Tod im Eiskanal - Andrea Gutgsell - E-Book

Tod im Eiskanal E-Book

Andrea Gutgsell

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Beschreibung

Nach seiner Freistellung bei der Zürcher Stadtpolizei hat Kommissar Gubler die Stelle als Sonderermittler bei der Kantonspolizei Graubünden angenommen. Als er an einem kalten Januarmorgen an die Bobbahn in St. Moritz gerufen wird und mit Chefermittler Jenal den Tod eines Weinhändlers aus Zürich untersuchen soll, zeigt sich schnell, dass es sich nicht um einen Unfall handelt. Erneut wird Gubler mit der Engadiner Verschwiegenheit konfrontiert: Wortkarge Aussagen von Zeugen, die alle nichts oder nichts Genaues gesehen haben wollen, treiben ihn fast zur Verzweiflung. Und dass sein ehemaliger Arbeitskollege und Schulfreund Marco Pol ebenfalls zu den Verdächtigen zählt, macht die Sache noch komplizierter. Ein Mord ohne erkennbares Motiv, eine geschichtsträchtige Kulisse und eine verfahrene Ermittlungslage, die zur Zerreissprobe für Freundschaft, Loyalität und Vertrauen wird – Alessandro Gubler ist gefordert.

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Seitenzahl: 244

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Sils

Anruf aus Chur

Olympia Bob Run St. Moritz–Celerina

Schlechte Nachricht für Gubler

Ün s-chierp schmaladieu

Witwe Göker

Der Sommelier

Zauberwürfel I

Der Liebhaber

Rutschpartie

Zürich

Lichtblick

In dubio pro vino

Zurück im Büroalltag

Societed dramatica da Segl

Zurück auf Feld eins

Die schnellste Taxifahrt der Welt

Nichts Neues und doch einen Schritt weiter

Gedankenaustausch

Hannas Empfehlung

Chur – Akteneinsicht

Nachricht aus Chur

Dr. Brunner

Chalandamarz

Montagmorgen

Zauberwürfel II

Zuckererkrankung

Silser Eventpark

Nachricht aus der Rechtsmedizin

Fingerabdrücke

Lebensversicherung

Wendepunkt

Morgenüberraschungen

Über den Autor

Über das Buch

Andrea Gutgsell

Tod im Eiskanal

Autor und Verlag danken für die Unterstützung:

Willi Muntwyler-Stiftung St. Moritz

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2024 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Thomas GierlKorrektorat: Philipp HartmannCoverbild: Ģirts KehrisUmschlaggestaltung: Hug & Eberlein, LeipzigeBook-Produktion: 3w+p, Rimpar

Andrea Gutgsell

Tod im Eiskanal

Kriminalroman

Natürlich gibt es den Olympia Bob Run St. Moritz–Celerina, aber die folgende Geschichte hat sich so nie zugetragen. Auch die Figuren sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Begebenheiten wären rein zufällig.

Für meine Kinder Tanja, Seraina und Gian Enea

Sils

«Üna bella merda, selbsterklärend!»1 Gubler sass vor seinem Computer und kämpfte sich durch das Erhebungsformular Schafstatistik – Alpsommer 2023.

Sein Freund, Lurench Palmin, hatte ihn darum gebeten, diese Pendenz für ihn zu erledigen. Lurench selbst weilte in Zürich bei den Schlussproben des Theaterstücks Ich Romeo – sie Julia. Gubler musste lachen. Julia hiess eigentlich Gertrud, stammte aus Niederösterreich und war wie Palmin Schauspielerin. Kennengelernt hatten sich die beiden nicht, wie in solchen Kreisen üblich, auf der Bühne, sondern beim Projekt Rettet die Trockenmauern.

«Bis Ende Januar muss die Statistik beim Kanton eingereicht werden. Das Formular findest du auf der Internetseite Bündner Bauer. Unter der Rubrik Alpwirtschaft kannst du die Alpstatistik als PDF aufrufen. Das Ausfüllen ist selbsterklärend.»

Er griff nach seinem Handy und wählte Lurenchs Nummer.

«This is the personal voicemail of Lurench Palmin ...»

«Scheiss Anrufbeantworter», fluchte Gubler. Ungeduldig hörte er sich die Begrüssung an. Es nützte nichts. Er musste Lurench ans Telefon bekommen. Er brauchte dessen Hilfe bei den letzten beiden zwingenden Fragen.

«... Iʼm not able to take your call. You are welcome to call again at a later time or leave a message with your name and telephone number. Thank you! Piep.»

«Chau Lurench. Hier ist Alessandro. Deine Statistik hat ein Problem. Sie fragen nach deiner Subventionsnummer und der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Das Programm akzeptiert keine Fragezeichen und ...» Er wechselte ins Rätoromanische, als wolle er die Dringlichkeit eines Rückrufes unterstreichen. «Telefona inavous. Urgaint. Chau.»2 Er war sich sicher, dass er in den nächsten Minuten die Antwort auf die beiden Fragen haben würde. Denn Lurench war der Meinung: «Nur auf meinem Konto sind die hart verdienten Direktzahlungen am richtigen Ort.»

