ende. Hörst du die schöne Musik? Genieße die letzten Klänge deines Lebens. Hör doch auf zu zappeln. Wenn du dich so heftig bewegst, schlägt dein Herz schneller und pumpt auch schneller das Blut aus dir heraus. Siehst du, so ist es besser. Entspann dich. Schon bald wirst du schlafen, während ich noch den letzten Tropfen deines bösen Blutes aus dir herausquetschen werde. Ach, schau an, jetzt weinst du. Das tut mir nicht leid. Erinnerst du dich an mich? Ich bin der, dem du auf der Klassenfahrt in der Nacht das warme Wasser über den Arm gegossen hast, sodass ich mein Bett eigenässt habe. Ja, ihr hattet euren Spaß. Anke Weber, Herbert Dahlen, Ralf Lüthers, Marion Bergmann und du. Was habt ihr gelacht über mich. Doch jetzt, Alfred Stransky, jetzt lache ich. Ha ha ha …

Ich sehe, er hat begriffen, dass es kein Entrinnen mehr gibt. Ich tausche die Flasche. Er ergibt sich seinem Schicksal und wartet, genau wie ich. Schade, dieser wunderbare erschrockene Blick, als ihm klar wurde, wer ihm das antut, wer ihn tötet, ging viel zu schnell vorüber. Er sieht sehr blass aus und dämmert schon hinweg. Ich wüsste gerne, ob er froh ist, dass es jetzt bald vorbei ist oder ob er sich bis zuletzt an das Leben klammert und immer noch hofft. Die Angst scheint aus ihm gewichen zu sein. Auch das Böse ist nicht mehr sichtbar. Er wirkt jetzt wie ein unschuldiges Kind. Ich danke dem Herrgott für meinen Hirntumor. Ohne meine Erkrankung wäre ich niemals im Leben in diesen Genuss gekommen. Das Blut tropft jetzt nur noch. Sein Herz hat alles herausgepumpt was möglich war, bevor es aufgab. Ich fühle vorsichtshalber, aber: er hat tatsächlich keinen Puls mehr. Er ist tot. Merkwürdig, jetzt fühle ich mich leer. Das ist das Traurige an der Freude. Sie vergeht zu schnell. Es sind immer nur Momente im Leben. Kurze Sequenzen, die so schnell weg sind wie sie kommen. Nichts lässt sich festhalten. Ich löse Alfred Stranskys Fesseln und hebe ihn schwerfällig in eine Tiefkühltruhe. Können Sie meine Anstrengung hören? Das laute Geräusch gerade war nur sein Körper, wie er in die Truhe hineinplumpst. Jetzt muss ich nur noch in Ruhe meinen Schuppen aufräumen. Sein böses Blut gieße ich in den Ausguss des schmutzigen Waschbeckens. Vielleicht trinken es die Ratten des Hafens. Gleich werde ich zu Fuß noch einmal zu seiner Villa müssen, um mein Auto abzuholen. Zu Hause werde ich mir einen Sekt gönnen und auf diesen Moment trinken. Mein Mord war ein voller Erfolg. Ich beende jetzt die Aufzeichnung von Alfred Stranskys Tod.«

Tag 1

Josefine Herbst saß frühmorgens in ihrem Büro in Leer und schaute gedankenversunken in die Ostfriesen-Zeitung auf ihrem Schreibtisch. Auch die Schlagzeilen Ende Oktober 2021 bezogen sich immer noch fast ausnahmslos auf die Corona-Pandemie. Wieder ansteigende Infektionszahlen, die Möglichkeit einer vierten Welle und ein Diskurs über zu treffende Gegenmaßnahmen, weitere Impfkampagnen und einen womöglich drohenden Lockdown beherrschten den Journalismus. Nur zeitweise unterbrochen von Meldungen über die Diskussionen und Koalitionsverhandlungen der neu gewählten Ampelkoalition. Sie hatte das Gefühl, dass durch die Pandemie seit März letzten Jahres die gesamte Welt auf den Kopf gestellt war. Jedoch ging auch das normale Leben irgendwie weiter. Sie legte die Zeitung beiseite und wandte sich dem Bericht zu, den sie bis zum Ende des Tages fertiggestellt haben sollte. Ein junger Mann im Alter von zwanzig Jahren hatte seine Mutter im Schlaf mit einem Kissen erstickt. Danach hatte er die Polizei gerufen und sich ohne Widerstand festnehmen lassen. Josefine Herbst hatte ihn verhört. Es gab keinen Zweifel, er war der Täter, aber er schwieg beharrlich über das Motiv. Es war nicht aus ihm herauszubekommen, warum er seine Mutter tötete. Wenn er weiterhin schweigen würde, hätten auch kein Verteidiger oder Richter die Chance, mildernde Umstände geltend machen zu können. Es blieb ein geplantes brutales Verbrechen. Dafür würde er eine lange Strafe im Gefängnis verbüßen müssen. Es klopfte an der Tür.

