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Sommer in Spiez. Es herrscht Ferienstimmung in der schönsten Bucht Europas, über der erhaben das Schloss thront. Megan, Ermittlerin der Kapo Bern, und ihrer Tante Ida werden die wohlverdienten Feierabenddrinks allerdings zünftig verhagelt. Eine 70-jährige Tote, anonyme Briefe, ungewöhnliche Sachbeschädigungen und ein Mord sorgen für Aufregung. Während Ida sich den Klatsch im Dorf anhört, befragt Megan systematisch einen Verdächtigen nach dem anderen. Irgendetwas ist faul, die Frage ist nur, wer verheimlicht hier eigentlich was und warum?
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Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Irène Mürner
Tod im Schloss Spiez
Kriminalroman
Sturz im Bergfried Sommer in Spiez. Es herrscht Ferienstimmung in der schönsten Bucht Europas, über der seit Jahrhunderten das ehrwürdige Schloss thront. Megan, Ermittlerin der Kapo Bern, und ihrer Tante Ida werden die wohlverdienten Feierabenddrinks allerdings zünftig verhagelt. Eine 70-jährige Tote, anonyme Briefe, ungewöhnliche Sachbeschädigungen und schließlich ein Mord im Schloss sorgen für Aufregung. Während Ida sich den Klatsch und Tratsch im Dorf anhört, befragt Megan systematisch einen Verdächtigen nach dem anderen. Irgendetwas ist faul, die Frage ist nur, wer verheimlicht hier eigentlich was und warum? Hat die Umweltschützerin etwas mit der afghanischen Flüchtlingsfamilie zu schaffen? Welche Pläne verfolgt das undurchsichtige Paar auf dem Flugplatz Bern Belp? Megans und Idas Methoden ergänzen sich perfekt, so muss es ihnen doch gelingen, den verworrenen Fall zu entwirren!
Irène Mürner ist begeisterte Weltenbummlerin, ausgebildete Lehrerin, Flugbegleiterin und Bibliothekarin. Acht Jahre als Polizistin waren zudem so inspirierend, dass sie mittlerweile am liebsten Kriminalromane schreibt. Nebenbei war sie – genau wie ihre Protagonistin – passionierte Besucherführende im Tropenhaus Frutigen und ist jetzt im Schlossmuseum Spiez unterwegs. Nach fünf Jahren Kenia und diversen anderen Stationen lebt die gebürtige St. Gallerin heute mit ihrer Familie im Berner Oberland am Thunersee.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ake1150 / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3150-5
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Vera ist im Verzug. Eigentlich wollte sie um diese Zeit längst fertig sein. Wie immer musste sie sich um alles selbst kümmern. Weil Laura weiß der Kuckuck wo ist. Und Alex ebenfalls noch nicht daheim. Kann sie je auf ihre Familie zählen, wenn’s darauf ankommt? Nein. Kümmert sie sich nicht selbst um alles und jedes und sorgt dafür, dass der Karren läuft, geht gar nichts.
Es ist 18.30 Uhr. In einer halben Stunde werden die ersten Gäste klingeln. Es haben erstaunlich viele zugesagt. Obwohl Vera extra einen Dienstagabend in den Sommerferien gewählt hat, damit die Gästezahl überschaubar bleibt. Sie eilt die Treppe hoch. Gleichzeitig hört sie, wie sich unten die Haustür öffnet. »Alex, bist du das?«
»Ja. Hallo.«
»Warum kommst du erst jetzt?«
»Es tut mir leid, der Verkehr war unsäglich.«
Vera hat auf der Zunge zu sagen, dass er das doch immer ist, und warum Alex nicht einfach früher Schluss und sich auf den Heimweg gemacht hat. Er kennt doch die Verhältnisse. Aber sie verzichtet darauf. Keine Zeit. Stattdessen ruft sie nach unten: »Kannst du bitte einen Blick in den Kühlschrank werfen und die Platten mit dem Aufschnitt kontrollieren?«
»Aufschnitt? Warum denn Aufschnitt? Weiß Laura das?«
»Die wurden geliefert, Armin hat es besonders gut gemeint.«
»Das gibt Drama, garantiert.«
»Ich weiß, aber was sollen wir tun? Armin ist ein guter Freund, wir können ihn nicht brüskieren.«
»Ich weiß nicht, was schlimmer ist, Lauras Aufstand oder Armins Enttäuschung.«
»Mach, was du willst, ich habe jetzt keine Zeit.«
»Klar, ich übernehme. Kümmere du dich um dich.«
Tatsächlich, die Platten sind wunderschön. Alex nimmt sich ein Stück getrocknetes Bündnerfleisch. Wie gut das schmeckt! Hatte er seit Monaten nicht. Er seufzt. Warum lassen sie sich eigentlich von Laura dermaßen terrorisieren? Sind nicht sie die Eltern, die alles bezahlen? Was hat ihnen ihre Teenagertochter zu befehlen? Ihm geht dieses Militante völlig ab. Aber das ist wohl das Vorrecht der Jugend. Vera und er wollen einfach nur ihren Frieden. Steht es darum so schlecht um die Welt? Braucht es diese kämpferische Kompromisslosigkeit? Aber so macht das Leben einfach keinen Spaß mehr.