Gubler verliess das Büro und stellte sich mit einem Glas Orangensaft auf den Balkon. Er sog die kalte, klare Luft durch die Nase ein, hielt den Atem drei Sekunden lang an und stiess ihn dann wieder durch die Nase aus. Er wiederholte die Übung. Sein Puls und sein Wohlbefinden stiegen schlagartig. «Schnauftherapie», nannte Hanna diese Technik: «Die Atemtherapie hat einen positiven Einfluss auf den Körper, Geist und die Seele. In der Psychiatrie wird sie bei Stresszuständen, Burnout-Syndrom, Schlaf- und Essstörungen angewandt.»

Am Anfang kam er sich ziemlich blöd vor, als er unter Hannas Anleitung das «neue Schnaufen» übte.

Beim fünften «Atmen» vibrierte sein Handy. Er schaute aufs Display. Die Nummer kannte er nicht.

«Hallo ..., wer ist da?» Im Hintergrund war Motorenlärm zu hören.

«Chau Alessandro. Conradin hier.»

«Wer?»

«Conradin. Conradin Casutt.»

«Ah. Chau Conradin. Entschuldige, ich habe dich nicht verstanden.»

«Warte, ich geh nach draussen.» Der Lärm verstummte. «Kannst du mich jetzt verstehen?»

«Klar und deutlich.»

«Kurze Frage: Können wir uns heute Nachmittag eine halbe Stunde früher treffen?»

«Natürlich.»

«Super. Dann bis später. Chau»

«Chau.» Gubler liess das Handy in der Hosentasche verschwinden.

Er wusste nicht, ob er sich auf den Nachmittag freuen sollte. Hanna hatte ihm zu Weihnachten eine komplette Langlaufausrüstung geschenkt. Inklusive zweier Trainingseinheiten mit Conradin Casutt, dem ehemaligen Spitzenlangläufer. Damit du knackig bleibst!, hatte sie auf den Gutschein geschrieben.

Er schloss die Augen und reckte sein Gesicht in die Mittagssonne. In Gedanken verglich er sein jetziges Leben mit dem zurückliegenden Lebensabschnitt in Zürich und kam zum Schluss: Er war nicht unglücklich.

Ein schrilles Pling signalisierte den Eingang einer Nachricht.

Subventionsnummer: GEG 23012014/Fläche 12 ha.

Grazcha fich mieu Edelbürolist. Salüds da «tia» cited. Lurench.3

Gubler musste lachen. Er konnte dem schauspielernden Landwirt nicht böse sein. Er tippte die Antwort in sein Handy: Vo a’t fer arder.4

Zurück im Büro füllte er die Lücken mit den Angaben aus, die er von Lurench erhalten hatte, und klickte auf Senden.

Kurz nach dreizehn Uhr verliess Gubler die Wohnung, die Langlaufski unter den Arm geklemmt. Seine Langlauferfahrung beschränkte sich auf den klassischen Diagonalschritt, und der war so alt wie sein zu enger, neonfarbener Odlo-Anzug aus den Achtzigern.

Er war sich sicher, dass er die Skating-Technik schnell verinnerlichen würde, und freute sich darauf, bald über den zugefrorenen Silsersee zu gleiten. Dass Skaten auf Langlaufski viel mit Gleichgewicht zu tun hat, wusste er noch nicht.

Als er die Fedacla-Brücke überquerte, kam ihm Raschèr, der Chef der Werkgruppe Sils, entgegen. Gubler bereitete sich auf einen Spruch vor. Raschèr enttäuschte ihn nicht: «Schöner Anzug, Herr Kommissar. Gibt’s den auch in XXL?» Lachend schwang sich Raschèr in die Pistenmaschine und startete den Motor. Schwarzer Rauch quoll aus den beiden Auspuffrohren. «Viel Spass. Wir sehen uns heute Abend an der Gemeindeversammlung.» Er schloss die Tür und fuhr los.

«Auch Spötter müssen sterben!», rief ihm Gubler hinterher, gefolgt von einer nicht ganz jugendfreien Geste.

Die ausserordentliche Gemeindeversammlung am Abend versprach viel Zündstoff. Das Thema Neugestaltung Eventpark Muot Marias hatte bereits im Vorfeld für heftige Diskussionen gesorgt.

«Ein Eventpark ist mit dem Schutz der Silser Ebene nicht vereinbar. Zudem sind die Lärmemissionen, die von einer derart überdimensionierten Anlage ausgehen würden, untragbar.» So die klare Meinung der Gegner. «Eine Kunsteisbahn, die Verlängerung des Kinderlifts und ein Skatepark sind das Mindeste, was gebaut werden muss», lauteten die Voten der Befürworter. «Sils darf das Gästesegment der Familien nicht verlieren», meinte der Tourismusdirektor, und zu guter Letzt meldete sich auch noch der Gemeindepräsident zu Wort: «Die Anpassungen beim Muot Marias und die damit verbundene Verlegung des Werkhofs sind notwendig und wegweisend für Sils», warb er in seiner Botschaft. «Es geht ihm in erster Linie um einen weiteren lukrativen Auftrag», ärgerte sich Raschèr. Die Verlegung des Werkhofs aus dem Dorfkern heraus war seit Jahren ein Thema. Eine ungenutzte Parzelle in der Planungszone Industrie Föras hatte die nötige Grösse und war für ein solches Projekt eingezont worden. Einziges Problem: Die Parzelle gehörte dem Gemeindepräsidenten Eros Tschumy, und der Preis stimmte noch nicht.

