Tod im Dünengras - Gisa Pauly - E-Book
SONDERANGEBOT

Tod im Dünengras E-Book

Gisa Pauly

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

 Die Mafia auf Sylt? Nicht mit Mamma Carlotta! Der dritte Band der Nordsee-Bestsellerreihe   Was ist besser als eine italienische Schwiegermutter als Spürnase? Zwei italienische Spürnasen, die ein unerhörtes Mordkomplott auf Sylt aufdecken!. »Tod im Dünengras« ist einmal mehr ein Mordsspaß.   Kommissar Erik Wolf hat normalerweise alle Hände voll damit zu tun, seine italienische Schwiegermutter aus seinen Ermittlungen rauszuhalten – nicht, dass sich Mamma Carlotta davon abhalten ließe. Doch in »Tod im Dünengras« könnte ihre (unfreiwillige) Expertise und unverbesserliche Neugier einen kniffligen Fall lösen.     Denn die Mafia scheint auf Sylt einzufallen. Nach zwei Leichen wird auch noch ein Schutzgelderpresser tot aufgefunden, dessen Gesicht Mamma Carlotta bekannt vorkommt. Zusammen mit der angereisten Tante des Mafioso macht sich die beliebteste Italienerin der lustigen Cosy Crimes auf die Suche nach dem Mörder – und den dunklen Machenschaften am Nordseestrand.   »Da steckt Spannung drin und jede Menge Lebensweisheit.« – SR3 Krimitipp    Eine Figur wie Mamma Carlotta gibt es nur einmal. Seit mittlerweile 15 Jahren lässt Bestsellerautorin Gisa Pauly ihre vorlaute Schwiegermutter auf die Leser los und findet mit jedem weiteren Band der Krimireihe neue Fans, die laut lachen und in einem spannenden Kriminalfall mitfiebern wollen.   »Man muss sie einfach mögen, die italienische Miss Marple von Sylt... Und die Dialoge sind oft köstlich – wie die italienischen Menüs, die Mamma Carlotta andauernd kocht.« ― Brigitte  Aufschlagen, Alltag ausblenden, einfach genießen: »Tod im Dünengras« und alle weiteren Mamma-Carlotta-Bücher gehören zu einem rundum gelungenen Leseabend einfach dazu. Unglaublich lustig, leichtfüßig erzählt und mit der richtigen Prise Dolce Vita für die raue Küste der Nordsee.  

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

6. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-96081-6

© 2008 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München Umschlagabbildung: Comstock Foundry und Foodcollection RF (alle Getty Images) Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Das Meer war an diesem Tag von einem schönen dunklen Blau. Wenn eine Woge sich aufbäumte und mit gischtigen Fingern nach der Brandung griff, entstand, kurz bevor sie zusammenbrach, ein wunderbares Grün direkt unter dem Scheitelpunkt der Welle. Erik Wolf zwang sich, immer wieder nach diesem Grün Ausschau zu halten. So konnte er sich dem Meer zuwenden und versuchen, das zu ignorieren, was hinter seinem Rücken geschah und wofür er sich am liebsten bei der kompletten Nordsee entschuldigt hätte.

Es war ein früher Sonntagmorgen. Die Hochsaison war vorbei, die Nachsaison brachte zwar noch viele sonnige Tage, aber sie begannen nicht mehr leuchtend blau, sondern grau und verhangen. Auch dieser Morgen hatte sich durch einen Dunstschleier ans Licht gedrängt, jetzt aber stand er in einem klaren Grau über ihnen, das nicht weniger schön war als das Blau des Hochsommers. Deswegen war Erik bereit gewesen, seinen ersten freien Tag nach der Ankunft seiner Schwiegermutter auf Sylt mit einem Strandspaziergang zu beginnen. Mamma Carlotta hatte es sich gewünscht, und er war gern darauf eingegangen. Sogar die Kinder hatten sich bereit erklärt, ihrer Nonna zuliebe sonntags früh aufzustehen, und sich, ohne zu murren, ihre winddichten Jacken übergezogen.

Am Kliffkieker waren sie zum Strand hinabgestiegen und wanderten nun gen Norden. Erik liebte es, wenn der Strand noch menschenleer war. Er genoss die Stille, die in Wirklichkeit alles andere als still war, liebte das Getöse, mit dem die Brandung an den Strand schlug, denn still waren sie trotzdem, diese frühen Stunden am Meer, in denen nur die Natur lärmte und alles andere schwieg.

So jedenfalls hatte Erik sich diesen Spaziergang vorgestellt. Schweigend, den Blick aufs Meer gerichtet oder in den Himmel, mal auf die Füße, um zu beobachten, wie sie sich in den Sand gruben, oder zurück, um die Spur zu verfolgen, die sich hinter ihnen aufreihte.

Die Strandspaziergänge, die er mit Lucia gemacht hatte, waren so gewesen. Seiner Frau war das Schweigen genauso schwergefallen wie ihrer Mutter, aber angesichts der Weite des Strandes und des Meeres war auch sie verstummt, hatte ihre Hand in seine geschoben und ihre Verbundenheit schweigend genossen. Damals hätte er es nie für möglich gehalten, dass einmal etwas so Zufälliges wie die kurze Unaufmerksamkeit eines Lkw-Fahrers ihre tiefe Verbundenheit zerstören könnte.

Er kniff die Augen fest zusammen, um Lucias Bild wegzudrängen. Schlimm genug, dass die Stimme in seinem Rücken ihn so sehr an Lucia erinnerte, dass es wehtat. Da half es gar nichts, die Ähnlichkeit zu leugnen, nur weil Lucia in einem Moment wie diesem geschwiegen hätte.

»Il mare! Magnifico! Wie majestätisch!«

Noch immer wandte er sich nicht um, weil er sich nicht zusätzlich zur lauten Stimme, zum Pathos und zum Tempo, mit dem die Worte seiner Schwiegermutter von der Zunge rollten, auch noch über ihre großen Gesten ärgern wollte. Und auf keinen Fall wollte er Mamma Carlotta bewundern, obwohl es schon erstaunlich war, über welchen Wortschatz sie mittlerweile verfügte. Erst recht, wenn man berücksichtigte, auf welche Weise sie die deutsche Sprache erlernt hatte: ohne Lehrbuch, ohne Sprachtrainer, ohne Vokabelhefte oder das Lernen unregelmäßiger Verben. Carlotta Capella hatte Deutsch gelernt, indem sie mit Lucia und den Kindern am Telefon redete, und hatte ihre Sprachkenntnisse verbessert, als ihr Nachbar eine Deutsche heiratete, die sich gern in ihrer Muttersprache unterhielt. Über die Grammatik lernte sie erst etwas, als Carolin beschloss, Lehrerin zu werden, an ihrer Großmutter ihr späteres pädagogisches Wirken trainieren wollte und ihr viele schriftliche Aufgaben nach Umbrien schickte, deren Lösungen sie später am Telefon gewissenhaft überprüfte.

Erik Wolf, der vierzehn Jahre jünger war als seine Schwiegermutter, war sicher, dass es ihm niemals gelungen wäre, auf gleiche Weise Italienisch zu lernen. Er konnte sich nur mühsam verständigen, wenn er in Umbrien war, obwohl Lucia sich große Mühe gegeben hatte, ihn mit ihrer Muttersprache vertraut zu machen, damit er sich mit den vielen Tanten, Onkeln, Cousins und all den anderen Mitgliedern des riesigen Capella-Clans unterhalten konnte. Er hatte es nicht geschafft. Und irgendwann war er sogar froh gewesen, dass er der Einzige war, dem es nachgesehen wurde, schweigend einer lautstarken Diskussion beizuwohnen, ohne sich einzumischen, oder einfach nur dabeizusitzen und an etwas anderes zu denken. Nach dieser Erkenntnis hatte er seine Bemühungen gänzlich eingestellt und war dankbar gewesen, dass niemand mehr versuchte, ihn in ein Gespräch zu ziehen, das ihn schon beim Zuschauen schwindelig machte.

»Dieser herrliche Strand!«, hörte er in seinem Rücken. »Ohne die vielen Strandkörbe gefällt er mir noch besser! Nur dieser graue Himmel! So etwas gibt es in Italia nicht. Und die Sonne …«

Erik hörte ein verächtliches Schnalzen. Bei allem, was Carlotta mittlerweile an Sylt liebengelernt hatte – mit der Dauer und der Kraft des Sonnenscheins war sie nie zufrieden.

