Tod im Hafen - Robert B. Parker - E-Book

Tod im Hafen E-Book

Robert B Parker

4,8

Beschreibung

Die Leiche einer jungen Frau wird im Hafenbecken der neuenglischen Kleinstadt Paradise angespült. Schnell findet Polizei-Chef Jesse Stone die Identität der Toten heraus: Florence Horvath aus Florida - attraktiv, reich und mit einer Vorliebe für außergewöhnliche Sexspielchen. Eine Kombination, die ihr offensichtlich zum Verhängnis wurde. Bei seinen Ermittlungen stößt Jesse Stone auf Widerstände. Zuletzt wurde Florence auf einer Jacht in Fort Lauderdale gesehen. Besitzer und Crew schweigen, ebenso wie Florences Schwestern, die sehr blonden und sehr gebräunten Zwillinge. Auch die Eltern verhalten sich merkwürdig unbeteiligt. Ein scheinbar kaum zu entwirrendes Geflecht aus Sex, Lügen und Verdrängung, aber Jesse ist ein sturer Hund und ein Fall ist erst dann abgeschlossen, wenn er geklärt ist.

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Robert B. Parker · Tod im Hafen

Robert B. Parker wurde 1932 geboren. Nach seinem M.A. in amerikanischer Literatur promovierte er 1971 über die »Schwarze Serie« in der amerikanischen Kriminalliteratur.

Seit seinem Debüt »Spenser und das gestohlene Manuskript« im Jahr 1973 hat er über 50 Bücher veröffentlicht. 1976 erhielt er für den Titel »Auf eigene Rechnung« den Edgar-Allan-Poe-Award für den besten Kriminalroman des Jahres. Neben den überaus erfolgreichen »Spenser«- und »Jesse-Stone«-Reihen veröffentlichte Parker auch einzelne Krimis, darunter »Wildnis«.

Am 18. Januar 2010 verstarb Robert B. Parker in Massachusetts.

Robert B. Parker

Tod im Hafen

Ein Fall für Jesse Stone

Übersetzt von Bernd Gockel

PENDRAGON

Sie segelten bereits im offenen Meer hinter Stiles Island, als das Wetter plötzlich umschlug. Der Himmel hatte sich schlagartig verdunkelt. Die steife Brise peitschte ihnen die ersten Regentropfen ins Gesicht. Die Weinflaschen waren geleert, die Gespräche verstummt – es gab keinen Grund mehr, den Ausflug noch weiter zu verlängern.

„Ich hab den Eindruck, als sei was mit dem Kiel nicht in Ordnung“, rief der Mann an der Pinne. „Kannst du mal nachschauen?“

Florence stand auf, beugte sich runter und zog das Kielschwert nach oben. Es ließ sich problemlos bewegen. Das Boot kippte leicht zur Seite. Sie drückte das Schwert wieder ins Wasser. Das Boot stabilisierte sich, schlug dabei aber so hart gegen eine Welle, dass der Baum seitwärts über die kleine Kajüte sauste und voll ihren Brustkorb erwischte. Der Schlag nahm ihr den Atem. Sie torkelte rückwärts und stürzte ins schwarze Wasser. Die eisige Kälte raubte ihr fast den Verstand. Sie schnappte nach Luft und schluckte Wasser, schaffte es aber, den Kopf über Wasser zu halten. Als sie sich umschaute, konnte sie sehen, dass das Segelboot bereits wendete und wieder zurückkam. Sie schlug noch immer wild um sich und war außer Atem, bemühte sich aber, ihre Gedanken langsam zu ordnen. In der Ferne sah sie die Häuser von Paradise, die sich eng an den Hügel über dem Hafen drängten. Sie sah den Turm der ältesten Kirche im Ort, die genau auf der Spitze des Hügels stand. Das Boot kam direkt auf sie zu. Sie strampelte verzweifelt. In spätestens einer Minute würde es hier sein. Halt durch! Halt nur noch ein bisschen durch! Durch den Grauschleier des Regens sah sie bereits die Gischt am Bug, sah den Mast mit dem stählernen Spannschloss, sah sogar schon den Schutzlack auf der Unterseite des Bootes.

