Tod in Weimar - Dominique Horwitz - E-Book

Tod in Weimar E-Book

Dominique Horwitz

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  • Herausgeber: Knaus
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Dominique Horwitz' Romandebut: frech, witzig und temporeich

In der „Villa Gründgens“, dem Weimarer Alterssitz für Bühnenkünstler, wird die Probenarbeit des „Schiller-Zirkels“ jäh unterbrochen: Aus der greisen Theatergruppe stirbt unter mysteriösen Umständen einer nach dem anderen. Roman Kaminski, Kutscher und Stadtführer in der Goethe-Stadt, sieht sich gezwungen, der rätselhaften Todesserie auf den Grund zu gehen. Doch der ehrgeizige Kommissar Westphal scheint Kaminski in der Hand zu haben, der zu allem Überfluss auch noch zwischen zwei Frauen steht.

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Seitenzahl: 374

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Über den Roman

Im Weimarer Seniorenheim »Villa Gründgens« hat sich eine illustre Gemeinschaft zusammengefunden. Unter der Herrschaft der geheimnisvollen Trixi Muffinger leben dort greise Bühnenkünstler, die mit Selbstvertrauen bis zum Bersten reichlich gesegnet sind. Einige von ihnen sind gerade dabei, »Die Räuber« einzustudieren, denn Schiller, so die einhellige Meinung, muss in der Goethe-Stadt mehr Gerechtigkeit widerfahren. Da geht in der Seniorenresidenz plötzlich der Tod um: Zuerst scheidet der Hausmeister unter ungeklärten Umständen aus dem Leben, dann erwischt es einen nach dem anderen aus dem »Schiller-Zirkel«. Kutscher Roman Kaminski, ehemaliger Schauspieler und heute Stadtführer in Weimar, übernimmt vorübergehend die Aufgaben des Hausmeisters und ermittelt im Verborgenen. Dabei muss er sich mit dem smarten Kommissar Marc Westphal herumschlagen, der Kaminski im Verdacht hat, an den Todesfällen nicht unbeteiligt zu sein…

Über den Autor

Dominique Horwitz, geboren 1957 in Paris, ist Schauspieler, Regisseur und Sänger. Neben zahlreichen Filmrollen (»Stalingrad«, »Der große Bellheim«) spielte er unter anderem am Thalia-Theater in Hamburg, am Berliner Ensemble, am Deutschen Theater in Berlin und am Schauspielhaus Zürich. Bei Dreharbeiten in Weimar lernte er seine Frau kennen, seitdem sind Weimar und Thüringen nicht nur sein Zuhause, sondern auch seine Kulisse. 2012 inszenierte er den »Freischütz« an der Oper in Erfurt, zuletzt war er als Schillers »Wallenstein« am Nationaltheater in Weimar zu sehen. »Tod in Weimar« ist sein erster Roman.

DOMINIQUE HORWITZ

Roman

Knaus

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Copyright © 2015 beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung und -illustration: Sabine Kwauka

Covermotiv: © Bridgeman Images / Musee des Beaux-Arts

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-16346-4 V003

www.knaus-verlag.de

Für Anna,mein Stern, mein Alles

Man nehme dieses Schauspiel für nichts anderes als

eine dramatische Geschichte, die die Vorteile der

dramatischen Methode, die Seele gleichsam bei

ihren geheimsten Operationen zu ertappen, benutzt,

ohne sich übrigens in die Schranken eines

Theaterstücks einzuzäunen.

Friedrich Schiller, Vorrede zum Schauspiel Die Räuber

KAPITEL 1

Es war einer dieser klaren, hellen Oktobertage, an denen der Winter schon den Herbst umarmt. Über Nacht war es bitterkalt geworden. Ein Firnis aus Raureif lag über der Stadt, ein feiner, weißer Schleier, der die Dächer bedeckte und die Straße in eine Leinwand verwandelte, auf der Autos und frühe Passanten erste Spuren hinterlassen hatten.

Tja, so könnte ein Roman über Weimar beginnen, dachte Kaminski, vielleicht sogar meine Memoiren – falls ich sie jemals zu Papier bringe. Temperaturschwankungen und andere klimatische Irritationen sind nicht der schlechteste Auftakt, wenn man schreibend versucht, mit sich ins Reine zu kommen.

Und das versuchte Kaminski wahrlich seit Langem. Doch Firnis, Schleier, Leinwände und Jahreszeiten, die einander umarmten? Nein, sein Leben eignete sich nicht für solch hochfeine Metaphern. Zu viele Widersprüche, zu viele Enttäuschungen. Da passte Goethe schon besser: Zur Resignation gehört Charakter.

Dampfend stieg der Atem aus den Nüstern der Pferde, als Kaminski die Kutsche bestieg. Obwohl er seinen schweren, wollenen Kutschermantel trug, fror er bis auf die Knochen. Es war saukalt, um genau zu sein. Mehrmals hauchte er in seine erstarrten Hände, bevor er zu den Zügeln griff und mit der Zunge schnalzte. Ein leises Wiehern antwortete ihm. Mit einem Ruck setzte sich die Kutsche in Bewegung.

Es dauerte keine zwanzig Minuten, bis er die Stadt erreichte. Während er dem Pochen der Hufe auf dem Asphalt zuhörte, sah er die pastellfarbenen Häuserfassaden wie Kulissen an sich vorübergleiten. Und waren es nicht auch Kulissen? Immer aufs Neue bemalt für die Zuschauerströme, die selbst jetzt, im Herbst, nicht abrissen?

Weimar hatte durchgehend geöffnet. Jeden Tag Vorstellung, und er, Kaminski, als Komparse mittendrin. Vorsichtig lenkte er die Kutsche auf den Theaterplatz. Hier war der Boden eisglatt, viel zu glatt für Pferdehufe. Andererseits hing in seinem Metier eine Menge davon ab, dass er sich zeigte, und zwar genau dort, wo touristische Begehrlichkeiten entstanden. Der Theaterplatz galt als das unbestrittene Highlight für Weimarpilger: Deutsches Nationaltheater, Bauhausmuseum, Denkmal der Dichterfürsten, gleich um die Ecke Schillers Wohnhaus und das Wittumspalais.

Ja, Weimar machte es selbst dem eiligen Reisenden leicht. Wo finden Sie auf einem so engen Fleck noch so viel Gutes, hatte schon Goethe angemerkt. Es war eines jener Zitate, die Kaminski bei seinen Rundfahrten zum Besten gab. Kaminski, das lebende Lexikon. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er sogar ohne Kundschaft in Zitaten dachte. Déformation professionelle. Goethe hätte vermutlich gelächelt, Wieland, der alte Spötter, gelacht.

Während er die Pferde im Schritt gehen ließ, sah Kaminski sich um. Tatsächlich stand trotz der frühen Uhrzeit und der lausigen Kälte bereits eine Gruppe bunt gekleideter Touristen vor dem Denkmal, das Goethe und Schiller in einem bronzenen Doppelstandbild vereinigte.

Auch so ein Kulissenschwindel. Im wahren Leben war Goethe gut zwanzig Zentimeter kleiner gewesen als der Dichterfreund. Und ob er Schiller wirklich einen Lorbeerkranz gereicht hätte … Na ja, ohnehin sah es so aus, als würde Goethe ihm den Kranz entreißen und nicht im Traum dran denken, das Ding wieder herzugeben.

Doch was auch immer im wahren Leben passiert wäre, hier standen die Dichter gleich groß und einträchtig nebeneinander, der Geheimrat im Hoffrack, der jüngere Schiller im Gehrock. In Bronze gegossene Geistesgeschichte.