Alex beschließt, dass die Platten aufgetischt werden. Wenn sich Laura aufregt, wird er sie mit ihren eigenen Waffen schlagen: Zero food waste. Schließlich wurde das Essen schon bezahlt, da können sie nichts dafür. Bevor er den Kühlschrank wieder schließt, ruft er zu Vera in den oberen Stock: »Willst du ein Stück Wurst? Schmeckt verdammt gut. Wann hatten wir das zum letzten Mal?«
»Alex, ich habe keine Zeit! In fünf Minuten kommen die Gäste. Kannst du sie bitte begrüßen? Ich bin noch nicht so weit.«
Alex geht die Treppe hoch. Vera ist im Bad. Sie hat ihm seine Kleider für heute Abend aufs Bett gelegt. Er antwortet und beginnt sich gleichzeitig umzuziehen: »Natürlich. Und wo ist Laura?«
»Sie ist noch bei einer Freundin, aber sie hat versprochen zu kommen.«
»Bei welcher Freundin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Muss sie nicht auch noch die Kleidung wechseln?«
»Ich habe keine Ahnung, was sie trägt, aber lass uns deswegen keinen Streit vom Zaun brechen. Hauptsache, sie ist überhaupt noch dabei.«
Alex seufzt ein weiteres Mal. Was ist nur aus seiner lieben Tochter geworden. »Ja, du hast recht. Aber…«
Es klingelt. »Alex! Bitte, ich muss mich noch richten!«
»Jaja, schon gut. Ich mache das. Lass dir Zeit.«
»Danke.«
An der Tür stehen prompt Armin und Helene. Überpünktlich wie immer. »Armin, Helene, wie schön! Wie geht es euch?«
»Danke gut. Und selbst?« Bevor Alex antworten kann, fragt Armin weiter: »Sind die Platten gekommen?«
Innerlich verzieht Alex das Gesicht. Eine Spende, ja, aber typisch Armin, dass er sich zuerst danach erkundigt. Alles andere ist nicht wichtig. »Ja, wie nett von euch! Vielen Dank! Euer großzügiger Beitrag zum heutigen Abend wird geschätzt werden. Die Gäste werden sich freuen. Bitte kommt rein.«
»Ah, es wurde also geliefert.« Armin klingt zufrieden. »Hör zu, Alex, ich möchte mich nicht aufdrängen, vielleicht kannst du kurz erwähnen, dass sie von uns kommen? Ich melde mich ungern zu Wort, das wirkt womöglich prahlerisch, oder was meinst du?«
»Natürlich kann ich das machen.« Auf keinen Fall wird Alex das tun. Er wird es »vergessen«. Wenn Armin als Gönner auftreten will, muss er sich schon selbst ins Rampenlicht stellen. Aber Alex hütet sich, dies Armin gegenüber zuzugeben. Laut wiederholt er: »Das ist wirklich sehr nett von euch.«
»Wo ist Vera?«
»Sie kommt gleich.«
»Lampenfieber?« Armin lächelt jovial. »Das muss sie nicht haben. Uns kennt sie schon so lange. Und sie spielt hervorragend. Das wird sie doch wissen.« Natürlich hat Vera wegen der zwei Leutchen kein Lampenfieber, und Vera spielt so gut, da hat Armin keine Ahnung. Vera ist eine Konzertpianistin, und was sie hier ab und zu als Almosen für die Freunde und Nachbarn spielt, ist keine Herausforderung. Aber Alex lächelt nur. »Du kennst sie ja. Muss alles perfekt sein.«
Endlich mischt sich auch Helene ein: »Und Laura, wo ist das hübsche Mädchen? Ich habe sie lange nicht gesehen.«
»Sie wird gleich kommen. In diesem Alter haben Kinder ihre eigenen Pläne.«
»Ja, natürlich. Wie alt ist sie noch gleich?«
»Sie wird 17 im Herbst.«
»17 schon! Mein Gott, das Kind wird erwachsen!«
»Wem sagst du das.«
Wieder klingelt es. »Ihr entschuldigt mich. Ich bin gleich wieder da. Sucht euch meinetwegen schon einen Platz.« Alex deutet aufs Wohnzimmer. Dann geht er erleichtert zurück zur Haustür, wo Priska mit ihrer betagten Mutter wartet. Manchmal fragt sich Alex, was die alte taube Frau überhaupt noch mitbekommt von Konzerten. Aber andererseits, wenn Vera wieder so in die Tasten haut wie beim letzten Mal, muss er sich darüber keine Gedanken machen. »Priska und Theresa, schön, dass ihr gekommen seid. Wie geht’s euch?«
»Danke, Alex, wir kommen immer so gern zu euch.«
»Das ist schön. Seid ihr zwäg?«
»Uns geht es sehr gut. Nicht wahr, Mutter?«
Die alte Frau lächelt nur. Alex geht nicht weiter darauf ein, sondern bittet die beiden herein. Die nächsten Gäste sind schon im Anmarsch. Anette und Markus. Alex winkt freundlich, allerdings stockt sein Arm einen Moment, als er dahinter Laura mit dieser Florina entdeckt. Bringt sie diese ungepflegte Freundin mit? Muss das wirklich sein? Warum ausgerechnet dieses verfilzte Ding? Er zwingt sich zu einem netten Gesicht, begrüßt erst freundlich die Nachbarn und heißt anschließend auch Lauras Freundin willkommen. Innerlich hört er Vera sagen: Sei froh, dass sie überhaupt noch kommen. »Laura, gehst du mit den Gästen rein, bitte? Ich sehe, wie Henry und Ralf anfahren.«
»Ja, natürlich. Markus, Anette, wie geht es euch?« Alex sieht erleichtert, wie Laura mühelos in die Gastgeberinnenrolle schlüpft. Vielleicht ist ja doch nicht alles verloren, und sein kleines Mädchen findet zurück an seinen Platz.
Florina ist furchtbar aufgeregt. Am liebsten wäre sie gar nicht hier. Sie hat den Blick von Lauras Vater genau gelesen. Alles andere als willkommen heißend war er. Alex mag sie nicht. Das ist klar. Hätte sie sich nur nicht von Laura überreden lassen. Aber jetzt ist es zu spät. Da steht sie zwischen diesen komischen Leuten. Alle irgendwie altmodisch. Als wären sie verkleidet. Oder sehen die tatsächlich immer so aus? Sie wird Laura fragen. Aber Laura ist beschäftigt, benimmt sich wie ein Fisch im Wasser. Eine Hilfe ist sie ihr nicht. Florina sieht, wie die Freundin jetzt in der Küche verschwindet. Soll sie ihr nachgehen? Verunsichert blickt sich Florina um. Es gibt nicht einmal etwas zu trinken. Damit hätte sie sich ablenken können. »Und wer sind Sie?« Florina erschrickt, meint der Alte sie? Ja, offenbar. »Ich bin eine Freundin von Laura.«
»Ah ja.« Ton und Blick wirken nicht ermutigend. Allerdings schiebt der Mann dann doch noch fast widerwillig hinterher: »Schön, dass sich die Jugend für klassische Musik interessiert.«
»Ja.« Was soll sie anderes sagen? Dass sie nicht wegen der Musik hier ist, sondern wegen etwas ganz anderem? Natürlich nicht. Florina gibt sich alle Mühe, nicht jetzt schon allzu negativ aufzufallen. Vielleicht geht sie einfach ein paar Minuten auf die Terrasse, bis es endlich losgeht?