»Carolina! Wird in deinem Chor auch ein Lied über das Meer gesungen?«

Nein, nicht auch das noch! Seit Carolin dem Inselchor beigetreten war und daraufhin den Beschluss gefasst hatte, später Sängerin zu werden, gab es im Hause Wolf keine ruhige Minute mehr. Dabei war auf Carolins Einsilbigkeit bis dahin stets Verlass gewesen, sie war eben ganz Eriks Tochter. Es reichte, dass Felix genauso lärmend war wie seine italienischen Vorfahren und genauso gern und laut redete wie sie. Erik war immer dankbar gewesen, dass aus Carolins Zimmer selten ein Laut drang und dass sie stundenlang schweigend neben ihm sitzen konnte.

Neuerdings aber sang sie. Sehr laut, sehr enthusiastisch und vor allem den lieben langen Tag. Wenn er sich anfänglich noch über die hübsche klare Stimme seiner Tochter gefreut hatte, so war es damit bald vorbei gewesen. Manchmal war er sogar drauf und dran, ihr zu verraten, wie wenig er daran glaubte, dass ihr Talent für eine Karriere ausreichte. Aber dann brachte er es doch nicht übers Herz und hoffte, dass ihr diese Erkenntnis irgendwann selbst kommen würde. Hoffentlich bald!

Das wiederholte er leise, als Carolin anstimmte: »Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen, der eiskalten Winde raues Gesicht …«

Erik sah sich um. Hoffentlich war kein Bekannter in der Nähe, der mitanhören konnte, wie Carolin gegen die Brandung ansang. Und dass jemand ihre Gesangsdarbietung beobachtete, wollte er erst recht nicht. Denn Carolin sang nicht nur sehr laut und unbekümmert, sondern machte auch vor den Posen einer Operndiva nicht halt. Kein Zweifel, die Mitgliedschaft im Inselchor tat ihrem Selbstbewusstsein gut, darüber hätte sich Erik eigentlich freuen sollen. Und seit sie wusste, dass sie bei dem sehnsüchtig erwarteten Chorwettbewerb ein Duett mit der Solosängerin bestreiten würde, war ihr Selbstwertgefühl noch weiter gestiegen. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie als einziges Chormitglied Noten lesen und vom Blatt singen konnte, ärgerte sie sich nicht einmal mehr über ihren Bruder, der sich über das Volkslieder-Repertoire des Inselchors lustig machte. Nein, Carolin stand zu ihrer Entscheidung, den grünen Wald und die Vögelein darin zu besingen oder eben die brausenden Wogen.

Erik konnte nicht umhin, seine Tochter für ihre aufrechte Haltung zu bewundern. Trotzdem wäre es ihm lieber gewesen, sie hätte sich für die Musik von Amy Winehouse oder Britney Spears begeistert. Er wollte eine ganz normale Tochter, die sich so verhielt wie ihre Klassenkameradinnen. Während der paar Monate, in denen Carolin unbedingt Schriftstellerin werden wollte, hatte ihn schon ihre Schwärmerei für Günter Grass befremdet. Kein Wunder, dass Carolin so wenig Kontakt zu Gleichaltrigen hatte. Wer keine einzige CD von Tokio Hotel besaß und von Rockmusik weniger verstand als der eigene Vater, der war zum Außenseiter verdammt. Der Chorwettbewerb des Inselchors würde Carolins Beliebtheit nicht steigern. Und das Schlimmste war, dass ihr das vermutlich völlig gleichgültig sein würde.

Erik entfernte sich ein Stück, um Abstand zu seiner Tochter und seiner Schwiegermutter zu gewinnen. Er würde sich ihnen erst wieder nähern, wenn sämtliche Strophen von »Wir lieben die Stürme« heruntergesungen waren.

Erfreut stellte er fest, dass Felix ihm folgte. Dem war die Singerei noch lästiger als dem Vater, der sich immerhin einen großen Teil des Tages im Polizeirevier Westerland aufhalten durfte, während Felix dem Gesang seiner Schwester viel häufiger ausgesetzt war. Zu Hause erschlug er jedes Volkslied mit seiner Heavy-Metal-Musik, doch am Strand konnte er nichts anderes tun, als abzuwarten, bis das Lied zu Ende war.

»Ich gehe mal eben nach oben in die Dünen«, sagte Erik. »Ich hätte ganz gern ein paar Minuten meine Ruhe.«

»Ich auch«, erklärte Felix.

Erik lächelte. »Für dich kann es doch sonst gar nicht unruhig genug sein.«

»Ich kann Volkslieder aber nicht leiden.«

»Ehrlich gesagt, ich auch nicht.«

Mamma Carlotta reckte den Hals, wandte sich aber beruhigt wieder Carolin zu, als sie sicher sein konnte, dass Erik und Felix sich nicht heimlich davonmachen wollten. Sie mochte es nicht, wenn sich jemand absonderte, und holte über kurz oder lang jeden in den Kreis der Familie zurück, der sich daraus entfernt hatte. Lange konnte es nicht dauern, bis sie nach ihnen rufen und vorwurfsvoll fragen würde, ob es etwa irgendwo etwas Wichtigeres gäbe als Carolins Gesangskarriere.

Erik blieb stehen, als er das erste Dünengras niedergetreten hatte. Unten wurde mittlerweile im Duett gesungen, und er war froh, sich so weit von dieser Entgleisung entfernt zu haben, dass er notfalls behaupten konnte, das junge Mädchen und die italienische Signora überhaupt nicht zu kennen.

Er hätte es sich ja denken können, dass Mamma Carlotta von Carolins Sangesfreude im Nu angesteckt sein würde. Sie war Italienerin, und als solche sang sie von Natur aus gerne. Auch Lucia hatte häufig ein Lied auf den Lippen gehabt. Und im Haus ihrer Eltern in Umbrien hatte immer jemand gesungen, notfalls das Radio. Außerdem interessierte sich Mamma Carlotta brennend für alles, was einem Enkelkind wichtig war.

Felix stellte sich neben ihn und murmelte: »Ich bleibe dabei, dass ich Fußball-Profi werden will.«

»Sehr beruhigend«, antwortete Erik und hätte am liebsten ergänzt: Da kannst du wenigstens sicher sein, dass deine Großmutter nicht beim Training mitmachen will.

»Wenn sie schon singen muss, dann wenigstens wie Madonna. Aber nicht wie Marianne«, nörgelte Felix.

»Marianne? Wer soll das sein?«

»Marianne und Michael! Die Stars der Volksmusik! Kennst du die nicht?«

Erik schüttelte den Kopf, obwohl ihn eine Ahnung anflog, dieses Paar schon einmal auf einer Titelseite gesehen zu haben. »Warum nimmt Carolin sich diese Marianne zum Vorbild, wenn sie keinen Michael hat, der mit ihr singt?«

Felix grinste. »Du merkst mal wieder gar nichts. Michael Ohlsen singt auch im Inselchor.«

Erik zog es vor zu schweigen. Er hatte das dumme Gefühl, dass er wissen sollte, wer Michael Ohlsen war. Ach, Lucia! Sie hätte längst gemerkt, dass Carolin verliebt war, und natürlich hätte sie auch gewusst, wer Michael Ohlsen war. Erik seufzte unhörbar. Er musste wirklich mehr mit seinen Kindern reden, statt immer nur Felix’ Redestrom an sich vorbeirauschen zu lassen und froh zu sein, dass Carolin so wortkarg war wie er selbst.

Plötzlich spürte er so etwas wie Erleichterung in sich aufsteigen. »Wenn Carolin nur wegen diesem Michael im Inselchor singt, dann ist das doch was ganz anderes. Dann geht es ihr ja gar nicht um diese Volkslieder, sondern … na, eben um Michael Ohlsen.«

Er erinnerte sich, dass er sich selbst als Sechzehnjähriger zu einem Surfkurs angemeldet hatte, um einer gewissen Wiebke zu imponieren. Die Abmeldung hatte er geschrieben, noch ehe er die ersten zehn Mark für ein eigenes Surfbrett zur Seite gelegt hatte. Später war er froh, dass Wiebke an seiner Schwärmerei nicht interessiert gewesen war und sich stattdessen einem Jungen zuwandte, der schon achtzehn war und ihr mit einem Motorrad imponieren konnte. So waren ihm vermutlich viele schmerzhafte Erfahrungen auf und vor allem unter Wasser erspart geblieben.

Wenn man verliebt war, machte man eben die verrücktesten Sachen. Und wenn es sein musste, trat man sogar einem Chor bei und sang Volkslieder. Aber da eine Liebe in diesem Alter selten länger als ein paar Wochen hielt, würde sich die Sache so schnell erledigt haben wie sein eigener Wunsch, das Surfen zu erlernen.