Gubler freute sich auf die Versammlung. In Zürich hatte ihn die Politik nicht interessiert. Aber hier, in diesem kleinen, beschaulichen Dorf, hatte sie durchaus etwas Reizvolles. Und: Er freute sich auf Eros Tschumy. Der war ihm seit der letzten Affäre konsequent aus dem Weg gegangen. Er nahm sich vor, Tschumy in den nächsten Tagen aufzusuchen. Er wollte reinen Tisch machen. Der Fall der Gletscherleiche war für ihn abgeschlossen. Er hoffte, dass ein klärendes Gespräch zwischen ihnen zu einer tragfähigen Lösung führen würde.

Freunde, das war ihm klar, würden sie wohl nie werden.

Endnoten

1Üna bella merda, selbsterklärend! Zum Teufel, selbsterklärend!

2Telefona inavous. Urgiaint. Chau. Ruf mich zurück. Es ist dringend. Ciao.

3Grazcha fich mieu Edelbürolist. Salüds da «tia» cited. Lurench. Danke, mein Edelbürolist. Liebe Grüsse aus «deiner» Stadt. Lurench.

4Vo a’t fer arder. Geh zum Teufel.

Anruf aus Chur

Gubler lag noch im Bett. Hanna hatte Frühdienst und war schon weg. Die gestrige Langlaufstunde war eine echte Herausforderung gewesen. Ihm schmerzten alle Knochen. «Geh nach Hause und nimm ein Dulixbad», hatte Conradin ihm geraten, als die Stunde vorbei war. «Morgen hast du den schlimmsten Muskelkater deines Lebens.»

Bei zwanzig hatte er aufgehört zu zählen, wie oft er auf den Hintern gefallen war. Von dem Gedanken, im Skatingstil elegant über den See zu gleiten, hatte er sich bis auf Weiteres verabschiedet. Auch Conradins Frage, wann sie sich wiedersehen würden, hatte er unbeantwortet gelassen. Er hatte genug von diesem Sport und überlegte ernsthaft, ob er die Langlaufski wegen Nichtbenutzung in der Engadiner Post zum Verkauf ausschreiben sollte. Sein Handy vibrierte auf dem Nachttisch. Er drehte sich auf die Seite und griff nach dem Telefon. Sofort erkannte er die Nummer: Enea Cavelti von der Kriminalpolizei Chur.

Nach seiner ungerechtfertigten und später wieder rückgängig gemachten Entlassung bei der Stadtpolizei Zürich hatte er selbst gekündigt und seine Zelte in der Zwingli-Stadt abgebrochen. Caveltis Angebot, als Ermittler bei der Kriminalpolizei Graubünden zu arbeiten, hatte er nach reiflicher Überlegung und intensiven Gesprächen mit Hanna schliesslich angenommen. Seine Bedingungen, die Sommermonate weiterhin als Schäfer im Val Fex verbringen zu können und seinen Wohnsitz nicht nach Chur verlegen zu müssen, waren dabei die grössten Hürden gewesen.

«Ein Homeoffice auf der Alp können wir dir nicht bieten», hatte Cavelti gescherzt. «Aber ein Aussenbüro in Samedan kann ich beim kantonalen Amt für Justiz und Sicherheit Graubünden beantragen.»

Gubler erhielt einen Arbeitsvertrag mit dem Zusatz: saisonale Nebentätigkeit als Schafhirt.

Er rollte sich aus dem Bett. Nach einer heissen Dusche zog er sich an, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Viel Auswahl gab es nicht. Er entschied sich für den Karamelljoghurt. Er spürte jeden Muskel. «Churchill hatte recht. Sport ist Mord», murmelte er und wählte Caveltis Nummer.

Nach zweimaligem Klingeln nahm dieser ab. «Cavelti.»

«Ich habe es gesehen.»

«Was hast du gesehen?»

«Dass du mich angerufen hast. Was ist los?»

«Soll ich später anrufen?»

«Nein. Warum?»

«Deine Laune scheint im Keller zu sein.»

«Nein. Es ist alles in Ordnung. Es ist nur ...» Cavelti kam in den Genuss einer kurzen Zusammenfassung des gestrigen Langlauftrainings.

«Gegen den Muskelkater hilft ein Saunagang oder ein heisses Bad.»

«Schon geschehen. Sogar mit Dulix!»

«Dann hilft nur eines: Regeneration forcieren und sofort weiter trainieren.»

«Vergiss es. So schnell stehe ich nicht mehr auf diesen Brettern.» Gubler löffelte den letzten Rest aus seinem Becher. «Warum hast du mich gesucht?»

«Ich habe Arbeit für dich. Heute Morgen wurde auf der Bobbahn in St. Moritz eine Leiche gefunden.»