»Kommen Sie bitte rein«, rief Josefine Herbst und setzte sich ihre Mund-Nasen-Schutz-Maske auf.

»Entschuldigen Sie, Frau Herbst, darf ich kurz stören?« In der Tür stand Jule Janssen, eine ehemalige Verwaltungsmitarbeiterin, die gemeinsam mit Josefine Herbst vor der Gebietskörperreform in Oldenburg arbeitete. Wegen einer Mordanklage hatte sie eine fünfzehnjährige Haftstrafe verbüßt und war im letzten Sommer entlassen worden. Sie schützte sich ebenfalls im Gesicht mit einer Maske.

»Frau Janssen, was für eine Überraschung! Schön, dass Sie da sind. Ich wollte mich längst bei Ihnen gemeldet haben. Gerne würde ich Ihnen die Hand geben, aber Sie wissen, das geht nicht.«

»Ja, ich weiß, komische Zeiten. Ich habe Sie zuletzt gesehen, als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Sie standen mit Ihrem Auto auf der anderen Straßenseite. Warum sind Sie nicht herübergekommen?«

»Mein Ex-Mann und ich wollten nicht stören. Ihre Geschwister waren dort und der Pastor Onno de Boer. Wir dachten, es wäre nicht passend. Aber erzählen Sie mal, wie geht es Ihnen? Was machen Sie? Nach so vielen Jahren im Gefängnis ist es sicher nicht leicht, sich zurechtzufinden.«

»Ach, was soll ich sagen, es geht eigentlich. Ich habe in der Haft gelernt, oder besser: begriffen, dass ich die Vergangenheit als etwas Vergangenes annehmen muss. Viel zu viel Zeit habe ich mich nur mit meinen Erlebnissen aus der Kindheit beschäftigt. In der Therapie wird einem erklärt, dass man Muster durchbrechen sollte. Ich hatte meine Muster durchbrochen, indem ich vom passiven Leiden in aktives Zufügen von Leid gegangen bin. Das war die falsche Richtung. Heute weiß ich das.«

»Naja, der Unfalltod Ihrer kleinen Schwester, als Sie selbst noch Kind waren, war schon schlimm, aber dann am gleichen Tag noch einem Pädosexuellen zu begegnen, das ist heftig. Ich kann schon verstehen, dass solche Kindheitserfahrungen ein Trauma hervorrufen. Hat es Ihnen geholfen, dass Sie all diese Erlebnisse aufgeschrieben haben? Ist das Buch eigentlich schon auf dem Markt?«

»Beides. Wenn nicht gerade diese Pandemie wäre, dann würde ich jetzt gerne eine Lesereise machen und in kleinen Buchhandlungen meinen ersten Roman vorstellen. Leider geht das trotz der Impfungen immer noch nicht. Die Menschen haben Sorge, sich zu infizieren und bleiben von Veranstaltungen fern. Aber Sie verharmlosen ein wenig. Ich bin nicht nur einem Pädosexuellen begegnet, ich habe ihn fast vierzig Jahre später ermordet und, wie Sie wissen, auch noch seine Helfershelfer.«

»Ja, ich weiß. Allerdings bleibt der Mord an ihrem Peiniger Erwin Paulsen eine Hypothese. Es kann durchaus Selbstmord gewesen sein. Hermann Veits war ein Unfall. Wirklich erwiesen ist nur der Mord an seinem Freund Markus Naumann und in meinen Augen ist das immer noch eine Affekthandlung gewesen, eine spontane Reaktion auf sein Verhalten, ergo wäre es Totschlag. In einem ganz entfernten Winkel meiner Seele kann ich Sie sogar verstehen, obwohl ich selbstverständlich die Eigenmächtigkeit der Taten verurteile. Lassen Sie uns das Thema wechseln … Gibt es einen Grund für Ihren Besuch?«

