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»Von der Bank aus bot sich einer der schönsten Ausblicke auf die Vulkaneifel. Hoch oben auf dem Hönsel und mitten im Wacholdergebiet gelegen, reihten sich in der Ferne bewaldete Berge bis hin zur Nürburg. Es gab nur wenige Möglichkeiten, hierher zu gelangen, oder eine Leiche zu der Bank zu transportieren.« Tatort Vulkaneifel: In einem Wacholderschutzgebiet in der Nähe des verschlafenen Eifeldorfes Loogh wird eine Leiche in grotesk anmutender Haltung gefunden. Während Hauptkommissar Leo Werner von der Polizei in Daun die Ermittlungen in einem Fall aufnimmt, der eigentlich gar nicht sein Fall ist, wissen die Bewohner des kleinen Dorfes Loogh anscheinend immer ein bisschen mehr als die Polizei. Und dann mischen sich auch noch die umtriebige Biologin Alex Cameron und ihre Wochenend-WG Mitbewohner ein …
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Seitenzahl: 614
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jo Ann Martin
Tod unter Wacholdern
Vulkaneifelkrimi
Jo Ann Martin
Tod unter
Wacholdern
Vulkaneifelkrimi
Eifeler Literaturverlag 2025
Impressum
1. Auflage 2025
© Eifeler Literaturverlag
In der Verlagsgruppe Mainz
Alle Rechte vorbehalten
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Eifeler Literaturverlag
Verlagsgruppe Mainz
Süsterfeldstraße 83
52072 Aachen
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Abbildungsnachweis (Umschlag):
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Print:
ISBN-10: 3-96123-131-1
ISBN-13: 978-3-96123-131-7
E-Book:
ISBN-10: 3-96123-144-3
ISBN-13: 978-3-96123-144-7
Eine solche Geschichte kann nur der Fantasie entsprungen sein. Mit Ausnahme einiger real existierender Läden und Restaurants sind alle Handlungen, Personen und ihre Äußerungen frei erfunden. Ähnlichkeiten sind rein zufällig und unbeabsichtigt.
Für Elke
Prolog
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. So hatte sie es sich nicht vorgestellt. Eben noch hatte sie fast so etwas wie Vorfreude erfüllt, wie ein Versprechen auf dauerhafte Ruhe, die sie in wenigen Minuten haben würde. Endlich Ruhe. Nur noch Ruhe.
Corinna blickte nach vorn, über den Brückenvorsprung hinaus. Düsseldorf lag im tristen Nieselregen. Eine S-Bahn kam auf sie zu und entzog sich ihren Blicken, als der letzte Waggon unter der Brücke wegtauchte. Hinter ihr verebbte das geschäftige Treiben der Stadt für einen Atemzug und setzte wieder ein, als sich eine Straßenbahn in Bewegung setzte und einen weiteren Schwung Düsseldorferinnen und Düsseldorfer, in ihre Handydisplays vertieft, zu ihren täglichen Aufgaben brachte.
An diesem Morgen war alles anders gewesen. Kein gehetztes Aufstehen, kein hastiges Duschen, keine Tasse Kaffee im Stehen, wie an jedem anderen Arbeitstag. Sie hatte im Bett gelegen und überlegt, was sie anziehen sollte. Einen Blazer wie immer, aber darunter einen Pullover und eine Hose, auf keinen Fall einen Rock. Erst einmal eine Zigarette. Das Radio war an diesem Morgen ausgeschaltet geblieben, sie wollte nicht durch Nebensächlichkeiten abgelenkt werden. Sie hatte sich den Ablauf genau überlegt, einen Cappuccino zubereitet und sich Zeit für heißen Milchschaum genommen. Auf diesen Luxus musste sie an normalen Bürotagen verzichten. Um 8:01 Uhr stellte sie sich vor, wie er im Büro tadelnd aufblicken würde, weil sie eine Minute zu spät kam, wie er ihr den nächsten Verweis ankündigen würde. Sie empfand Genugtuung, einen kleinen Triumph. Diesen Verweis würde er nicht mehr schreiben können. Und auch alles andere würde er ihr nicht mehr antun können.
Ohne schlechtes Gewissen hatte sie sich eine zweite Zigarette angezündet. Sie wollte schon lange mit dem Rauchen aufhören. An Lungenkrebs würde sie nicht sterben. Sie hatte ihre Tasse gespült, damit ihre Eltern bei ihrer Rückkehr kein schmutziges Geschirr vorfänden, hatte sich dezent geschminkt und die Haare geföhnt. Sie hatte ihr Bett gemacht, die schöne Bettwäsche befühlt, langsam, jede Bewegung auskostend. Ihr Blick war durch das Zimmer geschweift, hatte jedes Detail aufgesogen. Das Bild ihrer Eltern vom silbernen Hochzeitstag auf der Kommode. Trauer war wie ein kurzer, heftiger Stich über sie gekommen. Es würde ihnen wehtun, und sie konnte nicht einmal hoffen, dass sie es verstehen würden.
Das große Poster von Atti an der Wand. Diese unglaublichen, treuen Augen, die stolze Kopfhaltung und die wuselige Mähne. Die Tränen waren ihr in die Augen geschossen, und sie hatte schnell den Blick abgewandt. Am Abend zuvor hatte sie lange mit ihr gesprochen. Atti hatte aufmerksam mit einem gespitzten Ohr zugehört, und wie immer hatte sie das Gefühl gehabt, dass zumindest sie immer wusste, was in ihr vorging. Es war Atti wieder besser gegangen und sie hatte sich über die überraschend große Zuteilung an Leckerlies gefreut. Zuckerwürfel, Eukalyptusbonbons, Äpfel, sogar ein kleines Schlückchen Bier gab es. Dieses unglaubliche Pony liebte Altbier. Sie würde es gut haben.
Flüchtig befürchtete sie, dass der ICE eine seiner üblichen Verspätungen haben könnte. Fröstelnd zog sie die Schultern ein wenig hoch, zündete sich noch eine Zigarette an und stellte überrascht fest, dass ihre Hände zitterten. Seltsam, sie wollte das hier doch, warum zitterten ihre Hände?
Düsseldorf – Aufgrund eines Personenschadens kam es am gestrigen Vormittag zu erheblichen Verspätungen im Bahnverkehr. Die Strecke der S7 war in Höhe der Zoobrücke für mehrere Stunden gesperrt. Betroffen waren viele Reisende zum Düsseldorfer Flughafen, aber auch am Hauptbahnhof kam es durch die Sperrung zu Verspätungen. Der Rheinbahn gelang es nach einigen Stunden, einen Schienenersatzverkehr in Betrieb zu nehmen.
1. Kapitel
»Der Tod ist wahrscheinlich vor siebzehn Uhr gestern Abend eingetreten, eher früher. Die Totenstarre ist vollständig ausgebildet und könnte bei diesen niedrigen Außentemperaturen verzögert eingetreten sein. Länger als achtundvierzig Stunden dürfte er aber nicht tot sein. Das wäre eine erste ganz grobe Schätzung und gibt Ihnen einen Zeitrahmen von etwa Donnerstagmorgen bis Freitagnachmittag. Ein richtiger Rechtsmediziner würde jetzt sagen: ›Genaueres wird erst die Obduktion ergeben‹, dem kann ich mich nur anschließen.«
Die Notärztin lächelte Hauptkommissar Leopold Werner von der örtlichen Polizeiinspektion in Daun kurz an. Er hatte ihre Untersuchung konzentriert beobachtet. Sie sprach wieder in ihr Diktiergerät, um die Umgebungstemperatur zu vermerken. Klein, mit kindlich anmutender Figur und jugendlichem Kurzhaarschnitt, sah sie nicht aus, als könne sie schon in Besitz einer Approbation sein. Leopold Werner wusste, dass dieser Eindruck täuschte und die junge Frau überaus kompetent war. Bei einem früheren unerfreulichen Anlass hatte ihre gründliche Arbeit Zweifel an der natürlichen Todesursache einer alten Frau aufkommen lassen. Später bestätigte sich, dass sie von einem Erben ermordet worden war. Das hatte ihn beeindruckt.
Die Ärztin beugte sich wieder über den Toten, der auf der Bank vor ihr saß. Den Kopf nach vorne geneigt, die Hände im Schoß gefaltet. Die Handflächen waren nach oben gerichtet, die Fingernägel kurz geschnitten und mit schwarzen Rändern um das Nagelbett. Aus einem kleinen, kreisrunden Loch im unteren Bereich des Hinterkopfes war Blut in einem Rinnsal den Nacken hinuntergeflossen, hatte die feinen Härchen verklebt und schien bereits eingetrocknet zu sein. Der Blutstrom verschwand unter dem Kragen des karierten Arbeitshemdes aus dem Blickfeld, um sich weiter unten, zwischen den Schulterblättern, als deutliche Spur auf dem Hemd abzuzeichnen. Die Ärztin schätzte das Alter des Toten auf etwa fünfzig bis sechzig Jahre und seine Größe auf etwa 1,75 Meter. Werner vermutete, dass sie richtig lag. Auffällig war das Heu. An allen sichtbaren Stellen haftete Heu am Toten, selbst im Gesicht, im lange nicht gestutzten Bart und auf dem kurz geschorenen Kopf. Beides, Bart und Kopfhaar, waren grau, aber jetzt, vom Tau der vergangenen Nacht durchtränkt, wirkten sie dunkel.
»Platzwunde am Hinterkopf rechts, circa sechs Zentimeter schräg oberhalb des rechten Ohres, etwa drei Zentimeter lang. Möglicherweise Schlag mit stumpfem Gegenstand vor dem Tod. Hämatome an der linken Kopfseite und ein Riss in der linken Ohrmuschel.«
Sie öffnete die Knöpfe beider Hemdsärmel, schob sie vorsichtig nach oben und diktierte wieder.
