Mord im Tropenhaus - Irène Mürner - E-Book
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Mord im Tropenhaus E-Book

Irène Mürner

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Beschreibung

Der Frieden in der sprichwörtlichen Idylle des Berner Oberlandes wird empfindlich gestört, als eine Schulklasse eine Leiche im Störbecken des Tropenhauses Frutigen entdeckt. Wenig später wird ein Teenager aus Reichenbach vermisst. Hängen die beiden Fälle zusammen? Ida und Megan Jäger, die eine pensionierte Konsulin und passionierte Besucherführende, die andere Halbkenianerin und Detektivin bei der Kapo Bern, haben alle Hände voll zu tun.

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Irène Mürner

Mord im Tropenhaus

Kriminalroman

Zum Buch

Tod im Störbecken Ein vermisster Teenager im Kandertal und eine Leiche im Tropenhaus Frutigen. Hängen die beiden Fälle zusammen? Ida und Megan Jäger, Tante und Nichte – die eine pensionierte Konsulin und passionierte Besucherführende, die andere Halbkenianerin und Detektivin bei der Kapo Bern – geben sich alle Mühe, um die sprichwörtliche Idylle des Berner Oberlandes wiederherzustellen. Während Ida ihre internen Beziehungen spielen lässt, hetzt Megan von der Gstaader High Society über den Schweizer Mittelstand bis in die gute Stube einer Einwandererfamilie aus Sri Lanka. Als schließlich auch noch die Ukrainerin Jelena spurlos verschwindet, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Der Wettlauf um Leben und Tod beginnt. Können ihn Ida und Megan gewinnen?

Irène Mürner ist begeisterte Weltenbummlerin, ausgebildete Lehrerin, Flugbegleiterin und Schulbibliothekarin. Acht Jahre als Polizistin waren zudem so inspirierend, dass sie mittlerweile am liebsten Kriminalromane schreibt. Nebenbei ist sie – genau wie ihre Protagonistin – passionierte Besucherführende im Tropenhaus Frutigen. Nach fünf Jahren in Kenia sowie Aufenthalten in Australien und Kanada lebt die gebürtige St. Gallerin heute mit ihrer Familie im Berner Oberland am Thunersee.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Irène Mürner

ISBN 978-3-8392-7906-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Donnerstag

1.

Er trägt Handschuhe. Das Messer ist scharf. Weich dringt es durch die Haut ein, als er es am unteren Bauch ansetzt. Ohne Anstrengung zieht er es in Richtung Brust. Sofort klafft die Haut hässlich auseinander. Ida beobachtet, wie die Männer fasziniert zuschauen.

Eine der Frauen fragt entsetzt: »Ist er tot?«

»Ja, er ist tot«, bestätigt Ida.

»Aber warum? Gibt es nicht andere Möglichkeiten?«

Ida seufzt innerlich. Gleichzeitig macht sie sich darauf gefasst, ihre Erklärung abzugeben, warum man im Tropenhaus Frutigen darauf verzichtet, die Störe mit Hormonen zu behandeln, sie qualvoll zu streifen und danach dem Rogen Zusätze beizumischen, um ihn genießbar zu machen. Allerdings scheint es ihr diesmal erspart zu bleiben. Die zweite Frau hat inzwischen etwas Aufregenderes entdeckt und macht die Freundin darauf aufmerksam: »Sieh nur, Chloe! Lederschmuck!« Die Angesprochene bewegt sich in Richtung Schaukasten, und Ida überlässt die Frauen ihren Interessen. Währenddessen erkundigen sich die Männer nach Reifegrad, Geschmack und vor allem Preis des Schwarzen Goldes. Ida gibt gern Auskunft. Die Männer sind keine Anfänger, sie hat es schon zu Beginn festgestellt. Ihre Fragen sind weder naiv noch dumm, sondern deuten auf Erfahrung hin. Zudem riechen sie nach Geld, viel Geld.

Es ist klar, dass sich Ida auch ihre Ausführungen über die richtige Degustation beziehungsweise das Essen der Fischeier sparen kann. Die Anwesenden haben alle schon oft Kaviar konsumiert und wissen, dass man kein Silberbesteck verwendet und es sich lohnt, den Kaviar direkt ab dem Handrücken zu genießen. Sie belässt es dabei, auf die Menükarte der Titanic zu deuten und die Geschichte vom letzten Abendmahl mit der Consommé Olga zum Besten zu geben. Ja, natürlich hat die Gruppe auch schon Störfleisch gegessen. Weiß es als Delikatesse zu schätzen und fragt gleich nach der Abendkarte des hauseigenen Restaurants. Ida zählt das Wild auf und erwähnt: »Außerdem gibt es immer eine Störterrine mit Kaviar. Als Hauptmahlzeit kann ich Ihnen den confierten Stör mit saisonalem Gemüse und Kokos-Limettenschaum empfehlen. Schmeckt ausgezeichnet.« Was sie nicht erwähnt, dass der Koch auch Stör- und Egli-Knusperli anbietet. So wie sie die Gäste einschätzt, ist das nichts für sie. Jemand sagt etwas, die anderen lachen laut. Einer der Männer macht sich die Mühe, für Ida zu wiederholen: »Wir freuen uns alle auf das Essen im Anschluss.«

»Heute?«

»Ja, wir haben Hunger wie die Wölfe.« Wieder lachen die Männer. Wegen der Wölfe? Wie auch immer. Ida weiß, dass heute nichts aus einem Essen werden kann. Jedenfalls nicht im Tropenhaus. »Haben Sie reserviert?«

»Reserviert? Nein. Als wir letztes Mal hier waren, war das Restaurant halb leer.«

»Das tut mir leid. Heute nicht. Ich weiß zufällig, dass ein Bankett stattfindet, eine geschlossene Gesellschaft. Sie werden zum Essen irgendwo anders hingehen müssen.«

»Was? No way.« Bruce, wie der Mann von den anderen genannt wird, schaut Ida ungläubig an. »Das kann doch nicht sein.«