»Florina, bist du das?« Florina dreht sich zur Fragenden um und entdeckt erfreut ein bekanntes Gesicht. »Ida! Du bist auch da?«
»Ja, offensichtlich. Und du? Dich habe ich hier nicht erwartet.«
»Laura ist meine Freundin, sie hat mich hergeschleppt.«
»Nett, dass du deiner Freundin Gesellschaft leistest. Ist doch langweilig für sie, mit all den alten Leuten.«
»Ja.« Die Antwort rutscht Florina heraus, bevor sie überlegen kann. Erschrocken beißt sie sich auf die Lippen. »Ich meine …«
»Du meinst ja. Ich weiß, dass wir alle alt sind, mich einbezogen.« Ida lächelt freundlich. »Das ist eine Tatsache, und die muss man nicht schönreden. Aber Alt und Jung können sich ja trotzdem verstehen, auch wenn Unterschiede da sind.«
»Genau.« Florina ist erleichtert.
»Bist du oft bei Laura zu Besuch?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber heute ist ein besonderer Anlass.« Wieder erschrickt Florina, was fällt ihr ein. Sie muss ein bisschen vorsichtiger sein mit dem, was sie sagt. Ida fragt erstaunt: »Ist es? Du meinst wegen dem Konzert?«
Alex rettet Florina vor einer Lüge, indem er sich mit lauter Stimme an die Gäste wendet: »Guten Abend und herzlich willkommen. Wir freuen uns außerordentlich, dass ihr heute gekommen seid, um Vera zuzuhören. Bitte nehmt Platz, sie wird bestimmt gleich hier sein.«
Folgsam kommen die Gäste seiner Bitte nach, und ein allgemeines Stühlerücken beginnt. Laura zieht Florina an den Rand der vordersten Reihe. Florina ist sofort klar, warum, und sie lässt sich neben der Freundin nieder. Wenig später drehen sich die erwartungsfrohen Gesichter wieder Alex zu, der sich vor der Schar aufgestellt hat. »Ihr kennt alle das Programm von heute Abend. Meine Frau hat es euch per WhatsApp zukommen lassen. Ich muss ehrlich sagen, mir gefallen nicht alle Stücke gleichermaßen, aber Vera stellt ihre Listen immer sehr interessant zusammen. Sie wird jeweils zu den einzelnen Komponisten kurz etwas sagen.« Ein paar Lacher kommen aus dem Publikum. Florina schaut sich verstohlen um. Klar, wenig überraschend findet der Alte von vorhin das natürlich lustig. Diese Menschen sehen in Florinas Augen aus wie Puppen. Die steifen Kleider, die Föhnfrisuren, die braven Schuhe. Furchtbar. Dass es das heute überhaupt noch gibt? Nur Ida gefällt ihr. An ihrer hageren, langen Gestalt wirken die weite Hose und die luftige Bluse elegant. Außerdem hat sie fast als einzige einen kräftigen Lippenstift aufgetragen, was ihrem Gesicht etwas Frisches gibt. Überhaupt sieht sie äußerst attraktiv aus, und plötzlich fällt Florina ein, dass Ida Konsulin war, bevor sie pensioniert wurde, und jetzt noch stundenweise als Guide im TropenhausFrutigen arbeitet. Konsulin. Florina kann sich Ida gut in einer Botschaft vorstellen. Doch, das passt.
»Bist du nervös?« Laura flüstert es ihr ins Ohr. Florina nickt. »Und wie. Fühl mal.« Sie nimmt Lauras Hand und hält sie sich an den Hals. Ihr Puls schlägt wie ein Hammer. Laura grinst. »Ich auch. Aber das wird toll. Ich bin noch auf eine neue Idee gekommen.« Sie drückt Florinas Arm. Bevor Florina fragen kann, was es mit dieser Idee auf sich hat, kommt Vera zur Tür herein. Florina ist beeindruckt. Natürlich hat sie Lauras Mutter schon oft gesehen, aber noch nie so. Vera trägt ein Kleid, über und über mit Pailletten besetzt, Schuhe mit Absätzen, und ihre Haare hat sie zu einer komplizierten Hochsteckfrisur verwoben. Wow, ist alles, was Florina dazu einfällt. Also langweilig ist Vera niemals.