Felix jedoch blieb skeptisch. »Was soll dadurch anders sein? Kannst du dir vorstellen, was das für ein Typ ist? Ich will nicht, dass meine Schwester mit so einem geht.«

»Was ist denn mit Michael Ohlsen?«

»Der singt nicht nur gerne Volkslieder, der sieht auch noch aus wie Florian Silbereisen. Blonde Strähnen und immer ein Grinsen im Gesicht. Wenn wir in Bayern wären, würde der ganz sicher Lederhosen tragen.«

»Florian Silbereisen?« Erik dachte verzweifelt nach. Musste er den auch kennen? Hatte er von einer Familie Silbereisen auf Sylt schon mal gehört?

In diesem Moment sagte Felix: »Guck mal, da liegt ein Schuh. Ein Männerschuh.«

Erik nickte geistesabwesend. »Tja, manchen Leuten ist der Dünenschutz eben völlig egal. Wer sich hier im Dünengras sonnt, dem geschieht es auch ganz recht, wenn er später mit nur einem Schuh über die Friedrichstraße humpeln muss.«

Unten am Wasser ließen Carolin und Mamma Carlotta erkennen, dass sie ihre musikalische Einlage abgeschlossen hatten und den Strandspaziergang fortsetzen wollten, ohne sich so auffällig zu benehmen, dass man sich für sie schämen musste.

»Vielleicht war auch jemand wütend auf einen anderen«, meinte Erik, während er im rutschigen Sand ein paar Schritte Richtung Meer machte, »und hat ihm seinen Schuh nachgeworfen.«

Aber Felix antwortete nicht, ihm schien es ausnahmsweise die Sprache verschlagen zu haben. Kein gutes Zeichen. Erik drehte sich um und sah, dass sein Sohn die Düne mit ein paar weiteren Schritten erklommen hatte und nun vornübergebeugt dastand. Die überdimensionale Jeans, die er trug, war noch weiter heruntergerutscht als beabsichtigt, und als Felix sein Käppi in eine völlig uncoole Position schob, wusste Erik, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste.

Die Schrittnaht von Felix’ Jeans baumelte wie immer zwischen seinen Kniekehlen, sonst hätte er den Mann zwischen den gespreizten Beinen seines Sohnes sehen können. Aber auch so erkannte er schnell, dass in dem Schuh, der Felix aufgefallen war, ein Bein steckte. Und dann sah er einen zweiten Schuh und ein zweites Bein. Ein weiterer Schritt, und der Mann lag ausgestreckt vor ihm.

»Das ist Henner Jesse«, sagte Felix mit zitternder Stimme. »Ist er tot?«

Erik schob seinen Sohn zur Seite und kniete sich neben Henner Jesse in den Sand. Das Gesicht des Mannes war stark verschwollen, blau verfärbt die Augenpartie, die Lippen aufgeplatzt. Blut war aus der Nase getreten, ein rotes Rinnsal war über die Schläfe gelaufen und auf dem Weg in den Sand vertrocknet. Kein Zweifel, der Besitzer der Wenningstedter Jesse-Stuben hatte eine schwere Schlägerei hinter sich.

»Ist er tot?«, wiederholte Felix mit ängstlicher Stimme.

Erik beugte sich über Jesses Brust, tastete nach seinem Puls und hob ein Augenlid. Dann schüttelte er den Kopf und zog sein Handy aus der Tasche. »Nein, er lebt noch. Wir müssen sofort Hilfe holen.«

Das kleine, spitzgieblige Haus am Süder Wung erzitterte, als Mamma Carlotta die Tür ins Schloss warf. »Der arme Mann!«

Carolin ging schweigend in die Küche, während ihre Nonna sich noch das Entsetzen von der Seele reden musste.

»Wie lange mag er dort gelegen haben? Hilflos! Mehr tot als lebendig! Madonna!«

Carolin holte die Kalbsschnitzel und den Parmaschinken aus dem Kühlschrank und suchte in der Speisekammer nach den Salbeiblättern.

»Was wäre gewesen, wenn Felice und Enrico ihn nicht zufällig gefunden hätten? Dann läge er womöglich jetzt noch da.«

Mamma Carlotta erwärmte sich an der Katastrophe, an dem grässlichen Schicksal des Opfers, der Erinnerung an den Krankenwagen, der ausnahmsweise den Strand befahren durfte, und die aufregenden Bemühungen des Notarztes. Sie zog die dicke Strickjacke aus, obwohl sie kurz zuvor noch den kalten Sommer auf der Insel verflucht hatte, und hängte sie über eine Stuhllehne. Katastrophen brachten sie ins Schwitzen.

»Kennst du Henner Jesse, Carolina?«

»Nicht wirklich, ich weiß nur, dass ihm die Jesse-Stuben hier in Wenningstedt gehören, das ist eine Kneipe an der Westerstraße.«

»Hat der arme Mann Feinde?«

Carolin zuckte mit den Schultern. »Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.«

»Ob man ihn umbringen wollte?«

»Dann wäre er jetzt tot.«

»Vielleicht hat der Täter angenommen, er sei tot. Und hat ihn deshalb liegenlassen.«

»Vielleicht hat er sich nur mit jemandem gestritten.«

»In den Dünen? Mitten in der Nacht?«

Carolin dachte kurz nach. »Ja, irgendwie komisch. Der Notarzt hat gesagt, er läge schon seit Stunden dort.«

»Also hat er sich in der Nacht mit jemandem in den Dünen getroffen. Sehr merkwürdig.«

Carolin sah ihre Nonna ungeduldig an. »Vielleicht ist er einfach am Strand spazieren gegangen und überfallen worden. Wenn Papa nach Hause kommt, werden wir wissen, was vorgefallen ist.«

Mamma Carlotta holte den Fleischklopfer und ließ ihre Erregung an den Kalbsschnitzeln aus. »Arbeiten am Sonntag! La domenica muss Ruhe sein. Was für eine Rücksichtslosigkeit von dem Täter, so etwas Schreckliches ausgerechnet Samstagnacht zu erledigen! Wir müssen deinen Vater mit einem guten Essen begrüßen, um ihn darüber hinwegzutrösten, dass er heute arbeiten muss.« Sie schob Carolin die Fleischscheiben hin, damit ihre Enkelin sie mit dem Parmaschinken belegte und mit kleinen Holzspießen die Salbeiblätter darauf befestigte. Carlotta selbst nahm sich eine Knoblauchknolle vor und zerteilte sie in viele Zehen. »Wir machen Spaghetti aglio e olio als Primo piatto. Dein Vater liebt sie.«

»Aber er liebt es nicht, nach Knoblauch zu stinken.«

»Er wird die Spaghetti trotzdem essen.«

Damit hatte Mamma Carlotta natürlich recht. Und im Polizeirevier Westerland spielte es zurzeit keine Rolle, wenn der Chef den Geruch von Knoblauchzehen hineintrug. Da Mamma Carlotta immer gleich am ersten Tag ihres Aufenthaltes auf Sylt Antipasti einlegte und auch Eriks Kollegen damit versorgte, roch es in den Revierräumen ohnehin wie in einer italienischen Trattoria.

Während Carlotta den Knoblauchzehen zu Leibe rückte, bewies sie mal wieder, wie leichtfüßig ihre Gedanken von einem Thema zum anderen hüpfen konnten. »Wusstest du übrigens, dass eine der Kassiererinnen von Feinkost Meyer drei uneheliche Kinder von drei Vätern hat?«

Carolin wusste es nicht. Sie war zwar auf Sylt geboren und ging bei Feinkost Meyer ein und aus, aber davon hatte sie nie gehört.

»Und der Verkäufer, der mich gestern in der Gemüseabteilung beraten hat, kann sich nicht entschließen zu heiraten, weil seine Mutter etwas gegen seine Verlobte hat.«

»Das hat er dir erzählt?« Carolin staunte ihre Nonna unverhohlen an.

»Sì! Und dann hat er mir noch verraten, dass ein früherer Filialleiter mit zwei Verkäuferinnen gleichzeitig ein Verhältnis hatte. Obwohl er verheiratet war!«

Carlotta ließ ihre Empörung über die Untreue der Männer an dem Küchenmesser aus, das ihr nicht scharf genug war. Es wurde über den Wetzstab gezogen, als sollte damit allen Ehebrechern Angst gemacht werden.