»Weitere Hämatome an beiden Oberarmen, leichte Abschürfungen an beiden Handgelenken.«
Schließlich schob sie die schmuddelige graue Arbeitshose an den Beinen ein Stück nach oben, bis über den Rand der dicken grünen Wollsocken. Sie ließ die Hosenbeine wieder heruntergleiten und schaltete das Diktiergerät aus, während sie sich aufrichtete und sich dem Polizisten zuwandte.
»Todesursache ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der Einschuss im Bereich des Hinterkopfes. Da keine Austrittsöffnung erkennbar ist, dürfte das Projektil im Schädelknochen steckengeblieben sein, was nähere Aufschlüsse über die Art der Waffe geben wird. Ich gehe von einer kleinkalibrigen Waffe aus. Selbstverschulden scheidet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus. Das Opfer hat vor seinem Tod weitere Verletzungen an Kopf und Armen erlitten. In diesen Bereichen sind deutlich Hämatome, also blaue Flecke, zu erkennen, die sich gut von den Totenflecken unterscheiden lassen. Nach dem Tod bilden sich keine Hämatome mehr«, fügte sie erklärend hinzu, aber sein Blick verriet ihr, dass er nach so vielen Dienstjahren natürlich mit solch simplen Details vertraut war und keiner ausführlichen Erklärung bedurfte.
»Nun«, sagte sie leicht verunsichert, »die Abschürfungen im Bereich der Handgelenke könnten von einer Fesselung stammen. Im Rückenbereich, wo das Hemd eingerissen ist, scheint es noch weitere Verletzungen zu geben, aber um das zu untersuchen, müsste ich den Toten jetzt bewegen.«
Sie blickte Werner zögernd an und er schüttelte verneinend den Kopf.
»Das wird nicht mehr lange unsere Baustelle sein. Die Kollegen von der Kripo Wittlich sind schon auf dem Weg hierher und sollten alles unverändert vorfinden. Wir warten ab. Würden Sie mir bitte trotzdem Ihren Bericht zukommen lassen?«, fügte er nach kurzem Überlegen hinzu.
»Ja. Natürlich. Ich vermute, die Obduktion wird in Mainz durchgeführt. Ich hätte auch nichts dagegen, auf dem Laufenden gehalten zu werden.«
»Ja gerne«, bestätigte er diesmal.
»Ich bezweifle, dass er hier erschossen wurde.«
Leopold Werner nickte erneut und ließ seinen Blick nachdenklich in die Ferne schweifen. Von der Bank aus bot sich einer der schönsten Ausblicke auf die Vulkaneifel. Hoch oben auf dem Hönsel und mitten im Wacholdergebiet gelegen, reihten sich in der Ferne bewaldete Berge bis hin zur Nürburg auf. Es gab nur wenige Möglichkeiten, hierher zu gelangen oder eine Leiche zu der Bank zu transportieren. Von Niederehe aus führte ein relativ gerader Pfad durch das Wacholdergebiet zu dieser Bank und verlief weiter in Richtung Buchenwald. Letztlich gelangte man nach Loogh oder auch nach Stroheich. Etwas weiter unten, auf der rechten Hangseite, verlief ein Parallelweg. Beide waren als Wanderwege angelegte, aber durchaus mit geländegängigen Fahrzeugen befahrbare Wiesenwege. Seit Februar war es sehr trocken. So trocken, dass es die Landwirte mit Sorge erfüllte. Relevanter für die Ermittlungen war die Tatsache, dass aufgrund der Trockenheit kaum Spuren auf dem Boden zu sehen waren. Der kurze Schauer zu Beginn der Woche war offensichtlich vom Boden aufgesogen worden wie von einem ausgetrockneten Schwamm. Nun, die Spurensicherung würde sicher noch Brauchbares aus dem Staub filtern. Von Niederehe waren trotz der erhöhten Lage nur wenige Häuser zu sehen, und von Loogh aus war diese Stelle wegen des dazwischen liegenden Buchenwaldes, der sich zudem auf einer Kuppe befand, überhaupt nicht einsehbar. Dass einer der Bewohner der beiden Dörfer hier oben etwas beobachtet hatte, war also eher unwahrscheinlich. Bei Ermittlungen spielten aber auch Glück und Zufall eine nicht zu unterschätzende Rolle. Man würde sehen.
Ein morgendlicher Mountainbiker aus Stroheich hatte den Toten entdeckt. Er war auf dem oberen Weg durch den Buchenwald gekommen. Nach eigenen Angaben hatte er den Toten nicht berührt und sofort per Handy über Notruf die Polizei verständigt. Der Notruf ging um 6:36 Uhr ein. Er musste also direkt mit dem ersten Tageslicht in Stroheich losgestrampelt sein. Der etwa vierzigjährige Mann stand nun außerhalb der weiträumigen Absperrung und unterhielt sich mit einem Kollegen. Er schien durch den Fund nicht schwer traumatisiert zu sein und es schien ihn auch nicht zu stören, dass seine Mountainbike-Tour bis auf Weiteres unterbrochen war, weil man ihn gebeten hatte, bis zum Eintreffen der Kollegen aus Wittlich vor Ort zu bleiben. Ein gemütlicher und rustikaler Ureifeler, schätzte Werner, der mit dem Mountainbike die reichhaltige Hausmannskost und die Feierabendbierchen vom gestrigen Freitag bekämpfte.
»Da kommt die Kavallerie«, murmelte Werner jetzt. Aus Richtung Stroheich waren Motorengeräusche zu hören. Kurz darauf näherten sich mehrere Fahrzeuge auf dem weiter unten gelegenen asphaltierten Feldweg.
2. Kapitel
Ein Morgen wie aus dem Bilderbuch. Die Sonne schob sich gerade über den Hönsel, ihren Hausberg, Nachdenk-Berg, Austobe-Berg … Wofür auch immer er gerade herhalten musste. Die ersten Strahlen fielen auf die Ecke des Küchentisches und beleuchteten ungnädig eine bemerkenswerte Vermengung von benutztem Geschirr, Büchern, Eifelkrawallblättchen und Heimwerkerzubehör. Socken, hoffentlich noch unbenutzt.
Alexandra Cameron seufzte, beschloss, das Chaos zu ignorieren, und verstaute Isomatte und Schlafsack in einer Ecke der Wohnküche. Eine Wohnküche, die ihrem Namen alle Ehre machte, denn bisher war nur dieser Raum wirklich bewohnbar. Gelegentlich wurde hier sogar gekocht, oder was man so als Kochen bezeichnete. Fred, der selbsternannte Chefkoch ihrer kleinen Wochenend-WG, liebte die Fast-Food-Küche. Und Max, der als Dritter im Bunde beschlossen hatte, seine Freizeit mit der Renovierung eines alten Bauernhauses zu füllen, war es egal, was er aß, solange es nur genug Kalorien beinhaltete.
Für ihre Verhältnisse hatte Alex an diesem Morgen ziemlich lange geschlafen, im Kölner Freundeskreis war am Abend zuvor gefeiert worden, ein Freundeskreis, den sie direkt proportional zu ihren Loogher Aktivitäten immer mehr vernachlässigte. Loogh, vierundzwanzig Häuser, knapp hundert Einwohner, etwas über fünfzig Wahlberechtigte und etwa dreihundert Kühe. Sie hatte immer noch nicht herausgefunden, was die anderen fünfzig Einwohner dieses kleinen Eifeldörfchens, die nicht zur Urne gingen, so trieben, denn es gab nur noch zwei Kinder im Ort. Vermutlich waren in dem Bestreben, die Hundert zu erreichen, alle Zweitwohnsitzer und somit Nichtwahlberechtigten mitgezählt worden. Als Running Gag im Dorf sollte bei Erreichen der Hundert ein Ikea-Markt gebaut werden.
Das Dorf, zurzeit noch frei von Möbelmärkten jeglicher Art, hatte einen einnehmenden Charakter. Zugegebenermaßen ließ sich Alex gerne darauf ein, wehrte sich selten, durch dörfliche Aufgaben verplant zu werden, und zog Probleme geradezu magisch an. Langeweile war also nicht die Hauptsorge, weder ihre, noch die ihrer Mitbewohner.
Sie war erst spät in der Nacht eingetroffen, hatte im eiskalten Haus noch eine Weile am Ofen gewerkelt und war am Morgen von irgendwelchen Geräuschen geweckt worden. Die Vögel waren es nicht gewesen. Die begrüßten den Frühling zwar mit einem Gezwitscher, das an Lärmbelästigung grenzte, aber etwas anderes hatte sie geweckt. Sie konnte sich nicht erinnern, was es gewesen war. Sie hauchte dem Ofen neues Leben ein, trank den letzten Rest Kaffee und beschloss, in den Garten zu gehen.
Sie war gerade im Begriff, dieses Vorhaben umzusetzen, als ein dunkelroter Twingo auf den Hof fuhr. Martinshörner ertönten vom Hönsel, als sie Fred kurz darauf die Haustür öffnete. Was war denn da oben los? Genau, das Geräusch hatte sie geweckt. Jetzt schienen noch mehr Einsatzfahrzeuge zu kommen. Alex hielt die Nase in die Luft und spähte nach oben. Rauch war weder zu riechen noch zu sehen. Sie zuckte mit den Schultern und schloss die Tür schnell wieder. Es blies noch immer mächtig kalt herein.
»Bist du aus dem Bett gefallen?«, neckte sie ihn.
»So ungefähr. Irgendwelche Teenies sind um fünf Uhr morgens laut grölend durch die Bronx gezogen. Muss eine feucht-fröhliche Nacht gewesen sein.«
Die Bronx war seine liebevolle Bezeichnung für den etwas heruntergekommenen Stadtteil Düsseldorfs, den er unter der Woche sein Zuhause nannte. Zweizimmerwohnung im vierten Stock, möbeltransportunfreundlich enger Flur und belebender Blick auf einen versifften Hinterhof. Zumindest hatte er einen Balkon. Die Nachbarn leider auch, denn der eine oder andere schien sich den schweißtreibenden Weg zu den Mülltonnen zu ersparen, wo es doch schwerkraftgetriebene Entsorgungsmethoden direkt vom Balkon hinunter gab.