»Guten Abend, auch ich möchte euch herzlich willkommen heißen und freue mich, dass ich euch heute Abend vorspielen darf. Ihr alle wisst, dass ich sonst oft mit Laura gemeinsam spiele, aber sie wollte nicht, und es ist schön, dass sie immerhin im Publikum sitzt.« Vera nickt Laura freundlich zu. Einen Moment überfällt Florina das schlechte Gewissen. Sollen sie wirklich tun, was sie geplant haben? Lauras Mutter den Abend verderben? Oh Gott, und Ida? Was wird Ida von ihr denken? Noch vor zehn Minuten war sie dankbar dafür, wenigstens jemanden zu kennen, aber das war dumm. Jetzt wünscht sie sich nichts sehnlicher als lauter unbekannte Gesichter. Lauras Mutter fährt weiter: »Ganz besonders freue ich mich, dass Henry und Ralf wieder einmal dabei sein können. Und es Ralf so viel besser geht.« Sie klatscht kurz in die Hände. Ein paar Gäste tun es ihr nach. Was war mit diesem Ralf? Bevor Florina Laura fragen kann, spricht Vera weiter: »Jetzt aber zum heutigen Programm. Ich beginne mit Domenico Scarlatti und ich vermute, ihn hat mein Mann vorhin gemeint, als er erwähnte, dass nicht alles nach seinem Geschmack ist.« Wieder kommen ein paar Lacher aus dem Publikum. Und wieder dreht sich Florinas Hals fast zwanghaft in die Richtung, aus der sie kommen. Oh Gott, oh Gott. Vor diesen Leuten? Ernsthaft? »Laura.« Laura reagiert nicht, sondern hängt offenbar an den Lippen ihrer Mutter. Florina packt sie am Arm und zischt etwas lauter: »Laura.«
Jetzt wendet sich die Freundin ihr zu. »Ja? Was ist?«
»Laura, mir wird schlecht.«
Ob es noch zu früh ist, ihn anzurufen? So gut hat sich Martina schon lange nicht mehr gefühlt. Sie hat Energie für zehn, ja, sie könnte Bäume ausreißen. Leise lacht sie vor sich hin bei dem Gedanken. Als ob! Viel eher will sie Bäume pflanzen als ausreißen. Sie summt vor sich hin, während sie den Boden schrubbt. Plötzlich hält sie inne, warum macht sie das überhaupt? Der Boden ist sauber. Jedenfalls genug sauber für sie. Sie muss endlich aufhören mit diesem spießigen Verhalten. Alles noch Überbleibsel von ihrem Leben mit Michael. Davon muss sie sich jetzt definitiv trennen. Sie hat sich doch nicht von ihm scheiden lassen, damit sie genau wie vorher weiterlebt! Nein. Sie war lange genug für die Familie da, ließ sich fremdbestimmen. Hat andere bedient, alles organisiert, war für alles verantwortlich. Sie will frei sein, sich endlich nur noch um sich selbst kümmern und nicht ständig daran denken, was andere erwarten. Nachdem die Kinder ausgezogen waren, ist es daher nur eine logische Konsequenz gewesen, sich auch von Michael zu trennen. Er fiel aus allen Wolken. Niemals hat er damit gerechnet, dass Martina sich ein eigenes Leben gewünscht hätte. Zuerst hielt er es für eine Spinnerei, merkte aber bald, dass sie es ernst meinte. Von da an schlich er wie ein begossener Pudel durch die Welt. Dabei hat sie versucht, ihm klarzumachen, dass das auch für ihn eine Chance war! Sie sind beide erst gut 50. Da ist das Leben doch noch nicht vorbei! Auch auf Michael warteten viele Chancen! Ja, so hat sie geredet. So einfach war es allerdings dann doch nicht. Vor allem für sie.
Mit einigem Erstaunen hat sie gesehen, wie rasch sich Michael von der Trennung erholte. Er blieb in ihrem Haus, ging weiterhin der gleichen Arbeit nach, und nach ein paar Monaten war da plötzlich eine neue Frau. Nicht, dass Martina das stört. Aber es hat sie überrascht. Und zwar ein bisschen unangenehm. Denn, um ehrlich zu sein, sie hat sich plötzlich doch etwas einsam gefühlt. Auch das mit der Arbeitsstelle stellte sich schwieriger heraus als erwartet. Nachdem die Arbeitslosenquote auf einem Rekordtief ist, hat sie damit gerechnet, schnell irgendwo unterzukommen. Aber so war es nicht. Es werden Fachkräfte gesucht, und sie hat feststellen müssen, dass sie das nicht ist. Alles, was man ihr nach bald 30 Jahren Arbeitsmarktabwesenheit angeboten hat, sind Putzarbeiten. Nach einigen Monaten vergeblicher Suche nahm sie schließlich eine Stelle in einem Putzinstitut an. Was soll’s. Ihr fällt deswegen kein Stein aus der Krone. Geht sie halt putzen. Hauptsache, sie ist endlich unabhängig.
Noch bevor Martina diese Stelle antrat, hatte sie Michael besuchen wollen. Sie hatte extra einen Kuchen gebacken, das Kleid angezogen, das er immer so mochte, und fuhr abends mit dem Fahrrad zum Haus. In der Erwartung, ihren Ex-Mann einsam vor dem Fernseher anzutreffen. Aber es sollte anders kommen. Schon als sie das neue Auto vor dem Haus sah, hatte sie sich kurz überlegt, wieder umzukehren. Hatte Michael Besuch? Aber jetzt war sie schon hier, hatte den Kuchen gebacken und sich Mühe gegeben. Außerdem nahm es sie wunder, wem der Wagen gehörte. Ein neuer Audi, Sportmodell. Ein schönes Auto, zugegeben. Aber natürlich alles andere als umweltfreundlich. Das würde sie dem Besuch gegenüber erwähnen. Dazu war es allerdings gar nicht erst gekommen. Auf Martinas Klingeln war nicht Michael in der Tür erschienen, sondern eine junge hübsche Frau, Martina tippte auf Südamerika, die sie noch nie im Leben gesehen hatte. Sie musste einen Moment leicht perplex gewirkt haben, aber die Frau lächelte freundlich und fragte, was sie wünsche. Martina stammelte etwas von, sie sei grad in der Gegend gewesen und habe sich gedacht, sie mache einen Besuch bei ihrem Mann. Natürlich war das völlig unglaubwürdig, sie mit ihrem Kuchen, außerdem war Michael längst nicht mehr ihr Mann. Trotzdem lächelte die Frau weiterhin sehr freundlich und bat sie herein. Michael rief fragend, wer denn geläutet habe, und die junge Frau führte Martina in die Küche. Da wartete die größte Überraschung. Michael war nämlich am Kochen! Beinahe 30 Jahre waren sie verheiratet gewesen und nie, nie, nie wäre es Michael in den Sinn gekommen, in irgendeiner Pfanne zu rühren. Trotzdem stand er jetzt da und schnippelte hingebungsvoll Gemüse. Und wie er aussah! Offenbar hatte er die Haare gefärbt. Jedenfalls waren sie schwarz. Zudem hatte er seinen geliebten Schnauz abrasiert! Trug ein buntes Hemd und an den Füßen Flip-Flops. Sie hatte ihren Mann kaum wiedererkannt. Michael, der Bünzli, dem schon ein hellblaues Hemd zu auffällig gewesen war, der niemals ohne Socken ging und seine Krawatte an liebsten noch im Bett getragen hätte. Was war das für ein Mann?