Welche Gedankenverbindung sie nun zum Chorgesang trug, das wusste vermutlich nicht einmal sie selbst. »Wir hatten in unserem Dorf auch mal einen Chor. Meistens haben wir sonntags in der Kirche gesungen. Aber manchmal auch am Abend auf der Piazza. Und natürlich immer dann, wenn sich Touristen zu uns verirrten, die hungrig und ungeduldig waren. Signora Daniele braucht ja immer so lange, bis sie ihren Pizzaofen in Gang gesetzt hat. Wenn wir nicht währenddessen gesungen hätten, wären die Touristen längst ins Nachbardorf abgewandert.«

»Du hast in einem Chor gesungen? Das wusste ich nicht!«

»Er hat leider nicht lange bestanden, unser Chor. Signora Eduardis Mann wollte nicht, dass seine Frau ihre Zeit mit solchem Unsinn vergeudet, und hat ihr das Singen verboten. Und der Geflügelhändler wollte uns nicht mehr auf seinem Hof üben lassen, weil seine Hühner angeblich keine Eier mehr legten. Die Schwestern Tintorella haben sich zerstritten, weil eine der anderen das Solo nicht gönnte, und sind beide aus dem Chor ausgetreten. Und Signorina Manuela hat derart falsch gesungen, dass es nicht auszuhalten war. Aber niemand durfte es ihr sagen, weil ihr Vater uns, nachdem der Geflügelhändler abgesprungen war, seine Backstube zum Üben zur Verfügung gestellt hat. Als sich dann noch unsere Chorleiterin unglücklich verliebt hatte und uns nur noch schrecklich traurige Lieder singen ließ, hieß es finito für unseren Chor.« Carlotta stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dabei habe ich immer so gern gesungen. Der Pastor hat einmal zu mir gesagt: Carlotta, Sie sollten mehr aus Ihrer Begabung machen!«

Carolin stimmte dem Urteil des Pfarrers unumwunden zu. Dann hatte sie eine Idee: »Ich könnte unsere Chorleiterin fragen, ob du mitsingen darfst, solange du auf Sylt bist!«

Mamma Carlotta fuhr zusammen, als hätte man ihr einen gewaltigen Schreck eingejagt. Aufgeregt fuchtelte sie mit dem Messer herum, sodass Carolin sich vorsichtig aus ihrer Reichweite entfernte. »Du meinst, das wird sie erlauben?«

»Fragen kostet nichts. Sie ist sehr nett, vielleicht ist sie einverstanden. Sie klagt ja ständig darüber, dass der Inselchor chronisch unterbesetzt ist. Vielleicht freut sie sich sogar über Zuwachs.«

Die Knoblauchzehen flogen in die Pfanne, das Olivenöl spritzte, das Spaghettiwasser kochte über. »Das wäre meraviglioso! Hat eure Chorleiterin eine Ausbildung? Versteht sie was vom Chorgesang?«

Carolin lachte. »Und ob! Vera Ingwersen hat früher in einem sehr bekannten Chor gesungen. Das war in München. Und später hat sie einen Kinderchor geleitet, ebenfalls in München. Einmal ist sie mit dem sogar im Fernsehen aufgetreten.«

»In München? Warum das?«

»Weil sie aus Bayern stammt. Sie hat nach Sylt geheiratet. Und sie hat sich gefreut, als ihr hier die Leitung des Inselchors angeboten wurde. Sie kann wirklich was.«

Zufrieden nahm Mamma Carlotta zur Kenntnis, dass sie ihr Talent nicht irgendwelchen Dilettanten zur Verfügung stellen würde. Und als Carolin erzählte, dass die Solosängerin des Chors sogar in jungen Jahren an einem Konservatorium Gesang studiert hatte, war sie schwer beeindruckt.

»Vera Ingwersens Schwiegermutter! Wenn sie damals nicht geheiratet und ein Kind bekommen hätte, stünde sie jetzt als Sängerin auf der Bühne. Sagt sie jedenfalls.«

Mamma Carlotta erhob sich feierlich, stellte sich zwischen Tür und Esstisch auf und reckte den Oberköper, als hätte sie schon einmal etwas von der Stütze gehört, die ein Sänger aufbaut, ehe er zu einer Arie ansetzt.

»Was soll ich vortragen, damit die Chorleiterin mich mitsingen lässt? Und damit die Solistin merkt, dass ich singen kann? Vielleicht … das Ave Maria?«

Kaum hatte sie das A anschwellen lassen, setzte in der ersten Etage ohrenbetäubender Lärm ein. Felix sorgte auf seine Weise dafür, dass seine Nonna nicht einmal zum zweiten »Maria« kam: Mit den Bässen der Heavy-Metal-Gruppe Metallica schlug er auf ihre Bemühungen ein, ihr Talent unter Beweis zu stellen.

Die Westerstraße war lang. Sie begann am Hochkamp und endete am Dünenwall, einem Weg, der in einen Strandzugang mündete. Zwischen ihm und dem Zugang am Ende der Berthin-Bleeg-Straße verlief hoch auf dem Kliff ein Holzsteg, von dem man einen herrlichen Blick übers Meer und über die Dünen hatte.

Die Jesse-Stuben lagen in der Nähe des Kapellenplatzes. Das Haus war aus dunklem Backstein erbaut, die bleiverglasten Fenster ließen wenig Licht in den Gastraum. Alles, was sich mit dem Pinsel bearbeiten ließ, war weiß gestrichen worden, besonders einladend fand Erik die Fassade trotzdem nicht. Er kannte das Lokal, hatte es aber noch nie betreten. Umso angenehmer überrascht war er nun, als er die Tür öffnete. Das Licht, das die hässlichen bleiverglasten Fenster aussperrten, war mit einem zartgelben Anstrich der Wände, mit hellem Mobiliar und orangefarbenen Tischdecken ins Haus geholt worden. Erik hatte gelegentlich Feriengäste sagen hören, in den Jesse-Stuben gäbe es den besten Kartoffelsalat der Insel, und das gebratene Fischfilet, das dazu serviert würde, sei hervorragend. Der Fischgeruch, der aus der Küche drang, machte ihm prompt Appetit. Am liebsten hätte er sich, bevor er mit Frau Jesse sprach, Kartoffelsalat und gebratenes Fischfilet bestellt und Mamma Carlotta nichts davon verraten. Für sie gehörte Kartoffelsalat zu den ganz schlimmen Entgleisungen der deutschen Küche. So etwas ihrem italienischen Essen vorzuziehen wäre eine schreckliche Beleidigung gewesen. Lucia hatte sich im Verlaufe ihrer Ehe nur ein einziges Mal dazu überreden lassen, sich an einem Kartoffelsalat zu versuchen. Und sie hatte Glück. Erik hatte den Wunsch nie wieder geäußert. Italienerinnen fehlte die richtige Einstellung zum Kartoffelsalat.

Gerade wollte Erik die Eingangstür hinter sich schließen, da hörte er aufgeregtes Fahrradklingeln. Sein Assistent Sören Kretschmer radelte den Mittelweg entlang und hielt direkt auf ihn zu. »Warten Sie, Chef! Ich komme mit!«

Sören war Mitte zwanzig, ein Sylter, der sich auf der Insel so gut auskannte wie Erik. Schlank und drahtig war er, weil er viel Sport trieb, aber sein Gesicht war flächig und so rund, dass er trotzdem untersetzt und behäbig wirkte. Die gesunde Farbe erinnerte Erik an einen frisch polierten Winterapfel.

Heute allerdings nicht. Sören sah aus wie ein zu lang gelagerter Boskop. »Ich bin erst gegen sechs ins Bett gekommen, Chef. Junggesellenabschied! Ein Wunder, dass ich das Telefonklingeln überhaupt gehört habe!«

Erik versicherte Sören sein Mitgefühl. »Ich würde jetzt auch lieber mit der Pfeife in der Sonne sitzen und aufs Mittagessen warten. Meine Schwiegermutter ist sehr verärgert, weil die Schlägerei zu einem so ungünstigen Zeitpunkt stattgefunden hat. Heute Mittag soll es Saltimbocca alla romana geben.«

Sören starrte seinen Chef an, ohne etwas zu sagen. Aber Erik ahnte, dass seinem Assistenten das Wasser im Munde zusammenlief.

»Sie hat sicherlich für Sie mitgekocht«, meinte er lächelnd. »Sie kocht doch immer für Sie mit. Aber nun müssen wir erst mal den unangenehmen Teil des Sonntags hinter uns bringen.«

Frau Jesse empfing sie in ihrem Wohnzimmer. Sie sah blass und verweint aus. »Was ist mit meinem Mann passiert?«, fragte sie statt einer Begrüßung. »Ist er tot?«

Erik ließ sich umständlich auf dem schwarzen Ledersofa nieder, das Teil einer wuchtigen Sitzgarnitur war. Sören setzte sich neben ihn, und Erik hoffte, dass Frau Jesse seine Fahne nicht bemerkte.

»Nun sagen Sie schon!«

Erik sah sie prüfend an und spürte dem Gefühl nach, das sich in seiner Körpermitte einnistete. Es war tatsächlich Ärger! Aber warum? Wahrscheinlich, weil sie ihn anstarrte, als wüsste sie bereits, was ihrem Mann zugestoßen war, als brauchte sie nur Bestätigung. Warum hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet, als sie ihren Mann vermisste? Warum hatte sie ausgeharrt, bis er zu ihr kam, um ihr die Nachricht zu bringen, die sie augenscheinlich erwartete?