»Ich fürchte doch.«

»Das ganze Restaurant besetzt?«

»Ja, wir haben zuweilen diese Großanlässe im Haus.«

»Wir bezahlen extra.«

»Das wird Ihnen kaum helfen.«

»Bullshit. Das glaube ich jetzt nicht.«

»Ganz ruhig Bruce, wir finden eine Lösung.« Bruce flucht weiter vor sich hin, und Ida erkennt rasch, dass er sich für die Führung nicht mehr interessiert. Stattdessen zieht er sein Handy aus der Tasche und sucht offensichtlich einen Kontakt. Als sich bei der entsprechenden Nummer niemand meldet, flucht er erneut und lässt sich etwas zurückfallen. Ida geht derweil weiter. Einen Weltuntergang kann sie darin nicht erkennen, wenn die Gruppe einmal nicht hier essen, sondern sich ein anderes Restaurant suchen muss. Natürlich ist es schade, aber so ein Besuch kann jederzeit nachgeholt werden. Allerdings hält sie es nicht für ihre Aufgabe, ihnen das beizubringen.

*

Es ist dunkel. Die Stimmungslichter beleuchten nur gerade die Pflanzen in unmittelbarer Nähe. Ravichandra liebt es. Fast könnte sie irgendwo in einem echten Dschungel sein.

»Ravi!« Der Ruf klingt gedämpft durch die Glastüren. Trotzdem holt er sie unliebsam aus ihren Träumen. Pasquale kommt durch den Abendeingang und strahlt sie an. »Da bist du ja!«

»Ja.« Warum hat sie sich nur breitschlagen lassen? Sie will diesen Pasquale doch gar nicht. Trotzdem schenkt sie dem jungen Mann ein freundliches Lächeln.

»Wie geht’s dir? Hattest du einen guten Tag?«

»Ach, anstrengend und wenig lustig.«

»Ärger mit den Lehrern?«

»Nein, eigentlich nicht. Wir haben diese Woche Wirtschaftswoche. Interessiert mich überhaupt nicht. Das einzig Gute daran, dass wir keine Tests während dieser Tage haben. Hätten wir normal Schule, würde mich mein Vater niemals unter der Woche arbeiten lassen.«

»Dann bin ich ja direkt froh, dass ihr Wirtschaftswoche habt, sonst könnte ich dich gar nicht sehen.« Pasquales verliebter Blick macht Ravi verlegen. Nun wird er noch deutlicher: »Und das wäre furchtbar für mich. Den ganzen Tag habe ich mich nur auf heute Abend gefreut!«

»Hör auf, du redest Blödsinn.«

»Kein Blödsinn, ich meine es ernst. Ravi. Wirklich. Ich möchte dich als Freundin.«

»Was sagst du denn da.«

»Nein, echt. Mit jedem Mal, wenn ich dich sehe, wird mir klarer, wie viel du mir bedeutest und …«

Rasch unterbricht ihn Ravichandra: »Pasquale, du weißt, dass daraus nichts wird. Mein Vater …«

Diesmal lässt Pasquale Ravi nicht ausreden: »Dein Vater. Dein Vater. Wenn du willst, rede ich mit deinem Vater. Ihr lebt hier, und in der Schweiz ist es ganz normal, dass ein 17-jähriges Mädchen einen Freund hat!«

»Ja, natürlich. Trotzdem.« Ravi beißt sich auf die Lippe. Sie weiß nicht, wie lange sie noch alles auf ihren Vater schieben kann. »Meine Eltern sind anders.«

»Wie viele Jahre sind sie jetzt schon hier? Du bist in der Schweiz geboren.« Pasquale klingt genervt. »Und dein Vater arbeitet seit einer Ewigkeit hier im Tropenhaus. Selbst er muss mitbekommen haben, in was für einer Welt er lebt.«

»Das hat doch damit nichts zu tun. Auch wenn er hier lebt, hat er seine Überzeugungen und lebt er nach seinen Traditionen.«

»Aber das ist so ungerecht.« Jetzt klingt Pasquale deprimiert. »Findest du das richtig?«

»Ich weiß nicht.«

»Du weißt nicht?« Pasquales Blick ist ungläubig. Und Ravi kann es ihm nicht verübeln. Sie ist nicht ehrlich. Natürlich weiß sie, was sie richtig findet und auch, was sie will. Und ihr Vater ist nicht das Problem. Aber jetzt kann sie Pasquale unmöglich alles erklären. Rasch sagt sie: »Ich habe keine Zeit, du weißt, es geht gleich los.«

»Schon?« Die Enttäuschung steht Pasquale ins Gesicht geschrieben. Ravi wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr, obwohl sie genau weiß, wie spät es ist. Sie macht ein erschrockenes Gesicht und ruft: »Oh nein, schon fast halb! Ich muss!«

»Aber du bist doch gerade erst gekommen.«

»Es tut mir leid, die Pflicht ruft.« Sie hebt ihre Hand zum Gruß, dreht sich auf dem Absatz um und eilt den dunklen Weg in Richtung Restaurant davon. Pasquale ruft ihr hinterher: »Halt! Nicht so schnell! Wann sehen wir uns wieder?«

Ravi hebt noch einmal die Hand, dreht sich aber nicht mehr um. »Irgendwann. Ich bin wieder hier.«

»Aber wann?« Jetzt klingt er verzweifelt. Hoffentlich rennt er ihr nicht hinterher. Jetzt dreht sie sich doch um, wirft Pasquale eine Kusshand zu. »Du weißt, wo du mich findest.«

Zu ihrem Glück kommt Pablo zur Tür herein und schlägt Pasquale auf die Schulter. Die beiden begrüßen sich, und Ravi nutzt die Ablenkung, um aus Pasquales Sichtfeld zu verschwinden. Glück gehabt.