Die Situation war äußerst peinlich gewesen. Martina hatte so rasch wie möglich das Weite gesucht. Den Kuchen hatte sie dagelassen, sich aber dann sofort verabschiedet. Obwohl ihr die Frau sogar ein Getränk angeboten und vorgeschlagen hatte, ob sie nicht zum Nachtessen bleiben wolle. Selbstverständlich nicht! Martina war sich sicher, dass auch Michael erleichtert gewesen war, als sie die Einladung ausschlug.
Ja, so sah es aus. Michael hatte sich also getröstet. Aber wie auch immer, Martina hat sich nicht unterkriegen lassen, die Stelle als Putzerin, Raumpflegerin natürlich, angenommen und ihr Leben weitergelebt. Selbst, wenn es in jenem Moment nicht so gewesen war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Mittlerweile hat sie sich aber gut eingerichtet und ist ganz zufrieden. Natürlich ist das nicht ihr Traumjob und sie lebt auch nicht in ihrer Traumwohnung. Das wäre keine Zweizimmerwohnung in der Neumatte, in diesem doch eher trostlosen Block mit Sicht auf die nächste Häuserzeile. Aber egal. Sie hat es so gewollt. Und eben, heute sieht es danach aus, als hätte sich das Blatt gewendet.
Martina nimmt die Visitenkarte in die Hand. Liest zum x-ten Mal den Namen: Jan Merz. Umweltwissenschaftler. Umweltwissenschaftler, was ist das? Martina hat keine Ahnung. Aber Umwelt ist immer gut. Das ist genau, was ihr am Herzen liegt. Auch sie setzt sich für die Umwelt ein. Und möchte das noch viel mehr tun. Ihr Herz klopft, als sie sich an die Begegnung erinnert. Sie hat völlig in Gedanken ihren Einkaufswagen vor sich hergeschoben und versucht, ihre eigene Schrift auf dem Einkaufszettel zu entziffern. Dabei ist sie aus Versehen mit Jan zusammengestoßen, der vor dem Kühlregal mit den vegetarischen Produkten stand. Sofort hat sie sich entschuldigt, aber er schüttelte nur den Kopf. »Habe ich Ihnen wehgetan?« Es ist ihr nicht recht gewesen. Er entgegnete sofort: »Nein, entschuldigen Sie. Ich kann nur nicht fassen, wie viel Fleisch und Fleischprodukte es im Gegensatz zum fleischlosen Ersatz gibt.« Er runzelte die Stirn. Martina pflichtete ihm augenblicklich bei: »Ja! Nicht wahr? Empörend! Dabei sollte man den Fleischkonsum doch eigentlich verbieten! Um unsere Welt stünde es so viel besser, wenn es keine Fleischfresser gäbe!« Vielleicht war sie etwas über das Ziel hinausgeschossen, aber jedes Mal ärgerte sie sich über diese riesigen Kühlregale und Frischetheken. Der Mann hat sie sofort aufmerksam betrachtet. Das ist ihr aufgefallen. Und er gab ihr recht, auch ihn störten die Fleischberge.
Sie ist dann weitergegangen, aber da war von Anfang an ein Band. Martina hat es gleich gespürt. Und sie sollte recht behalten. Der Mann ist ihr nachher kurz vor der Kasse noch einmal begegnet, sie nickten sich freundlich zu, zwei Seelenverwandte, und nach einem kurzen Zögern kramte er seine Visitenkarte heraus. Etwas linkisch hielt er sie ihr hin und meinte dazu: »Melden Sie sich doch mal, wenn Sie mögen. Wir sind eine Gruppe von Gleichgesinnten und treffen uns regelmäßig, um über solche Themen zu reden.«
»Solche Themen?«, fragte sie.
»Ja, Umwelt und so.«
»Ah, toll. Ja, da bin ich dabei!« Wieder ist sie vielleicht etwas überenthusiastisch gewesen. Aber es stimmt, da ist sie dabei! Und dieser Jan Merz freute sich, sie hat es deutlich gesehen. Wahrscheinlich ist die Umweltgruppe ja nur ein Vorwand gewesen. Er hat sie nicht einfach so gehen lassen wollen. Die gegenseitige Anziehung war offensichtlich, aber wie konnte er ihr das eingestehen, ohne gleich zu plump herüberzukommen? Raffiniert fädelte er es ein, indem er gleich ihr gemeinsames Interesse ansprach.
Er ist viel jünger als sie. Martina schätzt ihn auf gut 30. Na und? Warum sollte es nicht Männer geben, die auf reife Frauen stehen? Michaels Neue war sicher auch 20 Jahre jünger als er. Davon lässt sich Martina nicht beeindrucken. Sie steht zu ihren grauen Haaren und den Falten, so hat sie Jan zum ersten Mal gesehen, und es hat ihn offensichtlich nicht abgeschreckt.
Deshalb wird sie ihn jetzt anrufen.
Nach Florinas Geständnis, dass ihr schlecht sei, zischt Laura: »Dann legen wir jetzt gleich los! Komm!« Laura ist unglaublich schnell. Sie springt auf, rennt nach draußen. Was ist los? Was macht sie? Florina blickt der Freundin verwirrt hinterher. Soll sie ihr folgen? Aber nein, da ist sie schon zurück mit einer riesigen Platte auf dem rechten Arm. Laura zieht Florina mit der linken Hand auf und hinter sich her, und bevor Florina weiß, wie ihr geschieht, steht sie schon vor dem Konzertpublikum. Florina ist so schlecht, dass sie sich gleich wird übergeben müssen. Aber Laura lässt ihr auch dafür keine Zeit. Sie stellt die Platte mitten auf den teuren Flügel, reißt sich ihre Bluse auf, schlüpft aus den Ärmeln und wirft sie in hohem Bogen weg. Der BH fliegt hinterher. Florina steht wie betäubt daneben. Sie liest, was in fetten Buchstaben auf Lauras nacktem Oberkörper steht: Keine Umweltkiller! Sie kann die Freundin nicht im Stich lassen. Wie in Trance öffnet auch Florina ihre Bluse und lässt sie zu Boden fallen. Sie weiß, dass die Leute jetzt auf ihrem Bauch lesen: Stoppt den Klimawandel!