Er ging zurück ins Büro und hörte sich Caveltis Ausführungen an.

«Das sind alle Informationen, die ich zu diesem Fall habe. Die Spurensicherung und der Notarzt sind bereits vor Ort. Mauro Jenal von der Kantonspolizei Samedan leitet den Fall.»

«Und was soll ich dort, wenn schon alle vor Ort sind?»

«Jenal hat mich gebeten, dich zur Unterstützung aufzubieten.»

Mauro Jenal. Der ehemalige Postenchef im Unterengadin hatte die Nachfolge von Not Trombetta angetreten, der nach über vierzig Jahren Polizeidienst in den Ruhestand getreten war. Das Urgestein der Engadiner Kriminalpolizei hatte sich entschieden, zwei Jahre früher in Pension zu gehen. Für viele eine Überraschung. Man munkelte jedoch, er habe gehen müssen. Seine ungewöhnliche Arbeitsweise und die Weigerung, die neuen Kommunikationsmittel zu nutzen, sollten der Grund für die Frühpensionierung gewesen sein. Mauro Jenal wurde zwar ein nicht ganz einfacher Charakter nachgesagt, aber er war immer wieder als Nachfolger von Enea Cavelti im Gespräch gewesen.

«Ich habe einen Streifenwagen losgeschickt, der dich abholt.»

Es klingelte. Er öffnete. Draussen stand ein Polizist. Gubler nahm den Hörer vom Ohr. «Warten Sie im Wagen.» Der junge Polizist salutierte. Gubler schloss die Tür.

«Jenal wartet bei der Bobbahn auf dich. Hast du noch Fragen?»

«Nein. Alles verstanden. Das Taxi ist da. Ich melde mich bei Jenal.»

Er verabschiedete sich von Cavelti, steckte das Telefon in die Hosentasche, suchte die wärmste Jacke, die er finden konnte, und verliess die Wohnung. Der junge Polizist sass im Streifenwagen. Als er Gubler sah, liess er den Motor aufheulen. Gubler stieg ein. Derungs, so hiess der Polizist, trat aufs Gaspedal und fuhr mit Blaulicht aus dem Dorf hinaus. Gubler schrieb Hanna noch schnell eine Nachricht: Es wird später heute. Einsatz in St. Moritz. Mittagessen ohne mich.

Derungs jagte das Fahrzeug in halsbrecherischem Tempo die Seestrasse entlang. Alle vorausfahrenden Fahrzeuge wurden, wenn nötig, mit Sirene aus dem Weg gedrängt. Kurz vor Silvaplana wechselte eine Ampel gerade von blinkendem Gelb auf Rot. Gubler war froh, dass Derungs abbremsen musste, doch dieser schaltete sofort die Sirene wieder ein, um weiterzufahren.

«Derungs, schalten Sie sofort den verdammten Lärm und das Drehlicht aus! Es besteht keine Eile. Die Leiche ist tot.» Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen: Die Leiche ist tot. Was sollte eine Leiche sonst sein?

Derungs war mit der Situation überfordert. Er wusste nicht mehr, wem er gehorchen sollte.

«Major Cavelti hat mir befohlen, Sie so schnell wie möglich zum Tatort zu fahren.»

Gubler nickte. «Ich werde dem Major berichten, dass Sie seinen Befehl mehr als befolgt haben.» Er sah den Polizisten streng an. «Aber ich bitte Sie: Fahren Sie jetzt einfach mit der erlaubten Geschwindigkeit weiter, sonst kotze ich Ihnen das Fahrzeug voll, und wir sind bestimmt später am Ziel, als ihnen lieb ist.»

Derungs gehorchte.

Olympia Bob Run St. Moritz–Celerina

Gubler und Derungs standen vor einer imposanten, vereisten 180-Grad-Kurve und warteten auf Kommissar Jenal. Auf einer gelben Tafel, die an der Holzverkleidung oben in der Kurve befestigt war, stand Horse Shoe und daneben ein stilisiertes Hufeisen.

Interessiert las Gubler auf der Informationstafel die Geschichte dieser einzigartigen Schneekonstruktion.

Obwohl sich während mehr als 100 Jahren Bahnbaus vieles verändert hat, sind die Grundsätze die gleichen geblieben, denn die Konstruktion erfordert viel Erfahrung und Augenmass. Mitte November beginnt das bange Warten auf den ersten Schnee, das Baumaterial für den Olympia Bob Run St. Moritz–Celerina. Anfang Dezember reist die Südtiroler Bahnmannschaft an, um innerhalb von drei Wochen aus 15’000 m3 Schnee und 10’000 m3 Wasser die grösste Schneeskulptur der Welt in die herrliche Naturarena des Oberengadins zu bauen.

Die Bahn wird jedes Jahr von Grund auf neu errichtet, auf chemische Stoffe wird dabei gänzlich verzichtet. Der Olympia Bob Run ist somit auch die ökologischste Bobbahn der Welt!

«Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.»

Erst beim zweiten «Danke» merkte Gubler, dass jemand mit ihm sprach.