Ob es für einen kurzen Gang durch den Garten reicht? Oder muss sie sich in der Küche melden? Eine Lampe beleuchtet die Orchideen. Mystisch. Bevor jemand Ravichandra aufhalten kann, schleicht sie in Richtung Störbecken. Die Fische schwimmen unter dem schützenden Dach der Geigenfeige. Langsam jetzt, und Ravi versucht vergeblich, einen der russischen Störe nach oben zu locken. »Recht habt ihr, es ist Zeit zum Schlafen«, flüstert sie. Rasch geht sie weiter. Unter den Pfeifenblumen durch, vorbei an einer blühenden Strelitzie. Wunderschön! Immer muss sie an einen Paradiesvogel denken, der Schnabel, der Kopfschmuck. Das Patschuli sendet einen betörenden Duft aus, fast wie das Mittel, das ihre Mutter zwischen die Kleider im Schrank hängt. Kein Wunder fühlt sie sich hier wie daheim. Rasch weiter, der Kakao. Sie nimmt eine Handvoll Bohnen in die Hand. Riecht mit geschlossenen Augen daran. Himmlisch. In der Tee-Ecke kann sie nicht widerstehen und reißt ein Stück Zitronengras ab. Sie wird es ihrer Mutter nach Hause bringen. Es ist nicht das Gleiche, ob sie das getrocknete Pulver zum Kochen verwendet oder das frische Kraut. Sie muss weiter.

Ganz kurz ins letzte Haus. Als sich die Tür öffnet, schaudert sie. Es ist kühl. Ravichandra zieht ihr Jäckchen über der Brust zusammen. Helfen tut das nicht viel. Aber es ist auch hier hinten bezaubernd! Die Schildkröten sind ruhig. Und selbst der Hahn der Seidenhühner hat mit seinem Krähen aufgehört. Aber es raschelt irgendwo. Scharrt da noch ein Vogel? Schlafen die Zwergwachteln nicht? Oder ist es eine der Amseln, die sich unerlaubterweise ein warmes Zuhause über den Winter eingerichtet hat? Neugierig geht sie näher. Nein, da ist nichts. Außer Papaya, Kurkuma, Guave, Chilis. Alles da. Natürlich. Aber sie war so lange nicht hier. Dabei tut es ihr jedes Mal in der Seele wohl, wenn sie durch den Garten gehen kann. Mit zwei Fingern zerreibt sie ein Curry-Blatt. Auf der anderen Seite der Zimt-Kardamom, auch da knickt sie eines der Blätter und riecht daran. Tief erfüllt sie der Duft und macht sie glücklich. Als wäre sie in Sri Lanka. Ob die Lodge heute besetzt ist? Sie ist dunkel. Lautlos schleicht Ravichandra daran vorbei. Vielleicht sind die Gäste beim Nachtessen. Sie muss noch schnell durch den Kaffeepfad. Vorher kann sie nicht arbeiten gehen. Aber dann ist Schluss! Sicher fragt man sich schon, wo sie bleibt. Hier hinten ist es stockfinster. Aber sie weiß, wo welche Pflanze wächst. Arabica. Robusta. Hier ein paar Kirschen an den Ästen. Aber noch nicht reif. Die Bananenstauden. Diese trägt richtig viele Früchte. Bald Erntezeit. Obwohl sie noch grasgrün sind. Jetzt ist sie am Hinterausgang angekommen. Ein Blick in die dunkle Nacht. Wie gut, dass sie an der Wärme ist! Aber halt, bewegt sich da draußen etwas? Wer kann das sein? Und was macht die Person da? Um diese Zeit? Seltsam. Sehr seltsam. Ravis Uhr zeigt 20:30 Uhr. Hoppla, schon, das Bankett beginnt, und sie hätte sich ein paar Minuten früher beim Chef de Service melden müssen!

Aber da ist ein Mann! Das ist wichtiger, oder? Wenn es nun ein Einbrecher ist?

*

Ida erklärt anhand des Reliefs vom Berner Oberland, woher das Sickerwasser stammt, von dem die Fischzucht profitiert. Aber es ist unschwer zu erkennen, dass sie das Interesse der Gruppe verloren hat. Sie wollen Auskunft über den Kaviar, und fesseln kann sie sie weder mit der Thuner Seeforelle noch mit den Fossilien aus dem NEAT-Basistunnel. Kurz horchen sie noch einmal auf, als Ida über den Namen Oona erzählt, warum man dieses keltische Wort für das Einzige, das Wahre gewählt hat. Nämlich, weil hier vor langer Zeit einmal Kelten lebten, und weil der Stör des Tropenhauses eben tatsächlich der Einzige ist, der im Bergwasser aufwachsen darf. Als sie die Frage, ob man zu den On-Schuhen gehöre, verneint, erlischt auch dieser Interessensfunke wieder.

Ida nimmt das nicht persönlich. Es ist Abend. Der Tag hat die Gäste gefordert. Auch für sie selbst ist es die dritte und letzte Führung für heute. Sie wird nicht traurig sein, wenn sie fertig ist. Es war ein langer Tag, und obwohl die Gruppen nett und mehrheitlich aufmerksam waren, ist sie jetzt müde.

Draußen ist es kalt. Wenn für November auch mild. Die Bergspitzen heben sich weiß vom schwarzen Himmel ab. Ein plötzlicher heftiger Windstoß wirbelt ein paar Blätter auf und die Frisuren der Frauen durcheinander. Eine der beiden kreischt und ruft etwas. Damit provoziert sie einige Bemerkungen. Die Gruppe kennt sich wohl gut und mag sich, Ida hat für diese Dinge ein untrügliches Gespür.

In der Fischhalle spricht sie über die Reinigung der Becken, hält sich aber auch hier kurz, als sie hört, wie die Männer sich leise unterhalten und die Frauen die Nase ob des Geruchs hier drinnen rümpfen.

»Gut, dann lassen Sie uns endlich zu den Fischen gehen.« Das Aquarium ist immer ein Highlight, und richtig, auch diesmal gibt es ein paar anerkennende Bemerkungen. Die Belugas haben eine beeindruckende Größe, die Albinos sind etwas Außergewöhnliches, und die Sternhausen erinnern mit ihrer Musterung tatsächlich an einen Sternenhimmel.