Laura ist in ihrem Element. Sie ruft: »Die Nazis haben mit Hitler Millionen von Menschen umgebracht, aber heute, heute ist alles noch viel, viel schlimmer! Massenmörder seid ihr! Ihr alle! Massenmörder der Toten der Zukunft! Millionen werden nämlich sterben an Dürre, Flut, Flächenbrand, Hunger und auf der Flucht! Und daran seid ihr schuld! So eine Welt hinterlasst ihr uns!« Florina blickt in die entsetzten Gesichter der Anwesenden. Wäre sie nicht selbst halb betäubt, müsste sie vielleicht sogar lachen. Der alte Mann, wie er mit aufgerissenen Augen nach vorne blickt, seine Frau daneben hat sogar vergessen, ihren Mund zu schließen.
Aber Laura ist längst nicht fertig. Erst jetzt entdeckt Florina, dass auf der Platte, die Laura vorhin geholt hat, Aufschnitt angerichtet ist. Beherzt packt Laura eine Handvoll Fleisch und schmeißt sie in die Menge der sprachlosen Gäste. »Da! Fresst euer Fleisch! Wir wollen keine toten Tiere auf dem Teller! Da! Und da!«
Florina beobachtet mit Entsetzen, wie die Fleischstücke auf Frisuren, Blusen, Wangen treffen und da hängen bleiben. Laura ist einfach unglaublich. Fast sieht es so aus, als würde ihr die ganze Sache Spaß machen. Während Florina sich nicht einmal traut, ihren Büstenhalter auszuziehen. Am liebsten würde sie im Boden versinken. Da das nicht geschieht, schaut sie fasziniert zu, was mit den Leuten passiert. Einer der Männer wird puterrot. Ein anderer leichenblass. Jetzt trifft Florina Idas Blick. Sofort will sie ihre Augen beschämt abwenden, die Situation ist ihr unendlich peinlich. Aber halt, sieht Ida amüsiert aus? Blitzt da Unterstützung aus ihren Augen? Florina ist sich nicht sicher. Hebt Ida gar ihren Daumen? Ein Zeichen der Unterstützung? Es sieht ganz danach aus. Das reicht. Endlich erwacht Florina aus ihrer Starre. Mutig greift sie ebenfalls in die Platte und wirft das Zeug in die erste Reihe. Zaghaft zuerst, dann mit mehr Verve und schließlich wonniglich. Oha, diesem Armin voll ins Gesicht. Nach einer Schrecksekunde packt der, was ihm an der Nase hängt und wirft es voller Wut zurück. Dazu schreit er: »Was fällt euch ein? Was soll das?«
Damit ist der Bann gebrochen. Frauen beginnen zu kreischen, Männer rufen. Lauras Vater springt auf. Versucht vergeblich, den Tumult zu beruhigen. Nur Lauras Mutter sitzt am Klavier und schaut dem Spektakel zu, als ginge es sie nichts an. Jetzt hat Alex seine Tochter erreicht. Er packt ihren Arm, bevor sie eine weitere Ladung ins Publikum pfeffern kann. »Laura. Hör sofort auf! Hörst du, Schluss!« Aber Laura ist voll in Fahrt. »Von dir lasse ich mir nichts verbieten! Du gehörst genauso zu diesen Kaputtmachern wie alle hier!« Damit greift sie mit der anderen Hand erneut auf die Platte, aber Alex packt auch diese Hand und hält sie eisern fest. »Laura, ich warne dich. Es reicht.«
»Noch lange nicht! Lass mich sofort los!« Laura reißt an ihren Handgelenken. Florina wird unwohl. Natürlich ist Alex viel stärker als Laura, und es gelingt ihr nicht, sich zu befreien. Da spuckt sie ihren Vater mitten ins Gesicht. Das ist ein Schock für Alex, sprachlos lässt er die Handgelenke seiner Tochter los.
Hilfe naht von unerwarteter Seite. Ida hat die Szene lange genug beobachtet. Alex tut ihr leid, und sie beschließt, dem Drama ein Ende zu setzen. Laut klatscht sie in die Hände. Sofort hat sie die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Mit natürlicher Autorität in der Stimmt sagt sie kurz: »Liebe Gäste, ich denke, es ist an der Zeit, nach Hause zu gehen. Bitte kommen Sie mit.« Resolut geht sie durch die Stuhlreihe in Richtung Tür, öffnet sie und führt die Schar in Richtung Ausgang. Zögerlich, aber dankbar, dass sich jemand durchgesetzt hat, folgen ihr die Leute ausnahmslos. In wenigen Minuten ist der Salon geleert. Florina, Laura, Alex und Vera die einzigen noch Anwesenden. Im Zimmer sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld. Laura schaut sich triumphierend um. Sie hebt ihre Hand und sagt zu Florina: »High five, das war ein Erfolg.« Florina ist sich nicht sicher, ob es der richtige Moment ist, sich zu gratulieren. Alex hat sich noch nicht erholt, und auch Vera sitzt weiterhin wie erstarrt am Flügel. Verwundert stellt Alex schließlich fest: »Mein Gott, Laura, was ist nur in dich gefahren?« Eine Antwort scheint er nicht zu erwarten. Fast erschöpft lässt er sich auf einen Stuhl sinken. »Sieh dir das an.« Er schaut in die Runde und kann nicht glauben, was sich seinen Augen präsentiert. Überall liegen Fleischstücke herum. Cherrytomaten sind über den Boden gerollt und wurden zertreten, ein Gurkenstück hängt ihm noch am Hemd. Die Stühle stehen kreuz und quer, es ist, als hätte ein Anschlag stattgefunden und die Menschen hätten fliehen müssen. Er spürt, wie ihm Lauras Speichel vom Kinn tropft. Das war ein Anschlag. Ein Anschlag auf das zivilisierte Leben, auf die Kultur, auf seine Frau, auf seine Gäste. Auf ihn! Warum tut Laura das? Er ist ihr Vater! Verletzt schaut er seine Tochter an. Aber sie erkennt nicht, was sie ihm hier angetan an. Sie lacht. Sie freut sich. Sie ist zufrieden.