In diesem Augenblick entdeckten die Touristen die Kutsche. Showtime. Sofort kam Bewegung in die Gruppe. Jemand rief etwas, und schon zielten Handys und Tablets wie Waffen auf Kaminski. Ein pittoreskes Motiv mehr, dieser Kutscher in seinem operettenhaften blaugrauen Mantel mit der nachtblauen Pelerine.

»Look at that coach! Isn’t it cute?«, kreischte eine Frau mit einer übergroßen Sonnenbrille. »Do you have time to spare for a ride?«

Ob er Zeit hatte? Wir haben genug Zeit, wenn wir sie nur richtig verwenden. Er hielt die Kutsche an. Nachdem er mit der Engländerin eine Fahrt für den Nachmittag ausgehandelt hatte, kehrte er Goethe und Schiller den Rücken. Jetzt war erst mal Dr. Trixi Muffinger an der Reihe. Eine wichtige Kundin, keine Frage. Als Leiterin der legendären Villa Gründgens, dem Weimarer Altersheim für ehemalige Bühnenkünstler, spielte sie eine tragende Rolle in der Stadt. Für neun Uhr hatte sie Kaminski zur Wilhelm-Meister-Schänke bestellt, und die Dame war eine von der überpünktlichen Sorte.

Von der nahen Herder-Kirche schlug es Viertel vor neun. Kaminski trieb seine Pferde zur Eile an.

Ja, ja, die Muffinger, dachte er, präzise wie ein Uhrwerk, korrekt wie ein amtliches Register und eine Betriebsnudel reinsten Wassers. Vorsitzende der Herder-Stiftung, bestens vernetzt mit allen ortsansässigen Größen aus Politik und Kultur. In Weimar war sie weltberühmt. Kaminski war früher mal in Bruchsal weltberühmt gewesen. Alles eine Frage der Perspektive.

Plötzlich geriet die Kutsche ins Schlingern. Der Theaterplatz war schon eine gefährliche Eisbahn gewesen, aber hier, auf dem gefrorenen Kopfsteinpflaster, war es noch weit schwieriger, das Gefährt in der Spur zu halten. Die Hufe der Pferde rutschten auf dem unebenen Untergrund, kamen aus dem Rhythmus, suchten vergeblich Halt. Kaminski zog die Leinen an. Beschwörend rief er ein paar beruhigende Kommandos. Doch die Pferde scheuten und tänzelten noch eine Weile laut wiehernd über das vereiste Pflaster, bis sie endlich schlitternd zum Stehen kamen.

Wie peinlich, durchzuckte es ihn. Klarer Fall von Konzentrationsmangel. Normalerweise achtete er auf jeden verdammten Gullideckel. War er etwa nervös wegen dieser Muffinger?

Wütend auf sich selbst, sprang er vom Kutschbock und umrundete einen weißen Lieferwagen, der vor der Wilhelm-Meister-Schänke stand. Ein Mann im blauen Overall sprach wild gestikulierend mit der Wirtin des Lokals. Abrupt blieb Kaminski stehen.

Laura. Er schluckte. An diesem frostigen Morgen trug sie nur Jeans, Sweatshirt und einen lässig gebundenen Schal. War er der Einzige, der hier fror?

»Nee, nee, Sie Komiker, der Kilopreis für Rinderfilet ist seit letzter Woche um zwei Euro gefallen«, sagte sie gerade. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz frisiert, in der Hand hielt sie einen Klemmblock. »Und ich hatte keine Schweineschnitzel bestellt, sondern Kalbsrücken.«

Der Mann im blauen Overall kratzte sich am Kopf.

»Also, so läuft das nicht. Ich finde …«

»Ende der Diskussion«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Das Rinderfilet kommt in die Küche, die Schweineschnitzel können Sie gleich wieder mitnehmen. Alles andere kläre ich mit Ihrem Chef.«

Die ließ sich nichts gefallen. Kaminski bewunderte Laura für ihre resolute Art. Sie war durch und durch Geschäftsfrau, stand mit beiden Beinen im Leben. Wenn sie kämpfte, dann mit dem Florett, falls nötig, auch mit Boxhandschuhen. Baaam, baaam, baaam. Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Einige Jahre lang hatte er selbst geboxt, da erkannte man sofort, wer Chef im Ring war.

Ihre Züge glätteten sich, als sie ihn entdeckte. Ein feines Lächeln umspielte ihren Mund. Den Lieferanten, der fluchend eine schwere, rote Plastikwanne in den Lieferwagen zurückwuchtete, würdigte sie keines Blickes mehr.

»Ah, mein kleiner Philosoph. Schon so früh unterwegs?«

Mein kleiner Philosoph. So nannte sie ihn immer. Und nie konnte Kaminski ganz sicher sein, ob das ironisch oder anerkennend gemeint war. Vermutlich beides. Sicher war nur, dass sie zu den wenigen Menschen gehörte, die seine Vorliebe für Zitate genossen. Außerdem war Laura der einzige Mensch, der sich für seine Gedanken über das Leben im Allgemeinen und das Scheitern im Besonderen interessierte.

»Kaffee, Kaminski?«

Er räusperte sich. Obwohl er seit Jahren zu den Stammgästen der Wilhelm-Meister-Schänke zählte und mit Laura über den üblichen Small Talk längst hinaus war, spürte er immer eine gewisse Befangenheit in ihrer Gegenwart. Und Zärtlichkeit für mich– ihr Götter! Ich hofft’ es, ich verdient’ es nicht!

»Nein – oder ja, doch«, stammelte er, »einen doppelten Ristretto, vielleicht. Müsste aber schnell gehen, für neun hat Frau Doktor Muffinger eine Tour bestellt.«

»Die Muffinger, aha.« Laura runzelte die Stirn. »Hast du es schon gehört? Die Sache mit ihrem Hausmeister?«

Kaminski zuckte die Achseln.

»Tot«, sagte Laura schlicht. »Einfach umgefallen.«

Der Hausmeister der Villa Gründgens, dieser Baum von einem Mann? Kaminski stutzte. Das war doch keiner, der einfach umkippte und den Löffel abgab.

Währenddessen war Laura schon ins Lokal gegangen.

»Doppelter Ristretto für Kaminski, schnell, er hat es eilig!«

Offenbar hatte sie es einer Angestellten zugerufen. Sehen konnte Kaminski die Kellnerin nicht, aber hören konnte er sie, laut und deutlich.

»Der Typ sieht doch ganz gut aus, wieso hat der eigentlich keine Frau?«

Er verzog den Mund. Für sonderlich gut aussehend hielt er sich nicht. Wenn er sich morgens rasierte, sah er einen kräftigen, muskulösen Mann mittlerer Größe, einen, der zupacken konnte. Sein Beruf brachte es mit sich, dass sein kantiges Gesicht gebräunt und vom Wetter gegerbt war. Die abstehenden Ohren und das kurz geschorene Haar machten ihn allerdings nicht gerade zu einem George Clooney.

Und was den zweiten Teil betraf – er und die Frauen, das wollte irgendwie nicht zusammenpassen. Schon allein deshalb galt er in dieser hoffnungslos verklatschten kleinen Stadt als Sonderling. Seit er das halb verfallene Gestüt seiner Eltern übernommen hatte, kursierten die abenteuerlichsten Gerüchte über ihn.

»Geht’s noch lauter? Er steht direkt vor der Tür!«, hörte er Laura schimpfen. »Den Ristretto, aber dalli! Und dann werden die Salzstreuer poliert!«

Ein paar Minuten später kam sie wieder nach draußen, mit einer dickwandigen kleinen Tasse in der Hand.