In wenigen Sekunden würde der Steuermann das Segel einziehen und sich gegen den Wind stellen, damit sie sich an der Reling hochziehen konnte. Sie strampelte mit den Beinen und hielt sich halbwegs über Wasser, um regelmäßig atmen zu können. Doch das Boot stellte sich nicht gegen den Wind! Es kam direkt auf sie zu! Der Bug rammte ihren Oberkörper und drückte ihn unter Wasser. Halb bewusstlos kämpfte sie sich wieder nach oben. Doch das Boot segelte weiter und ließ sie zurück. Sie versuchte zu schreien, verschluckte sich aber. Sie tauchte unter und schluckte noch einmal. Und verlor das Bewusstsein.

Das kleine Boot, das Segel voll am Wind, nahm Kurs auf den Hafen. Ohne sie.

1

Als Jesse Stone eintraf, war der Türsteher des „Dory“ gerade damit beschäftigt, ein feuchtes Handtuch auf seine blutende Nase zu drücken. Suitcase Simpson, wie immer in Jesses Schlepptau, trug seine Uniform, während Jesse den Dienst in Jeans und einem kurzärmligen Hemd versah. Sein Revolver saß auf der rechten Hüfte, die Polizeimarke steckte in der Brusttasche, doch der Stern auf der aufgeklappten Vorderseite war problemlos sichtbar.

„Du ziehst doch sonst nie den Kürzeren, Fran“, sagte Jesse.

Der Rausschmeißer zuckte die Schultern. Sein rechtes Auge war völlig geschwollen.

„Eine Nummer zu groß für mich, Jesse. Würd mich nicht wundern, wenn ihr den Typen nur abknallen könnt.“

„Na dann schaun wir doch mal“, sagte Jesse.

Er ging hinein. Obwohl die Bar gut besucht war, sprach niemand ein Wort. Auf dem Tresen stand ein hünenhafter Mann und trank „Wild Turkey“ aus einer Flasche, auf der eine Trinktülle saß. Der Mann hielt die Flasche schräg über seinen Kopf und ließ den Whiskey einfach in sich hineinlaufen. Judy, die Barkeeperin, hatte schon ihre Stellung geräumt und sich beim Eingang in Sicherheit gebracht. Sie hatte einen blonden Pferdeschwanz und trug Turnschuhe, Shorts und ein knappes Oberteil.

„Haben Sie uns angerufen?“, fragte Jesse.

Sie nickte.

„Er war schon hackevoll, als er reinkam“, sagte sie.

Jesse nickte.

„Er machte ein paar dumme Sprüche, worauf ich ihm sagte, dass ich ihn nicht bedienen würde. Als er noch mehr dumme Sprüche machte, versuchte Fran zu helfen …“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Weißt du, wer das ist?“, flüsterte Simpson in Jesses Ohr.

„Carl Radborn“, sagte Jesse. „Profi-Footballer. Wollen wir ihn um ein Autogramm bitten?“

„Ich wollt’s ja nur gefragt haben“, murmelte Simpson.

Jesse bahnte sich den Weg durch die stumme Menge, Simpson in seinem Windschatten.

„Hey“, rief Radborn. „Rette sich, wer kann. Die Paradise-Cops laufen ein.“

Radborn war mindestens 1,95 Meter groß und wog um die drei Zentner. Angesichts seiner Ausmaße wirkte die Bar wie ein niedliches Miniatur-Modell. Jesse grinste ihn an.

„Hätte wohl besser meine Großwild-Büchse mitbringen sollen“, sagte er.

„Scheiße aber auch“, sagte Radborn und sprang vom Tresen herunter, die Flasche noch immer in der Hand. „Weißt du überhaupt, wer ich bin, mein Junge?“

„Eine Frage, die ich immer besonders schätze“, sagte Jesse. „Klar weiß ich, wer Sie sind. Als Sie im letzten Jahr gegen die Baltimore Ravens spielten, hat Jonathan Ogden aus Ihnen Kleinholz gemacht.“

„Fick dich ins Knie“, sagte Radborn.

„Oh“, sagte Jesse, „an diese Variante hatte ich bislang noch gar nicht gedacht.“

Ein paar Leute in der Bar kicherten.

„Ist mir scheißegal, ob du ein Cop oder sonst was bist“, sagte Radborn. „Ich reiß dir den Arsch auf – und den von deinem fetten Bübchen hier gleich mit.“

Simpsons Gesichtsfarbe wurde sichtbar dunkler.