Es ist heiß. Fast 30 Grad Celsius, hat Martina im Radio gehört. Gedankenverloren streicht sie mit einer Hand über ihren Papyrus. Sie ist sich nicht sicher, wie sie das Telefongespräch einordnen soll. Hat sich Jan gefreut, dass sie ihn angerufen hat? Er war auf jeden Fall überrascht. Im ersten Moment wusste er gar nicht, wer sie war. Sie musste kurz erklären, wo sie sich getroffen hatten, aber da ist er dann sofort draufgekommen und hat sich nett erkundigt, wie es ihr gehe. Sie hat geantwortet, gut, und danach ihn gefragt. Leider wollte das Gespräch schon fast versanden, bevor es richtig begonnen hatte, aber zum Glück hat Martina erwähnt, wie wichtig ihr Umweltthemen sind, und da hat Jan erneut die Umweltaktivisten erwähnt und vorgeschlagen, dass sie doch beim nächsten Treffen dabei sein solle. Martina hat sich unglaublich gefreut. Er wollte sie wiedersehen! Wie gut, dass sie Jan mit diesem Thema eine Tür geöffnet hat. Womöglich ist er ein bisschen schüchtern und hat sich nicht getraut, gleich eine Verabredung unter vier Augen vorzuschlagen. Jedenfalls hat Martinas Herz einen Sprung gemacht, und sie wollte ihm unbedingt beweisen, wie gut sie in die Gruppe passte. Tier- und Umweltschutz beschäftigten sie, das war so wichtig! In ihrer Euphorie fiel ihr dieser Artikel aus der Zeitung ein. Dass für Gourmets jährlich Millionen Frösche sterben! Das musste Jan als Umweltwissenschaftler interessieren und die anderen Aktivisten auch! Martina hat gelesen, dass der Handel mit Froschschenkeln aus Wildfängen die Populationen in Asien und Osteuropa gefährde. Die Schweiz gehöre nebst Belgien und Frankreich zu den weltweit größten Importeuren. So eine Schweinerei! Martina wurde fast schlecht, als sie las, dass den Tieren bei lebendigem Leib die Beine abgeschnitten werden, um diese später tiefgefroren nach Europa und in die Schweiz zu schicken. Die Tiere verbluten bei vollem Bewusstsein! Eine unglaubliche Tierquälerei! Die Einfuhr von solchen Produkten muss augenblicklich gestoppt werden! Martina hat sich ziemlich in Rage geredet. Jan ist eher ruhig geblieben, aber gab ihr natürlich recht. Bestätigt dadurch, fiel Martina gleich das nächste Thema ein: der ärmste Hund der Schweiz! Qualzucht Mops! Wer will einen Hund, der schwer atmet und weitere gesundheitliche Risiken trägt? Schweizer und Schweizerinnen! Möpse haben eine deutlich verkürzte Schnauze und einen deformierten Kopf. Was zu Atemnot, Röcheln, Hecheln, Ringen nach Luft und Schnarchen führt. Ist das nicht unhaltbar? Verbieten muss man diese Zucht, wie das die Niederlande schon seit 2014 machten! Jan hat ihr auch diesmal beigepflichtet, allerdings hätte sie sich eine etwas stärkere Reaktion gewünscht. Aber vielleicht hat er mit ihr gar nicht über solche Themen reden wollen? Vielleicht gefällt sie ihm einfach als Frau, und er hätte lieber über Persönliches gesprochen? Nun, Martina ist selbstverständlich auch dafür zu haben. Sehr gern sogar. Trotzdem wird dieses Treffen ein erster Schritt sein. Sie wird sich darauf vorbereiten. Das Thema Umweltschutz begegnet einem ja auf Schritt und Tritt. Sie wird auf jeden Fall einiges sammeln können bis nächste Woche.
Sie ist gespannt. Wer wohl noch zu diesen Treffen kommt? Was soll sie anziehen? Als »Öko Tante« auftreten? Alternativ? Mit selbst gestrickten Socken, naturgefärbtem Leinenkleid? Birkenstock? Dann müsste sie sich eine ganz neue Garderobe zulegen. Quatsch. Jan hat sie schon gesehen, und sie war in der Migros ganz normal gekleidet. So wird sie ihn auch in Zukunft treffen. Allerdings kann es nicht schaden, wenn sie ab sofort etwas mehr darauf achtet, was sie kauft. Was Nahrungsmittel angeht, gibt sie sich schon länger Mühe, aber bei den Kleidern gibt es viel Verbesserungspotenzial. Zweifellos.
Martina freut sich. Allmählich scheint ihr das Glück wieder hold. Überhaupt, seit der Sommer begonnen hat, nimmt das Leben für Martina Schwung auf. Vielleicht beginnt sie jetzt endlich mit Yoga? Das wollte sie doch schon vor Monaten. Aber im Winter war sie einfach zu müde. Zwar kann sie sich Yoga-Stunden nicht leisten, aber ihre Tochter hat ihr doch gezeigt, wie sie sie gratis im Internet findet.
Martina beginnt zu suchen. Da lächelt ihr eine junge sympathische Frau entgegen. Yoga für Anfänger. Das ist es, was sie will. Eine Basis und ein Bewusstsein aufbauen. Genau.
Das erste Problem beginnt bereits mit dem Schneidersitz. Martina ist erschreckend eingerostet. Das mit der Atmung spüren ist schon einfacher. Auch den Kopf kann sie kreisen. Aber bequem ist das alles nicht, und richtig schwierig wird’s beim Herabschauenden Hund. Das tut weh. Der Sonnengruß. Martina schwitzt. Vielleicht hätte sie nicht gerade heute bei diesen Temperaturen mit der Turnerei beginnen sollen. Aber andererseits kann sie nicht ständig Ausreden suchen. Wenn sie diese Übungen jetzt jeden Tag machen wird, werden ihre Bänder dehnbarer, und es wird alles einfacher werden.