»Und? Was sagt mein kleiner Philosoph zu dem überraschenden Todesfall?«

Wortlos starrte er sie an, fasziniert von der Art, wie sie sich bewegte. Ihr straffer Körper hatte etwas Federndes, als wäre jeder Muskel aufs Äußerste gespannt. Er wusste, dass Laura zu DDR-Zeiten Leistungssportlerin gewesen war. Bodenturnen. Ein paar unwirkliche Sekunden lang meinte er zu sehen, wie sie in einem hautengen weißen Gymnastikanzug kraftvoll Anlauf für einen Salto nahm, vom Boden abhob und durch die Luft auf ihn zuschwebte.

Lächelnd hielt sie ihm die Tasse hin.

»Hey, ich hab dich was gefragt.«

Vor seinem inneren Auge landete Laura nach dem Salto mit erhobenen Armen und durchgedrücktem Kreuz auf der Matte. Schwer atmend, das Gesicht gerötet, die Lippen leicht geöffnet. Jede Einzelheit ihres Körpers zeichnete sich unter dem dünnen Stoff des Sportanzugs ab, der fast zu bersten schien.

»Hallo? Jemand zu Hause?«

»Media vita in morte sumus«, erwiderte er.

Glücklicherweise war sein Gedächtnis ein Fundus von Zitaten. Als ehemaliger Schauspieler hatte er mehr Texte im Kopf, als er gebrauchen konnte, aber jetzt, in seinem leicht verwirrten Zustand, war er einfach nur dankbar dafür. Verlegen nahm er die Tasse entgegen.

»Danke schön.«

»Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen – da hat mein kleiner Philosoph ja mal wieder mitten ins Schwarze getroffen«, sagte Laura. »Und was folgt daraus?«

Herausfordernd sah sie ihn an. Eine Spur kecker als sonst. Flirtete sie etwa?

»Carpe diem wäre wohl etwas zu banal, zumal man auch die Nächte nutzen sollte.«

Ihr Lächeln wurde breiter.

»Sprechen wir gerade über Liebe oder über Sex?«

Holla. Irgendetwas lag heute Morgen in der Luft.

»Liebe ist die Antwort, aber während man auf sie wartet, stellt der Sex ein paar ganz gute Fragen.« Er grinste. »Meint jedenfalls Woody Allen.«

Amüsiert sah Laura zu, wie er seinen Ristretto schlürfte.

»Klingt ganz schön heißhungrig. Bestimmt hast du noch nicht gefrühstückt, oder?«

Heißhungrig. Kaminski schluckte. Dann dachte er an seine verkramte Küche, an die defekte Kaffeemaschine, an den notorisch leeren Kühlschrank. Mit dem Handrücken wischte er sich etwas bräunlichen Schaum von den Lippen.

»Klar habe ich gefrühstückt.« Er gab Laura die Tasse zurück. »Vielen Dank. Sag mal, sprichst du eigentlich immer so mit deinen Lieferanten?«

»Ach, solche Typen brauchen ab und zu den Vollwaschgang, sonst tanzen sie einem auf der Nase rum.«

Währenddessen kam der Mann aus dem Lokal. Er trug nun eine leere Plastikwanne vor sich her und sah so aus, als wollte er noch dringend etwas Unfreundliches loswerden. Laura kam ihm zuvor.

»Und Abgang.« Sie schnippte mit den Fingern. »Nicht vergessen: Die Schweine von heute sind die Schnitzel von morgen!«

Wortlos stieg der Mann in den Wagen, ließ den Motor aufheulen und raste nach einem missglückten Kavalierstart davon.

»Jedenfalls ist der Hausmeister nicht mehr unter den Lebenden«, nahm Laura den Gesprächsfaden wieder auf. »Ich tippe mal auf Herzinfarkt oder so was. Übrigens – du solltest auch auf dein Herz aufpassen, Kaminski.«

Wie war das denn nun wieder gemeint? Aus ihrem Gesichtsausdruck las er Übermut, vermischt mit einem Hauch Besorgnis. Mein Herz, dachte er. Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise an dem Herzen, bis es bricht.

»Ich bin nicht gerade ein Spezialist für Herzensangelegenheiten«, erwiderte er ausweichend.

»Kannst ja die Frau Doktor fragen, was dahintersteckt.« Sie verschränkte die Arme. »Da kommt sie schon, die allseits beliebte Lichtgestalt.«

In ihren Augen blitzte es spöttisch. Es war kein Geheimnis, dass Laura die Leiterin der Villa Gründgens nicht ausstehen konnte.

Kaminski drehte sich um. Mit wedelnden Armen kam Trixi Muffinger auf ihn zugelaufen, in einem eleganten, beigefarbenen Cape, dessen Kragen mit Pelz besetzt war. Ihre High Heels klapperten wie Kastagnetten über das gefrorene Kopfsteinpflaster. Ihm war schleierhaft, wie sie es schaffte, nicht der Länge nach hinzuschlagen.

»Mein liiiiieber Herr Kaminski!« Sie küsste die Luft neben seinen Wangen, danach nickte sie deutlich weniger enthusiastisch Laura zu. »Guten Morgen, Frau Hartmann.«

In ihrem Schlepptau näherte sich vorsichtig ein älteres Ehepaar, beide mochten Ende siebzig sein. Aus ihren gut geschnittenen dunklen Mänteln und den blasierten Gesichtern schloss Kaminski auf Interessenten für einen Platz in der Villa Gründgens.

»Die Kutsche steht bereit«, sagte er. »Danke noch mal für den Ristretto, Laura.«

Doch sie war schon im Lokal verschwunden. Schade. Noch nie hatte er sich in ihrer Gegenwart so wohlgefühlt.

Trixi Muffinger ergriff seinen Arm und zog ihn zu dem älteren Ehepaar. Mann, was für ein Klammergriff. Wie ein Schraubstock.

»Darf ich vorstellen?«, flötete sie. »Das ist Roman Kaminski, Kutscher, Touristenführer und Weimarkenner von höchsten Gnaden. Lassen Sie sich nicht von seinem Kutschergewand täuschen. Wenn Sie irgendeine Frage zur ruhmreichen Geschichte dieser Stadt haben – voilà, hier ist der Mann, der alles weiß! Und das ist Professor Gohrmann samt Gemahlin.«

Kaminski reichte den beiden alten Herrschaften die Hand, ein wenig geschmeichelt, aber auch unangenehm berührt von Trixi Muffingers wortreicher Eloge. Musste sie denn immer so aufdrehen?

Er betrachtete ihr ebenmäßiges, leicht puppenhaftes Gesicht. Wie immer, war ihr nussbrauner Pagenkopf perfekt geföhnt. Keine Strähne tanzte aus der Reihe, nicht ein einziges Haar machte sich selbstständig. Es war eine Frisur, bei der er Lust bekam, mit beiden Händen darin zu wühlen.

Trixi. Energisches Kinn, schmaler Lächelmund, irisierende Vergissmeinnichtaugen. Die Leiterin der Villa Gründgens übte einen beunruhigenden Zauber auf ihn aus, soviel war klar. Irgendeinen Schlampenzauber, trotz Doktortitel und hochsittlicher Herder-Stiftung. Eine Betschwester war sie ganz bestimmt nicht.

Er klappte die Stufen herunter, die seitlich an der Kutsche angebracht waren.

»Darf ich Ihnen beim Einsteigen behilflich sein?«

Schon griff Trixi Muffinger nach seiner schwieligen Hand, mit kleinen, weichen Fingern, die trotz der Kälte angenehm warm waren.

»Immer galant, unser Kaminski! Ist er nicht großartig?«

Tief atmete er ihren Geruch ein, als sie einstieg. Eine betörende Mischung aus Heliotrop und unerlöster Weiblichkeit. Sie lebte allein, soviel wusste Kaminski. Während sie ihren fülligen Körper in die Kutsche hievte, verrutschte ihr Rock und gab den Blick auf schwarz bestrumpfte Schenkel frei. Oha. So viel üppiges Fleisch. Kaminski musste einfach hinsehen.