„Wenn Sie sich da mal nicht täuschen“, sagte Jesse. „Das sind mehr Muskeln als sonst was.“

„Ich spiel Football“, sagte Radborn, „und wer Football spielt, lässt sich von niemandem auf der Nase tanzen. Bist du bereit für ein Tänzchen?“

„Wär vielleicht besser, wenn wir das Tänzchen nach draußen verlegen“, sagte Jesse.

„Fick dich.“

„Ich interpretiere das als ein Nein“, sagte Jesse. „Suit, gib mir doch mal deinen Knüppel.“

Simpson nahm den Gummiknüppel aus seiner Halterung und reichte ihn Jesse.

„Und du glaubst, der verdammte Zahnstocher würde dir helfen?“, höhnte Radborn.

Er war etwa 15 Zentimeter größer als Jesse und sicher 50 Kilo schwerer. Jesse nahm den Knüppel, zog ihn in einer nahtlosen Bewegung durch und donnerte ihn in Radborns Hoden. Radborn stöhnte und beugte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht nach vorne. Jesse trat blitzschnell einen Schritt hinter ihn und verpasste ihm einen Schlag in die Kniekehlen. Die Beine knickten ein, Radborn ging auf die Knie. Jesse griff mit einer Hand in seine Haare und riss Radborn weiter herunter, bis er mit dem Gesicht auf dem Fußboden lag. Dann schaute er sich zu Simpson um.

„Und ich hab Baseball gespielt“, sagte er. „Leg ihn in Ketten, Kollege.“

Simpson legte ihm die Handschellen an. Mit Hilfe des Rausschmeißers schafften sie es, Radborn halbwegs auf die Beine zu stellen und nach draußen zum Streifenwagen zu zerren. Er hatte offensichtlich den ganzen Tag gebechert und war kaum noch bei Sinnen. Als sie ihn auf den Rücksitz bugsiert hatten, wippte er halb ohnmächtig auf seinem Sitz hin und her – und der ganze Streifenwagen wippte mit. Plötzlich lehnte er sich gegen den Sitzgurt nach vorne und übergab sich. Die zahlreichen Barbesucher, die nach draußen gekommen waren, johlten und applaudierten.

Die beiden Cops und der Rausschmeißer schauten Radborn für einen Moment sprachlos an.

„Die Rennwoche halt“, sagte der Rausschmeißer.

„Und heute ist gerade mal der erste Tag“, sagte Jesse.

Simpson setzte sich hinters Steuer, während Jesse auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Sie ließen umgehend ihre Fenster herunter. Jesse schaute durch das Schutzgitter nach hinten. Just in diesem Moment übergab sich Radborn erneut.

„Einer der Vorteile, Polizeichef zu sein“, sagte Jesse. „Mit dem Säubern des Streifenwagens hat man nichts mehr am Hut.“

„Übernimmt das immer der Fahrer?“, fragte Simpson.

„Sieht ganz so aus.“

2

Jenn und Jesse hatten sich auf die Terrasse des „Gray Gull“ gesetzt, um den Blick über den Hafen genießen zu können.

„Drehen die Leute bei der Rennwoche immer so durch?“, fragte sie.

„Zumindest in den Jahren, seit ich hier meine Zelte aufgeschlagen habe“, sagte Jesse.

„Und das alles nur, um ein paar Segelbooten beim Rennen zuzusehen?“

„Und zu saufen, prassen und huren“, sagte Jesse. „Vielleicht ziehen sie sich auch ein weißes Pülverchen durch die Nase oder gehen ins Wettbüro. Und die oberen Zehntausend kommen hierher, um ihre Deals zu machen und vielleicht einen dicken Fisch an Land zu ziehen. Die großen Boote trudeln sogar schon einen Monat vor dem Rennen hier ein. Viele kommen zur Rennwoche, ohne je ein Rennen zu sehen.“

Er trank Eistee, während Jenn einen Daiquiri bestellt hatte. Sie trug eine modische Sonnenbrille von Oakley – die mit einem futuristisch gewölbten Gestell. Die Terrasse war nach Osten hin ausgerichtet, während die Sonne im Westen bereits unterging und durch das Restaurant völlig verdeckt wurde. Jenn arbeitete als Wetterfee bei einer Fernsehstation in Boston und wurde auch in Paradise von Passanten regelmäßig erkannt. Ihre Sonnenbrille half dabei herzlich wenig, dachte Jesse, aber das war wohl auch kaum der Grund, warum sie die ausgefallene Brille trug. Sie bemerkte, dass er sie ansah, und streckte ihre Hand über den Tisch.