Nach zehn Minuten schlägt Ida vor, dass man zurück an die Wärme geht und die Fische verlässt. Erst jetzt sieht sie, dass dieser Bruce bereits vorausging und schon im Garten steht. Diesmal war er offensichtlich erfolgreich mit dem Anruf. Aufgeregt spricht er in sein Telefon. Vermutlich ist er dabei, ein neues Abendessen für die Gruppe zu organisieren. Allzu schwierig dürfte das nicht sein. Es gibt genug Restaurants auf dem Weg von Frutigen nach Gstaad, woher die illustre Gruppe offenbar gekommen ist. Trotzdem scheint er nicht zufrieden, er wirkt wütend. Sobald Ida mit dem Rest der Gäste ins Haus tritt, spricht Bruce leiser und entfernt sich erneut von der Gruppe. Ida ärgert sich ein bisschen darüber und hält ihn für unhöflich. Aber sie hat zu oft im Ausland und in anderen Kulturen gelebt, um sich noch darüber zu wundern. Zudem ist sie lange genug Besucherführende, um zu wissen, dass es jegliche Art von Gästen gibt.

Ihre Liebe zum tropischen Garten versöhnt sie jedes Mal mit dem Verhalten ungehobelter Besucher und schafft es auch diesmal, dass sie sich sofort gut fühlt, sobald sie die Wärme spürt und Pflanzen und Erde riechen kann.

Abgesehen von vereinzelten, gezielt eingesetzten Lichtquellen ist es dunkel. Ida mag das. Die Umgebung hat etwas Magisches. Sie hat den Gärtner absichtlich nicht gebeten, das Assimilationslicht anzulassen. Viel lieber geht sie, bewaffnet mit einer starken Stablampe, zu ausgewählten Spots, um sie den Gästen zu zeigen. Ohne die Anwesenden lange mit Zahlen und Fakten zu langweilen, wählt sie als Erstes die Passionsfrüchte, die hier in beachtlicher Menge von den gespannten Drähten hängen. Als sie dann im Vorbeigehen das Chili als Aphrodisiakum erwähnt, hat sie die ganze Schar erneut in der Tasche. Gebannt hängen sie an ihren Lippen, und irgendwann ist selbst Bruce zurück und gesellt sich offenbar zufrieden zu seinen Bekannten und Freunden.

Der Lärmpegel im zweiten Haus ist höher. Im Vorbeigehen wirft Ida einen Blick ins Restaurant. Das dezente Licht zaubert eine behagliche Stimmung. Trotzdem geht es hoch zu und her. Ida sieht, wie der Service alle Hände voll zu tun hat. Offenbar haben sie Unterstützung, jedenfalls erkennt sie Balachandrans Tochter Ravichandra sowie ein weiteres Mädchen, das ab und zu aushilft. Wer genau alles in den Genuss des Essens kommt, weiß Ida nicht. Es sind Leute von Coop dabei, das Kader der BLS, sogar von Schweiz Tourismus und selbstverständlich die Geschäftsleitung des Tropenhauses. Ida kennt ähnliche Repräsentanten-Anlässe und die damit verbundenen Pflichten aus ihrer Zeit als Konsulin und ist jetzt dankbar, dass sie mit ihrer Gruppe am Restaurant vorbeiziehen kann. Zu oft hat sie sich gelangweilt überlegt, mit wem sie Small Talk zu welchen Themen machen könnte, und zu selten gab es geistreiche Gespräche, die sie genossen hat. Zufrieden mit ihrer jetzigen Aufgabe freut sie sich auf einen friedlichen Abend daheim. Auch Bruce entgeht nicht, dass das Restaurant voll besetzt ist, und ohne ein Wort darüber zu verlieren, gehen sie daran vorbei.

Im dritten Haus ist es wieder bedeutend ruhiger. Viel erzählt Ida nicht mehr. Ein paar Informationen zu den Bananen. Lieber sollen die Gäste noch den Zauber des nächtlichen Gartens aufnehmen.

Schließlich ist die eineinhalbstündige Führung zu Ende. Sie erreichen den Abendausgang. Ida verabschiedet sich und entlässt die Gruppe befriedigt, wie sie glaubt.

Sie sieht ihnen nach, wie sie zum Parkplatz und ihren teuren Autos gehen. Die Frauen in ihren langen Mänteln. Die Männer mit ihren breiten Rücken. Bruce hat bereits wieder sein Telefon in der Hand.

Amerikaner. Was sie wohl hier machen?

2.

Manchmal wird Sybille dieses Speichellecken zu viel. Aber dann denkt sie daran, warum sie es tut und für wen. Sie liebt ihren Job und sie liebt ihre Leute. Und heute fällt es ihr eigentlich leicht. Der Tag mit all den Meetings lief rund. Ihre Ideen sind gut angekommen und wohlwollend aufgenommen worden. Das lässt sie hoffen. Es ist nämlich wichtig, dass sie ihre Strategie durchziehen kann. Will sie das längerfristige Überleben des Hauses und der Angestellten sichern, müssen sie investieren, ausbauen, vorwärtsschauen. Die Produktion steigern, noch mehr erneuerbare Energien nützen.

Das Essen schmeckt ausgezeichnet, der Wein ist gut und die Leute im November noch nicht übersättigt mit sozialen Anlässen. Sie schaut in lauter zufriedene Gesichter, wenn sie in die Runde blickt. Sehr gut. Während ihre Augen noch über die Anwesenden schweifen, flüstert ihr Daniel ins Ohr: »Du siehst scharf aus heute Abend. Ich freue mich auf später.« Sybille zuckt nicht mit der Wimper und lächelt dem Chef der Bern Lötschberg Simplon Bahn freundlich zu, während sie ihrem Mann gleichzeitig einen tadelnden Klaps aufs Bein gibt. Er aber lässt sich nicht entmutigen, sondern doppelt nach: »Doch. Ich kann es kaum erwarten. Lass dich nur überraschen.«

Durch die Zähne und erneut ohne, dass ihr Lächeln an Strahlkraft verliert, raunt Sybille: »Hör auf. Wir sind hier an einem wichtigen sozialen Event, reiß dich zusammen.«

»Das tu ich doch. Aber wie Sie befehlen, gnädige Frau.« Auch Daniel sieht dabei lächelnd in die Runde.