«Bedanken Sie sich bei ihm», sagte er und lächelte Derungs an. «Nur seinem vorsichtigen Fahrstil ist es zu verdanken, dass ich schon hier bin.»

«Vorsichtiger Fahrstil?», fragte Jenal überrascht.

«Vorsichtig und zurückhaltend. Wie es sich für einen Polizisten gehört», antwortete Gubler.

Jenal drehte sich ungläubig zu dem jungen Polizisten um: «Manfred, du kannst nach Samedan auf den Posten zurückkehren. Ich rufe dich, wenn ich dich wieder brauche.»

Derungs nickte Jenal zu und war sichtlich froh, dass er gehen durfte. Mit schnellen Schritten lief er zum Dienstfahrzeug, das er oberhalb eines Holzchalets auf einem Parkplatz abgestellt hatte.

«Jenal.»

«Gubler.»

Sie schüttelten sich die Hände.

«Ist er wirklich vorsichtig gefahren?»

«Ab Silvaplana schon.»

«Das habe ich mir doch gedacht. Seinen Spitznamen ‹Kamikaze› hat er nicht von ungefähr.»

«Wo ist die Leiche?», fragte Gubler.

«Im Devils Dyke.»

«Wo?»

Jenal blickte in zwei verständnislose Augen. «Der Olympia Bob Run St. Moritz–Celerina», begann er zu erklären, «ist die einzige Bobbahn der Welt, bei der die Kurven nicht durchnummeriert sind, sondern einen Namen tragen.»

«Aha. Dass es die einzige Natureisbahn ist, habe ich gelesen. Aber das mit den Kurven ist mir neu.» Gubler wollte gerade die nächste Frage zum Olympia Bob Run stellen, wurde aber unterbrochen.

«Hey, Jenal, haben Sie kurz Zeit?»

Ein langer, schlaksiger Mann kam auf sie zu. Jenal stellte ihn Gubler vor.

«Rechtsmediziner Bivetti.»

«Gubler.»

«Soso. Sie sind also Gubler? Na gut. Folgen Sie mir.» Bivetti drehte sich um und stapfte davon. Sie folgten ihm. Für Gubler war es eine Qual. «Verdammter Muskelkater!», keuchte er.

«Muskelkater?», fragte Jenal.

Gubler fasste die gestrige Langlaufstunde kurz zusammen und war froh, als sie am Fundort angekommen waren. Die Spurensicherung machte gerade die letzten Fotos und sammelte die Täfelchen ein, die rund um die Leiche im Schnee steckten.

«Wie weit seid ihr?», erkundigte sich Bivetti.

«Wir suchen noch die nähere Umgebung ab, dann sind wir fertig.»

«Nun gut, nun gut.» Er wandte sich wieder an Gubler und Jenal: «Und nun zu euch Kommissaren. Bei der Leiche handelt es sich um einen etwa fünfzigjährigen Mann, der wenige Meter von der Bahn entfernt neben einem umgestürzten Monobob lag. Die leichte Bekleidung deutet darauf hin, dass er vor seinem Tod nicht beabsichtigte, sich lange im Freien aufzuhalten. Er trug nicht einmal einen Helm, es ist also unwahrscheinlich, dass er so Bob gefahren ist. Es sei denn, es handelte sich um irgendeine bescheuerte Mutprobe. Es ist davon auszugehen, dass Fundort und Tatort nicht identisch sind. Todesursache und Todeszeitpunkt sind unklar. Eine Blutprobe wurde entnommen, und den Mageninhalt werden wir nach der Obduktion kennen.» Er sah Jenal an. «Ich werde dir den Bericht per Mail schicken. Irgendwelche Fragen?»

Gubler musste lachen. Dr. Blarer von der Rechtsmedizin Zürich kam ihm in den Sinn.

«Lassen Sie mich mitlachen, Gubler. Unser Beruf ist schwer genug.»

Gubler versuchte ernst zu bleiben. «Seid ihr Rechtsmediziner alle so?»

«So, wie?»

«Ich kenne einen Kollegen in Zürich, der ganz ähnlich arbeitet wie Sie.»

«Peter Blarer?»

Gubler war überrascht: «Genau den meine ich. Kennen Sie ihn?»

«Wir haben zusammen studiert und seziert», lachte Bivetti. «Eine verrückte Zeit. Nun gut. Zurück zu unserem Fall. Wie gesagt, Fundort und Todesort sind nicht identisch, und ich zweifle daran, dass es ein Unfall war.»

«Was macht Sie so sicher?», wollte Gubler wissen.

«Die Verletzungen!»

«Die Verletzungen?»

«Ja, die Verletzungen. Oder besser gesagt: der Mangel an Verletzungen.» Bivetti bekam einen Hustenanfall. «Entschuldigung. Wintergrippe. Diese trockene Engadiner Luft im Winter wird mich noch umbringen.» Er wandte sich ab und trank einen grossen Schluck Hustensirup. Langsam erholte er sich. «Hustensirup aus Arvenholz. Das Einzige, was hilft.» Er steckte die Flasche in die Innentasche seiner Winterjacke. «Wenn Sie mit einem Bob den Eiskanal hinunterfahren, stürzen und aus dem Bob geschleudert werden, müssten irgendwo Abschürfungen zu sehen sein.» Er zog die grüne Plastikplane von der Leiche. «Sehen Sie selbst. Keine Prellungen, keine Schürfwunden, keine Knochenbrüche. Nichts!»