Fred warf seinen Rucksack auf das Sofa in der Ecke und pellte sich aus seiner abgewetzten Lederjacke, die sich nicht mehr schließen ließ, weil er in den letzten Jahren ordentlich zugelegt hatte. Auch sie landete auf dem Sofa, gefolgt von dem ziemlich speckigen grauen Schal, ohne den er nirgendwo hinging. Dieser Schal musste ihn sogar zu seinen sogenannten Kamingesprächen begleiten. Gespräche, in denen er als Flüchtlingsbeauftragter Staatssekretärinnen Probleme erklärte, von deren Existenz diese bis dahin nicht einmal gewusst hatten.
Dem üblichen Ankunftsritual folgend, warf er einen Blick auf das Thermometer.
»Satte 15,2 Grad, haben wir den Sommer eingeläutet?«
Alex blickte ihn etwas zerstreut an und antwortete fast automatisch.
»Ich bin auch erst seit gestern Nacht hier und habe mich immerhin von sieben Grad hochgearbeitet.«
Im selben Moment ärgerte sie sich, dass sie sich überhaupt entschuldigt hatte. Schließlich kam sie meistens zuerst an, verbrachte Stunden in der Daunenjacke und schleppte Holz, bis halbwegs wohnliche Temperaturen erreicht waren.
Doch Fred legte sofort nach. »Hier riecht's nach Kaffee.« Er betrachtete das Chaos auf dem Küchentisch. »Der hart arbeitende Mann kommt nach Hause und das Frauchen hat den Kaffee gekocht und den Frühstückstisch liebevoll gedeckt. Löblich, sehr löblich.« Er sah sie an. »Wir arbeiten noch dran.«
»Und dann frühstücken wir mit den frischen Brötchen, die du bestimmt mitgebracht hast«, konterte sie, denn eine Brötchentüte hatte sie nicht entdecken können. Sie wollte das Wochenende nicht mit einer schlechten Stimmung beginnen lassen, sonst hätte sie hinzufügen können, dass das Geschirr noch vom letzten Wochenende stammte. Er hatte einer Freundin das Haus zeigen wollen, als sie und Max bereits wieder in Richtung Köln respektive Düsseldorf gefahren waren, und Mann hatte mit Frau wohl ausgiebig gezecht. Den pinkfarbenen BH, den sie an der Heizung hängend gefunden hatte, würde sie auch nicht erwähnen. Ihrer war es gewiss nicht. Vielleicht würde sie ihn später damit ärgern. Aber dass sie zwischen dem gestrigen Holzschleppen und dem Schlafengehen eine halbe Stunde lang das Badezimmer trockengelegt hatte, weil er vor lauter Testosteronüberschuss die ganze Woche über das Dachfenster offengelassen hatte, würde sie auf jeden Fall im Laufe des Wochenendes zur Sprache bringen. Zum Glück war es das Bad und zum Glück hatte es in der letzten Woche nur einen einzigen Schauer gegeben. In jedem anderen Raum hätte ein solcher Ausrutscher wahrscheinlich den gesamten Holzboden ruiniert.
»Da ist noch eine kleine Pfütze Kaffee in der Kanne, ich koche gleich neuen«, sagte sie stattdessen nur.
»Da machen wir doch gleich eine größere Portion. Schau mal, wer da auf den Hof gerauscht kommt!«
»Warum seid ihr nicht gleich zusammen gefahren, wenn ihr innerhalb von fünf Minuten hier aufkreuzt?«, fragte Alex erstaunt, während sie durch das Küchenfenster beobachtete, wie Max – Einzimmerwohnung in Düsseldorf, innen wie außen deprimierend – seine knapp 1,90 Meter aus dem Auto schälte und mit großen Schritten zur Haustür ging. Er trug wie immer nur ein buntes Hemd und Jeans. Der Außentemperatursensor musste bei seiner Herstellung vergessen oder falsch programmiert worden sein, dachte Alex in Anspielung auf seinen Beruf als Informatiker.
Fred sah sie verschmitzt an. »Weil ich heute Abend noch eine Verabredung habe und deshalb nach Hause fahre. Max will bis morgen Mittag bleiben.«
Alex zog die Augenbrauen ein wenig hoch und warf ihm einen auffordernden Blick zu, aber es folgte keine weitere Erklärung. Der BH brannte ihr auf der Zunge, er könnte ihn ja gleich zurückgeben. Aber wahrscheinlich war es eine andere BH-Trägerin, diese Verabredung, ging ihr durch den Kopf, als die Haustür krachend ins Schloss fiel. Sekunden später wurde sie mühelos hochgehoben und so stark gedrückt oder eher gequetscht, dass ihr für einen Moment die Luft wegblieb.
»Die Nominierung für das Wort des Jahres ist …«
Max blickte erwartungsvoll in ihr Gesicht, das sich nun auf gleicher Höhe befand.
»Meine Gehirnzellen leiden gerade unter mangelnder Sauerstoffzufuhr«, keuchte sie und er setzte sie grinsend ab.
»Was ist mit dir? Hast du irgendeine Idee?«, wandte er sich an Fred.
»Guten Moooorgen«, kam es gedehnt zurück, »frag mich in etwa einer Stunde und nach mindestens zwei Tassen Kaffee noch einmal.«
»Bauernhofsanierung«, schlug Alex zaghaft vor.
»Det is langweilich«, berlinerte Max.
»Klär uns doch einfach auf und gut ist.« Fred holte seinen Lieblingsbecher aus dem Schrank, nahm den restlichen Kaffee und begann, die Maschine neu zu befüllen.
»Da höhere intellektuelle Leistungen offensichtlich nicht zu erwarten sind, muss ich euch wohl auf die Sprünge helfen … na, und der Oskar geht an …? Schattenfugenfräse!«
»Muss ich das kennen?«
»Solltest du. Unbedingt! Gehört zum Grundwortschatz jeder ernsthaften Hofsaniererin.«
»Und wozu ist dieses Schattenfugengedöns gut?«
»Sie erspart uns viel Arbeit und viel Geld, weil wir hoffentlich in drei Schlafzimmern kein neues Parkett verlegen müssen.«
»Na, das scheint ja eine richtige Wundermaschine zu sein«, lästerte Fred. »Verlegt die jetzt das Parkett?«
»Mensch, Max, was macht man mit dem Teil?« Geduld gehörte nicht zu Alex’ hervorstechenden Eigenschaften.
»Die Schattenfugenfräse kommt als Aufsatz auf die Flex und man schneidet, schwuppdiwupp, eine Dehnungsfuge an der Wand entlang, wenn der Vorgänger sie vergessen hat.«
»Na, dann mach das mal, schwuppdiwupp«, sagte Fred. »Ich kümmere mich heute um die Elektrik in den Schlafzimmern.«
»Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir uns mal gemeinsam dem Badezimmer widmen«, warf Alex ein. »Sanitär kann ich nicht und da brauche ich eure Hilfe.«
»Nichts da, du Sklaventreiberin, ich werde wenigstens ein Schlafzimmer fertigstellen«, beharrte Max. »Ich schlafe jetzt seit Monaten auf dem Küchenboden, neben einem chronischen Schnaufer und einer Lady mit seniler Bettflucht, die morgens um fünf über meine Beine stolpert. Ein alter Mann braucht seinen Schlaf.«
Er hatte Recht, befand Alex für sich. Seit einem halben Jahr verbrachten sie jede freie Minute miteinander und auf der Baustelle. Eine Art Exkursionskoller kündigte sich an, eine allgemeine Gereiztheit, der sich kaum jemand entziehen kann, der gezwungen ist, längere Zeit mit anderen Menschen auf engstem Raum zu verbringen. Sie spürte es bei sich und bei Fred. Nur Max schien seine Fröhlichkeit nie zu verlieren. Also lieber noch eine Weile eine rostige Badewanne und dafür eigene Zimmer.
Als Alex am späten Vormittag ins Dorf hinunterging, um die Lebensmittelvorräte der WG aufzufrischen, stand der knallgelbe Bäckerwagen vor der alten Schule. Alex deckte sich mit Brötchen und Brot ein und informierte die Fahrerin nach einem kurzen Plausch, dass sie sich den Weg den Berg hinauf sparen könne.
Mit Tüten bepackt, betrat sie wenige Minuten später den Hofladen. Sie hatte Glück, es war nicht viel los. Nur eine Kundin stand vor der Theke, eine schlanke, aber, wie es schien sehr muskulöse rothaarige Frau, die Alex um mindestens einen halben Kopf überragte. Ihr schulterlanges, leicht gewelltes Haar umrahmte ein Gesicht, das mit Sommersprossen übersät schien.
»Hallo, du musst Kristin sein! Ich bin Alex, oben von der Bitz, und wir sind wohl beide Neu-Loogherinnen.«
»Wir sind was?« Die etwa gleichaltrige Frau sah sie durch eine kleine, rahmenlose Brille erstaunt an. Um ihre grünen Augen zog sich eine Vielzahl von Lachfältchen zu einem Lächeln zusammen.
»Wir sind Neu-Loogherinnen, mit anderen Worten, wir sind zugezogen. Das bleiben wir jetzt so schätzungsweise zwanzig oder dreißig Jahre und irgendwann wird das ›Neu‹ wohl entfallen.«
Kristin lachte und streckte ihr die Hand hin. »Ich habe auch schon von dir gehört.«
»Lass mich mal raten von wem!«
»Von den Hilgers!«, riefen beide Frauen gleichzeitig und fingen an zu lachen.