Frau Jesse hatte ihn einmal während des sonntäglichen Mittagsschlafes gestört, als ihr ein Fahrrad gestohlen worden war, und vor ein paar Wochen hatte sie ihn kurz vor Mitternacht angerufen, weil ein Gast verschwunden war, den sie der Zechprellerei verdächtigte. Warum meldete sie sich nicht, wenn ihr Mann in der Nacht nicht nach Hause gekommen war?

»Wie kommen Sie darauf, dass er tot sein könnte?«, fragte er und schämte sich nur ein ganz kleines bisschen dafür, dass er Frau Jesse zappeln ließ.

Sie war eine Frau von gut fünfzig Jahren, ihr Gesicht war ungeschminkt, aber sie hatte sich sorgfältig frisiert. Sie trug einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse, die Kleidung, die in einem Restaurant vom Service erwartet wurde. Anscheinend hatte sie nicht die Absicht, die Jesse-Stuben geschlossen zu halten, weil ihr Mann verschwunden war.

»Er ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen«, antwortete sie und setzte sich erst jetzt zu ihnen, als sähe sie keinen Sinn mehr darin, unruhig hin und her zu laufen.

»Wann haben Sie das bemerkt?«

»Heute Morgen. Als er nicht zum Frühstück erschien.«

»Sie haben getrennte Schlafzimmer?«

Frau Jesse nickte, als müsste sie sich dafür schämen, und blickte auf ihre Hände. Erik wartete auf die Begründung, mit der die meisten getrennt schlafenden Ehepartner aufwarteten, aber die Erklärung, dass ihr Mann schnarchte, kam nicht.

»Und warum haben Sie mich nicht gleich angerufen, als Sie Ihren Mann vermissten?«

Frau Jesse blickte nicht auf. »Ich wollte Sie am Sonntagmorgen nicht stören.«

Für diese lobenswerte Einstellung belohnte Erik sie mit der Schilderung dessen, was geschehen war. »Ihr Mann wurde in die Nordseeklinik gebracht«, schloss er. »Er ist schwer verletzt.«

Frau Jesse nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet, dann verließ sie das Zimmer, als wollte sie nichts mehr von dem hören, was ihrem Mann zugestoßen war. Erik hörte, wie sie in der Küche herumkramte und sich dann laut und kräftig schnäuzte. Er flüsterte Sören zu: »Sie benimmt sich komisch, finden Sie nicht auch?«

Sören hatte seine Müdigkeit schlagartig abgelegt, von seinem Ärger über den sonntäglichen Einsatz war auch nichts mehr zu spüren. »Sie weiß was.«

Erik war überrascht. »Wie kommen Sie darauf?«

Sören winkte ab, weil Frau Jesse das Zimmer wieder betrat. Zu Eriks Erstaunen stand er nun auf und setzte die Befragung fort, als wäre er der Leiter der Ermittlungen. Von seiner Gestalt ging plötzlich eine solche Kompetenz und Autorität aus, dass Erik sich bereitwillig zurücklehnte und zuhörte.

»Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?«

»Gestern Abend.« Frau Jesse knetete das Taschentuch in ihren Händen. »Kurz bevor die letzten Gäste gingen.«

»Wann war das?«

»Gegen elf. Ich bin dann hochgegangen, weil nicht mehr viel zu tun war. Mein Mann sagte, er würde den Rest erledigen.«

»Und dann? Als der Rest erledigt war?«

Frau Jesse sah Sören ängstlich an und zuckte die Schultern.

»Sie wissen nicht, wann Ihr Mann nachgekommen ist?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie wissen nicht einmal, ob er überhaupt in die Wohnung gekommen ist?«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Halten Sie es für möglich, dass Ihr Mann das Haus verlassen hat, nachdem er die Gaststätte geschlossen hatte? Dass er zum Strand gegangen ist?«

Auch diesmal schüttelte Frau Jesse den Kopf, allerdings erst nach kurzem Zögern und weit weniger bestimmt.

»Wie ist er dann in die Dünen gekommen?«

Erik starrte seinen Assistenten mit offenem Mund an. Sören schien zu vergessen, dass er hier die Frau eines Opfers und nicht eine Tatverdächtige vor sich hatte. Irgendwas interessierte ihn an diesem Fall ganz besonders, das spürte Erik. Sören schien sogar schon eine Meinung zu Henner Jesses Schicksal zu haben. Und da Erik selbst weit entfernt von irgendeiner Erkenntnis war, ließ er ihn gewähren.

»Kann es sein, dass Ihr Mann ein Verhältnis hat?«

Nun schien sich Frau Jesse wieder ganz sicher zu sein. Energisch schüttelte sie den Kopf, und Erik pflichtete ihr heimlich bei. Henner Jesse war auch nach seiner Einschätzung kein Mann, der eine Affäre einging. Er war ein kleiner, dicker Gastwirt, missmutig und unattraktiv. Außerdem arbeitete er hart, noch dazu ständig an der Seite seiner Frau. Selbst wenn es mit seinen Chancen beim anderen Geschlecht gut bestellt gewesen wäre, an Gelegenheiten hätte es ihm auf jeden Fall gemangelt.

Sören war inzwischen offenbar bewusst, dass sein Auftreten nicht ganz angemessen war. Er setzte sich wieder hin und ging sogar so weit, Frau Jesses Hand zu nehmen. Erik, der im Dienst noch nie die Hand irgendeiner Person ergriffen hatte, konnte kaum glauben, dass Frau Jesse sie Sören nicht wieder entzog. Aber tatsächlich schien ihr Sörens Anteilnahme gutzutun. Sie verlor einen Teil ihrer Nervosität und sah ihn dankbar an.

Sören sprach jetzt sehr ruhig, Erik fand seinen Ton sogar salbungsvoll. Er wunderte sich immer mehr.

»Gibt es irgendeine Erklärung dafür, Frau Jesse, dass Ihr Mann sich nachts am Strand aufhielt?«

Nun entzog sie ihm doch ihre Hand. »Manchmal brauchte er, wenn wir das Lokal geschlossen hatten, noch ein bisschen Entspannung.«

»Und die fand er, indem er zum Strand ging?«

Sie zuckte mit den Schultern. Erik hätte schwören können, dass Henner Jesse kein einziges Mal in seinem Leben nachts zum Strand gegangen war.

»Warum nicht? Am Ende der Hochsaison ist mein Mann immer total fertig. Er hat schon seit Wochen Schlafstörungen.«

»Wegen der vielen Arbeit? Oder gibt es einen anderen Grund?«

Frau Jesse stand auf und sah auf Sören hinab. »Ich will zu meinem Mann!«

Auch Sören erhob sich. Da Frau Jesse zurückwich, hatte sie nun wohl seine Fahne bemerkt.

»Später, Frau Jesse.«

»Nein! Jetzt!« Sie ging in den Flur und kehrte kurz darauf mit einer Jacke über dem Arm zurück. »Was soll eigentlich diese Fragerei? Es liegt doch auf der Hand, was geschehen ist. Mein Mann hat einen Strandspaziergang gemacht und wurde überfallen. Haben Sie bei ihm eine Brieftasche gefunden?«

Sören sah seinen Chef fragend an, der schüttelte den Kopf.

»Da sehen Sie’s. Er wurde beraubt! Es treiben sich nachts häufig junge Leute am Strand herum, die dort lagern, grillen, saufen und anschließend ihren ganzen Dreck am Strand liegenlassen. Mein Mann hat oft darüber geschimpft. Wahrscheinlich hat er ein paar Jugendliche entdeckt und sie zur Rede gestellt.« Sie drehte sich um und ging in den Flur zurück. Anscheinend erwartete sie, dass die beiden Polizeibeamten ihr folgten. »Das waren sicherlich Drogensüchtige«, rief sie über die Schulter zurück. »Die brauchen immer Geld.«

»Sie fahren am besten schon in den Süder Wung«, raunte Erik seinem Assistenten zu, als sie die Wohnung verließen. »Ich bringe Frau Jesse in die Nordseeklinik und komme dann nach.«

Sören sah blass und mitgenommen aus, als Erik am Süder Wung eintraf. Kraftlos saß er am Küchentisch, die Hände auf der Tischplatte gefaltet, als wollte er im Schnellverfahren und in angenehmer Gesellschaft den versäumten Sonntagsgottesdienst nachholen. Als Erik die Küche betrat, richtete er sich auf und sah ihn erwartungsvoll an. Doch Erik zeigte mit einer knappen Handbewegung an, dass er später mit ihm reden wolle, nach dem Essen und unter vier Augen.