Das ältere Ehepaar schwieg. Ohne eine Miene zu verziehen, ließen sich die beiden von Kaminski auf die hinteren Bänke der Kutsche helfen.

»Was für ein fan-tas-ti-sches Wetter!«, gurrte Trixi Muffinger, während sie eine Tube aufschraubte, einen Klacks Creme entnahm und damit genüsslich ihre Hände massierte. »Entzückend! Grandios! Wir nehmen die große Tour! Inklusive Goethes Gartenhaus und Buchenwald!«

Das Ehepaar versteinerte.

»Äh, es ist kühl, meine Frau würde sich erkälten, wenn wir zu lange unterwegs sind«, sagte der ältere Herr. »Könnten wir Buchenwald bitte auslassen?«

»Wie Sie wollen«, erwiderte Trixi Muffinger mit mühsam unterdrückter Enttäuschung in der Stimme.

Kaminski wusste, dass sie viel von der Aufarbeitung deutscher Geschichte hielt, vor allem der vor 1945, und sich in der Initiative »Kultur gegen Rechts« engagierte. Gedankenverloren ging sie dazu über, jeden einzelnen ihrer Finger mit der Creme zu bearbeiten.

»Wir haben ja noch alle Zeit der Welt, wenn Sie erst einmal in der Villa Gründgens wohnen. Es ist ein Wohlfühlhaus, gelegen in einer der kulturell bedeutsamsten Städte der Republik! Das Wichtigste für uns ist Harmonie, der Grundstein für Lebensqualität im Alter!«

Es klang, als würde sie ihren eigenen Werbeprospekt vorlesen. Kaminski schwang sich auf den Kutschbock, warf einen letzten Blick zur Wilhelm-Meister-Schänke und sah, wie Laura sich vom Fenster abwandte.

»Professor Gohrmann war Theaterwissenschaftler«, erklärte Trixi Muffinger, als sich die Kutsche in Bewegung setzte. »Er und seine Frau Gemahlin werden eine Zierde für unser kultiviertes Haus sein.«

»Falls wir uns dafür entscheiden«, ergänzte die ältere Dame pikiert.

Kaminski schlug den Kragen seines Kutschermantels hoch. Wirklich verdammt kalt für die Jahreszeit. Er wandte sich halb nach hinten um.

»Ich habe gehört, Ihr Hausmeister ist gestorben, Frau Doktor Muffinger? Der war doch keine fünfzig und kerngesund, oder?«

»Ein Drama«, bestätigte sie. »Der Arzt hat einen plötzlichen Herzstillstand festgestellt. Wirklich eine Tragödie.«

Vom Kutschbock aus hörte Kaminski, wie sie sich ausgiebig schnäuzte.

»Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht«, fuhr sie mit belegter Stimme fort. »Gute Kräfte sind heutzutage immer schwerer zu finden. Und wenn ich an die defekte Heizung denke …«

»Sagten Sie Heizung?«, fragte der ältere Herr. »Wir sind sehr kälteempfindlich.«

»Keine Sorge, bis Sie einziehen, ist das wieder in allerbester Ordnung«, versicherte Trixi Mufffinger. »Ich hoffe auf einen Engel in der Not. Der Himmel erhöre die Gebete einer hilflosen, kleinen Frau!« Ihr glockenhelles Lachen hallte von den Häuserfronten der Altstadt wider. »Natürlich wird die Stelle demnächst neu ausgeschrieben, aber in der Zwischenzeit wird mir sicher ein Retter beistehen. In Weimar wird Solidarität noch gelebt, nicht wahr, mein lieber Herr Kaminski?«

In seiner Brust stritten zwei Fraktionen. Die eine fand, dass ihn das alles einen feuchten Kehricht anging, die andere plädierte lauthals für Ritterlichkeit. Die zweite siegte. Er holte tief Luft.

»Solange Sie niemand Neues gefunden haben, könnte ich ja ein wenig nach dem Rechten sehen. In den letzten Jahren habe ich ganz allein mein Gestüt renoviert, da eignet man sich so manches an. Leitungen verlegen, Zäune ausbessern, die Heizung reparieren …«

»O mein Gott!«, sie kreischte fast, »das würden Sie wirklich tun?«

»Es geht auf den Winter zu.« Kaminski betrachtete seine von der Kälte steifen Finger. »Jetzt im Oktober kommen noch jede Menge Touristen, aber bald werden es deutlich weniger.«

»Sie sind ein Schatz!«, juchzte Trixi Muffinger wie ein Teenager. »Ist er nicht ab-so-lut großartig?«

Niemand antwortete.

»Nun gut, dann lassen wir jetzt unseren überaus brillanten Weimarexperten zu Wort kommen«, säuselte sie. »Oh, dieses wunderbare Wetter! Sind wir nicht alle Kinder der Sonne, Herr Kaminski? Wie sagte es noch der Herr Geheime Rat von Goethe? Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken! Zum Goethehaus am Frauenplan, wenn ich bitten darf.«

KAPITEL 2

Der nächste Morgen begann feucht und trübe. Nach dem ersten Kälteeinbruch des Vortags herrschten wieder laue Temperaturen. Bleigraue Wolken hingen am Himmel, es regnete in Strömen. Lichtenberg, Kaminskis Lieblingsaphoristiker, hatte alles Entscheidende dazu gesagt: Es regnete so stark, dass alle Schweine rein und alle Menschen dreckig wurden.

Der Asphalt glänzte schwarz wie Lakritze. Oder wie flüssige Bitterschokolade? Egal, dachte Kaminski, so ähnlich könnte das zweite Kapitel meiner Autobiografie beginnen – falls ich sie denn jemals schreibe. Kulinarische Vergleiche lagen ihm sozusagen auf der Zunge, denn seit der kurzen Begegnung mit Laura am Vortag fühlte er sich, als hätte man ihn bereits beim Amuse-Gueule von einem Zehn-Gänge-Menü weggerissen. Gerade, als sich die seltsame elektrische Spannung zwischen ihnen der Entladung genähert hatte, war Trixi Muffinger aufgetaucht.

Als ob sie es geahnt hätte. Als ob sie mit ihrer dampfenden, schwer parfümierten Weiblichkeit eine Nebenbuhlerin hatte ausstechen wollen.

Er zog seinen triefenden Hut tiefer ins Gesicht. Sauwetter. Sein Mantel war völlig durchnässt. Wasserkaskaden spritzten an den Flanken der Pferde hoch, wenn er durch Pfützen fuhr. Trotzdem bremste er nicht ab. In der Villa Gründgens wartete man schon auf ihn. Das heißt, Trixi Muffinger wartete auf ihn, dieses verquere Vollweib, in dessen Herz sich vermutlich nicht nur eine Stechuhr befand.

Kurz nachdem Kaminski den menschenleeren Theaterplatz hinter sich gelassen hatte, bog er in die vierspurige Jenaer Straße ein, die zum Webicht, dem Weimarer Stadtwald, führte. Hupend und blinkend rasten Autos an ihm vorbei, hüllten ihn in Abgaswolken, überholten ungeduldig das Gefährt, das jetzt, im morgendlichen Berufsverkehr, nichts weiter als ein Hindernis war.

Kaminski nahm es gleichmütig hin. Er wusste, dass er ein Anachronismus war, geduldet allenfalls im Innenstadtbezirk, wo er sich als Requisit der Inszenierung »Weimar, Herz der Klassik« eignete. Hier jedoch, auf dem Parcours der Beschleunigung, hatte er nichts verloren.