An den fünf Hilgers kam man in diesem Dorf nicht vorbei. Ob Informationsquelle, Notfälle oder allgemeine Lebensberatung, ob Weihnachtsbaum, Gartenzaun oder Brennholz, alles lief über die Hilgers. Der Familienpatriarch Jakob Hilgers machte zwar keinen Hehl daraus, dass er alle »Städter« für lebens- und überlebensunfähig hielt, bemühte sich aber nach Kräften, den Unwissenden auf ihrem schweren Weg zu helfen.
»Wenn wir schon so viel voneinander gehört haben, wird es Zeit, dass wir uns kennenlernen. Möchtest du einen Kaffee oder Tee?« Kristin sah Alex lächelnd an.
»Wann, jetzt gleich?«
»Ja. Wenn du Lust hast, warum nicht?«
Alex nickte noch immer zögerlich, aber Kristin hatte Recht, warum eigentlich nicht?
Nachdem auch sie mit Käse und, als Zugeständnis an die Gemütslage ihrer eher karnivor veranlagten Mitbewohner, mit Salami versorgt war, stiegen sie in Kristins weißen Kombi und fuhren ans andere Ende des Dorfes.
Kaum hatte Kristin den Motor abgestellt, tauchte wie aus dem Nichts ein hagerer, rotgesichtiger Mann mit Hakennase und fast schulterlangen grauen Haaren am Zaun zum Nachbarhaus auf. Der Kasper aus der Kiste baute sich direkt neben Kristins Auto auf, neben ihm ein Prachtexemplar von Schäferhund, der leise aber eindringlich knurrte. Es folgte ein offensichtlich gut eingespieltes Ritual. Das wortlose, grimmige Starren des altersmäßig zwischen fünfzig und Scheintod angesiedelten Nachbarn wurde von Kristin mit grußlosem Vorbeirauschen gekontert. Alex grüßte flüchtig und folgte Kristin leicht irritiert. Als sie zurückblickte, sah sie, dass sich eine korpulente Frau mit ungepflegten, grauen Haaren, die ihr strähnig bis auf die Schultern hingen, zu ihm gesellt hatte. Die beiden standen stumm am Zaun und schauten mit so betont finsteren Blicken zu ihnen hinüber, dass es schon fast etwas komisch anmutete. Das Knurren des Hundes wurde lauter und er bekam von seinem Besitzer einen Schlag auf die Schnauze. Sie merkte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Selbst der Wind schien an dieser Stelle kälter um die Ecke zu fegen, und sie zog fröstelnd die Schultern hoch. Vielleicht lag es ja auch an den eisigen Blicken, die auf sie gerichtet waren.
Später sollte sich Alex noch einige Male an diese erste Begegnung erinnern. Sie würde sich des Öfteren fragen, ob ihr Frühjahr, das Frühjahr aller Beteiligten genaugenommen, möglicherweise einen völlig anderen Verlauf genommen hätte, wenn sie an diesem Morgen nicht in den Hofladen gegangen wäre. Wenn Kristin beim anschließenden Kaffeetrinken nicht mit tonloser Stimme festgestellt hätte: »Ich wohne neben einem Psychopathen.« Ganz sicher sollte sie der Situation später nichts Komisches mehr abgewinnen können.
3. Kapitel
Der Morgen auf dem Hönsel hatte seinen vorhersehbaren Verlauf genommen. Die Kriminalisten aus Wittlich waren nebst Staatsanwalt und Technikern mit der ihnen eigenen Unauffälligkeit wie eine Rotte Wildschweine im Maisfeld über das Wacholderschutzgebiet hereingebrochen. Sie erklärten die Leiche zu ihrem unangefochtenen Eigentum und heuchelten nicht einmal Interesse an den Einschätzungen der vor Ort tätigen Beamten und der Notärztin. Die Ermittlungen wurden in Ermangelung eines am Wochenende diensthabenden Hauptkommissars von Kriminaloberkommissar Seckler geleitet. Dieser, in seinem früheren Leben vermutlich einmal athletische und jetzt einen überaus schlaffen und unfitten Eindruck vermittelnde Beamte, hatte die örtliche Polizei schnell auf die Plätze verwiesen, in anderen Worten auf die Sicherung der Absperrung. Unmittelbar nach seinem Eintreffen hatte er die Notärztin angeraunzt, er hoffe, sie habe nichts ruiniert. Er hatte sich von ihr und Hauptkommissar Werner kurz Bericht erstatten lassen und beiden das deutliche Gefühl vermittelt, nichts Wesentliches zur Aufklärung dieses offensichtlichen Mordes beitragen zu können.
Leo Werner warf der jungen Ärztin einen entschuldigenden Blick zu, als sie ihre Sachen zusammenpackte, aber sie schüttelte nur müde den Kopf und zuckte die Achseln. Er hatte erfahren, dass sie bereits Nachtdienst gehabt hatte. Sicher war sie auch ein wenig froh, vor der nächsten Nachtschicht noch ein paar Stunden schlafen zu können.
Noch vor Eintreffen der Wittlicher hatte Werner einige uniformierte Beamte, mit Fotos vom Gesicht des Toten auf ihren Smartphones bestückt, nach Niederehe geschickt, um sich dort einmal umzuhören. Die Aufnahmen hatten ein gewisses Maß an akrobatischen Fähigkeiten erfordert, da das Gesicht des Toten nach unten gerichtet war. Dank Selfie-erprobter Jungspunde und eines Mörders, der das Gesicht des Toten unversehrt gelassen hatte, war das Ergebnis vorzeigbar geworden. Somit dürften auch ältere Damen nicht in Ohnmacht fallen, was aber hier in der Eifel, insbesondere bei älteren Damen, ohnehin nicht zu erwarten war. Seckler hatte sich über diese eigenmächtige Initiative wenig erfreut gezeigt, aber der Erfolg schien Werner Recht zu geben. Gerade hatte er einen Anruf von einem seiner Kollegen erhalten. Sie hatten ihre Befragung etwa in der Mitte des Dorfes, gegenüber der alten Schmiede, begonnen und waren sofort fündig geworden. Eine rüstige Bewohnerin des Abteidorfes, gerade mit einem Besen bewaffnet in den samstäglichen Nahkampf mit dem Bürgersteig verwickelt, hatte den Toten ohne Zögern als einen gewissen Rudolf Krämer aus der Nohner Straße im selben Ort erkannt. Diese Aussage wurde von allen anderen Befragten bestätigt, was zwei mögliche Schlüsse zuließ. Entweder handelte es sich bei dem Ermordeten um eine sehr bekannte Person oder es kannte ohnehin jeder jeden im Ort. Werner tendierte zu Letzterem.
Nachdem er seinen unsympathischen Wittlicher Kollegen davon in Kenntnis gesetzt hatte, hielt er seine eigene Anwesenheit hier oben nicht mehr für erforderlich. Er wechselte noch ein paar Worte mit den Dauner Kollegen, die den Leichenfundort weiter absichern sollten, verabschiedete sich und machte sich auf den Rückweg zu seinem Geländewagen. Die Wittlicher hatten ihn erwartungsgemäß zugeparkt, aber nach einigen Flüchen und gekonnten Rangiermanövern gelang ihm die Weiterfahrt nach Niederehe. Es konnte nicht schaden, sich einen ersten Eindruck von der Wohnsituation des Verstorbenen zu verschaffen. Er warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Wenn er sich beeilte, würde er es noch schaffen, zu Hause etwas zu essen und das Fußballspiel nicht zu verpassen. Sein kleiner Enkel Toby spielte heute zum ersten Mal in einem richtigen Spiel mit. Seine Mannschaft, die Bambinis aus Stadtkyll, traf in einem Turnier auf die Bambinis aus Steffeln, Auel und eine dritte Mannschaft, von der er vergessen hatte, woher sie kam. Das fünfjährige, für sein Alter noch etwas kurz geratene Kerlchen, stand ausgerechnet im Tor und konnte allen Beistand gebrauchen.
Die Wittlicher würden sicher als nächstes das Haus des Toten in Augenschein nehmen, und der liebenswerte Seckler könnte vielleicht schon am frühen Abend das Feld geräumt haben, somit könnte er sich später, nach dem Fußballspiel, selbst ein wenig umsehen.
4. Kapitel
Auf dem Weg von Kristin zurück durchs Dorf beschloss Alex noch einen kleinen Abstecher zu den Hilgers zu machen, deren Haus ohnehin auf dem Weg lag. Dort gab es sicher Interessantes über diesen von Kristin als Psychopathen bezeichneten Nachbarn zu erfahren. Marie Hilgers hatte sie schon auf den Hof kommen sehen, öffnete mit einem warmen Lächeln die Tür und nahm Alex in den Arm, noch bevor sie klingeln konnte.
»Hallo Alex, komm rein. Ich weiß nicht, wo die Män bleiben? Sie sollten vier Meter Holz nach Niederehe bringen und gerade hat eine Frau aus Stroheich angerufen, weil sie ihr Holz noch nicht hat. Das sollte eigentlich auch noch am Vormittag geliefert werden.«
Ihr Mann Jakob und die drei erwachsenen Söhne waren also noch unterwegs. Marie plauderte ohne Unterlass und erzählte Alex von ihren vielfältigen Aktivitäten am Vormittag, während sie geschäftig zwischen Herd und Tisch der gemütlichen Wohnküche hin- und hereilte.
»Ah, da kommen sie ja.« Sie warf einen Blick aus dem Fenster, während sie Alex eine dampfende Tasse Kaffee und Milch hinstellte.
Im Flur wurde es lebhaft. Alle vier Hilgers-Männer redeten durcheinander, während sie ihre dicken Fließjacken an die Garderobe hängten und die groben Arbeitsschuhe an der Wand aufreihten.