»Ja, den gibt es in der Tat. Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Oh, worum geht es?« Josefine Herbst wurde hellhörig. »Geld oder Wohnung?«

»Nein, keine Sorge, ich komme gut zurecht. Ich habe im Gefängnis zuletzt meine Zelle mit Beate Stransky geteilt. Ist Ihnen ihr Fall geläufig?«

»War das vor zwei Jahren ungefähr? Ich habe den Fall nicht bearbeitet. Er lag in den Händen vom Oldenburger Kollegen Böttcher. Ging es nicht um den Mord an ihrem Mann?«

»Ja, genau. Sie wurde aufgrund einer Indizienlage verurteilt. Die Leiche ihres Mannes ist bis heute nicht gefunden worden. Ich glaube ihr, wenn sie sagt, dass sie unschuldig ist.«

»Ach herrje, Sie wollen doch nicht etwa den Fall nochmal bearbeiten?«

»Doch, genau das will ich. Beate Stransky sitzt seit anderthalb Jahren im Gefängnis und sie muss noch mindestens zehn Jahre, wenn es gut läuft. Stellen Sie sich vor, was das bedeutet, wenn sie wirklich unschuldig ist. Sie hätte doch jederzeit im Prozess sagen können, dass es Notwehr war. Ihr Mann war erheblich größer und stärker als sie. Dann wäre die Strafe geringer gewesen. Sie hat aber immer wieder gesagt, dass sie mit seinem Verschwinden nichts zu tun hat und dass sie ihn nicht ermordete. Sie hat sogar zugegeben, dass sie ihn mit einem Messer verletzt hat. Aber dann wäre er gegangen.«

Josefine Herbst rief den Fall von Beate Stransky in ihrem Rechner auf. »Schauen Sie, das sieht ziemlich eindeutig aus.«

Jule Janssen stellte sich hinter Josefine Herbst und schaute mit in die Fall-Akte.

Josefine Herbst las laut vor. »Alfred Stransky sagt seiner Frau, dass er sie verlassen wird, um mit seiner zwanzig Jahre jüngeren Freundin Nora Busch ein neues Leben zu beginnen. Er hat mit seinem Anwalt erwirkt, dass seine Frau ihm die Hälfte des Geldes aller Umbau- und Verschönerungsmaßnahmen an der ihr gehörenden Villa auszahlen muss. Das waren immerhin vier Millionen. Das Geld hat sie nicht zur Verfügung, da ihre Finanzmittel alle gebunden sind. Es hätte bedeutet, dass sie eine Hypothek aufnehmen oder die Villa hätte verkaufen müssen. Es kommt zum Streit, in dessen Folge Frau Stransky ihren Mann mit einem Messer bedroht, um ihn am Weggehen zu hindern. Als er an ihr vorbeigeht, verletzt sie ihn heftig. Sie lässt das Messer fallen. Er blutet stark, nimmt aber seinen Koffer und geht. So, wie sie sagt, ist sie eine ganze Weile völlig regungslos gewesen. In einer Art Schockzustand. Dann hätte sie panisch das Haus verlassen und wäre ohne Zeitgefühl in der Kälte herumgeirrt. Nora Busch hat die ganze Nacht auf ihren Geliebten gewartet. Nachdem sie ihn telefonisch nicht erreicht, geht sie morgens zur Villa, sieht durch das Fenster das Blut und das Messer und verständigt die Polizei. Als diese eintrifft, kommt gerade Frau Stransky völlig verwirrt zu Fuß wieder nach Hause. Nachdem das Handy geortet wird, wird das Auto mit dem Gepäck von Herrn Stransky im Hafengelände gefunden. Taucher suchen nach der Leiche, die bis heute nicht aufgetaucht ist.