„Wie geht’s uns denn?“, fragte sie.

„So weit, so gut“, sagte Jesse.

Im Hafen drängten sich die Rennsegelboote, während gleich hinter der Hafenausfahrt, im tieferen Wasser des Ozeans, die großen Jachten vor Anker gegangen waren.

„Beteiligen sich die großen Boote auch an den Rennen?“, fragte Jenn.

„Einige schon“, sagte Jesse. „Am Ende der Rennwoche segeln einige von ihnen bis runter nach Virginia Beach. Man hat mir erzählt, dass die Rennjachten anders aussehen als die üblichen Segelboote, aber ich bin nun mal eine Landratte und kann keine Unterschiede feststellen.“

Die Kellnerin brachte ihnen zwei Portionen Hummersalat und ein Glas Weißwein für Jenn.

„Auf unserem News-Ticker kam die Nachricht, dass du gestern diesen Football-Hünen verhaftet hast“, sagte Jenn. „Einer unserer Sportredakteure machte mich darauf aufmerksam.“

„Er randalierte im ‚Dory‘“, sagte Jesse. „Zerlegte die Nase des Türstehers in Einzelteile.“

„Der Redakteur erzählte, du hättest ihn mit dem Knüppel zur Strecke gebracht.“

„Stimmt. Musste mir allerdings den Knüppel von Suit ausleihen“, sagte Jesse.

„Ich war mit … wie heißt er noch gleich? Redford?“

„Radborn“, sagte Jesse.

„Ich hab Radborn mal auf einer Benefiz-Veranstaltung kennengelernt“, sagte Jenn. „Er ist ja wirklich ein echter Riese. Hattest du keinen Schiss? Nicht mal ein klein bisschen?“

„Je größer sie sind, umso …“

„Oh nein, erzähl mir nicht diesen Schmu“, sagte Jenn.

Jesse grinste. „Wie wär’s mit: Wenn Hunde kämpfen, kommt’s nicht auf die Größe …“

„Nein, ernsthaft. Es interessiert mich. Es interessiert mich, wie du funktionierst.“

„Wenn du mal ein Cop warst, vor allem ein Großstadt-Cop wie ich, dann lernst du halt nach ’ner Weile, mit solchen Situationen richtig umzugehen.“

„Aber er ist zweimal so groß wie du.“

„Es geht nicht um dein Gegenüber“, sagte Jesse. „Entscheidend bist du selbst.“

„Okay, was ist denn dein Geheimnis?“

Jesse grinste.

„Normalerweise die Gewissheit, dass du noch ein paar Kollegen in der Hinterhand hast.“

„Und diesmal?“

„Nun, Suit hätte eingreifen können, aber der Laden war rappelvoll. Und Radborn lief Amok und …“

„Und riskierte obendrein noch die dicke Lippe.“

„Genau. Wenn du’s also über die Bühne bringen musst, mach’s zügig. Einen Typen wie Radborn erwischst du entweder sofort – oder kannst ihn dir nur noch mit der Knarre vom Leib halten.“

„Und was hast du gemacht?“

„Ich haute ihm mit Suits Gummiknüppel in die Eier.“

„Autsch“, sagte Jenn. „Und das war alles?“

„Im Prinzip ja.“

„Bevor du kamst, unterhielt ich mich mit unserem Barkeeper hier“, sagte Jenn.

„Doc“, sagte Jesse.

„Ja. Er erzählte mir, du wolltest den Fall nicht weiter verfolgen.“

Jesse trank einen Schluck Eistee und grinste sie an, als er das Glas wieder abstellte.