Der Regen peitschte ihm ins Gesicht, und ihm fiel ein, dass er eigentlich das Dach des Pferdestalls hätte reparieren müssen. Wenn er noch länger wartete, würde das Heu bald anfangen zu modern. Abgesehen vom willkommenen Nebenverdienst hatte er also Sinnvolleres zu tun, als in der Villa Gründgens den Ritter zu spielen.

Aber Trixi Muffinger war stärker gewesen. Er ahnte etwas Dunkles, Unberechenbares hinter ihrer formvollendeten Freundlichkeit. Nicht, dass er sich mit Frauen sonderlich gut auskannte. Sein Liebesleben war eine unaufhörliche Folge von Schiffbrüchen gewesen, aus denen er wenig mehr gerettet hatte als sein Seelenheil.

Seit Jahren lebte er allein. Ihn störte nicht, wenn man ihn einen Eremiten nannte, einen Eigenbrötler. Die Leute hatten vollkommen recht. Er ließ niemanden näher an sich heran – außer Laura vielleicht. Aber wohin sollte das schon führen? Laura blieb unerreichbar.

In Gedanken versunken betrachtete Kaminski seine Pferde, die im Trab ihre Köpfe hin und her warfen. Wanda, der braunen Stute, und Bismarck, dem grau gescheckten Wallach, schien der Regen genauso wenig auszumachen wie das morgendliche Hupkonzert. Eine Viertelstunde später hatten sie auch die steile Straße bezwungen, die zur Villa Gründgens führte. Langsam holperte die Kutsche die letzten Meter, bis die kiesbestreute Auffahrt des traditionsreichen Seniorenheims in Sicht kam.

Schon viele Male war Kaminski hier vorbeigefahren. Die Villa Gründgens gehörte zum Kanon der Weimarer Sehenswürdigkeiten, und fast automatisch murmelte er den Text, den er immer bei seinen Rundfahrten aufsagte.

»Der stilvolle Alterswohnsitz für Bühnenkünstler wurde von dem Schauspieler, Regisseur und Intendanten Gustaf Gründgens geschaffen, berühmt für seine Darstellung des Mephisto in Goethes Faust am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Er kaufte die Villa eines Weimarer Tuchhändlers, um betagten Kollegen ein würdiges Alter zu ermöglichen. Das unverwechselbare Ambiente des Hauses und der idyllische Garten bieten ehemaligen Schauspielern und Sängern das ideale Umfeld in einer der spazierlichsten und kulturell interessantesten Städte Deutschlands.«

Spazierlich. Kaminski verdrehte die Augen. Die Touristen liebten diesen Quatsch. Je hohler die Phrasen, desto höher das Trinkgeld. Viel lieber hätte er seinen eigenen Text vorgetragen:

»Gründgens, der Gönner, wurde von Göring zum Preußischen Staatsrat ernannt, meldete sich freiwillig an die Front zum totalen Krieg, landete aber wenig später auf der Gottbegnadetenliste der braunen Verbrecher. Woraufhin er wieder die Heimatfront bespielte, eine zwielichtige Figur, gewiss genial, vielleicht auch gewissenlos, aber wer will schon den ersten Stein werfen …«

Nein, Kaminski verurteilte niemanden leichtfertig. So, wie er es den Touristen nachsah, dass sie lieber das Goethehaus am Frauenplan überrannten statt das nahe gelegene Buchenwald. Den Stachel im Fleisch, der sich nicht entfernen ließ. Auf dem Gelände des ehemaligen KZ konnte man sich kaum dem tröstenden Kalenderspruch hingeben, in der Erinnerung liege die wahre Erlösung. Was die Leute in Weimar suchten, war eine heroische Vergangenheit, kulturell feuervergoldet, garantiert erbaulich. Und nicht die Hitze der Verbrennungsöfen, die einem immer noch den Atem nahm.

»Ho-hooo.«

Kaminski zog die Zügel an und brachte die Kutsche zum Stehen, dann angelte er seine Thermoskanne unter dem Kutschbock hervor. Langsam schraubte er sie auf und trank einen Schluck Tee, der wunderbar belebend nach Wodka schmeckte. Gottbegnadete Wärme für seine durchnässten Knochen.

Plötzlich brachen die Wolken auf. Ein fahler Sonnenstrahl beleuchtete die Villa Gründgens, die wie eine Festung zu seiner Rechten aufragte. Kein heiterer Weimarer Klassizismus, sondern schwerfällige, düstere Gründerzeit. Das Erdgeschoss wappnete sich mit wuchtigen Steinquadern und vergitterten Fenstern gegen mögliche Eindringlinge, darüber trugen ungeschlachte Karyatiden die Last einer umlaufenden Balustrade. Die Fassade war in schmutzigem Gelb gehalten, gegliedert von grauen Fenstersimsen aus Granit.

Man hätte das Ganze für ein Gefängnis halten können, bewacht vom Namenspatron des Altersheims, in schwarzen Marmor gemeißelt. Theatralisch reckte er die mageren Finger gen Himmel, das hagere Gesicht zu einer hochmütigen Grimasse verzerrt.

»Einen wunderschönen guten Morgen!«

Dieser glockenhelle Sopran. Kaminski schraubte eilig die Thermoskanne zu und verstaute sie wieder unter dem Sitz. Etwas zu sportlich, um elegant zu wirken, sprang er vom Kutschbock, sprang ihr direkt vor die Füße, landete etwas zu dicht vor Trixi Muffinger. Viel zu dicht. Denn nun konnte sie ungehindert ihren Zauber entfalten, ihre Vergissmeinnichtaugen auf ihn richten, ihm ihr Parfum unter die Nase reiben, den Duft einer Frau, deren Geschäft die Menschen waren.

Er trat einen Schritt zurück. Sicherheitsabstand. Sie trug ein Schneiderkostüm im schwarz-weißen Pepitamuster, dazu eine hochgeschlossene weiße Bluse. Untadelig. Perfekt. So wie ihr akkurat frisierter, brünetter Pagenkopf, dem die blasse Oktobersonne einen rötlichen Schimmer verlieh.

»Ich bin ja so froh, dass Sie gekommen sind.« Trixi Muffinger ergriff seine Hand und zog ihn wieder näher zu sich heran. »Ich weiß gar nicht, wie ich mich erkenntlich zeigen kann.« Kaminski spürte, wie sich ein cremiger, leicht klebriger Hauch auf seine rechte Hand legte.

»Na ja, nicht übertreiben«, erwiderte er. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, geht es nur um ein paar kaputte Glühbirnen und eine morsche Zaunlatte.«

Sie lächelte kokett.

»Der Teufel liegt im Detail.«

Allein, wie sie das Wort Teufel formte. Ihre Lippen wölbten sich ihm entgegen. Toiiiifel. O Gott. Dieser Versuch, ihre schmalen Lippen zu einem Schmollmund zu formen, als wollte sie ihn in sich aufsaugen. Oder bildete er sich das nur ein? Underfucked, verdammt. Zu viele einsame Nächte. Wie hatte es Laura noch genannt? Heißhungrig?

»Tja, vielleicht erst mal die Glühbirnen«, schlug er vor, während er die Pferde an einer Straßenlaterne festband.

»Sicher, gern, kommen Sie, ich führe Sie hinein.«

Mit wiegenden Schritten ging Trixi Muffinger auf das Gebäude zu. Während Kaminski ihr folgte, konnte er nicht anders, als das Spiel ihrer Pobacken zu studieren, über denen sich der Stoff eines etwas zu engen Rocks spannte. Keine Frage, dieses Weib weckte die niedersten Instinkte in ihm – ein blindes, tierhaftes, sinnfreies Begehren.

Errötend folgt er ihren Spuren und ist von ihrem Gruß beglückt; das Schönste sucht er auf den Fluren, womit er seine Liebe schmückt. Kaminski, alter Sack, jetzt bloß nicht schwach werden, sonst fliegst du auf die Fresse. Klar so weit?