»Quatschkopf.« Aber Sybille sagt es liebevoll. Daniel ist ihr eine große Stütze und, ohne ihn könnte sie sich nicht vorstellen, diese Position erreicht zu haben. Sie wird ihm niemals vergessen, dass er bei ihr geblieben ist, obwohl sie nie Kinder wollte und er gern eine Familie gegründet hätte. Er unterstützt sie vollumfänglich. Liebevoll betrachtet sie ihren Mann. Seit über zehn Jahren sind sie verheiratet und mittlerweile ein richtig gut eingespieltes Team.

Nicht nur, dass er sich um Haus und Garten kümmert, seine Karriere immer an zweite Stelle stellt, nein, er macht auch eine gute Figur bei ihren sozialen Verpflichtungen. Wie heute Abend zum Beispiel. Sie hat genau gesehen, wie er ihre Chefin von Coop mit seinem Charme bezaubert hat. Er hat sie zum Lachen gebracht, was eine Meisterleistung ist, und Sybille rechnet damit, dass ihr die Frau ab sofort aus der Hand frisst. Das Schöne ist, dass Daniel selbst genau weiß, wo sie Unterstützung braucht, was sich lohnt, und bei wem er sich für Sybille einsetzen muss, damit er ihr hilft. Sie muss ihm öfter sagen, wie wertvoll er für sie ist.

»Sollen wir den Nachtisch bringen?« Richard, der Chef de Service, fragt diskret. Sybille nickt. »Ja, gern. Ich glaube, wir sind alle soweit.«

»Gut. Dann servieren wir ihn sofort.«

»Warte, Richard, was ist es?«

»Ein Maroni-Tartlet und dazu je eine Kugel Zitrone- und Ananas-Sorbet.«

»Danke, Richard, das klingt wunderbar.«

»Ist es auch.«

Sybille lächelt. Ja, ihre Leute sind jede Minute wert, die sie in ihre Arbeit investiert.

»Will jemand den Kaffee zum Dessert?«

»Ja, gern.«

»Gibt’s auch Latte?«

»Natürlich. Sonst noch jemand?«

»Nein danke, für mich nicht.«

»Auf keinen Fall, sonst kann ich nachher nicht mehr schlafen.«

»Wer will denn nachher schlafen?« Zum Glück sagt es Daniel so leise, dass nur sie es hören kann. Ihr Ehemann ist immer schlagfertig und witzig, aber heute Abend scheint er besonders aufgedreht. Sybille schüttelt kaum merklich den Kopf, sie will ihn etwas bremsen. So geht es nicht. Bald werden die anderen Gäste mitbekommen, dass er ihr dauernd heimlich ins Ohr flüstert.

»Bin gleich wieder da. Dass du mir nicht verschwindest.« Damit steht Daniel auf und ist weg, bevor Sybille antworten kann. Was kann so dringend sein, dass er während des Essens den Tisch verlässt? Muss er auf die Toilette? Sie blickt ihm nach, wie er in Richtung Bar geht und gleich darauf aus ihrem Blickfeld verschwindet. Sie ärgert sich etwas. Beruhigt sich aber sofort wieder. Bestimmt ist er gleich zurück. Daniel weiß, was sich gehört, wie wichtig der heutige Abend für sie ist und was auf dem Spiel steht. Und richtig, noch bevor die ersten Nachtischteller auf dem Tisch stehen, ist ihr Ehemann zurück. »Was ist denn los? Geht’s dir gut?«

»Nichts. Klar.«

Sybille schaut Daniel kurz fragend an und hat auf der Zunge zu sagen: »Warum bist du dann überhaupt aufgestanden?« Aber sie verkneift es sich und winkt stattdessen Richard, um ihn über die Kaffeebestellungen zu informieren.

Der Abend verläuft in bester Atmosphäre weiter, und die Gäste scheinen es nicht eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Für die meisten wird es spät, und Sybille wäre rundum zufrieden, wenn nicht eine kleine Episode wie ein Tropfen in den Wermutbecher gefallen wäre.

3.

»Verdammt kalt.« Silvan schlägt sich die Arme um den Körper.

»Bist du eine Memme oder bist du eine Memme?« Sein Kumpel Lenny schüttelt verständnislos den Kopf. Silvan sagt nichts mehr, haucht aber demonstrativ den Atem aus seinem Mund.

»Da, trink noch ein Bier, dann wird dir warm.«

»Alkohol trägt höchstens zusätzlich zur Abkühlung des Körpers bei.«

»Klugscheißer.« Lenny hält Silvan trotzdem eine Büchse Rugenbräu hin. »Da nimm. Deine schlechte Laune liegt nicht an der Kälte. Trink, vielleicht kommt sie ja noch.« Nach kurzem Zögern nimmt Silvan die Büchse und öffnet sie mit einem leisen Zischen. Lenny schlägt sein Bier dagegen und sagt dazu: »Auf uns. Und die Männerfreundschaft.« Silvan verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse, in der halbherzige Zustimmung zu lesen ist. Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. Dann schüttelt er den Kopf. »Nein, die kommt nicht mehr.«

»Na und? Schau dich um. Andere Mütter haben auch hübsche Töchter.« Silvan nimmt einen Schluck aus der Büchse. Klar. Aber ihn interessieren keine anderen Mädchen. Lenny schlägt ihm auf den Rücken. »Komm, lass es uns bei den beiden da versuchen.«

»Keine Lust.«

»Mann! Sei keine solche Spaßbremse.« Lenny geht los, ohne auf Silvan zu warten. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als dem Kumpel zu folgen, will er nicht wie der letzte Loser allein am Betonpfeiler unter der Autobahnbrücke lehnen. Lenny gibt gleich Vollgas und hat die zwei Mädels bereits zum Lachen gebracht. Kaum steht Silvan ebenfalls da, stellt er ihn vor: »Und dieser umwerfende Kerl ist mein Kumpel Silvan. Er trägt keine blauen Kontaktlinsen, sondern dieser Blick ist echt. Nehmt euch vor ihm in Acht, ein echter Frauenversteher aus dem reichen Reichenbach.« Wieder verzieht Silvan das Gesicht und schüttelt dazu den Kopf. Die Mädchen müssen schon ziemlich dicht sein, wenn sie das lustig finden. Aber sie kichern los, und Lenny lässt weitere Sprüche vom Stapel. Silvan wird das zu blöd, er zieht sein Handy aus der Hosentasche. Keine Nachricht. Schade.