»Was ist los, Sören?«, fragte er stattdessen und gab sich so aufgeräumt, als hätte es nie einen Schwerverletzten im Dünengras gegeben. »Steckt Ihnen der Junggesellenabschied noch immer in den Knochen?«

Sören nickte vage. »Aber wenn ich Ihrer Schwiegermutter beim Kochen zusehen darf, vergesse ich glatt meinen Kater.«

Mamma Carlotta strahlte dankbar, während sie die Antipasti auf einer Platte anrichtete. Sie schien den ersten Schock des Tages verkraftet zu haben, was Erik insgeheim wunderte. Normalerweise bemühte sich seine Schwiegermutter nicht um die schnelle Bewältigung eines Dramas. Sie musste es lange drehen und wenden und sämtliche Eventualitäten und Konsequenzen erwägen. Erst wenn es ihr kein lautes »Madonna!« mehr entlockte, konnte man hoffen, dass sie bereit war, die Fakten ruhen zu lassen. Heute schien es schneller zu gehen. Anscheinend war ihr nicht aufgegangen, wie schlimm es um Henner Jesse stand.

»Du siehst erleichtert aus, Enrico! Ist der Mann doch nicht so schwer verletzt, wie es den Anschein hatte?«

Erik nickte, ohne seine Schwiegermutter anzusehen. »Er kommt wieder auf die Beine.«

»Und weißt du schon, wer ihn so zugerichtet hat?«

»Wenn er bei Bewusstsein ist, wird er es uns erklären.«

Damit war Mamma Carlotta zu seinem Erstaunen fürs Erste zufrieden. Das ließ nur einen Schluss zu: In der Zwischenzeit hatte sich eine weitere Sensation angebahnt.

Und da kam sie auch schon! »Sören war so freundlich, mich zu beraten, Enrico!«, rief sie mit leuchtenden Augen und schien zu erwarten, dass er wusste, wovon sie sprach. »Ist das nicht reizend?«

Irgendetwas hatte sich in der letzten Stunde ereignet, das noch spektakulärer war als ein zusammengeschlagener Mann am Strand. Erik wusste, dass er nicht genauer nachfragen musste – er würde in wenigen Minuten über alles genauestens Bescheid wissen. Er setzte sich und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie wohl es ihm tat, sich an einem gedeckten Tisch niederzulassen. Hätte er geäußert, wie sehr er das genoss, hätte Mamma Carlottas Entzücken über eine derart emotionale Äußerung vermutlich die Antipasti vom Tisch gefegt. Womöglich müsste er sich dann sogar herzen und küssen lassen. Nur das nicht!

»Wobei konnten Sie meine Schwiegermutter beraten, Sören?«

»Bei der Auswahl des richtigen Liedes«, antwortete Mamma Carlotta an Sörens Stelle und holte die Panini aus dem Ofen, die zu den Antipasti serviert werden sollten.

»Ich wusste gar nicht, dass Ihre Schwiegermutter eine so schöne Stimme hat«, meinte Sören und sah seinen Chef an, als wäre ihm ernst, was er sagte. »Es ist nett, wenn während des Kochens gesungen wird, finden Sie nicht auch?«

Sören wusste ganz genau, was sein Chef von der Singerei hielt, die zurzeit sein Haus und seine Ruhe erschütterte. Daher glaubte Erik, aus Sörens Worten die verschlüsselte Botschaft herauszuhören, dass er ebenfalls gern von dem Gesang verschont geblieben wäre, der Qualität der Mittagsmahlzeit zuliebe jedoch vor keiner Lobhudelei zurückschreckte. Wahrscheinlich wirkte er gar nicht wegen des vorabendlichen Alkoholgenusses so mitgenommen, sondern weil er seit einer geschlagenen Stunde etwas vorgesungen bekam.

Erik schenkte seinem Assistenten ein warmes Lächeln. Die Tatsache, dass er mit seiner jähen Abneigung gegen Chorgesang anscheinend nicht allein war, tröstete ihn darüber hinweg, dass er die Hälfte dieses Sonntags mit seiner Arbeit verbringen musste.

Freundlich fragte er seine Schwiegermutter: »Und welches Lied ist nach Sörens Meinung geeignet?«

»Er hat mir vom Ave Maria abgeraten«, berichtete Mamma Carlotta, während sie die Kräuterbutter in eine Form drückte, deren Umrisse der Kuppel des Petersdoms entsprachen. »Und er hat recht. Das Ave Maria ist zu schwer, zu pompös und auch zu anspruchsvoll. Man soll sich nicht zu viel zumuten.«

Erik sah seinen Assistenten fragend an, noch immer verstand er kein Wort. Aber Sören hob nur die Schultern, als wollte er sagen: Ich kann nichts dafür.

»Sören hatte die richtige Idee!« Mamma Carlotta stellte so schwungvoll die Panini auf den Tisch, dass eins aus dem Korb hüpfte und direkt neben Eriks Teller landete.

»Dass ich nicht selber darauf gekommen bin! Ich werde natürlich ein italienisches Lied singen: ›O sole mio‹!«

Erik fuhr zusammen, als Mamma Carlotta urplötzlich in den Sopran wechselte. Dann nahm er erleichtert zur Kenntnis, dass es ihr nicht darum ging, die Mahlzeit mit ihrem Gesang zu bereichern, sondern um die Aufnahme in den Inselchor, auf die sie sich gründlich vorbereiten wollte. Erik konnte nur an eins denken: dass die Chorproben in einem Übungsraum stattfanden, der so weit vom Süder Wung entfernt lag, dass er nichts davon mitbekommen würde. Also nickte er zufrieden und bestärkte seine Schwiegermutter darin, die nächsten Abende mit dem Inselchor zu verbringen. Voll heimlicher Freude malte er sich aus, wie ruhig die Abende sein würden, die ihm bis zum Chorwettbewerb bevorstanden. Kein Heideröslein und auch kein Brunnen vor dem Tore würden in seinem Hause besungen werden.

Mamma Carlotta öffnete die Küchentür und rief ihre Enkel zu Tisch. Erik wunderte sich nur wenig darüber, dass sie ihre Namen nicht nach der Melodie von »Freude schöner Götterfunken« ins Treppenhaus trällerte.

Wenig später erschien Carolin in einem rosa T-Shirt, was Erik sehr überraschte. Normalerweise konnten ihr Kleidung und Frisur gar nicht schlicht genug sein, und jede Art von dekorativem Make-up lehnte sie rundheraus ab. Lucia war, wenn sie Carolins Kleiderschrank öffnete, oft in lautes Wehklagen ausgebrochen, weil sie mit einer Tochter gestraft war, die sich weigerte, sich zu einer reizvollen jungen Frau zu entwickeln. Carolin ließ nur Graues und Beiges an sich heran und duldete als Haarschmuck nicht mehr als das Gummiband, mit dem sie ihre Haare im Nacken zusammenraffte. Und nun ein rosa T-Shirt!

»Wow!«, machte Felix, der hinter ihr die Küche betrat. »Demnächst wird es wohl auch eine weiße Rüschenbluse sein, wie Marianne sie gern trägt. Wie wär’s noch mit einem Dirndl?«

Mamma Carlotta nahm ihm zur Strafe für diese Hänselei sein Käppi ab und versprach ihm Wasser und Brot statt Saltimbocca, wenn er es noch einmal wagen sollte, es bei Tisch auf dem Kopf zu behalten. Dann wandte sie sich Carolin zu, griff, wie sie es schon hundertmal vorher getan hatte, in ihren Nacken und zog ihre Haare aus dem Gummi. »Molto bello, dieses rosa T-Shirt! Nun noch die Haare offen! Ecco, so musst du beim Chorwettbewerb aussehen.«

Erik staunte seine Tochter an, die verlegen lächelte und zum ersten Mal, seit ihre Nonna versuchte, ihre Frisur zu verändern, darauf verzichtete, ihr Haar wieder in das Gummiband zu zwingen. Wenn er sich nicht täuschte, hatte sie sogar ein wenig Rouge aufgelegt. Er musste sich unbedingt bei nächster Gelegenheit nach diesem Michael erkundigen. Und natürlich nach der Familie Silbereisen. Ein völlig untypischer Name für Sylt. Dass ihm der noch nie begegnet war …

»Was ist mit Henner Jesse?«, fragte Felix, schnappte sich mit der linken Hand eine marinierte Paprikaschote und nutzte, während seine Nonna sich darüber empörte, die rechte Hand dafür, sein Käppi wieder auf den Kopf zu schieben. »Ist er sehr schwer verletzt?«

»Er wird durchkommen!«, beruhigte Mamma Carlotta ihn, die immer schneller im Antworten war als Erik. »Sobald er bei Bewusstsein ist, wird er deinem Vater erklären, wer ihn zusammengeschlagen hat. Und dann wird Enrico ihn verhaften, und er wird seine gerechte Strafe bekommen. Davvero, Enrico?«

Während sie die Antipasti aufspießten, die Panini zerbröselten, die Spaghetti aufwickelten, die Holzspieße aus den Kalbsschnitzeln zogen, den krossen Parmaschinken zwischen den Vorderzähnen knirschen ließen, die Panna cotta löffelten und schließlich den Espresso schlürften, warfen Erik und Sören sich gelegentlich Blicke zu, fragende, verständnisinnige, komplizenhafte. Als Erik sich dann erhob, auf seinen Magen klopfte und behauptete, er müsse noch vor dem Grappa ein paar Schritte im Garten tun, um seine Verdauung anzuregen, behauptete Sören sofort, dass auch ihm ein wenig Bewegung guttun würde.