Ich denke, das war eine Verzweiflungstat. Wahrscheinlich wollte sie es gar nicht und glaubt auch deshalb, dass sie unschuldig ist. Es gab aber keine andere Möglichkeit der Bewertung. Ich hätte es genauso gemacht wie der Kollege und das Gericht hat es auch so beurteilt.«

»Beate sagte mir, ihr Mann habe sich in der Zeit vor seinem Verschwinden beobachtet gefühlt.« Jule Janssen ereiferte sich. »Er war Versicherungsvertreter. Vielleicht hat er irgendjemanden um viel Geld betrogen. Das wäre auch ein Motiv. In diese Richtung ist nicht ermittelt worden.«

»Okay, ich verstehe, Sie wollen diesen offenen Fragen nachgehen. Aber wozu benötigen Sie meine Hilfe?«

»Falls ich etwas Relevantes finde, was es möglich machen würde, dass der Fall wieder aufgenommen wird, müssten Sie das beantragen. Ich bin doch raus aus dem System. Mich nimmt bei der Polizei keiner mehr ernst. Es würde als Spinnerei einer verrückten Mörderin abgetan werden. Beate Stransky hat aber eine Chance verdient. Helfen Sie mir?«

Josefine Herbst zögerte. »Na gut, wenn Sie wirklich etwas finden, werde ich das tun. Versprochen!«

»Ich danke Ihnen.«

»Aber seien Sie vorsichtig und beachten Sie das Gesetz. Überschreitungen können Sie sich definitiv nicht erlauben.«

»Ich weiß.«

»Wo finde ich Sie denn eigentlich? Sind Sie in Ihre alte Wohnung gezogen?«

»Nein, die hatte ich bereits in der Haft gekündigt. Zurzeit läuft mein Antrag auf Hartz IV und ich lebe von meinen Reserven in einem kleinen Zimmer in einer schäbigen Pension. Meine Möbel stehen in einem gemieteten Container.«

»Verstehe, Sie kommen zurecht… ich könnte Ihnen trotzdem meine kleine Eigentumswohnung in Oldenburg geben. Sie wissen ja, ich habe noch ein halbes Haus in Emden.«

»Gehört das Haus in Emden immer noch Ihnen beiden? Obwohl Sie geschieden sind?«

»Ja, wir haben es behalten für unseren Sohn Jannik. Er lebt dort. Herr Winter und ich haben beide eine zusätzliche Wohnung und wechseln uns mit der Betreuung ab. Das klappt bisher ganz gut.«

Das Handy von Josefine Herbst brummte auf dem Schreibtisch. »Ach, sehen Sie, wenn man vom Teufel spricht.« Sie nahm das Gespräch an. »Ja, hallo, Herr Winter, was kann ich denn für Sie tun?«

Jule Janssen sah aus dem Fenster, während Josefine Herbst mit Friedjof Winter am Telefon sprach.

»Ja, ich komme sofort. Ist denn Inspektionsleiter Buss schon informiert? Du weißt, ich setze meinen Chef in Kenntnis, wenn ich ermittle … Okay, danke. Bitte, lasst vor Ort alles so wie es ist. Ich möchte mir selbst ein Bild machen ... Ja, schon gut, ich halte Euch nicht für Anfänger. Wir besprechen alles Weitere in Emden. Bis nachher, tschüss.«

»Ist etwas passiert?«

»Ich darf Ihnen nichts sagen, das wissen Sie. Aber ich gebe Ihnen die Schlüssel zu meiner Wohnung in Oldenburg. Fühlen Sie sich dort bitte wie zu Hause. Dann pendle ich für die nächste Zeit nur in eine Richtung. Ich muss sowieso nach Emden für Ermittlungen. Es gibt dort eine Tote.«

Als Josefine Herbst mit ihrem Auto im Emder Außenhafen ankam, winkten sie zwei Polizisten durch ein großes Stahltor in das Sicherheitssperrgebiet, das seit dem Terroranschlag 9/11 für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich ist. Sie folgte einer Landstraße, die rund zwei Kilometer geradeaus rechts an einem Deich und links an Bahngleisen entlang zur Mole führt. Josefine Herbst parkte ihr Fahrzeug und lief zügig den ehemaligen Spazierweg auf der Kaimauer entlang zu dem kleinen roten Leuchtturm an der Spitze, der Molenfeuer genannt wird. Es blies ihr ein kalter Wind entgegen und es nieselte leicht. Sie bereute, statt ihres Daunenmantels nur eine dünne Übergangsjacke aus Wolle angezogen zu haben. Einige Kolleginnen und Kollegen der Spurensicherung verpackten gerade ihre letzten Utensilien und verabschiedeten sich, bevor Josefine Herbst sie begrüßen konnte. Friedjof Winter wartete vor Ort auf sie.