Gubler betrachtete die Leiche, ohne sie zu berühren. Der Tote war unversehrt. Er war elegant gekleidet. Der Hemdsärmel am linken Arm war hochgekrempelt. Bivetti hatte recht. Für einen Sturz in der Bobbahn sah der Tote völlig unverletzt aus. «Sie glauben also, dass die Leiche hierhergebracht wurde?» Er steckte das Notizbuch in die Jackentasche.

«Hergebracht oder begleitet. Ich weiss es nicht, und er kann auch nicht mehr antworten.» Der Arzt zog die Folie wieder über den Leichnam.

Gubler konnte ihm nicht folgen. «Was meinen Sie damit?»

«Nun gut. Zum dritten Mal. Denken Sie daran, was ich gesagt habe: Tatort und Fundort sind nicht identisch.» Bivetti musste einen weiteren Hustenanfall mit dem Arvensirup bekämpfen. «Basta. Ich habe meine Arbeit getan, der Rest ist eure Sache.»

«Wer ist der Tote?»

«Keine Ahnung. Er hatte keinen Ausweis bei sich.»

«Handy?»

«Nein. Ausser der Leiche und dem Bob haben wir nichts gefunden. Vielleicht hat die Spurensicherung mehr Erfolg. Fragen Sie Wachmeister Rüdisüli.»

Gubler kniete sich neben den Toten und betrachtete ihn. Er wollte gerade aufstehen, als er einen Bluterguss am linken Arm bemerkte. «Woher kommt das?»

«Sieht nach einer missglückten Injektion aus. Wir untersuchen den Leichnam auch auf Drogenkonsum oder Krankheiten.»

«Was meinen Sie mit Krankheiten?»

«Diabetes oder so.» Weiter kam er nicht mehr. Den dritten Hustenanfall konnte Bivetti nicht mehr bekämpfen. Die Sirupflasche war leer. Ohne sich zu verabschieden, ging er.

Jenal und Gubler sahen ihm nach.

«Tip da lʼimpussibel.»5

«Ja, das kann man laut sagen.»

Auch Wachtmeister Rüdisüli konnte nicht helfen. «In einer Stunde haben Sie den vorläufigen Bericht.»

«Wer hat die Leiche gefunden?», wollte Gubler wissen.

Jenal zog sein übergrosses Handy aus der Hosentasche, fuhr mit dem Zeigefinger über das Display und las ihm vor: «Die Leiche wurde um 05.12 Uhr vom Bahnangestellten Hofer gefunden.» Er wischte ein zweites Mal über das Display und reichte ihm das Handy. «Hier ist das Einvernahmeprotokoll.»

Gubler schaute auf das Handy. «Und wo ist der Text?»

Jenal verstand nicht. «Welcher Text?»

«Sie sagten doch etwas von einem Protokoll.»

Jenal nahm ihm das Telefon wieder ab und tippte auf das Display. «Sie müssen auf Play drücken.»

Aus dem Lautsprecher ertönte die Aussage des Bahnarbeiters Hofer. Gubler hörte konzentriert zu.

«Können Sie das noch einmal abspielen?»

«Sicher.» Jenal liess die Aufnahme erneut ablaufen.

«Was hat er gesagt?» Gubler sah Jenal ratlos an.

«Ich musste es mir auch mehrmals anhören, bis ich es verstanden habe. Wenn Sie wollen, übersetze ich es Ihnen.»

Gubler winkte ab. «Ich möchte diesen Hofer persönlich sprechen. Wo finden wir ihn?»

«Oben im Personalgebäude beim Sunny Corner. Er wartet dort mit seinen Kollegen, bis die Bahn wieder frei ist.»

«Sunny Corner ...», Gubler schüttelte den Kopf, «und wo ist das?»

«Vor dem Nash-Dixon Corner.»

«Nummerieren wäre einfacher gewesen.»

Sie marschierten los.

Im Untergeschoss des Personalgebäudes befand sich der Aufenthaltsraum der Bahnmannschaft. Gubler und Jenal betraten den überhitzten Raum. An zwei Tischen sassen schweigend etwa vierzehn Männer. Auf Gublers Begrüssung folgte ein Gemurmel, das Gubler als «guat morgn» zu verstehen glaubte.

«Mogst an Kaffee?», fragte ein rundlicher Mann, der sich eine weisse Schürze umgebunden hatte.

«Zu einem Kaffee kann ich nie nein sagen.»

«Und du?» Der Koch sah Jenal an.

«Auch einen. Danke.» Der Mann verschwand in der Küche.

Gubler sah sich um. «Wer von euch ist der Hofer?» Sieben Männer hoben die Hand. Ihm lag schon ein Fluchwort auf der Zunge, doch er beherrschte sich. «Ich meine den Hofer, der die Leiche gefunden hat.»

«Sell wor i.»