Alex stand auf und wurde der Reihe nach von wahren Schränken von Männern kräftig in den Arm genommen, wobei Jakob brummelte: »Du lässt dich viel zu wenig sehen.«
»Tut mir leid, Jakob, ich weiß, aber wir müssen da oben wirklich ein bisschen vorankommen. Ich möchte ein eigenes Zimmer und ein funktionierendes Badezimmer.«
»Bei mir im Bett ist noch Platz«, bot Jakob wie immer an, während er ihr in die Rippen kniff, nur um festzustellen, dass da nichts drauf war. »Ziemliche Weicheier da oben, wenn du bei zwei Männern ein eigenes Bett brauchst.« Auch das war nichts Neues. Marie und Alex grinsten sich an und verdrehten die Augen.
»Du bleibst zum Essen«, stellte Jakob nun fest.
»Tut mir leid, Jakob, ich kann wirklich nicht. Die Männer oben warten auf mich, denn die haben auch noch nichts gegessen.« Dass es sich um Frühstück und nicht um Mittagessen handelte, erwähnte Alex vorsichtshalber nicht.
»Nichts da, du bleibst«, wurde ihr beschieden. Daniel, der jüngste der Hilgers-Söhne, stand bereits abwartend an der Eckbank, damit Alex durchrutschen konnte.
»Eurem Willi schadet es nicht, wenn mal eine Mahlzeit ausfällt«, fuhr Jakob fort.
»Jakob, er heißt Wilfried und allerhöchstens Fred, aber niemals Willi«, verteidigte Alex ihren Mitbewohner, aber Jakob ließ sich nicht beirren.
»Er sieht aus wie jemand, der Willi heißt.«
Es war zwecklos, weiter zu diskutieren, wenn Jakob sich einmal auf eine Meinung festgelegt hatte, und Alex hatte auch keine Lust auf einen Disput. Sie fühlte sich pudelwohl, wenn sie hier am Hilgerschen Esstisch saß, umgeben von den vier gutmütigen Haudegen und der kleinen, zierlichen Marie, die diese Männer gut im Griff hatte.
»Oben auf dem Hönsel liegt eine Leiche«, fuhr Jakob fort, während Marie den gigantischen Topf, aus dem es köstlich duftete, auf den Tisch wuchtete, gefolgt von einem überdimensionalen Fleischteller.
»Da liegt keine Leiche, da sitzt eine Leiche«, wurde Jakob von seinem ältesten Sohn Jürgen korrigiert.
Alex blickte irritiert von einem zum anderen.
»Da sitzt eine Leiche?«
»Auf der Bank, du weißt doch, wo die Schautafel für die Städter ist«, meldete sich Schorsch zu Wort. »Da sitzt der Krämer Rudolf aus Niederehe und scheint mausetot zu sein, sonst hätten die von der Polizei nicht das ganze Gebiet abgesperrt und würden an dem herumhantieren.«
»Der sitzt da, als würde er die Aussicht genießen, und dass er ein Genießer ist, wissen wir ja«, warf Daniel ein und alle Hilgers lachten.
»Moment, bitte nochmal für Anfänger. Da sitzt also ein Toter auf der Bank, wie soll das gehen? Und woher wisst ihr das, wenn alles abgesperrt ist? Und überhaupt, kann ich das noch mal von Anfang an haben?« Alex schaute fragend in die Runde.
»Alex …«, sagte Jürgen nachsichtig in dem Ton, in dem er Unwissende, und vor allem Alex immer über etwas aufklärte, das eigentlich selbstverständlich war, »ich weiß nicht, warum eine Leiche sitzen kann, aber das mit der Absperrung ist doch kein Problem. Wir haben in Niederehe Holz geliefert, da haben die Leute von den ganzen Polizeiwagen oben auf dem Hönsel erzählt. Wir sind einfach hinten herum zur Pornokanzel und hatten freie Sicht mit dem Fernglas. Und da saß der Rudolf, wie in der Kirche, die Hände im Schoß gefaltet und den Kopf andächtig nach vorne genickt.«
»Hat wohl zu lange auf die Alte vom Blattschke gewartet und ist festgefroren«, vermutete Daniel.
Alex zog wieder fragend die Augenbrauen hoch.
»Der hat …«, Schorsch kicherte, »beziehungsweise hatte, so wie es aussieht, eine Affäre mit der Blattschke.«
»Und wer ist diese Blattschke und woher wisst ihr das schon wieder?«, fragte Alex nach.
»Das sind die Zugezogenen in dem Neubau Richtung Niederehe. Und das wissen wir, weil unser Embryo …«, setzte Jakob an und deutete auf Daniel, als er vom Schrillen des Telefons unterbrochen wurde, das ihm von besagtem Embryo wortlos in die Hand gedrückt wurde.
»Hilgers«, meldete er sich mit seinem sonoren Bass, während alle am Tisch verstummten und am anderen Ende eine aufgeregte Frauenstimme so laut ertönte, dass sie das Gespräch fast wörtlich mitverfolgen konnten. Auf Platt wurde Jakob darüber informiert, dass der Krämer Rudolf aus Niederehe mit abgeschlagenem Kopf oben auf dem Hönsel liege und die Polizei alle umliegenden Waldstücke nach dem Täter absuche.
»Hm, hm«, murmelte Jakob ein paar Mal und unterbrach die Erzählung vorerst nicht.
Bei der Hermine wären sie zuerst gewesen, die Polizisten, mit einem Foto, und die hätte ihn natürlich sofort erkannt. Aber warum waren sie zuerst bei Hermine gewesen? Und jetzt würden sie trotzdem weiter von Haus zu Haus gehen und nach dem Rudolf fragen und ob jemand etwas bemerkt hat. Der Bericht endete mit der Prognose, dass es Loogh sicher auch noch erwischen würde, schließlich lag Loogh auch am Hönsel und die Polizei würde sicher bald auftauchen.
Jakob konnte die Identität des Opfers bestätigen, wenn es denn eines war, aber den abgetrennten Kopf musste er leider verneinen. Der war eben noch dran gewesen. Aber davon könnte sich ja jeder persönlich ein Bild machen, vom Hochsitz am dritten Querweg vom Forsthaus kommend. Polizei hatten sie auch keine im Wald gesehen, nur an der Absperrung. Am anderen Ende folgten weitere Schilderungen dessen, was man sich in Niederehe erzählte, und vermutlich setzte sich, als Jakob das Gespräch beendete, eine Völkerwanderung in Richtung Hochsitz in Bewegung.
»Die Linsensuppe wird kalt, jetzt wird gegessen«, sagte Marie energisch.
»Also, unser Embryo«, fuhr Jakob fort, ohne auf das Telefonat einzugehen, »hatte eine nicht ganz jugendfreie Vorstellung. Er saß oben auf der Pornokanzel …«
»Die seitdem Pornokanzel heißt«, schob Schorsch ein.
»… als die Alte vom Blattschke den Rudolf traf und die beiden sich direkt unter ihm auf dem Waldboden vergnügten.«
»Bei diesen Temperaturen?«, fragte Alex ungläubig.
»Alex!«, sagte Jürgen ein wenig ungeduldig über so viel Begriffsstutzigkeit. »Das war doch schon im letzten Herbst.«
»Aber die treffen sich immer noch«, konnte Daniel hinzufügen.
»Der Alte von ihr scheint nur ein paar Tage in der Woche zu arbeiten«, klärte Jakob sie auf. »Und immer, wenn er weg war, ist sie auf den Hönsel gegangen. Jetzt im Winter hat der Blattschke gar nicht mehr gearbeitet, aber sie geht immer noch regelmäßig mit dem Hund hoch auf den Berg.«
»Wahrscheinlich nur, um den Hund auszuführen«, grinste Schorsch anzüglich. »Und jetzt ist ihr Kerl sicher dahintergekommen.«
»Sag mal, Alex«, wechselte Jakob nun das Thema, »hättest du heute Nachmittag ein paar Stunden Zeit? Der Schorsch muss Gülle rausfahren und Jürgen hat sich mit Harald verabredet, um einen Hochsitz zu reparieren. Wir müssen aber noch Holz nach Stroheich fahren und noch einmal nach Niederehe, weil der alten Leni das Holz ausgegangen ist.«
»Ja klar«, bestätigte Alex ein wenig benommen von der Fülle an Informationen. »Ich muss nur wirklich erst hoch auf die Bitz. Sagen wir in einer Stunde? Ich komme direkt zum Holz, okay?«
»Nein, jetzt isst du erst einmal«, bestimmte Jakob, und Alex gab jeden Widerstand auf.
»Aber Jakob, noch einmal zurück zu diesem Blattschke. Meint ihr wirklich den, der neben Kristin wohnt?«
»Hm, hm«, brummelte Jakob mit vollem Mund und nickte dazu.
»Den habe ich zufällig gerade getroffen, weil ich von Kristin komme. Etwas schräger Vogel, oder?«
»Das ist dann mal die Untertreibung des Jahrhunderts«, antwortete Daniel an Jakobs Stelle.
5. Kapitel
Nach dem reichhaltigen Mittagessen schlenderte Alex nachdenklich den Berg hinauf und wurde an der Haustür von Fred empfangen.
»Ist ja klasse! Es ist nach Mittag und wir stehen kurz vor dem Hungertod! Der Bäckerwagen ist heute auch nicht gekommen. Du hast jetzt noch die Gelegenheit für ein paar letzte Worte, bevor wir dich einem langsamen, qualvollen Tod zuführen!«
»Oh je, sorry. Ich habe mich verquatscht. Ich hatte da eine, sagen wir, interessante Begegnung.«
»Aha.« Fred drehte sich um und rief hoch zu Max. »Sie hat ihren Traummann getroffen und lässt dafür zwei andere Traummänner verhungern. Ich finde, das spricht für ein verschärftes Verfahren!« Max war gerade auf dem mittleren Treppenabsatz angekommen und schüttelte grimmig die Schattenfugenfräse. Alex ging jedoch nicht auf die Blödelei ein.