»Ui, mir ist schlecht.« Eines der Mädchen krümmt sich, und schon übergibt sie sich.

»Iiih, Leandra! Was machst du denn da!«

»Das siehst du doch, sie kotzt.«

»Mann, voll grusig.«

Einen Moment stehen die Teenager unschlüssig da und überlegen, was zu tun ist. Silvan fasst sich als Erster: »Hat jemand die Telefonnummer ihrer Mutter, ihres Vaters?«

»Warum?«

»Sie muss abgeholt werden.«

»Spinnst du? Die Eltern dürfen das nicht erfahren.«

Von Leandra kommt ein Wimmern. Ihre Freundin wendet sich von Silvan ab und fragt mitfühlend: »Geht’s, Schatzi?«

Leandra gibt ein jämmerliches Geräusch von sich, das alles bedeuten kann. »Willst du nach Hause?«

Jetzt kommt immerhin ein Nicken zustande. »Also doch die Eltern«, stellt Silvan trocken fest.

»Kommt nicht infrage, jemand muss mit ihr auf den Zug.« Das Mädchen schaut in die Runde, und ihr Blick bleibt an Silvan hängen. »Hat dein Freund vorhin nicht gesagt, du seist aus Reichenbach? Da liegt Spiez doch auf dem Weg.«

Die denkt doch nicht ernsthaft daran, ihm eine kotzen­­de Zicke aufzuladen? Auf keinen Fall. Silvan verzieht sein Gesicht zu einer ablehnenden Grimasse.

»Silvan, sei ein Freund.« Lenny schlägt ihm auf die Schulter. Aber Silvan wehrt sofort ab: »Bist du verrückt? Ich kenn die doch gar nicht.«

»Das macht nichts. Den Heimweg wird sie noch finden. Du setzt sie in den Zug und fährst mit ihr nach Spiez. Dann begleitest du sie heim – et voilà, Auftrag erledigt.« Zur Veranschaulichung fährt Lenny mit der rechten Hand rasch über die linke. Dann fügt er feixend hinzu: »Und wer weiß, vielleicht …« Sein vielsagender Blick deutet etwas an, an das Silvan gar nicht denken will. Wieder verzieht er sein Gesicht abschlägig. »Mit so einer? Nicht mal mit einem Stecken.«

»Dann nicht. Aber du kannst ein Gentleman sein.«

»Genau. Silvan, bitte sei nett und bring sie heim.«

»Mann, eh, kein Bock.«

»Du wärst echt ein Held.«

»Da siehst du’s, ein Held.« Wieder grinst Lenny. »Und außerdem können wir sie so wirklich nicht allein schicken.«

»Was ist mit dir? Du bist ihre Freundin.«

»Ja, aber ich wohne in Unterseen.«

»Wie praktisch.« Niemand geht auf Silvans ironische Bemerkung ein. Stattdessen hält Nora ihrer Freundin ein Taschentuch hin, womit sich Leandra den Mund abwischt. »Oh Gott, mir geht’s so elend.«

»Na?« Diesmal kriegt Silvan den vielsagenden Blick von Nora, und sie will damit sicher etwas anderes implizieren als Lenny. »Ich sag’s doch, allein kann sie unmöglich reisen.«

»Geht’s mich etwas an?«

»Ein Mensch geht jeden was an.« Oh Mann, jetzt kommt sie auch noch so. Silvan kennt diese entschlossenen Frauen, die die Moralkeule schwingen. Da hat er nie eine Chance, besser, er gibt jetzt schon nach, am Schluss wird sie sowieso gewinnen, und er hat nur viel Energie für nichts verschwendet. Zudem wird der Abend ohnehin nicht mehr besser werden. Ein weiterer Blick aufs Handy bestätigt das, keine neue Nachricht. Also kann er gleich nach Hause gehen. Ohne Begeisterung sagt er: »Meinetwegen.« Skeptisch fügt er, an Leandra gewandt, an: »Kannst du überhaupt gehen?« Sie nickt schwach und versucht ein Lächeln. »Danke.«

Inzwischen hat Nora Leandras Tasche gepackt und hängt sie Silvan über die Schulter. Auf der anderen Seite stützt sich Leandra auf ihn, und so wanken sie zum Bahnhof. Lenny ruft ihnen hinterher: »Bist einfach ein toller Kerl! Wir sehen uns.«

Silvan spart sich eine Antwort. Stattdessen fragt er Leandra: »Geht’s?«

Sie nickt. »Ja danke. Sorry. Tut mir echt leid. Aber ich bin so froh, dass du mir hilfst. Echt.«

»Jaja, schon gut.« Er will eigentlich gar nicht reden. Aber Leandra scheint’s besser zu gehen, und plötzlich sprudelt es nur so aus ihr heraus. »Normalerweise trinke ich nie so viel! Das ist mir echt noch nie passiert. Sorry, wirklich. Ich habe wohl zu wenig gegessen. Oder war der Alk so stark?«

Ohne eine Antwort von Silvan abzuwarten, fährt sie sofort weiter: »Egal. Jedenfalls ist mir das echt peinlich. Mein Gott, ich habe voll gekotzt. Hast du das gesehen?«

Natürlich hat er das gesehen. Aber wieder erwartet sie keine Antwort, sondern ergänzt: »Das muss ich meinen Freundinnen erzählen.« Ungeschickt versucht sie, ihr Handy aus der Hosentasche zu klauben. Es gelingt ihr nicht. »Können wir kurz stehen bleiben?«

»Mach das nachher. Lass uns jetzt auf den Zug gehen.«

»Okay. Aber weißt du, das ist voll krass. Jetzt geht’s mir schon viel besser.«

»Ja, das merke ich.«

»Nicht wahr?« Sie strahlt ihn glücklich an. »Vielleicht müssen wir gar nicht nach Hause? Vielleicht gehen wir noch einmal zurück?«

Was? Natürlich nicht. Mann, die Tusse geht ihm echt auf den Nerv. Silvan schüttelt den Kopf. »Nein, ich geh nicht mehr zurück. Wir fahren jetzt heim.«

»Okay. Ist ja voll lieb, dass du mitkommst. Weißt du, meine Eltern sind geschieden, und der Kerl meiner Mutter mag mich sowieso nicht. Und meine Mutter darf das schon gar nicht wissen, sonst kann ich nie wieder weg.«

Endlich kommt der Bahnhof in Sicht, und Silvan ist erleichtert, als er liest, dass der Zug in wenigen Minuten einfahren wird.