„Heute Morgen, als er aus seinem Koma wieder erwachte, stellten wir ihn vor die Wahl: Er konnte die Bekanntschaft des Amtsrichters machen oder den Streifenwagen putzen.“

„Den Streifenwagen putzen?“

„Er hatte reingekotzt.“

„Guten Appetit“, sagte Jenn. „Das war’s dann wohl mit dem Abendessen.“

„Nun tu nicht so. Du bist doch so sensibel wie ein Stacheltier.“

„Aber erheblich schnuckeliger“, sagte Jenn. „Und –hat er’s wirklich gemacht?“

„Hat er“, sagte Jesse. „Und wir ließen ihn laufen.“

„Und das alles mit seinem Kater.“

„Und es war ein ausgewachsener Kater, soweit ich das ermessen konnte.“

„Du bist ja in solchen Dingen bewandert“, sagte Jenn.

„Bin ich.“

Für eine Weile aßen sie schweigend ihren Hummersalat. Er schmeckte mäßig. Jesse kam eigentlich immer zum gleichen Urteil, wenn er im „Gray Gull“ aß, doch der Laden war unkompliziert und freundlich – und im Sommer, wenn man auf der Terrasse sitzen konnte, hatte man einen göttlichen Blick auf den Hafen. Davon abgesehen: Jesse machte sich nicht übermäßig Gedanken, was er nun gerade in seinen Mund schob.

Nach dem Abendessen machten sie einen kleinen Bummel am Kai. Die kleinen Gässchen, die zum Hafen führten, waren gut besucht. Viele der Passanten waren angetrunken, einige schon auf Krawall gebürstet. Jesse tat so, als würde er sie gar nicht sehen.

„Ich hab meine Sachen mitgebracht“, sagte Jenn.

„Zum Übernachten?“

„Ja“, sagte Jenn. „Ich werd erst morgen Nachmittag wieder im Studio gebraucht.“

„Hast du sie schon ins Haus gebracht?“

„Ja, ich hab sie im Schlafzimmer deponiert.“

„Klingt vielversprechend“, sagte Jesse.

„Es ist vielversprechend“, sagte Jenn, „aber erst muss ich mein Abendessen abspazieren.“

„Du warst nie das ‚Liebe-auf-den-vollen-Magen-Girl‘“, sagte Jesse.

„Ich mag’s eben, wenn alles perfekt passt“, sagte Jenn.

„Kein Problem“, sagte Jesse.

Die Straßen wurden stiller, je weiter sie sich vom Hafen entfernten. Statt Bars und Restaurants gab es hier nur noch die alten Wohnhäuser, die von beiden Seiten auf die Bürgersteige zu drücken schienen. Es waren schmale Gässchen mit Kopfsteinpflaster, verwitterten Fassaden, Bleiglasfenstern, Wetterfahnen und Balkonen mit schmiedeeisernen Brüstungen. Da auch die Straßenbeleuchtung aufs Notwendigste reduziert war, hatte man fast das Gefühl, sich im Stadtkern einer alten europäischen Stadt zu befinden. Jenn griff beim Gehen nach Jesses Hand.

„Diesmal“, sagte sie, „könnten wir’s wirklich packen.“

„Vielleicht“, sagte Jesse. „Wenn wir nur pfleglich miteinander umgehen.“

In vielen Häusern waren die Fenster erleuchtet. Hinter den Vorhängen sahen sie Leute, die vor dem Fernseher saßen, ein Buch lasen, sich miteinander unterhielten oder alleine tranken – alles nur ein paar Handbreit vom Bürgersteig entfernt.

„Seit wann hast du nicht mehr getrunken?“, fragte Jenn.

„10 Monate und 13 Tage.“

„Vermisst du’s?“

„Ja.“

„Vielleicht schaffst du’s ja irgendwann, dir gelegentlich einen Drink zu genehmigen“, sagte Jenn. „Wenn du in Gesellschaft bist, meine ich.“

„Mag sein“, sagte Jesse.

„Vielleicht könnten wir’s bald ja auch wagen, mehr als nur einen Tag zusammen zu verbringen.“

„Mag sein“, sagte Jesse.

Sie waren inzwischen in einer Gegend angekommen, in der die Fenster nur sporadisch erleuchtet waren. Die Straßen wurden dunkler. In der lautlosen, salzhaltigen Luft waren ihre Fußtritte laut und deutlich zu vernehmen.

„Seit unserer Scheidung hast du mit vielen Frauen geschlafen“, sagte Jenn.