»Einem Mann bin ich schon begegnet.« Sie schob sich an Fred vorbei und legte ihre Einkäufe auf den Tisch. »Ich würde nur sagen, der war eher ein Albtraummann, und oben auf dem Hönsel, genau da, wo wir immer spazieren gehen, ist ein Toter gefunden worden. Und ich habe schon gegessen«, gab sie zu und versuchte, zerknirscht auszusehen, »aber ich setze mich auf eine Tasse Kaffee zu euch.« Das dürfte die zehnte heute sein, dachte sie.
Kurz darauf erzählte sie den beiden beim verspäteten Frühstück von ihrem informativen Mittagessen bei den Hilgers. Freds Gesicht nahm immer mehr diesen für ihn typischen, spöttischen Ausdruck an.
»Ich fasse mal zusammen«, hob er am Ende des Berichts an. »Alles klar, oben auf dem Hönsel liegt oder sitzt oder was auch immer ein Mordopfer, ob kopflos oder nicht muss noch geklärt werden, aber zumindest ist der Mörder schon dingfest gemacht, nicht wahr, bei so einem eindeutigen Motiv?«
Alex hob abwehrend die Hände und runzelte die Stirn. »Ich geb hier nur wieder, was ich gehört habe.«
»Genau. Und jetzt geben wir dem Gehörten doch einmal eine alternative Interpretation. Der gute Mensch aus Niederehe ist oben auf dem Hönsel friedlich beim Anblick des Sonnenaufgangs an einem Herzinfarkt dahingeschieden. Vor seinem Ableben ist er auf seinen Spaziergängen öfter dieser Frau Blattschke begegnet, woraufhin ihm und ihr gleich ein Verhältnis unterstellt wurde. Könnte ja sein, oder? Würde aber natürlich jeder Dramatik entbehren.«
»Durchaus denkbar«, gab Alex zu, »aber erstens habe ich euch noch nichts von einer anderen Begegnung heute Morgen erzählt und zweitens frage ich mich, was die ganze Polizei auf dem Hönsel macht, wenn es ein Herzinfarkt war.«
»Es ist ein ungeklärter Todesfall, die müssen sich sowieso darum kümmern«, warf Max ein, der sich seinerseits bisher intensiv um die Brötchen gekümmert hatte. Er schien wirklich am Verhungern zu sein.
»Mag ja alles sein. Aber seltsamerweise bin ich ausgerechnet diesem Blattschke und seiner Frau heute Morgen schon begegnet.«
»Gibt es irgendjemandem im Dorf, den du heute noch nicht gesehen hast?«, unterbrach Fred sie.
Alex warf ihm einen langen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
»Komm, schieß schon los und ignorier ihn einfach.« Max sah sie auffordernd an und spielte die Rolle des Streitschlichters, die ihm in der WG oft zufiel.
Ohne Fred eines weiteren Blickes zu würdigen berichtete Alex von Kristin und ihren Andeutungen und versuchte, Kristins Nachbarn zu beschreiben.
»Das Auffälligste an ihm waren seine Augen. Da war etwas in seinem Blick, ich kann es schwer beschreiben, irgendwie irre. Ich meine, er stierte, aber ohne zu fixieren, krank eben. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, mir lief es auf jeden Fall kalt den Rücken herunter. Sie scheint jede Menge Anzeigen seinetwegen zu bekommen. Aber der Ausdruck, den sie verwendet hat, Psychopath, das war schon auch heftig!«
»Die führen einen Nachbarschaftskrieg«, stellte Max fest. »Da werden sich die Fronten verhärtet haben, weil es schon eine ganze Weile so geht.«
»Bei uns in Deutschland beschäftigt das die Gerichte bis an die Kapazitätsgrenzen«, stimmte Fred zu. »Ich würde an deiner Stelle aufpassen, dass du nicht in irgendwelche Grabenkämpfe gerätst.«
»Ich habe doch nichts mit dem zu tun«, wehrte Alex ab. »Die Kristin ist mir sympathisch, und ab und zu ein bisschen weiblicher Input in dieser Männerlandschaft wäre auch nicht schlecht.« Sie lächelte versöhnlicher.
»Mein Reden, mein Reden«, stöhnte Fred, »und wo bleibt mein weiblicher Input?«
Sie knuffte ihn.
»Soweit ich messerscharf schließen kann, ist der erst am letzten Wochenende hier aufgeschlagen. Oder trägst du neuerdings so etwas?«
Sie war aufgestanden und hielt mit spitzen Fingern den rosafarbenen BH hoch. Freds Grinsen wurde immer breiter, während er die Hand nach dem BH ausstreckte.
»Gib her. Der kommt in meine Andenkensammlung.«
Max stand auf, gähnte und reckte sich. »Öfter mal was Neues«, sagte er gelangweilt. »Tja, ich schieb mal wieder ab nach oben.«
»Gute Idee«, stimmte Alex ihm zu und begann, ein paar Sachen vom Frühstückstisch zu räumen.
»Ach ja, Max«, fiel ihr noch ein, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, »ich habe versprochen, ein paar Stunden mit dem Holz auszuhelfen. Musst du in das Zimmer, in dem ich gerade arbeite?«
»Ne, das geht schon klar. Ich bin noch eine Weile hinten rechts beschäftigt.«
6. Kapitel
»Ich war´s nicht«, stieß Philip hervor und schaute seine Mutter in einer seltsamen Mischung grimmig und zärtlich zugleich an.
»Aber du bist dort gewesen, oder nicht?« Gabriele machte eine Pause und wartete vergeblich auf eine Antwort ihres Sohnes. »Die Polizei wird kommen, ich vermute, noch heute Nachmittag. Und sie werden genau wissen wollen, was du in den letzten Tagen gemacht hast.«
»Du glaubst mir immer noch nicht.« Er konnte den leichten Zweifel in ihren Augen lesen. »Ich sage es ein letztes Mal. Ich hätte den Mistkerl gern selbst umgebracht, aber jemand ist mir zuvorgekommen. Ich war es nicht!«
Seine Mutter rieb sich den schmerzenden Wangenknochen und schwieg.
»Du warst von Donnerstagmittag bis gestern Mittag weg«, mischte sich seine Schwester Katie ein. »Gestern Abend bist du wieder verschwunden und gerade erst zurückgekommen. Wo warst du die ganze Zeit?«
»Ich war auf dem Junggesellenabschied am Donnerstagabend, das wisst ihr doch.«
»Aber du bist doch erst gestern Mittag wiedergekommen«, beharrte seine Schwester.
»Ich komme mir vor wie in einem Verhör.«
»Sag mal, du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff. Genau das wird passieren. Sie werden dich vernehmen und sie werden vielleicht herausfinden, dass du in Niederehe warst. Also, wo hast du die beiden Nächte verbracht? Wir wollen dir doch nur helfen.«
»Die Feier ging bis in die frühen Morgenstunden. Ich weiß nicht, vier oder fünf Uhr oder so. Wir haben am Feuer gesessen und danach in den Autos gepennt. Konnte ja keiner mehr fahren.«
»Und du warst die ganze Zeit mit den anderen zusammen?«, hakte seine Schwester nach.
»Ich war einmal abends ein gutes Stündchen weg.« Er wich ihrem Blick aus. Seine Mutter stand auf und begann mehr oder weniger mechanisch Teller und Kuchengabeln auf dem Tisch zu verteilen. Sie verließ kurz den Raum und kam mit einem großen Marmorkuchen zurück.
»Du warst auch nicht die ganze Zeit hier«, wandte sie sich an ihre Tochter.
»Ich war Freitag den ganzen Tag hier«, erwiderte Katie. »An den Abenden nicht, das stimmt.«
Sie schwiegen und starrten auf den Esstisch. Niemand griff nach dem Kuchen.
»Wollt ihr mir erzählen, was ihr gemacht habt?«, begann Gabriele leicht resigniert.
»Ich habe am Donnerstag zwischendurch noch ein Mädel besucht.« Philip stöhnte. »Komplizierte Geschichte. Ihr Mann war auch auf der Feier und sie haben ein kleines Kind. Freitag konnte ich bei ihr übernachten, weil ihr Mann sozusagen auf zwei Hochzeiten getanzt hat. Ein Arbeitskollege hat am Freitag geheiratet und es war geplant, dass er nach der Feier dort übernachtet. Die Hochzeit war in Köln.«
Seine Schwester lächelte. »Sie wird also kaum bezeugen, dass du bei ihr warst.«
»Sie darf da auf keinen Fall hineingezogen werden.«
»Tja, dann haben wir Gleichstand. Ich war am Donnerstag- und Freitagabend auch mit jemandem zusammen. Seine Frau ist psychisch sehr labil und macht gerade eine Reha.«
Sie sahen sich an und lächelten ein wenig gequält.
Gabriele lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihre Kinder. Sie waren erwachsen, sie hatten ihre Geheimnisse. Die Nachricht einer ehemaligen Nachbarin aus Niederehe, dass ihr Vater eines vermutlich gewaltsamen Todes gestorben war, hatte irgendwie keine Reaktion ausgelöst. Keine Trauer, keine Fassungslosigkeit, kein Schock. Nur diese unausgesprochene Frage, ob Philip etwas damit zu tun haben könnte, hatte im Raum gestanden. Gabriele zweifelte keinen Augenblick. Auch wenn er sich etwas großspurig gab, ihr Sohn wäre nicht in der Lage, einen Menschen zu töten. Sie horchte in sich hinein. Was fühlte sie angesichts des Todes ihres Ex-Mannes? Sicherlich ebenfalls keine Trauer und leicht beschämt musste sie zugeben, dass es sich eher wie eine Erleichterung anfühlte.