4.

Kateryna betrachtet ihre Freundin im Spiegel. Jelena ist wunderschön. Und sie weiß es. Sie nimmt einen Pinsel in die Hand und pudert mit federleichter Hand etwas Rouge auf ihre ausgeprägten Wangenknochen. Ein prüfender Blick in den Spiegel. Sie ist zufrieden. Jetzt nimmt sie einen der Lippenstifte und trägt ihn mit geübten Bewegungen auf. Sie reibt Ober- und Unterlippe aneinander, nimmt ein Papiertuch aus der Box und drückt ihre Lippen darauf. Das leuchtende Rot hinterlässt einen verheißungsvollen Kussmund. Jelena wirft das Papier achtlos neben den Spiegel. Jetzt runzelt sie die Stirn und fragt: »Soll ich die Haare offen oder hochgestreckt tragen, was meinst du?« Mit der rechten Hand fährt sie sich in das geglättete blonde Haar und hält es versuchsweise im Nacken hoch. Kateryna antwortet nicht, aber offenbar erwartet Jelena ohnehin keine Entscheidung von der Freundin. Schulterzuckend lässt sie die Haare fallen und öffnet stattdessen ihr Schmuckkästchen, um nach den passenden Ohrringen zu suchen.

»Jelena, glaubst du wirklich, das ist eine gute Idee?«

»Du denkst, ich sollte die Haare hochstecken?« Jelena unterbricht ihre Suche und wirft Kateryna einen Blick über die Schulter zu.

»Nein, sie sind perfekt so. Ich meine heute Abend.«

»Ach Katynka. Katynkalein . Hör auf zu grübeln. Das wird lustig, glaub mir!«

»Aber wir sind im Krieg.«

»Aber doch nicht hier! Wir sind sicher, wir sind jung, wir haben es verdient, uns zu amüsieren.«

Kateryna schaut skeptisch.

»Denkst du, es hilft auch nur einem einzigen Soldaten, wenn du heute Abend zu Hause bleibst? Glaubst du, der Krieg wird eine Sekunde weniger lang dauern, wenn du hier Trübsal bläst?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Na also, warum zögerst du?«

»Es sind Amerikaner.«

»Genau, sie sind unsere Freunde, sie unterstützen uns!«

»Eben. Könnte das nicht ein Problem sein? Erwarten sie von uns keine Dankbarkeit?«

»Was meinst du damit?« Jelena fragt prüfend.

»Du weißt schon, gewissermaßen eine Gegenleistung …«

»Was fällt dir ein! Du denkst, sie wollen Sex mit uns? Sozusagen als Entschädigung, weil ihre Milliarden und Waffen die Russen besiegen sollen?«

»Denkbar, oder?«

»Blödsinn. Die sind nett. Du wirst schon sehen. Richtige Amis. Freundlich. Zugewandt. Aufgeschlossen. Und reich.« Zum letzten Satz grinst Jelena. »Sie lieben uns!«

»Hoffentlich nicht zu sehr.« Kateryna seufzt.

»Jetzt hör auf! Du wirst faltig vor lauter Sorgen! Heute Abend will ich Spaß haben.« Jelena erhebt sich, macht zwei Schritte auf Kateryna zu und drückt sie an sich. »Das ist eine Gelegenheit für uns, die so schnell nicht wiederkommt. Glaub mir. Die Leute wissen, wie man Party macht. Wir werden Champagner trinken und Kaviar essen. Wir werden lachen und tanzen, wir werden uns amüsieren. Und sonst gar nichts!«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Jelenas weiße Zähne bilden einen starken Kontrast zum flammenden Rot des Lippenstifts. Einen Moment muss Kateryna an Knochen in einer Wunde denken. Rasch verdrängt sie das Bild und lächelt Jelena stattdessen ebenfalls zu. »Du bist großartig. Und unwiderstehlich.«

»Ich weiß. Niemand sieht mir meine drei Kinder an.«

»Niemand«, bestätigt Kateryna. Bewundernd fügt sie an: »Du siehst keinen Tag älter als 25 aus.« Jelena beginnt zu kichern. »Ich könnte mit Nika in den Ausgang, und kein Mensch käme auf die Idee, dass ich seine Mutter bin.«

»Wie alt ist Nika?«

»18.«

Jetzt macht Kateryna trotzdem große Augen. Jelena nickt. »Ja, ich war selbst erst 18, als er auf die Welt kam.«

»Und Mischa und Maxim?«

»Mischa ist 16, und Maxim wird nächstes Jahr zwölf.«

»Mischa und Nika sind Männer geworden.«

»Ja«, bestätigt Jelena. »Du hast recht. Ich habe genug Männer im Haus, auch ohne Martin.« Kateryna hat Jelenas Schweizer Mann und den Vater von Maxim nie kennengelernt. Sie sagt deshalb nichts, sondern wartet auf eine Ergänzung. Sie kommt mit einem Seufzer. »Martin ist nett. Aber er konnte nicht mit meinem Job in der Bar umgehen.«

»Was hat ihn gestört?«

Jelena hebt herausfordernd ihre Augenbrauen. »Freunde wie Bruce, Andrew oder Jayden.«