Kaum hatten sie die Terrassentür hinter sich zugezogen, fragte Sören: »Stimmt es wirklich, dass Jesse bald wieder auf die Beine kommt?«

Erik schüttelte den Kopf. »Er ist ins Koma gefallen. Möglich, dass er überlebt, aber wie schwer seine Kopfverletzungen sind, können die Ärzte noch nicht sagen.«

»Und Frau Jesse? Ist sie dabei geblieben, dass er während eines Spaziergangs überfallen und ausgeraubt worden ist?«

Erik nickte. »Sie hat es bestimmt hundertmal wiederholt.«

»So, als dürfe niemand auf die Idee kommen, dass es anders gewesen sein könnte?«

Erik blieb neben einem Busch stehen, als wollte er mit Sören besprechen, wie er für den Herbst zu beschneiden sei. Nervös strich er seinen Schnauzer glatt, wie er es immer tat, wenn er unter Anspannung stand. »Warum haben Sie behauptet, dass Frau Jesse etwas weiß? Glauben Sie etwa, dass sie hinter dem Anschlag auf ihren Mann steckt?« Noch ehe Sören antworten konnte, fügte er an: »Dann vergessen Sie das am besten schnell wieder. Ich kenne die Jesses zwar nicht gut, aber so was ist außerhalb des Möglichen.«

Sören winkte ab. »Das weiß ich. So weit kenne ich die Familie Jesse auch.«

»Was meinen Sie dann? Frau Jesses Verhalten?«

Sören nickte, dann ging er ein paar Schritte tiefer in den Garten hinein. »Sie wissen doch, über welches Thema ich meine Examensarbeit geschrieben habe.«

Erik sah ihn erstaunt an. »Über die kalabrische Mafia! Was hat das mit diesem Fall zu tun?«

»Frau Jesses Verhalten ist typisch für Mafia-Opfer. Warum hat sie ihren Mann nicht vermisst gemeldet? Weil sie längst ahnte, was mit ihm passiert war. Aber sie schreckte vor der Lügengeschichte zurück, die sie Ihnen auftischen musste. Warum nahm sie gleich an, dass er tot ist? Weil die Mafia so mit den Leuten umgeht, die nicht spuren! Und was ist mit der Behauptung, ihr Mann mache nachts manchmal Strandspaziergänge, weil er Schlafstörungen hat? Haben Sie ihr das etwa geglaubt?«

Erik schüttelte den Kopf. »Aber Sie wollen doch nicht etwa sagen …« Er brachte es nicht über sich, den Satz zu Ende zu führen.

Sören war nun derart in seinem Element, dass er ihn sowieso nicht hätte ausreden lassen. »Warum wollte sie uns unbedingt glauben machen, ihr Mann sei das zufällige Opfer von aggressiven Jugendlichen geworden? Weil sie Angst hat, dass die Wahrheit ans Licht kommt und sie dann womöglich als Verräterin dasteht! Sie will nicht, dass es ihr genauso geht wie ihrem Mann.«

Erik legte einen Zeigefinger auf seine Lippen. Sören war in seiner Erregung immer lauter geworden. »Sie wollen wirklich behaupten, die Mafia mache sich auf Sylt breit?«

Sören senkte seine Stimme nur geringfügig. »Wir müssen diese Möglichkeit im Auge behalten. Jesse ist ein Sturkopf. Dem traue ich zu, dass er sich querstellt. Vielleicht auch nur, weil er nicht glauben wollte, was Sie ebenfalls nicht glauben wollen. Wenn Schutzgelderpresser bei ihm aufgetaucht sind, dann hat er sie vielleicht nicht ernst genommen.«

Erik merkte, dass ihm das Atmen schwer wurde. Mit einer raschen Bewegung öffnete er seinen Hemdkragen. Dann entschloss er sich, sogar seinen Pullunder auszuziehen, weil ihm plötzlich warm wurde. »Wir müssen die Staatsanwältin verständigen, wenn sich der Verdacht erhärten sollte.«

»Das wird schwer sein.« Sörens Stimme klang tröstend. Er wusste ja, wie ungern sein Chef mit der Staatsanwältin zusammenarbeitete. Wenn Erik sie anrufen musste, benötigte er manchmal eine ganze Tafel Trauben-Nuss-Schokolade zur Nervenstärkung, wie er sagte, ehe er Frau Dr. Specks Nummer wählen konnte. Und wenn das Gespräch dann beendet war, ärgerte er sich nicht nur über ihre herablassende Behandlung, sondern außerdem über die unnötigen Kalorien.

»Wenn es wirklich stimmt, was ich vermute«, überlegte Sören, »und wenn sich herumspricht, was mit Henner Jesse passiert ist, dann wird es niemanden mehr geben, der sich gegen die Forderungen der Mafia stellt. Wie sollen wir dann beweisen, dass es sie auf Sylt überhaupt gibt?«

Erik, der gerade das auf keinen Fall beweisen wollte, versuchte den Kopf in den Sand zu stecken. »Warten wir erst mal ab, Sören. Vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung, wenn Henner Jesse aus dem Koma erwacht.«

Erleichtert vernahm er Mamma Carlottas Stimme. »Enrico! Sören! Was ist nun mit dem Grappa?« Dann erschrak er, weil ihre Stimme so nah war. Warum hatte er nicht gemerkt, dass sie sich während ihres Gesprächs dem Fenster genähert hatten, das von der Speisekammer nach draußen führte? Und dass es offen stand, war ihm auch nicht aufgefallen. Wie lange mochte Mamma Carlotta dort schon nach der Grappaflasche suchen?

Erik griff nach Sörens Arm und flüsterte: »Kommen Sie! Das mit der kalabrischen Mafia vergessen wir erst mal. Das wäre ja noch schöner! Die Mafia auf Sylt …!«

Sie hatten kaum die Terrassentür wieder aufgeschoben, da stand Mamma Carlotta vor ihnen. »Die Mafia? Auf Sylt?«

»Pscht!« Erik brachte sie mit einer heftigen Handbewegung zum Schweigen. »Dass die Kinder nichts davon mitbekommen!«

»Naturalmente!« Mamma Carlotta flüsterte nun so laut, dass sie ebenso gut über die Umtriebe der Mafia ein Lied hätte anstimmen können. »Dann ist also dieser arme Mann in den Dünen … Terribile!«

In diesem Augenblick waren Felix’ Schritte zu vernehmen, und Mamma Carlotta schwieg augenblicklich. So schwer es ihr auch fiel, sensationelle Neuigkeiten für sich zu behalten, niemals hätte sie etwas gesagt oder getan, was ihre Enkelkinder in Angst und Schrecken versetzte!

Felix hatte sich nach dem Mittagessen in die Gesellschaft seiner Fußballfreunde begeben, wo gelegentlich zwar das Vereinslied gegrölt, aber ganz gewiss nie ein Volkslied gesungen wurde, und Carolin hatte sich zum Üben in ihr Zimmer zurückgezogen. Da es mit der Schallisolierung im Hause Wolf nicht zum Besten stand, kam Erik und Sören der Gedanke, im Kliffkieker noch einmal in aller Ruhe über den Fall Jesse zu reden. Dass sie Mamma Carlotta allein lassen mussten, bedauerten sie zwar, versprachen aber, zum Abendessen pünktlich zurück zu sein. Erst recht, als sie hörten, dass Pizza tonno auf dem Speiseplan stand, die Mamma Carlotta mit vielen roten Zwiebeln und Kapern zu belegen pflegte.

Ärgerlich sah sie den beiden hinterher. Glaubten die wirklich, sie hätte nicht gemerkt, warum sie das Haus verließen? Der Grund lag doch auf der Hand. Sie sollte nicht erfahren, was es mit dem Überfall auf den armen Gastwirt auf sich hatte. Aber wenn tatsächlich die Mafia dahintersteckte, dann musste Erik doch wissen, dass sie ihm helfen konnte! Sie war Italienerin, sie erkannte einen Landsmann auf den ersten Blick und konnte Gespräche belauschen, die auf Italienisch geführt wurden. Hatte er daran noch nicht gedacht? Oder vertraute er ihr etwa nicht?