»Ich denke, wir müssen sagen, dass wir die ganze Zeit zusammen hier waren«, sagte sie schließlich. »Letztendlich kann es jeder von uns dreien gewesen sein, denn ich war allein hier.«
»Sie könnten sehr leicht herausfinden, dass Philip auf der Feier war, es gibt ja reichlich Zeugen.«
»Wir sollten das riskieren. Wir hatten zwei Kühe, die gekalbt haben. Dabei ist das auch mit deinem Gesicht passiert.« Philip wandte sich an seine Mutter. »Eine Kuh hat ausgetreten und dich im Gesicht getroffen, als du vor ihr gekniet hast. Ansonsten waren wir zwischen Donnerstag und Samstag nur einmal kurz in Gerolstein einkaufen, alle zusammen. Wenn sie etwas anderes herausfinden, müssen wir sehen, was wir damit machen. Ich muss mich jetzt jedenfalls fertig machen, die Trauung beginnt um drei.«
»Na, wenn du das mal pünktlich schaffst«, sagte seine Schwester skeptisch und zeigte aus dem Küchenfenster. Auf dem Hof hielt ein Streifenwagen.
»Ich flitz in die Dusche.« Philip sprang auf, noch bevor die Polizisten aus dem Wagen gestiegen waren.
»Und ich werde pünktlich zur Hochzeit kommen, glaub´s mir«, rief er seiner Schwester von der Tür aus zu.
Wie sich herausstellte, erschien er pünktlich zur Hochzeit und bekam die Polizisten überhaupt nicht zu Gesicht.
Die beiden Beamten, die entsendet worden waren, um die Angehörigen von Rudolf Krämer zu benachrichtigen, blieben nicht lange. Nachdem sie ihre Beileidsbekundungen losgeworden waren, erfuhren sie, dass die Familie bereits durch frühere Nachbarn vom Tod des Vaters und Ex-Ehemannes erfahren hatte. Die befürchteten Fragen nach dem jeweiligen Aufenthaltsort in der letzten Zeit blieben aus.
Die Frage, ob Rudolf Krämer Feinde gehabt habe, konnte nicht beantwortet werden, da die Familie schon lange keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Selbst ob der Arbeitgeber des Toten noch derselbe war, konnten sie nicht mit Sicherheit bejahen. Er habe für eine Spedition gearbeitet, aber ob das noch der Fall sei, entziehe sich ihrer Kenntnis, resümierte einer der Beamten später in seinem Bericht.
7. Kapitel
Wenige Minuten nach den Hilgers erreichte Alex das Meterholz am Wirtz-Wäldchen, das sich vor dem letzten Winter noch als fast zwei Meter hohe, sauber geschichtete Wand entlang des Waldweges nach Stroheich erstreckt hatte. Daniel hatte die kümmerlichen Reste bereits von der Abdeckplane befreit und Kreissäge und Anhänger in Position gebracht. In diesem Moment begannen sich Zapfwelle und Sägeblatt zu drehen, begleitet von dem üblichen schrillen Kreischen. Eigentlich müsste sie ja Kreischsäge heißen, dachte Alex, während sie Jakob, der auf dem Beifahrersitz des Geländewagens saß, zunickte und ihre Handschuhe überzog. Seit seiner Erkrankung im Winter konnte Jakob nicht mehr aktiv beim Sägen helfen. Nach mehr als vierzig Jahren im Wald war das ein schwerer Schlag, und er war häufig bedrückt deswegen, ließ es sich aber niemals nehmen, mit rauszufahren.
Daniel war inzwischen vom Traktor heruntergeklettert und Alex reichte ihm das erste Meterholzstück an.
»Was liegt heute an?«, fragte sie. »Müssen wir Sushi machen?«
»Erst mal nicht«, antwortete Daniel. »Vier Schüttmeter nach Stroheich, ganz normal auf fünfundzwanzig, aber später zwei Meter Sushi nach Niederehe.«
Er grinste und danach sprachen sie kaum noch ein Wort. Alex und Daniel waren ein eingespieltes Team. Sie reichte das Meterholz an, er schnitt es auf die gewünschte Länge von fünfundzwanzig Zentimetern und warf das ofenfertige Holz auf den Anhänger, der direkt neben ihm stand.
Etwa eine Stunde später war der Anhänger voll beladen, mit einem Netz abgedeckt und auf dem Waldweg nach Stroheich unterwegs. Links erstreckte sich durchgängig Wald, rechts wurde er immer wieder von Wiesen unterbrochen, die den Blick ins Tal und in die Ferne freigaben. Alex machte es sich auf der Rückbank bequem und genoss die kurze Pause.
»Drei Stück Rehwild.« Daniel deutete mit dem Arm nach rechts. Auch Alex hatte nach den Rehen Ausschau gehalten, die fast immer hier anzutreffen waren, und sie bereits hinten auf der Wiese am Waldrand äsen sehen. Die Rehe hoben kurz die Köpfe und blickten in ihre Richtung, bevor sie sich wieder dem ersten spärlichen Graswuchs widmeten. Wenige Minuten später bogen sie in Stroheich am Hinweisschild zur Baumschule van Pütten links ab, und Daniel musste den Anhänger in eine ziemlich enge Einfahrt zurücksetzen. Die übliche Routine des Abkippens nahm ihren Lauf, während Jakob ein paar Worte mit der Hausbesitzerin wechselte. Die Nachricht vom Vorfall auf dem Hönsel hatte sich natürlich auch schon in Stroheich herumgesprochen, zumal seit den frühen Morgenstunden Notarztwagen, Krankenwagen und Einsatzfahrzeuge der Polizei durch das Dorf gerauscht waren. Der Krankenwagen und der Notarztwagen waren – bereits auf dem Rückweg – zum zweiten Mal im Dorf gesichtet worden, ob mit oder ohne Ladung konnte natürlich niemand beurteilen.
»Der brauchte keinen Krankenwagen mehr«, sagte Jakob und steuerte seinen Kenntnisstand bei.
»Die alte Leni ist ein Phänomen«, erzählte Jakob auf der Rückfahrt nach Loogh. »Sie müsste jetzt auf die achtzig zugehen, macht ihr Holz meist noch selbst, hält Schafe und pflegt den riesigen Garten.«
»Lange geht das aber nicht mehr gut mit ihrem Trecker«, fügte Daniel hinzu und Alex erfuhr, dass die alte Leni gelegentlich mit recht forschem Fahrstil um die Kurven sauste und ebendiesen Trecker auch regelmäßig dazu nutzte, in Hillesheim ihre Einkäufe zu tätigen.
»Unten in Niederehe heißt sie Katzen-Leni«, sagte Jakob jetzt.
»Warum das?«, fragte Alex nach.
»Das wirst du gleich schon sehen«, gab sich Jakob geheimnisvoll.
»Aber, viel interessanter ist …«, Jakob drehte sich ein wenig umständlich auf dem Beifahrersitz, um Alex auf dem Rücksitz direkt anzusehen, »dass die Leni die direkte Nachbarin vom Krämer Rudolf ist.« Er grinste breit. Wenn Alex und Jakob etwas gemeinsam hatten, war es ihrer beider unersättliche Neugier.
In diesem Jahr war ihr das Holz ausgegangen, was eher ungewöhnlich war, und für ihren Küchenofen waren die normalen Buchenholzscheite zu groß und mussten daher noch zwei- oder dreimal mit der Axt zerkleinert werden. Viele alte Leute mit solchen Küchenherden wurden seit Jahren von den Hilgers mit Holz versorgt, und Alex hatte den Begriff Sushi-Holz geprägt, der inzwischen in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen war. Der Rest des Holzes, der jetzt noch oben an Wirtz-Wäldchen lag, würde wohl komplett zu Sushi verarbeitet, erfuhr Alex. Jakob wollte diese Reste fortan für die alten Leute reservieren, die in ihren ebenfalls alten Häusern oft noch keine Zentralheizung hatten.
Für die zwei Meter Holz, die zu Leni gehen sollten, brauchten sie etwa doppelt so lange wie für die vorherige Fuhre nach Stroheich. Das Holz wurde sorgfältig mit einem Netz gesichert. Man weiß ja nie, hatte Daniel gemeint, wenn da überall Polizei herumschwirrt, könnte ein gelangweilter Polizist auf die Idee kommen, sich um die Ladungssicherung zu kümmern.
Auf dem Weg durch Niederehe entdeckten sie drei Streifenwagen. Einer parkte vor dem Nachbarhaus, ragte aber mit seiner Schnauze frech in Lenis Einfahrt und erschwerte das rückwärtige Einparken vor ihrer Scheune. Polizisten waren jedoch nirgends zu sehen.
Sie wurden erwartet, das Scheunentor stand offen und Leni zeigte ihnen, wo sie ausladen konnten. Sie ging um das Auto herum, um Jakob durch das geöffnete Beifahrerfenster zu begrüßen, und Jakob setzte ohne Zeitverzug zur Befragung an.
»Guten Tag, Leni. Das ist ja ein Ding mit deinem Nachbarn.«
»Tja«, antwortete Leni. Sie war offensichtlich nicht bereit, sich weiter mit ihrem Nachbarn zu beschäftigen und fragte, wie viel sie den Hilgers schulde.
Während Daniel den Kipper hochpumpte, betrachtete Alex bewundernd den Vorgarten.
»Wunderschön«, sagte sie, als Leni sich zu ihr gesellte. »Ich bin übrigens Alex.«
»Alex?« Leni runzelte ihr faltiges und vom Wetter gegerbtes Gesicht. »Ich hatte Sie eigentlich für eine Frau gehalten?«
Alex lachte. »Eigentlich Alexandra, aber so nennt mich kaum jemand.«
»Und Sie interessieren sich für meinen Garten?«
»Er ist wunderschön, Ihr Vorgarten«, wiederholte Alex und machte mit dem rechten Arm eine ausschweifende Bewegung, die den ganzen Vorgarten umfasste.