Nach 20 Minuten ist das Filmchen vorbei, und Martina geschafft. Ob sie das jeden Tag wird durchziehen können? Einen Moment zweifelt sie. Wischt die Bedenken dann aber resolut zur Seite. Natürlich schafft sie das! Und sollte es dazu kommen, dass sie einen jüngeren Freund hat, kann mehr Beweglichkeit nur von Vorteil sein.
Beschwingt geht Martina unter die Dusche und ertappt sich wenig später dabei, wie sie vor sich hin trällert. So gut ging es ihr lange nicht mehr.
Rosemarie sitzt im Schatten. Vor sich hat sie ein Glas Wein stehen. Ihre einzige Freude. Macht es ihr überhaupt noch Freude? Fast gleichgültig nimmt sie einen kleinen Schluck. Er schmeckt ihr nicht.
Es ist immer noch heiß. Aber die Sonne wird bald verschwinden. Eine halbe Stunde noch? Die Wiese ist trocken. Die Gräser gelb. Es wäre gut für den Garten, wenn es bald regnen würde. Rosemaries Blick schweift über den Johannisbeerstrauch. Eine Sekunde erwartet sie, Schnurrli darunter zu entdecken. Augenblicklich durchzuckt sie der Schmerz. Tränen schießen ihr in die Augen. Warum passiert ihr das immer noch? Jetzt ist Schnurrli schon eine Woche tot. Warum hat sie sich noch nicht daran gewöhnt? Sie weiß doch, dass die Katze nicht mehr unter dem Busch liegen kann. Dass sie nie wieder maunzend hereinkommt. Um ihre Beine schmeichelt, schnurrt und ihre Augen zusammenkneift.
Rosemarie ist einsam. Solange sie Schnurrli hatte, war das nicht der Fall. Schnurrli hat ihr Leben so sehr bereichert. Immer war da jemand. Ein kleiner warmer Körper. Etwas zum Streicheln, zum Reden, zum Gernhaben. Was soll sie denn jetzt machen? Niemand mag sie. Natürlich weiß Rosemarie, dass sie daran selbst schuld ist. Sie ist nicht nett. Sie meckert und sie ist unzufrieden. In der Nachbarschaft meidet man sie. Selbst ihre Familie kommt nur aus reinem Pflichtgefühl zu Besuch, das ist ihr klar. Aber es war ihr egal. Sie hat niemanden gebraucht. Sie hatte Schnurrli. Bis vor einer Woche.
Es war schon fast dunkel gewesen. Normalerweise die Zeit, in der Schnurrli heimkommt, ihren Gute-Nacht-Snack isst und sich dann schlafen legt. Rosemarie hat nach ihr gerufen. Weil es kühl geworden war, hatte sie die Terrassentür geschlossen und drinnen auf ihre Katze gewartet. Kurz bevor es ihr verleidete, und sie ins Bett gehen wollte, rief sie noch einmal nach der Katze. Dann sah sie den Schatten, glaubte im ersten Moment, es sei Schnurrli, bis sie erkannte, dass der Schatten viel zu groß war. Dann ging alles schnell. Schnurrli musste um die Ecke gekommen sein. Rosemarie hatte nicht genau sehen können, was passierte. Aber sie hörte, dass ein Kampf stattfand. Schnurrli mit einem Nachbarskater? Warum trauten sich die Flegel immer wieder in ihr Revier? Nichts hatten sie hier verloren. Noch hatte sich Rosemarie keine Sorgen gemacht. Schnurrli würde den Eindringling schon verjagen, sie war furchtlos. Aber es war kein Hauskater. Es war der Luchs. Und gegen diese Raubkatze hatte Schnurrli natürlich nicht den Hauch einer Chance. Als Rosemarie in den Garten kam, hatte der Luchs bereits das Weite gesucht und Schnurrli mitgenommen. Ein paar Schritte war Rosemarie noch hinterhergerannt, vergeblich. Innert Sekunden war das Tier mitsamt seiner Beute verschwunden gewesen.
Es war die schlimmste Nacht ihres Lebens. Rosemarie hatte sofort die Polizei angerufen, nichts hatten sie unternommen. Den Wildhüter. Auch er hatte sie ihm Stich gelassen. Gesagt, dass man da nichts tun könne. Der Luchs sei ein wildes Tier und habe offenbar sein Revier bis nach Aeschi ausgedehnt. Es tue ihm leid um Schnurrli, aber so sei es nun einmal, wenn man die Hauskatze rauslasse, sei sie gewissen Gefahren ausgesetzt. Gewissen Gefahren. Warum hatte man überhaupt wieder Luchse ausgesiedelt? Rosemarie hat gelesen, dass im Berner Oberland heute 18 Luchse lebten! Viel zu viele. Dichtestress nennen es die Jäger, und recht haben sie! Abschießen soll man den Räuber. 1,5 Luchse pro 100 Quadratkilometer wollte man ursprünglich. Der Präsident des Berner Jägerverbandes und BDP-Nationalrat Lorenz Hess sagt, das Experiment sei aus dem Ruder gelaufen. Mittlerweile leben über drei Luchse pro 100 Quadratkilometer im Berner Oberland. Der Kanton müsse beim Bundesamt für Umwelt, BAFU, ein Gesuch um Regulierung des Luchsbestandes einreichen. Denn ein ausgewachsener Luchs reiße pro Jahr rund 50 Rehe oder Gämsen. Hess nimmt aber an, dass es oft mehr seien, weil die Wälder heute stark von Freizeitsportlern genutzt würden. Ein Luchs fresse nämlich während mehrerer Tage an einem erlegten Tier. Werde er aber zum Beispiel durch einen Freizeitsportler gestört, kehre er nicht mehr zu seiner Beute zurück.