Der Koch kam mit dem Kaffee. Er stellte zwei grosse Tassen und eine Kanne Milch auf den Tisch. «Huckt aich nieder.» Er machte den beiden ein Zeichen, sich zu setzen. Sie nahmen Platz.

Gubler griff nach der Kanne und füllte seine Tasse bis zum Rand mit heisser Milch. «Und wie heissen Sie?» Er sah den Mann an, der sich als Entdecker der Leiche zu erkennen gegeben hatte.

«Hofer. Hannes Hofer» Er hatte ein sympathisches Gesicht und einen gesunden Teint. Gubler schätzte ihn auf Mitte zwanzig.

«Wann fangen sie mit der Arbeit an?» Gubler zog sein Notizbuch hervor und schrieb den Namen auf.

«Um sechse, wenn koa Rennen isch, um fünfe, wenn a Rennen isch, oft amol friher, wenns gschniben hot, und um siebne, wenn lai Taxifohrten sain.»

«Und heute?» Er musste sich konzentrieren, um Hofer zu verstehen.

«Hots gschniben.»

«Sie sind also vor fünf Uhr morgens an der Bobbahn angekommen?»

«Na!»

«Nein?»

«Um zehn noch fünf. Hob verschlofen.»

Der Südtiroler Dialekt war eine Herausforderung für Gubler. «Haben Sie etwas Verdächtiges bemerkt?»

«Na!»

«War etwas anders als sonst?»

«Jo!»

«Und was?»

«A Laich, lag neben der Bohn.»

Gublers Blick schweifte durch den Raum. Er bereitete sich auf ein Gelächter vor. Doch bis auf Jenal, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte, reagierte keiner der Anwesenden.

«Hat noch jemand etwas gesehen, das uns weiterhelfen könnte?»

«Na, ausser vielleicht», Hannes meldete sich noch einmal zu Wort, «ausser, dass der Bob dort sicher nid stürzen koan.»

Jenal wollte noch etwas Fragen, aber Gubler gab ihm zu verstehen es gut sein zu lassen.

Aus der Runde kam nichts mehr. Er stellte die üblichen Fragen, die in einer solchen Situation gestellt werden müssen. Jenal protokollierte. Brauchbare Hinweise kamen nicht. Er brach die Befragung ab. «Falls jemandem noch etwas einfällt, hier ist meine Telefonnummer.» Er legte seine Visitenkarte auf den Tisch. «Oder wendet euch an Kommissar Jenal.» Dieser legte seine Karte ebenfalls auf den Tisch.

«Wann kennen miar orbaten gehen?», fragte ein etwas älterer Mann aus der Runde.

Gubler sah Jenal an. Der zückte sein Handy und schüttelte den Kopf. Er hatte noch nichts von Rüdisüli gehört. «Wir müssen auf die Freigabe der Spurensicherung warten. Wir halten euch auf dem Laufenden. Noch Fragen?»

Keiner der Anwesenden meldete sich. Gubler und Jenal tranken ihren Kaffee aus und verabschiedeten sich.

Auf dem Rückweg Richtung Horse Shoe fasste Gubler die spärlichen Fakten zusammen: «Eigentlich haben wir nichts Brauchbares.» Er erkannte keine Logik hinter den Informationen. Einen Unfall konnte er ausschliessen, in diesem Punkt gab er dem Rechtsmediziner recht. Er musste herausfinden, wer ein Interesse am Tod des Mannes haben konnte. Warum musste er sterben? Am Horse Shoe angekommen, blickte er gedankenverloren auf die 180-Grad-Kurve. «Würden Sie in einen Bob steigen und da runterfahren?»

«Nie im Leben», winkte Jenal ab. «Und Sie?»

«Ich auch nicht.» Er streckte Jenal die Hand entgegen: «Alessandro.»

«Mauro.»

«Das Duzis-Bier trinken wir später, wenn es dir recht ist.» Jenal war es recht. «Komm. Lass uns zum Bahnchef gehen. Vielleicht kann der uns weiterhelfen. Wie war doch gleich sein Name?»

Jenal zückte sein Smartphone und googelte die Internetseite des Olympia Bob Run. Er fand ein Foto des Betriebsleiters. «Erwin Spälti.»

Gubler blieb stehen und überlegte. «Erwin Spälti?»

«Kennst du ihn?»

«Nein, aber der Name sagt mir etwas.»

Jenal suchte auf der Homepage nach weiteren Informationen. «Er war früher ein bekannter Rodler», las er Gubler vor.

Am Parkplatz unterhalb des Telephone Corners stiegen sie in Jenals Dienstwagen und fuhren zum Start des Olympia Bob Runs hoch. Kurz vor dem Hotel Uors bogen sie links ab. Eine steile, vereiste Strasse führte hinauf zum Start. Schon von Weitem winkte ihnen ein Sicherheitsmann zu. Jenal fuhr weiter, hielt neben dem wild fuchtelnden Parkplatzeinweiser an und kurbelte das Fenster herunter: «Wir wollen zum Betriebsleiter.»

«Kein Platz, alles besetzt.»

Jenal holte seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn dem verärgerten Mann unter die Nase. «Ich bin sicher, Sie haben einen Platz für unser Fahrzeug.»