»Der Steintrog, der große Lavastein mit den Schneeglöckchen, das Kopfsteinpflaster zur Haustür … Hier die Spitzen von Osterglocken, dort kommen die Tulpen heraus, Traubenhyazinthen? Es muss traumhaft sein, wenn das alles blüht. Perfekt.«
Die alte Leni lächelte und zu den drei Katzen, die schon vorher an diversen Stellen im Vorgarten und in der Scheune gesessen hatten, gesellte sich nun eine vierte, fuchsrote, und rieb sich an Lenis Beinen. Leni bückte sich, um ihr den Kopf zu kraulen. »Mohrchen, wo hast du heute Morgen wieder gesteckt?«
»Mohrchen?« Alex sah sie fragend an. »Für eine rote Katze?«
»Sie sind eine Frau und heißen Alex, und das ist ein roter Kater, der Mohrchen heißt.«
Alex lächelte breit. Da war irgendetwas zwischen ihnen beiden, irgendeine Übereinstimmung, die über die Liebe zum Garten hinausging.
»Ich muss dann mal«, sagte sie und deutete auf die Scheune, in der Daniel mit dem Aufsetzen des Holzes begonnen hatte.
»Haben Sie auch einen Garten?«, wurden ihre Worte von Leni ignoriert.
»Ja. Aber er ist verwildert.«
»Möchten Sie den Garten hinten sehen?«, fragte Leni nach.
Alex hob bedauernd die Schultern. »Ja. Sehr gerne. Aber heute geht es nicht. Kann ich ein anderes Mal wiederkommen?«
»Ich bin fast immer hier, es sei denn, Sie kommen ganz früh am Morgen oder kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Dann muss ich meine Schafe füttern.«
»Jetzt muss ich wirklich in die Scheune«, sagte Alex mit schlechtem Gewissen.
»Da jü.«
Nach ein paar Schritten drehte sich Alex noch einmal um.
»Sonntags habe ich Zeit. Würde das gehen?«
Leni lächelte wieder. »Morgen Nachmittag? Ich hole Pflaumenkuchen aus der Truhe.«
Wenn es eine Bestechung gab, dann diese. Für Pflaumenkuchen hätte Alex so ziemlich jede andere Verabredung sausen lassen. Sie lachte.
»Selbstgebackener Pflaumenkuchen, genial. Soll ich um drei Uhr hier sein?«
»Jederzeit, ich habe nichts vor.«
»Na, ich habe jetzt etwas vor.« Alex lächelte zurück und nickte, bevor sie endgültig und mit schlechtem Gewissen in der Scheune verschwand. Daniel war fast fertig.
Auf dem Rückweg durchs Dorf bedeutete Jakob Daniel, kurz hinter der schönen Klosterkirche neben einer eifrig kehrenden Frau zu halten.
»Tach, Hermine«, grüßte er die Frau durch das offene Autofenster.
Das war sie also, die Hermine, die unerklärlicherweise als erste von der Polizei befragt worden war, dachte Alex. Na, irgendwo mussten sie ja anfangen. Wahrscheinlich hatte sie da schon gekehrt, denn der Boden sah wirklich sauber aus.
»Das ist ja ein Ding mit dem Rudolf«, fuhr Jakob fort, nachdem sie sich begrüßt hatten. Es bedurfte keiner weiteren Aufforderung, um die halbe Lebensgeschichte dieses Rudolfs zu erfahren.
»Ja, der arme Mann«, setzte Hermine zu ihren Erzählungen an. »Der hat´s ja schon im Leben nicht einfach gehabt und dann so was.«
Sie hatte nicht viel Kontakt zu ihm gehabt, weil er die Feste im Dorf vermieden hatte. Eigentlich hatte ihm niemand im Dorf nah gestanden, er galt nicht gerade als freundlich. Und zum Sammeln für karitative Zwecke ging schon lange keiner mehr zu ihm, da konnte er richtig böse werden. Aber man soll ja auch nicht schlecht über Tote reden und so ein Schicksal, das gönnte man doch keinem.
Alex war kurz davor, auf dem Rücksitz einzudösen.
»Hat er allein in dem Haus gewohnt?«, fragte Jakob.
»Jetzt ja«, antwortete Hermine. »Nach der Scheidung waren die Eltern noch im Haus. Die junge Frau ist weggelaufen, statt sich um die alten Schwiegereltern zu kümmern, weil sie einen anderen kennengelernt hat, dat stierige Fraumensch.« Hermine sparte nicht mit Verachtung und Schuldzuweisungen. »Hat damals behauptet, es wäre wegen der Schwiegermutter, dabei hätte sie nur ein Jahr warten müssen, da ham sie die alte Frieda unter die Erde gebracht. Und die armen Kinder. Man weiß, wie das ist mit Scheidungskindern. Deswegen ist der Sohn sicher so danebengeraten.«
Sie machte es gern spannend und Jakob tat ihr den Gefallen und fragte nach.
»Was ist denn mit dem Sohn?«
»Genaues hat man ja nie erfahren, aber er soll auf seinen Vater geschossen haben. Man stell sich das vor, der eigene Sohn. Und dass die ihr die Kinder nicht weggenommen haben! Man versteht das nicht. Kein Wunder, dass der Rudolf so ein komischer Kauz geworden ist. Eigentlich war er sicher ein Guter. Der hat sich ja noch lange um den Vater gekümmert, fünf Jahre müssen es gewesen sein. Musste nachher gefüttert werden und hat auch nicht mehr dichtgehalten, da unten meine ich.« Sie machte eine entsprechende Handbewegung.
»Und der Jung´, der hat als Kind auf seinen Vater geschossen?«, lenkte Jakob das Gespräch auf den interessanteren Teil zurück.
»Nein, er war wohl schon Jugendlicher. Das ist alles lange her, die beiden müssten jetzt schon Mitte zwanzig sein. Aber ist ja auch kein Wunder, dass das damals passiert ist, bei so einer Mutter. Die hat ja gleich nach der Scheidung wieder geheiratet. Da kann man mir doch sagen, was man will, mit dem hatte die doch bestimmt schon vorher was gehabt. Und Kinder, die so ganz ohne den Vater aufwachsen, ohne den richtigen Vater meine ich.« Sie ließ ein bedeutungsvolles »ich weiß nicht« folgen, um alles andere als dezent anzudeuten, dass sie sehr wohl eine klare Meinung dazu hatte.
Alex bekam im Halbschlaf mit, dass die Exfrau die Kinder wohl gegen den Vater aufgehetzt hatte, sonst hätten sie ihn ab und zu besucht, und dass der Rudolf eigentlich ein guter Mensch gewesen sein musste, denn er war jeden Sonntag zur Messe gegangen und hatte das Grab seiner Eltern immer in Ordnung gehalten.
»Papa, da hättest du auch gleich mich fragen können«, sagte Daniel auf dem Rückweg. »Der Philip, also der Sohn vom Krämer, der war mit mir in der Schule, zwei Klassen unter mir. Patenter Kerl.«
»Hm …«, brummelte Jakob nur.
»Und den Schorsch hättest du auch fragen können. Der hat den Philip noch am Donnerstag beim Junggesellenabschied gesehen.«
Daniel grinste und Jakob enthielt sich einer Antwort.
8. Kapitel
»Der kann einem ganz schön aufs Säckle gehen«, hörte Leopold Werner, als er an einem kreativ geparkten Streifenwagen und einem roten Mercedes älteren Baujahrs vorbei auf die offene Haustür zuging. Er schmunzelte. Kollege Seckler hatte offensichtlich schon den Rückweg nach Wittlich angetreten und ein Geschmäckle hinterlassen.
Am Nachmittag hatte es Werner gerade noch zum Fußballspiel seines Enkels geschafft. Das Kerlchen hatte insgesamt neun Leder in seinen Kasten gelassen, mitten im Spiel das Handtuch werfen wollen und war nach dem verlorenen Turnier zunächst untröstlich gewesen. Nachdem der Opa ihm klargemacht hatte, dass die gegnerischen Torwarte sechs Gegentore kassiert hatten und es zu Hause ein Eis aus der Tiefkühltruhe gab, war die Niederlage schnell vergessen gewesen. Der nunmehr versöhnte zukünftige Manuel Neuer war bei seinen Erzeugern abgeliefert worden und er selbst war nach Niederehe weitergefahren, in der Hoffnung, sich hier in Ruhe umschauen zu können. Das Glück schien ihm hold zu sein.
Das Gespräch verstummte, als er Rudolf Krämers Haus betrat, und es lag ihm auf der Zunge darauf hinzuweisen, dass hier jeder ungestört hereinspazieren konnte. Die Absperrung draußen hatte kein Hindernis dargestellt und vor der Tür hatte er keinen Beamten entdecken können. Er hielt sich zurück, schließlich war er auf das Wohlwollen der Kollegen von der kriminaltechnischen Abteilung aus Wittlich angewiesen. Im Gegensatz zu ihnen hatte er hier schließlich nichts zu suchen.
Er musste sich nicht ausweisen. Einer der Beamten erkannte ihn noch vom Vormittag, und es sprach nichts dagegen, sich im Haus des Mordopfers einen Eindruck zu verschaffen, denn ihre Arbeit war so gut wie getan. Es werde nun offiziell wegen Mordes ermittelt, erfuhr er darüber hinaus. Die Haustür hatten sie verschlossen vorgefunden, der Schlüssel hatte an einem Bund neben Autoschlüsseln und anderen, noch nicht identifizierten Schlüsseln, von innen im Schloss gesteckt. Die Nebeneingangstür zum Garten war hingegen unverschlossen gewesen, mit ebenfalls innen steckendem Schlüssel. Bisher gab es keine Anzeichen für einen Einbruch und nichts deutete darauf hin, dass Rudolf Krämer hier im Haus erschossen oder auch nur verletzt worden war. Es waren weder Kampf- noch Blutspuren gefunden worden.
Werner bedankte sich für die Auskünfte, zog sich Handschuhe und Plastiküberzieher für die Schuhe an und ließ die Beamten vorerst ungestört ihre Arbeit beenden. Bei weiteren Fragen konnte er später noch mit ihnen reden.
Zunächst folgte er einem aufgeregten Monolog, der aus dem zum Garten hin gelegenen Wohnzimmer drang. Er hatte den Moderator richtig erkannt, im Fernseher lief die Sportschau