Jesse grinste in die Dunkelheit hinein.

„Man kann halt nie genug kriegen“, sagte er.

„Doch, kann man“, sagte Jenn. „Und das weißt du auch ganz genau.“

„Ja, weiß ich.“

„Und in meinem Leben gab es auch viele Männer.“

„Ich weiß.“

„Beschäftigt dich das?“

„Ja.“

„Möchtest du drüber reden?“

Jesse schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte er. „Noch nicht.“

„Noch nicht?“

„Erst wenn ich die Hintergründe besser verstehen kann.“

Jenn nickte.

„Sprichst du noch immer mit Dix?“

„Manchmal.“

„Sprecht ihr dann auch über dieses Thema?“

„Manchmal“, sagte Jesse. „Beschäftigen dich denn die Frauen in meinem Leben?“

„Hält sich in Grenzen“, sagte Jenn. „Hauptsächlich, weil ich gar nicht erst über sie nachdenken will.“

Ihr ausgedehnter Bummel hatte sie erst am Hafenkai vorbeigeführt, dann in die Altstadt hoch und nun wieder zurück zum Hafen, wo sich Jesses Apartment befand. Vor seiner Haustür blieben sie stehen.

„Fest steht nur eines“, sagte Jenn. „Der Mann in meinem Leben bist nun du.“

„Ja“, sagte Jesse.

„Willst du auf der Terrasse noch was fummeln?“, fragte Jenn. „Oder sollen wir lieber gleich ins Bett?“

Jesse nahm sie in seine Arme.

„Es gibt keinen Grund zur Eile“, sagte er.

„Das liebe ich an einem Mann“, flüsterte Jenn und gab ihm einen langen Kuss.

3

Die Leiche lag auf dem Bauch und schwappte leicht gegen die Kaimauer. Sie trieb auf dem dunklen Wasser des Hafens, das an dieser Stelle einen öligen Film hatte – umgeben von zerbrochenen Krabbenpanzern, toten Fischen und Styropor-Fetzen, die offenbar durch nichts kleinzukriegen waren. Im Kielwasser eines Motorbootes schaukelte die Leiche sachte hin und her. Die Seemöwen hatten bereits ein Auge auf den Körper geworfen – und unter dem Seetang konnte Jesse auch einen Schwarm kleinerer Fische erkennen.

„Muss eine Frau sein“, sagte Simpson. „Trägt ein Kleid.“

„Noch kein narrensicherer Beweis“, sagte Jesse, „aber gehen wir der Einfachheit halber mal davon aus.“

Das Boot hatte einen Wasserwirbel ausgelöst, der die Leiche um ihre eigene Achse drehte. Ihre Füße stießen gegen die Kaimauer.

„Wir müssen sie irgendwie rausholen“, sagte Jesse.

„Sie muss schon eine Weile im Wasser gewesen sein“, sagte Simpson. „Man kann schon von hier sehen, wie aufgedunsen sie ist.“

„Besorgt ein Segeltuch“, sagte Jesse. „Arthur, Peter Perkins und du holt sie raus. Deckt sie dann mit dem Tuch ab. Wir wollen ja nicht, dass unsere Segler noch vor dem Rennen seekrank werden.“

„Und was ist mit uns Cops?“, fragte Simpson.

„Versuchs runterzuschlucken“, sagte Jesse. „Alles andere wär schlecht fürs Image der Polizei.“

Jesse hatte schon genug Wasserleichen gesehen und verspürte nicht das Bedürfnis, sich heute noch eine weitere anzutun. Er schaute zu den kleinen Segelbooten hinüber, die langsam den Hafen verließen, um draußen vor Stiles Island an den Start zu gehen. Am hinteren Ende der Insel konnte er ein paar weiße Schaumkronen erkennen. Würde bestimmt kein Zuckerschlecken sein, unter diesen Bedingungen zu segeln. Hinter ihm war der Wagen der Gerichtsmediziner eingetroffen. Sie holten eine Bahre heraus und rollten sie die Rampe zum Wasser hinunter. Einer der Mediziner, eine Frau, ging vor der Leiche in die Hocke und schlug das Segeltuch zurück. Jesse bemerkte, dass seine drei Cops geflissentlich wegsahen. Er grinste. Die Medizinerin hatte offensichtlich keinen empfindlichen Magen, sondern sah sich die Leiche eingehend an. Als sie fertig war, schlug sie das Tuch wieder zurück und gab ihren Kollegen ein Zeichen. Sie kamen, legten die Leiche auf die Bahre und schoben sie wieder zum Wagen zurück. Ein paar Schaulustige, überwiegend Teenager, verfolgten die Prozedur. Dann und wann kicherte einer von ihnen.