«Versuchen Sie es in der Tiefgarage, sonst fahren sie runter zum Ziel, auf den grossen Parkplatz.» Ohne einen Gruss wandte er sich dem nächsten Fahrzeug zu. Gubler wollte noch etwas sagen, aber Jenal fuhr am Sicherheitsmann vorbei und stellte das Fahrzeug auf den einzigen freien Platz vor dem Starthaus. Ein Schild wies auf ein Parkverbot hin: Parken verboten. Wir schleppen ab! Dracula Club.

«Das Risiko gehen wir ein.»

Lachend stiegen sie aus. Sie suchten nach einem Infostand, fanden aber keinen. Gubler fragte einen Mann, der mit zwei Helmen in der Hand aus einer Garage kam, wo der Empfangsraum sei.

«Devi andare al Taxistand», er nickte Richtung Ausgang, «a desra, sotto la scala.»

Gubler bedankte sich. Sie folgten den Anweisungen des Mitarbeiters und fanden tatsächlich den Empfang unter der Treppe. Sie gingen hinein. Gublers Blick wanderte umher. An der linken Wand hingen verschiedene Kleidungsstücke, die zum Verkauf angeboten wurden. In der Mitte des Raumes stand ein Holzregal voller Souvenirs. Tassen, Schlüsselanhänger, Taschenmesser, Flaschenöffner, Bücher und vieles mehr waren sorgfältig ausgestellt und warteten auf Käuferinnen und Käufer. Er blätterte in einem Buch, das den Bau der Bahn dokumentierte und mit eindrucksvollen Bildern versehen war. Im hinteren Teil des Raumes hingen Urkunden und Fotos erfolgreicher Bobfahrer und Olympiasieger an der Wand. In einer Vitrine waren Medaillen von Weltmeisterschaften und eine Goldmedaille von der Olympiade 1972 in Sapporo ausgestellt. Darüber hing ein Metallstück mit der Aufschrift Die Achse der Nation. Gubler las auf der dazu angebrachten Hinweistafel, dass dieses Metallteil zur Disqualifikation von drei Schweizer Bob-Mannschaften geführt hatte, da die aus mehreren Teilen bestehende und nicht verschweisste Achse nicht regelkonform gewesen sei.

«Wie kann ich Ihnen helfen?»

Hinter dem Empfangstresen, geschützt durch eine Plexiglasscheibe, sass eine Frau.

«Wir suchen Herrn Spälti, den Betriebsleiter.» Jenal zeigte ihr seinen Dienstausweis.

«Sie sind wegen des Toten hier, nehme ich an. Kommen Sie mit. Ich bringe Sie zu ihm.»

Sie verliessen den Empfangsraum und stiegen eine Wendeltreppe hinauf, die in den Startturm führte. Hier herrschte ein wildes Durcheinander. Ein durchtrainierter Mann mit einem Handy am Ohr eilte durch den Raum. Als er Gubler und Jenal sah, verabschiedete er sich von seinem Gesprächspartner. «Christian, ich muss auflegen. Die Polizei ist hier. Ja, ich rufe dich später zurück.» Er drückte den Anruf weg und wandte sich den Besuchern zu: «Erwin Spälti.»

Gubler und Jenal stellten sich ebenfalls vor.

«Bevor wir mit der Befragung beginnen, habe ich eine dringende Frage.»

«Bitte. Was immer es für eine Frage ist, raus damit», antwortete Gubler.

«Können Sie mir sagen, ab wann wir den Betrieb aufnehmen können?»

Gubler schaute zu Jenal.

«Sobald die Spurensicherung ihre Arbeit abgeschlossen hat und der Leichnam abtransportiert wurde, können Sie starten», antwortete dieser.

«Ich weiss, das klingt etwas pietätlos, aber bei uns zählt jede Minute. Verlorene Fahrten bedeuten für uns einen Verlust, den wir nicht wiedergutmachen können.»

Spältis Handy klingelte ununterbrochen.

«Gehen Sie ruhig ran.»

Spälti schaute auf das Display. «Die Zeitung mit den grossen Buchstaben. Die sollen warten.»

Jenal hatte inzwischen mit der Spurensicherung telefoniert und konnte den Betriebsleiter einigermassen beruhigen: «In zehn Minuten wird die Bahn freigegeben.»

Gubler nahm sein Notizbuch zur Hand. «Also, Herr Spälti.»

«Darf ich Sie nochmals kurz unterbrechen? Ich möchte den Speaker über die Bahnfreigabe informieren.»

Gubler war genervt. Das Ganze lief ganz und gar nicht nach seinem Gusto. «Bitte. Tun Sie, was Sie tun müssen.»

«Danke. Ich komme gleich wieder und bin dann ganz bei Ihnen.»

«Das wäre wunderbar.»

Spälti verschwand in einen Raum voller Computer und Bildschirme, auf denen die ganze Bahn zu sehen war. Er informierte den Speaker über die Neuigkeiten. Dieser schmetterte die News sofort in das Mikrofon: «In zehn Minuten können wir mit dem ersten Spurschlitten starten. Ten minutes to the start.»