»Moin, Frau Herbst! Schön, dass du schon da bist.«

»Es tut mir wirklich leid, dass du so lange hier warten musstest. Ich hoffe, du bist nicht völlig durchgefroren. Was haben wir?«

Friedjof Winter zeigte auf den kleinen Leuchtturm. »Sie liegt auf der anderen Seite, sozusagen mit Blick auf die See.«

Josefine Herbst lief um das Molenfeuer herum. Angelehnt an den Sockel saß eine tote unbekleidete ältere Frau mit offenen langen, grauen Haaren.

»Sie sieht blutleer aus, oder meine ich das nur? Macht das vielleicht das Licht hier?«

»Nein, du hast recht. Ihr wurde das Blut aus dem Körper gepumpt, bis sie starb. Die Einstichstelle am Ellenbogen zeigt, wo es herausgelaufen ist. Wir vermuten, es wurden Vakuumbehälter oder Unterdruckflaschen benutzt. Das ist aber vermutlich nicht an diesem Ort passiert. Sie wurde erst nach ihrem Tod hier deponiert.«

»An irgendetwas erinnert mich das. Ich komme nur nicht darauf. Wissen wir denn schon, wer sie ist?«

»Ja, wir haben ihr Auto vorne auf dem Parkplatz gefunden. Sie heißt Anke Weber, ist 59 Jahre alt und wohnt in Pilsum in der Krummhörn.«

»Sie wurde mit ihrem eigenen Auto hierhergebracht? Wie konnte das Fahrzeug durch das Sicherheitstor gelangen?«

»Anke Weber arbeitete im Hafen bei der Fahrzeugverladung. Sie fuhr Autos auf die Schiffe, die hier am Kai liegen. Sie war häufig hier.«

»Wie lange ist sie schon tot?«

»Höchstens seit zwei Tagen. Aber an der Mole liegt sie erst seit gestern. Passagiere der Borkumfähre haben sie bei der Einfahrt in den Hafen gesehen und uns informiert.«

Josefine Herbst beugte sich über die Tote und schaute in ihr Gesicht. »Ist das Sperma an ihrem Mund? Wurde sie missbraucht?«

»Ja, bevor sie starb hat sich jemand vergnügt.«

»Immerhin wissen wir dadurch, dass es sich um einen Täter handelt und wir haben seine DNA. Wurde sie von irgendjemandem vermisst gemeldet?«

»Nein, sie lebte alleine. Es gibt keine Eltern mehr, nur noch einen Bruder, aber der lebt im Süden Deutschlands in Nürnberg.«

»Wir müssen ihn verständigen lassen. Sind die Kollegen dort schon informiert?«

»Ja, selbstverständlich.«

»Gute Arbeit.« Josefine Herbst lächelte ihn kurz an und wurde dann wieder ernst. »Sie hat sich offensichtlich nicht gewehrt, es gibt keine Kampfspuren an ihren Händen. Aber sie war gefesselt. Die Male an ihren Armen sehen nach Kabelbindern aus und die Wunden an ihren Handgelenken zeigen, dass sie versucht hat, sich zu befreien. Sie war bei Bewusstsein, als das Blut herauslief. Grausam. Als sie gekidnappt wurde, hat man sie offensichtlich mit einem Elektroschocker betäubt. Die Marker am Hals sind deutlich zu erkennen. Das alles sieht nach einer geplanten Tat aus.«

»Ja. Das ist ein geplanter und professionell vorbereiteter Mord.«

»Mit ungezügeltem Verlauf. Gut, ich habe alles gesehen. Ich mache noch ein paar Fotos, dann kann der Bestatter sie mitnehmen und zur Obduktion nach Oldenburg in die Rechtsmedizin fahren. Wir treffen uns dann gleich im Kommissariat. Ich möchte ein Ermittlungsteam zusammenstellen und hätte gerne Harm Peters, Edith Loy und Maren Hinrichs dabei. Ist das in Ordnung für dich?«