Am Fuß der Treppe rief sie mit leiser Stimme gegen die laut vorgetragene Behauptung an, in einem kühlen Grunde gehe ein Mühlenrad: »Ich mache einen Spaziergang!« Natürlich hatte Carolin sie nicht gehört, und Mamma Carlotta machte sich zufrieden auf den Weg. Später konnte sie reinen Gewissens behaupten, sie habe vor dem Verlassen des Hauses Bescheid gesagt. Nicht dass sie etwas gegen einen Spaziergang mit ihrer Enkelin gehabt hätte, aber mit Carolin zusammen hätte sie einen anderen Weg wählen müssen, mit einem anderen Ziel. Jetzt jedoch hatte sie beschlossen, ihre Fragen in Käptens Kajüte zu tragen, einen Imbiss, wo sie zwar nicht immer beantwortet, aber doch jedes Mal unter angenehmen Umständen erörtert werden konnten. Nicht nur, dass dort Rotwein aus Montepulciano ausgeschenkt wurde, in Käptens Kajüte ließ sich vor allem jedes kleinste Problem genüsslich drehen und wenden und von allen Seiten betrachten. Dem Wirt blieb nichts anderes übrig, als hinter seiner Theke stehen zu bleiben und sich alles anzuhören, was er erzählt bekam, und Strandwärter Fietje, der dort seine gesamte Freizeit verbrachte, war stets hocherfreut, wenn überhaupt jemand das Wort an ihn richtete. Mamma Carlotta gehörte zu den wenigen, die sein schlechter Ruf nicht scherte.

Mit großen Schritten ging sie den Süder Wung entlang. Wie schön es war, in diesem Tempo eine längere Strecke zu laufen! In ihrem Dorf ging es entweder steil bergauf oder bergab, und wer sich dort fortbewegte, ging langsam und mühevoll oder zumindest sehr vorsichtig. Herrlich, dieses ungehinderte Ausschreiten!

Sie verlangsamte ihr Tempo erst, als sie die Westerlandstraße überquert hatte. Obwohl die Hochsaison vorbei war, herrschte dort noch reger Verkehr. Und das am Sonntag! In ihrem umbrischen Dorf lagen die Gassen an einem Sonntagnachmittag verlassen da, auf Sylt jedoch war der Sonntag allen anderen Tagen gleich.

Als Mamma Carlotta in den Hochkamp einbog, ließ sie die Unruhe hinter sich. Aus einem der Häuser drang der Geruch von gebratenem Fisch, aus einem anderen sanfte Klaviermusik. Hier wohnten nicht nur Feriengäste, sondern auch Sylter. Sie liebte die Endlosigkeit dieser Straßen, die aufs Meer zuliefen und so aussahen, als würden sie direkt in den Himmel führen.

»Ach, Dino«, murmelte sie, »wenn ich dir das zeigen könnte!«

Aber er war ja schon zu krank gewesen, als Lucia sich entschloss, einem deutschen Touristen nach Sylt zu folgen. Von der Hochzeit, die in Umbrien stattfand, hatte er nichts mehr mitbekommen. Was er dachte und fühlte, konnte er am Ende nur noch mit der linken Hand ausdrücken, die unablässig nach ihrer tastete. Ruhig war er nur gewesen, wenn er wusste, dass sie neben ihm saß. An eine Reise nach Sylt war nicht zu denken gewesen, nicht einmal an Lucias Beerdigung hatte sie teilnehmen können. Weinend war sie an Dinos Bett sitzen geblieben, während Lucias sechs Geschwister die schwere Reise nach Norddeutschland antraten.

Carlotta kramte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich kräftig. Hatte sie genug Lebenszeit hingeblättert, um für ihre Reisen nach Sylt zu ihrem Schwiegersohn und ihren Enkeln so viel Geld ausgeben zu dürfen? Oder würde Dino ihr, wenn er es könnte, vorhalten, dass sie sein sauer Erspartes zum Fenster hinauswarf? Sie schickte einen Blick gen Himmel, mit dem sie sich rechtfertigen wollte. Immerhin hatte sie vor jedem Syltbesuch einen Friseur aufgesucht, hatte sich Lippenstift und Lockenstab angeschafft, ihre dunklen Kleider ganz hinten in den Schrank verbannt und stattdessen viel Geld für Blümchenstoffe, bunte Blusen und sogar Hosen ausgegeben. Für diesen Aufenthalt hatte sie nicht einmal vor modischen Schuhen zurückgeschreckt, die sich Sneakers nannten. Dino hätte kein Verständnis für diese Anschaffungen gehabt, aber ehe sie ihm erklären konnte, warum sie sich im Recht fühlte, wenn sie etwas tat, was sie glücklich machte, war sie Gott sei Dank an ihrem Ziel angelangt.

Der Imbiss, der sich Käptens Kajüte nannte, war in einem dunklen Haus untergebracht, das auf einem viel zu großen Grundstück stand. Der Platz hinter dem Haus hätte einen passablen Biergarten abgegeben, war aber mit Bierfässern, Getränkekisten und allerlei Gerümpel zugestellt. Die paar Meter vor der Eingangstür hätten längst gepflastert werden müssen. Ein paar Stehtische wackelten auf dem buckligen Boden hin und her. Nach regnerischen Tagen standen sie in Pfützen, während einer Schönwetterperiode im Staub.

Die Tür zu Käptens Kajüte stand weit offen, wie immer, wenn es nicht regnete und die Temperaturen deutlich über dem Gefrierpunkt lagen. An diesem Tag schien sogar die Sonne, und der Lichteinfall tat dem düsteren Ambiente der Imbiss-Stube sehr gut. Bei Regenwetter und geschlossener Tür verliehen ihr die olivgrünen Bodenfliesen, die holzvertäfelte Decke und die verklinkerten Wände das Flair eines Kohlenkellers.

Das Gesicht des Wirtes verzog sich zu einem Lächeln, als er seinen ersten Gast erkannte. »Signora! Das wurde aber auch Zeit, dass Sie sich hier blicken lassen! Ich dachte schon, Sie hätten sich eine neue Stammkneipe gesucht.«

»Buongiorno!« Mamma Carlotta liebte herzliche Begrüßungen. Wenn diese hier auch nichts mit dem lauten Hallo zu tun hatte, mit dem man sich in der Cafeteria ihres Dorfes zu begrüßen pflegte, so wusste sie doch, dass Tove normalerweise selten mehr als ein genuscheltes »Moin!« über die Lippen kam. Diese vielen Wörter, noch dazu mit einem Lächeln vorgebracht, waren also unbedingt als herzliche Begrüßung zu verstehen.

Strahlend schwang sie sich auf einen Barhocker und stellte hochzufrieden fest, dass es ihr von Mal zu Mal besser gelang, dieses ungemütliche Sitzmöbel zu erklimmen, das aber, wenn man die Unterarme richtig auf der Theke positionierte, dann doch erstaunlich bequem war. »Woher wissen Sie, dass ich schon seit drei Tagen auf Sylt bin?«

»Ich habe Sie bei Gosch an der Kliffkante gesehen. Ich hätte Sie gern angesprochen, aber Sie waren nicht allein.«

»Ja, ich war mit meiner Familie dort.«

»Zum Glück ist mir noch rechtzeitig eingefallen, dass der Hauptkommissar besser nichts davon erfährt, dass Sie bei mir Ihren Rotwein trinken.« Er verschwand in seinem Vorratsraum und kam mit einer Flasche zurück. »Aus Montepulciano! Ich habe gleich nach Ihrem letzten Besuch eine neue Kiste bestellt.«

Aber Mamma Carlotta winkte ab. »Sie wissen doch: Alkohol erst nach Sonnenuntergang!«

Doch nachdem Tove Griess ihr die vielen Ausnahmen vorgehalten hatte, die sie in Käptens Kajüte bereits zugelassen hatte, kam sie zu der Ansicht, dass es auf eine weitere nicht ankam. »D’accordo! Aber nur ein halbes Glas!«

Nachdenklich sah sie zu, wie Tove das Glas randvoll einschenkte, dann fragte sie: »Hatten Sie seit meinem letzten Besuch etwa Ärger mit der Polizei?«

Tove Griess schüttelte den Kopf. »Ein paar Anzeigen wegen Ruhestörung, das war’s auch schon. Ihr Schwiegersohn hatte wenig Arbeit mit mir.« Er warf einen Blick zur Tür, auf die Schritte zugeschlurft kamen. »Und Fietje war seit Ihrem letzten Besuch auch nicht mehr im Bau. Obwohl er dicht dran war.«

Ende der Leseprobe