Schon durchschritt Trixi das steinerne Portal, und einen Moment später stand Kaminski in einer Eingangshalle, deren düstere Pracht ihm schier den Atem nahm.

Dunkle, holzvertäfelte Wände mit reichen Schnitzereien rahmten eine Szenerie ein, die an verwunschene Schlösser erinnerte. Ein riesiger Kristalllüster funkelte matt über ihren Köpfen. Darunter drängten sich Sessel, Couchen, Récamièren, Beistelltischchen, Sideboards, Stehlampen, Palmenkübel, Statuen dicht an dicht.

Haben die einen Theaterfundus geplündert und alles hier abgeladen?, fragte sich Kaminski entgeistert.

Offenbar genoss Trixi seine Verblüffung, denn sie blieb eine Weile neben ihm stehen, bevor sie die immer noch sperrangelweit offene Tür schloss.

»Ein Fluch liegt auf diesem Haus! Wollen Sie uns alle umbringen?«, fragte eine krächzende Stimme.

Im Halbdunkel der Halle erspähte Kaminski eine weiß geschminkte Greisin mit pechschwarzen, schulterlangen Haaren, in einen rotseidenen Morgenmantel gehüllt. Missbilligend deutete sie mit ihrer altersfleckigen Hand auf die Heimleiterin.

»Hier holt man sich ja den Tod! Reicht es denn nicht, dass der Hausmeister dran glauben musste? Wollen Sie, dass wir jämmerlich erfrieren? Sind Sie unser Todesengel?«

»Darf ich vorstellen? Das ist Hannelore Pütz, einst eine gefeierte Tänzerin«, sagte Trixi Muffinger. Lächelnd. Und völlig unbeeindruckt, so schien es, von diesem feindseligen Auftritt.

»Primaballerina«, wurde sie von der alten Dame korrigiert. »Dieser Unterschied sollte Ihnen mittlerweile geläufig sein, Frau Doktor Muffinger.«

»Ja, sicher.« Trixis gusseisernes Lächeln blieb unverändert. »Und seien Sie unbesorgt, Fräulein Pütz, hier wird alles für Ihr Wohlergehen getan. Der Tod kann warten.«

»Jeden ereilet endlich sein Tag, es sei auf dem weichen Kissen von Flaum, oder im rauen Gewühl des Gefechts, oder auf offenem Galgen und Rad!«, deklamierte Hannelore Pütz mit unheilvollem Tremolo.

»Eins davon ist unser Schicksal«, ergänzte Kaminski.

Trixi Muffinger kniff die Augen zusammen. Irritiert sah sie zwischen den beiden hin und her, als fürchtete sie, aus einem besonders amüsanten Gesellschaftsspiel ausgeschlossen zu werden.

»Goethe, nicht wahr?«, fragte sie.

Kaminski schüttelte den Kopf.

»Schiller, Die Räuber, Karl Moor.«

Viele Male hatte er in dem Stück mitgespielt. Leider nur den Schufterle, doch er kannte jede Rolle, jede Zeile auswendig, obwohl er seit Ewigkeiten nicht mehr auf der Bühne gestanden hatte.

»Stimmt, junger Mann.« Neugierig ruhte der Blick der Greisin auf seinem Kutschermantel. »Und wer sind Sie?«

»Das ist Herr Kaminski«, antwortete Trixi Muffinger mit einem schmallippigen Lächeln. Schiller und Goethe verwechselt zu haben, war ihr offenbar hochnotpeinlich. »Er geht mir liebenswürdigerweise ein wenig zur Hand, bis wir Ersatz für den Hausmeister gefunden haben.«

Kaminski reckte das Kinn.

»Ich bin Kutscher und Fremdenführer.«

So viel Berufsstolz musste sein. Er ließ sich ungern zum Domestiken degradieren. Typisch Trixi Muffinger. Gerade noch war ich ihr Held, ihr Ritter, und schon hat sie einen Laufburschen aus mir gemacht.

»Ein Kutscher, soso.« Sehr gerade stand Fräulein Pütz da, die Füße in den bestickten Pantoffeln nach außen abgewinkelt. »Nun, wer oder was auch immer Sie sein mögen, es wird Zeit, dass hier mal jemand nach dem Rechten sieht und …«

»Ganz Ihrer Meinung, Fräulein Pütz«, unterbrach die Heimleiterin sie und zeigte auf eine breite, geschwungene Holztreppe, auf der ein roter Läufer lag. »Hier entlang, wenn ich bitten darf.«

Kaminski deutete eine Verbeugung an.

»Auf Wiedersehen, Fräulein Pütz. War mir ein Vergnügen.«

Trixi stand schon am Fuß der Treppe.

»Kommen Sie?« Unversehens war sie in einen gouvernantenhaften Ton verfallen. »Wir befinden uns hier im Altbau der Villa Gründgens, einem zauberhaften architektonischen Schmuckstück des späten neunzehnten Jahrhunderts, wo etwa zwanzig eigens ausgesuchte Bewohner das Privileg eines traditionsreichen Ambientes genießen. An die Rückseite schließt sich der moderne Neubau an, mit Pflegestation, Demenzabteilung und diversen Wellnessangeboten. Dort beherbergen wir das Gros unserer alten Leutchen, etwa weitere einhundert Bewohner.«

Während sie die angenehm flachen Stufen hochstiegen, achtete Kaminski darauf, neben der Heimleiterin zu bleiben. Das kleine Schauspiel der Pobacken hatte ihm vollauf gereicht.

Stattdessen konzentrierte er seinen Blick auf das Treppenhaus. Goldene Kandelaber schmückten das schmiedeeiserne Geländer, die Wände waren verschwenderisch mit Fresken bemalt, die mythologische Szenen darstellten.

»Schauen Sie nur, ist dieser Cupido nicht allerliebst?«, fragte Trixi Muffinger.

Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen und zeigte auf einen dicklichen Putto, der an seinem Geschlecht spielte. Eine ziemlich frivole Szene für ein Altersheim, fand Kaminski. Überhaupt stand das neckische Fresko voller Blumen und verliebter Blicke in merkwürdigem Gegensatz zu der morbiden Atmosphäre. Ein Geruch welker Blüten und ungelüfteter Stoffe durchzog die Räume.

»Allerliebst, ja«, wiederholte er.

Eine merkwürdige Schwüle nahm ihm den Atem, während sie gemeinsam den masturbierenden Cupido betrachteten. Diese Trixi ist pures Verlangen, durchzuckte es ihn. Und sie weiß, was sie tut. Oder täusche ich mich?

Argwöhnisch musterte er sie von der Seite. Nein, da war nichts Laszives in ihrem Gesicht. Nur etwas neckisch Verspieltes vielleicht.

Mensch, Kaminski, du Idiot. Geht’s noch? Für wen hältst du dich eigentlich? Für Casanova? Reiß dich gefälligst zusammen. Fängst hier an rumzusabbern, dabei will die Frau nur, dass du als Axt im Haus den Zimmermann ersparst.

Kaminski war derart in seine Überlegungen vertieft, dass er den Moment verpasste, in dem sie weiter die Treppe hochging. Bloß nicht hinsehen. Er ließ sich Zeit. Auf den roten Läufer starrend, erledigte er die restlichen Stufen. Seinen Kopf hob er erst wieder, als ein öliger Tenor an sein Ohr drang, begleitet von Klavierklängen. Die Musik kam aus einer geöffneten Flügeltür am Ende des Flurs, wo Trixi Muffinger stand und ihm winkte.

Langsam schlenderte er auf sie zu, vorbei an Porträtgemälden, die rechts und links an der Wand aufgereiht hingen wie in einer Ahnengalerie. Neugierig sah er in den Raum.