»Ja, ich denke, das wird gehen. Bis gleich.«

»Ach übrigens, ich werde in unserem Haus wohnen für die Zeit der Ermittlungen. Habe Jule Janssen fürs Erste meine Oldenburger Wohnung zur Verfügung gestellt.«

»Ähm …«, Friedjof Winter feixte ein wenig. »Das bedeutet, dass wir beide dort sind. In meiner Wohnung lebt zurzeit eine neue Kollegin.«

»Ach, schau an …«

»Hast du ein Problem damit?«

»Nein! Wir werden das schon hinbekommen. Teilen uns ja lediglich Küche und Wohnzimmer.« Josefine Herbst drehte sich hastig von ihm weg und lief zügig zu ihrem Auto. Zwei Mitarbeiter des Bestattungsinstituts kamen ihr mit einem silbergrauen Sarg entgegen.

»Ich habe mich entschlossen, die empfohlene Strahlentherapie so lange zu machen, bis ich mein Werk vollendet habe. Mein Arzt ist sehr zuversichtlich, dass ich damit noch einige Zeit herausschinden kann. Auch die Pandemie beängstigt mich nicht. Der Tod und ich leben seit fünf Monaten in einer Art Symbiose. Ich darf noch auf der Welt bleiben, liefere ihm dafür aber regelmäßig einen Ersatz. Als Nächstes habe ich Herbert Dahlen ausgewählt. Er lebt seit der Wende im Ost-Harz. Nicht ganz zufällig traf ich vor einem Monat seine Schwester bei einem Spaziergang und kam mit ihr ins Gespräch. Sie hat mir alle erforderlichen Informationen geliefert. Ich habe mir in Wernigerode auf unbestimmte Zeit ein kleines Zimmer gemietet. Der Ort gefällt mir gut. Schöne Fachwerkhäuser und ein imposantes Schloss oben auf dem Berg. Es sind nette Menschen in den kleinen Geschäften. Zuerst habe ich dort im Mai, nachdem der Lockdown beendet war, zwei Wochen Urlaub gemacht, um die Gegend zu erkunden und Herbert Dahlen beobachten zu können. Jetzt fahre ich nur noch die Wochenenden zu meiner Wohnung, um den Plan vorzubereiten. Er scheint tatsächlich ein solides Leben zu führen. Ein bisschen dicklich war er schon in der Jugend, jetzt ist er fett. Verheiratet ist er mit Luise Dahlen und das Paar hat zwei erwachsene Töchter, die ebenfalls verheiratet sind und mehrere Kinder haben. Die große Familie trifft sich regelmäßig und steht in ständigem Kontakt. Gemeinsam mit einem Freund hat er in Quedlinburg ein Autohaus eröffnet. Herbert Dahlen ist Autoverkäufer geworden. Ich habe einmal in einem Seminar über menschliche Kompetenzen gelernt, dass Kreditanbieter, Versicherungsvertreter und Autoverkäufer über ein hohes Maß der Kompetenz des Lügens verfügen müssen, um erfolgreich zu sein. Das hat mein Verhältnis zu meinen Bankberaterinnen und -beratern extrem belastet. Nie wieder habe ich dort jemandem vertraut. Versicherungen habe ich auf das Mindestmaß reduziert und Autos zu kaufen war danach auch eher schwierig. Wenn mir eines als ein besonders günstiges Angebot angepriesen wurde, habe ich es nicht genommen. Ist Lügen und Betrügen eine Form der Grausamkeit? Ich denke schon. Im Osten hat Herbert Dahlen bestimmt nach der Grenzöffnung einiges an Fahrzeugen gewinnmaximierend an den Mann bringen können. Seit es in der Autobranche kriselt, kriselt es wohl auch in seinem Betrieb. Das Verkaufsgebäude sieht aus, als könne es dringend eine Renovierung gebrauchen. Dafür scheint das Geld nicht mehr vorhanden zu sein. In seiner Freizeit macht er Führungen in den Bergen. Dafür lässt er sich buchen. Ich habe entschieden, dass eine Höhlenführung mich schon immer interessiert hat.«