»Gibt’s im Belvédère oft amerikanische Gäste?«

»Manchmal. Aber mehr noch kommen Russen. Darum wirst du sehr willkommen sein. Meine Chefin ist in Begeisterungsschreie ausgebrochen, als ich ihr von dir erzählt habe.«

»Russen?« Kateryna ist entsetzt. »Sie sind unsere Feinde. Sie zerstören unser Land.«

»Aber doch nicht die Leute, die hier sind. Sie hassen Putin wie wir. Sie sind genauso wenig am Krieg schuld wie du und ich. Was denkst du, warum sie in der Schweiz sind?«

»Und wenn sie herausfinden, dass wir Ukrainerinnen sind?«

»Das werden sie nicht. Wir sprechen russisch. Genau wie sie.«

»Und wenn sie fragen, woher wir kommen?«

»Dann sagst du aus Sankt Petersburg. Du hast schon viele Bilder der schönen Stadt gesehen, ich wette, die wissen kein bisschen mehr über Sankt Petersburg als du. Du kannst erzählen, was du willst, niemand wird etwas merken.«

»Wurdest du nie gefragt, warum du ihre Sprache sprichst?«

»Doch natürlich.«

»Was hast du gesagt?«

»Dass Russisch eine großartige Sprache ist.«

»Und?«

»Nichts und. Sie haben sich gefreut. Ihren Wodka getrunken und gesagt, dass wir alle Brüder und Schwestern sind.«

»Und du denkst, ich werde das können?«

»Natürlich! Es ist nicht schwierig. Du bist schön. Und du bist intelligent.« Kurz denkt Kateryna an ihr Studium für Maschinenbau in Kiew. Aber Jelena fährt schon fort: »Außerdem zeige ich dir alles. Ich bin eine fabelhafte Lehrerin. Du wirst es lieben. Nicht nur das Trinkgeld.« Jetzt grinst Jelena. Noch einmal drückt sie Kateryna an sich. Vorsichtig, um ihr Make-up nicht zu verschmieren und keine Spuren auf Katerynas Bluse zu hinterlassen. »Meine Kleine. Ich will nichts mehr hören. Alles kommt gut, verstehst du? Sag mit mir: Alles kommt gut.« Als Kateryna zögert, drückt Jelena ihren Arm und doppelt nach: »Los, sag: Alles. Kommt. Gut.« Kateryna lächelt und sagt: »Alles kommt gut.«

»Und jetzt suchen wir das richtige Kleid!«

5.

»Oh Gott, meine Füße bringen mich um.«

»Wem sagst du das.«

»Was meinst du, wie lange bleiben die noch?«

»Keine Ahnung, aber mir egal. Wir dürfen jetzt los, Feierabend.«

»Gott sei Dank. Aber ich muss eh noch bleiben.« Ravi seufzt.

»Was, warum denn?«

»Ich darf nicht allein heim, ich muss auf meinen Vater warten.«

»Oh nein, das ist ja voll Kacke.«

Ravichandra zuckt mit ihren Schultern. »Schon okay. Ich habe etwas zu lernen dabei.«

»Du willst jetzt noch lernen? Du spinnst.«

»Natürlich bringt’s nicht mehr viel, aber immer noch besser, als hier hin und her zu rennen und mich blöd anmachen lassen.«

»Blöd anmachen lassen, von wem?«

Ravi rollt mit den Augen. »Du weißt, wen ich meine.«

»Ach so. Ich finde ihn charmant.«

»I know. Die Chefin offensichtlich auch.«

Emma grinst. »Siehst du, wir haben Geschmack.«

»Er ist ein Schleimbeutel.«

»Er macht nette Komplimente.«

»Mich nervt er. Aber lass uns über etwas anderes reden. Eigentlich waren die Gäste alle sehr nett.«

»Eben. Und das Geld, das wir verdient haben, ist nicht zu verachten.«

»Genau.«

Das Piepsen einer Nachricht lässt Emma auf ihr Telefon schauen. »Meine Mutter ist da.«

»Toll für dich.« Eigentlich wollte Ravi nicht bitter klingen, aber ein bisschen beneidet sie die Freundin schon darum, dass sie jetzt heim ins Bett kann. Emma schaut sie mitleidig an. Dann fällt ihr ein: »Weißt du was, komm doch mit zu mir! Dann ersparst du dir erst noch das frühe Aufstehen morgen. Wir wohnen so nah an der Schule, da reicht eine halbe Stunde vor Schulbeginn.«

»Das wäre ja klasse!« Ravi strahlt, fragt aber gleich darauf skeptisch nach: »Meinst du wirklich, das ist möglich?«

»Natürlich, warum denn nicht? Pyjama kannst du von mir kriegen, Zahnbürsten haben wir genug. Schulzeugs brauchst du für unsere Wirtschaftswoche eh nichts, was also spricht dagegen?«

»Wenn du es so sagst. Aber deine Mutter?«

»Meine Mutter? Die freut sich, wenn ich Freundinnen habe.«

»Oh Mann, du bist ein Goldstück. Ich frage nur kurz meinen Vater, okay?«

»Klar, aber beeil dich, ich will heim.«

»Bin schon weg!« Ravi steht auf und eilt davon. Emma ruft ihr nach: »Wir sehen uns im Auto, ich geh schon vor.«

»Ja, alles gut.« In wenigen Schritten steht Ravi in der Küche. Ihr Vater hat alle Hände voll zu tun. Berge von Geschirr türmen sich, und er füllt Maschine um Maschine. Ravi ist unendlich dankbar, dass sie nicht warten muss, bis er fertig ist, sondern Feierabend machen kann.

»Papa, Emmas Mutter ist hier, und sie wollen mich mitnehmen.«

»Emma Serschön?«

»Ja, du weißt schon, das Mädchen, das heute ebenfalls mitgeholfen hat im Service. Sie ist sehr nett.«

»Ja, sie ist nett.« Balachandran lächelt, er mag das fleißige Mädchen mit dem freundlichen Lächeln. Trotzdem wird er gleich wieder ernst. »Aber du kannst dich nicht bei ihnen aufdrängen.«