»Verwundet!… Nun beim Himmel, mein Blut gerät in Wallung!«, sang ein korpulenter älterer Herr mit einem tiefroten, fleischigen Gesicht, der sich selbst am Flügel begleitete. »Kommt der Engel, der unsern Zorn in milde Sanftmut wandelt?«

Er brach ab, als er die Heimleiterin sah.

»Oh, Frau Muffinger, Sie sanftmütiger Engel, Sie kommen aufs Stichwort.«

Mit beiden Händen vollführte er ein Glissando. Seine Gesichtszüge wurden weich. Mit geschlossenen Augen neigte er den Kopf zur Seite und sang leise: »Are you lonesome tonight? Do you miss me tonight? Are you sorry we drifted apart?«

Eine Gänsehaut kroch über Kaminskis Rücken. Der alte Elvis-Song berührte etwas in ihm. Eine Sehnsucht, die er fast vergessen hatte.

»Does your memory stray to a brighter sunny day when I kissed you and called you sweetheart…«

Die Stimme erstarb.

»Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs?«

Jetzt erst sah Kaminski, dass der Sänger Publikum hatte. Die hohen Fenster waren mit olivgrünen Samtportieren verhängt, sodass nur spärliches Tageslicht in den Raum drang. In einem Arrangement ziemlich ramponierter, wild zusammengewürfelter Möbel saß eine Handvoll Greise. Sie wirkten wie gestrandet im Dämmerlicht des Salons.

»Guten Morgen, Herr Reichenbach, wie immer bei bester Stimme«, schmeichelte Trixi Muffinger dem Sänger. Sie wandte sich an Kaminski. »Erwin Reichenbach hat an den ganz, ganz großen Opernhäusern gesungen, und noch immer erfreut er sich eines beeindruckenden Organs.«

»Wie recht Sie haben, Frau Doktor Muffinger«, kicherte ein kahlköpfiger alter Mann. »Das einzig Bedeutungsvolle an dem werten Kollegen war immer sein Gemächt.«

Der Mann wirkte winzig. Wie ein Schulkind ließ er die Beine von einem Chippendalesofa baumeln, das mit verschossenem gelben Chintz bezogen war.

»Nichts für ungut, Erwin, aber für die große Oper hat dein Stimmchen nun mal nicht gereicht. Trotzdem ganz passabel, dein Othello. Wobei dir Elvis Presley besser liegt.«

Eine peinliche Pause entstand.

Kaminski sah in die Runde. Spontan beschloss er, sich selbst vorzustellen, um nicht wieder ins Personal einsortiert zu werden.

»Gestatten, Roman Kaminski, Kutscher. Ich vertrete für eine Weile den Hausmeister.«

Das Schweigen, das darauf folgte, war so geräuschvoll, dass es in den Ohren dröhnte. Alle warfen einander verstohlene Blicke zu. Selbst Trixi Muffinger war verstummt. Was hatte er denn gesagt?

»Der Hausmeister …« Erwin Reichenbach räusperte sich. Unruhig glitten seine Hände über die Tasten, ohne sie zu berühren. »Ein tragischer Tod.«

»Ein rätselhafter Tod«, kam es aus den Tiefen einer blassrosa Couch, wo eine beleibte Matrone residierte.

»Ein unnötiger Tod«, wisperte der Kahlkopf. »Ich denke …«

»Keine Verschwörungstheorien, bitte«, fuhr Trixi Muffinger ihm über den Mund. »Dieser Todesfall sollte keinesfalls Gegenstand irgendwelcher Spekulationen werden. Ich möchte keinen Unfrieden in der Villa Gründgens.«

Wie eine Dompteuse sah sie vom einen zum anderen. Ihre Stimme nahm einen geschäftsmäßigen Ton an.

»Lieber Herr Kaminski, im Schrank dort drüben finden Sie alles, was Sie brauchen – Glühbirnen und Werkzeug zum Beispiel. Ich ziehe mich jetzt in mein Büro zurück. Wenn Sie mögen, können wir einen Tee zusammen trinken, bevor Sie aufbrechen.«

»Hm – äh, ja«, stammelte Kaminski, verdutzt über den emotionalen Kälteeinbruch.

»Dann bis später.«

Und schon stöckelte Trixi Muffinger davon.

Kaminski zog seinen durchnässten Mantel aus und legte ihn zusammen mit seinem Hut auf einen lindgrünen Plastikhocker, schätzungsweise frühe Sechzigerjahre. Dann ging er zu dem dunklen Eichenschrank, auf den Trixi gezeigt hatte, und öffnete ihn. Die Fächer waren angefüllt mit Schachteln, Kabeln und undefinierbarem Krimskrams. Während er aufs Geratewohl eine Glühbirne herausnahm, spürte er die Blicke der alten Leute auf seinem Rücken. Langsam drehte er sich um.

»Verraten Sie mir mal, was eigentlich los ist?«

»Man hat mir nicht alles entdecken mögen, und von dem Wenigen, das ich weiß, erfährst du nur Weniges«, erwiderte Erwin Reichenbach gewichtig.

Schon wieder Die Räuber, diesmal Franz Moor. Was war das hier für ein komischer Seniorenschuppen, in dem alle Schiller zitierten?

»Auch wenn Verfall und Niedergang drohen, sollten wir uns Herrn Kaminski vielleicht erst mal vorstellen«, sagte der kleine Kahlkopf. Er rutschte vom gelben Chintzsofa, zog ein schwarzes Toupet aus seiner Hosentasche und setzte es auf.

»Gestatten, Leo Bamberger, Regisseur und Gründungsmitglied des Schiller-Zirkels.« Mit einer ausladenden Geste deutete er auf die Anwesenden. »Erwin Reichenbach haben Sie bereits kennengelernt, außerdem gehört unserem Zirkel die reizende Staatsschauspielerin Elfriede Sasse an. Noch nicht anwesend sind Siegfried von Lehndorff, Schauspieler und Vertreter des leichten Fachs, sowie Rudi Wuttke, seines Zeichens Maurermeister.«

Kaminski lächelte schief. Warum nur hatte er das Gefühl, in einen konspirativen Club geraten zu sein?

»So eine Unverschämtheit, Sie haben mich ausgelassen!«

Hannelore Pütz erschien an der Tür. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte sie zum Flügel, wo sie eine dekorative Pose einnahm, den Ellenbogen auf den Flügeldeckel gestützt.

»Damit wären wir fast komplett«, verkündete Leo Bamberger. »Oberst Lehndorff, die Rache der Vertriebenen, und Werktätiger Wuttke, die Stimme des Volkes, sind noch beim Arzt.«

»Verstehe«, murmelte Kaminski, obwohl er kein Wort verstand.

»Ein mörderischer Fluch liegt auf diesem Haus«, flüsterte Hannelore Pütz. »Ich spüre es.«

»Unsinn, Sie haben nur vergessen, Ihre Tabletten zu nehmen«, grummelte die Matrone, die Leo Bamberger als Staatsschauspielerin vorgestellt hatte. »Deshalb sehen Sie Gespenster, Sie gestörter kleiner Hungerhaken.«

Kokett spielte sie mit einer Perlenkette, die ihren üppigen Busen betonte. Kaminski hatte noch nie eine ältere Dame gesehen, die ein derart weit ausgeschnittenes Kleid trug. Ihre voluminösen Brüste sprengten fast den dünnen, beängstigend durchsichtigen Stoff.

»Ich muss mich für das Benehmen von Frau Sasse entschuldigen«, sagte die ehemalige Primaballerina. »Ihre Denkungsart ist so ungezügelt wie ihre lächerliche Neigung zu übertriebenen Dekolletés.«

Elfriede Sasse sah sie unbeweglich an.