„Irgendwas Interessantes?“, fragte Jesse die Frau.

„Wir müssen sie unters Messer nehmen“, sagte sie. „Sie ist zu aufgedunsen, um jetzt schon was sagen zu können.“

„Gibt’s Hinweise auf ihre Identität?“, fragte Jesse.

„Noch nicht.“

„War sie schon lange im Wasser?“

„Ja“, sagte die Frau. „Sieht so aus, als hätten die Krabben an ihr geknabbert.“

„Krabben?“

„Hmm.“

„Was bedeuten würde, dass sie auf dem Meeresboden gelegen hat“, sagte Jesse.

„Oder an der Küste angespült wurde.“

Jesse nickte. „Sonst noch was?“

Sie schüttelte ihren Kopf.

„Wir wissen mehr, wenn wir sie auf den Tisch gelegt haben“, sagte sie.

„Haben Sie was dagegen, wenn mein Spurensicherungs-Experte mitkommt?“, fragte Jesse.

„Nicht die Bohne“, sagte die Frau. „Wir werden ihm schon ein paar appetitliche Sachen zeigen können.“

„Herr im Himmel“, stöhnte Peter Perkins.

Simpson verfolgte, wie der Wagen abfuhr. Er hatte ein rundes, blasses Gesicht mit rosigen Pausbacken, doch momentan war jegliche Farbe aus seinem Gesicht verschwunden.

„Wenn man so was sieht“, sagte er betroffen, „wenn man hautnah mitbekommt, wie ein angefressener, aufgedunsener, stinkender Körper aussieht, dann kommen einem unweigerlich die Fragen nach Leben und Tod.“

Jesse nickte.

„Schwer vorzustellen, wie so ein Körper in den Himmel kommen soll“, sagte Simpson.

„Da haben die sterblichen Körper sowieso nichts verloren“, sagte Arthur.

„Ja, ich weiß.“

Die drei Männer schwiegen für eine Weile.

„Denkst du jemals über solche Sachen nach, Jesse?“, fragte Simpson.

Jesse nickte.

„Und – zu welchem Ergebnis kommst du dann?“

„Zu dem Ergebnis, dass ich nichts weiß.“

„Das ist schon alles?“, fragte Simpson.

„Das ist alles“, sagte Jesse. „Was nicht bedeutet, dass es kein Leben nach dem Tod gibt. Es bedeutet aber auch nicht, dass es ein ewiges Leben gibt. Es bedeutet nur, dass ich nichts weiß.“

„Und das reicht dir, Jesse?“

„Muss halt reichen. Für mich ist das Universum zu groß und zu kompliziert, um’s kapieren zu können.“

„Das ist eben der Punkt, wo der Glaube ins Spiel kommt“, sagte Arthur.

„Wenn er denn kommt“, sagte Jesse.

„Für mich jedenfalls tut er’s“, sagte Arthur.

Jesse nickte.

„Hauptsache, es funktioniert“, sagte er. „So, und nun beschäftigen wir uns mal mit der Frage, wer unsere Wasserleiche in ihrem früheren Leben wohl war.“

4

Jesse hatte sich den Obduktionsbericht gleich zur Hand genommen, als er am nächsten Morgen um 8 Uhr 40 das Revier betrat. Molly saß hinter der Telefonzentrale, hatte momentan aber nichts zu tun.

„Glaubst du, dass sie von einer der großen Jachten gefallen ist?“, fragte sie.

Jesse konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Mit ihrem überdimensionalen Polizeigürtel sah Molly immer eine Nummer aus. Wobei ihre Körpergröße eigentlich nie ein Problem war. Es gab herzlich wenig, wofür Molly zu klein war. Sie war dunkelhaarig, hübsch und besaß vor allem eine unstillbare Neugier und wilde Entschlossenheit.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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