»Scheiß drauf, Titten raus.«

Wie war das? Mit offenem Mund stand Kaminski da. Hatte die ausladende alte Dame etwa dieses Dings, dieses Tourette-Syndrom?

»Elfriede ist unsere kleine Rebellin«, grinste Leo Bamberger.

»Und eine vorzügliche Schauspielerin«, sagte Erwin Reichenbach, der immer noch am Flügel saß. Er warf ihr eine Kusshand zu.

Sichtlich verärgert löste sich Hannelore Pütz aus ihrer Pose und steuerte einen gedrechselten Lehnsessel an. Jetzt erst sah Kaminski, dass sie hinkte.

»Ach, was«, blaffte sie. »Von einer echten Schauspielerin ist Elfriede himmelweit entfernt.«

»Nun ja, sie ist manchmal hormonell etwas unterzuckert«, ergänzte Leo Bamberger.

Eine nette Gesellschaft. Irgendwie hatte sich Kaminski ein Altersheim etwas anders vorgestellt. Jedenfalls nicht wie die Seniorenversion einer Theaterkantine.

»Morrrgen, die Herrrrrschaften, Sie haben doch wohl noch nicht mit der Prrrobe begonnen?«

Die knarrende Stimme wehte wie aus einem alten UFA-Film in den Salon, untermalt von einem merkwürdigen Surren. Im nächsten Moment kam ein älterer Herr in einem Elektrorollstuhl hereingerast. Er stoppte direkt vor Kaminski, der erschrocken zurückwich.

Das weiße Haar des Rollstuhlfahrers war zu einem Bürstenschnitt gekürzt, ein Bärtchen zierte seine Oberlippe. Er trug einen übereleganten grauen Dreiteiler, weißes Hemd, Krawatte, Einstecktuch.

»Lehndorff«, stellte er sich militärisch knapp vor. »Würde gern für Sie aufstehen, bin aber leider an den Rollstuhl gefesselt.«

»Und das ist der Kutscher, der für den Hausmeister einspringt«, erklärte Erwin Reichenbach.

Misstrauisch nahm der Rollstuhlfahrer Kaminski in Augenschein. »Hat er gedient?«

Kaminski begriff nicht gleich. Dann wurde ihm der Sinn der Frage klar.

»Die Schule der Nation habe ich geschwänzt«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Weil ich meine Ausbildung in Berlin genossen habe.«

»Soso.« Lehndorff musterte ihn von oben bis unten. »Um welche Ausbildung handelt es sich dabei?«

Kaminski biss sich auf die Lippen. Einerseits wollte er seine Schauspielervergangenheit geheim halten, andererseits spürte er den alten Nestgeruch, die vertraute Theaterluft, die er jahrelang eingeatmet hatte. Irgendwie gehörte er immer noch dazu. Aber sollte er dieses Geheimnis preisgeben? Unschlüssig drehte er die Glühbirne in seiner Hand hin und her.

»Was soll das werden – ein Verhör?« Elfriede Sasse erhob sich. »Jeder, der freiwillig in diesem Beerdigungsinstitut arbeitet, verdient unseren Dank, wenn nicht unsere Liebe!«

Mit ausgebreiteten Armen segelte sie auf Kaminski zu. Im nächsten Moment hatte sie ihn auch schon an ihren prallen, halb nackten Busen gedrückt.

»Elfriede, das geht zu weit!«, kreischte Hannelore Pütz.

»Scheiß drauf«, kam es aus der Hüfte geschossen zurück.

Während sich Kaminski aus den fleischigen Tiefen des Dekolletés befreite, stellte er fest, wie sehr er diese Seifenoper genoss. Seit Langem hatte er sich nicht mehr so gut amüsiert.

»Sie sagten, Sie hätten eine Probe?«, wechselte er das Thema. »Was proben Sie denn?«

»Die Rrrräuber«, schnarrte der Oberst, der vermutlich keiner war, wenn auch der Schmiss auf seiner linken Wange auf eine kampferprobte Vergangenheit schließen ließ.

»Wir haben uns zusammengeschlossen, um diesem Dichter unsere Reverenz zu erweisen«, erläuterte Erwin Reichenbach. Mit einem Stofftaschentuch wischte er sich den Schweiß vom hochroten Gesicht. »Schiller wird in Weimar unterschätzt.«

»Dauernd Goethe, Goethe, Goethe, dieser Langweiler«, pflichtete Leo Bamberger ihm bei. »Schiller steht für Rebellion. Genau das, was wir brauchen.«

»Rebellion? Ohne mich!«, protestierte Oberst Lehndorff. »Krankt unsere Gesellschaft nicht am Verlust der Werte? Was wir brauchen, ist Ordnung, Struktur, Gemeinsinn – alle für einen, einer für alle!«

»Achtung, die Muffinger kommt!«, rief Elfriede Sasse dazwischen. »Los, Buffo, gib’s ihr!«

Erwin Reichenbach intonierte ein kurzes Vorspiel, dann schmetterte er aus Leibeskräften: »Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt ja mehr noch als nur den einen. Es gibt so viele auf dieser Welt…«

»Aufhören! Sofort aufhören!«

Wie eine Furie stürzte die Heimleiterin in den Salon. Grob stieß sie Erwin Reichenbach zur Seite und schloss krachend den Deckel über der Tastatur.

»Hier ist kein Ort für Lieder von Nazi-Schlampen!«, schrie sie. »Zarah Leander! Was für eine Bodenlosigkeit! Buchenwald liegt nur ein paar Steinwürfe entfernt, wie können Sie das vergessen?«

Eine gespannte Stille folgte. Mit den Narrenstreichen ist’s nun am Ende, dachte Kaminski, erstaunt über Trixi Muffingers heftige Intervention.

Es war Leo Bamberger, der das Schweigen brach.

»Sehr geehrte Frau Doktor Muffinger, als Angehöriger einer einstmals verfolgten Opfergruppe möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass Sie uns mit ihrer politischen Korrektheit mal am Arsch lecken können.«

»Ich – ich …« Trixi Muffinger rang nach Worten. »Ich bitte um ein wenig Respekt für das Wichtige, das ich tue!«

»Scheiß drauf«, sagte Elfriede Sasse.

KAPITEL 3

Draußen war es dunkel geworden. Früh. Wie immer zu früh. Ein eisiger Wind fegte die Blätter von den Bäumen und peitschte langfingrige Äste ans Fenster, mit einem schabenden Geräusch, als kratzte Murnaus Nosferatu geisterhaft an den Scheiben.

Welke Blätter. Schutzlos nackte Bäume. Falls ich jemals ein Theaterstück schreibe, wird es vom Altern handeln, dachte Kaminski. Ihn fröstelte, trotz der Wärme der Wilhelm-Meister-Schänke.

»Hallo, mein kleiner Philosoph, Feierabend?«

Er hob sein Weinglas und prostete Laura zu. Zu gern hätte er ihr von den Ereignissen des Tages erzählt, doch jetzt, am frühen Abend, herrschte Hochbetrieb im Lokal. Alle Tische waren voll besetzt. Rushhour, sozusagen.

Kaminski seufzte unhörbar. Laura lächelte zwar, doch ganz anders als am Morgen. Freundlich, ja, aber eher unverbindlich. Die Chance auf ein ausgedehntes Gespräch ergab sich erfahrungsgemäß erst kurz vor Feierabend, wenn sich ein paar letzte Gäste ihre Begleitung schöntranken. Dann polierte Laura Gläser, und sie redeten. Über alles. Fast alles. Weit wichtiger war ihm das, worüber sie schwiegen. Im Anfang war das Wort. Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort?

»Ich glaube, mein kleiner Philosoph braucht ein bisschen mehr Schlaf«, sagte sie. »Du siehst müde aus.«