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In TOD VOR BRISSAGO (Lago Maggiore Krimi No 1) sieht zunächst vieles nach einem Badeunfall aus. Bis sich herausstellt, dass an der gleichen Stelle schon einmal jemand zu Tode gekommen ist, viele Jahrzehnte zuvor. Auf dieselbe Weise... Commissario Carlo Flury muss tief in die Schweizer Geschichte eintauchen, um das Rätsel zu lösen. Wenn Sie Guido Brunetti in Venedig oder Salvo Montalbano in Sizilien mögen, wird Ihnen auch Carlo Flury gefallen (ohne dass KI am Werk gewesen wäre...). Andrea Mattiottis Lago Maggiore Krimis um Carlo Flury: Genügend Lesestoff für einen ganzen Urlaub.
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Seitenzahl: 280
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Verlag:Andrea Mattiotti ::: Klevendeicher Ch. 7 ::: [email protected]
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 BerlinKontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
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Zum guten Schluss
Der Autor
TOD VOR BRISSAGO
Andrea Mattiotti
Lago Maggiore Krimi No. 1
Guido Cotti ärgerte sich über sich selbst. Mal wieder. Warum nur hatte er sich breitschlagen lassen, den Schwiegereltern seine Fähigkeiten als Angler unter Beweis zu stellen? Na ja, Lidia, seine Frau, hatte soviel Geweses davon gemacht, dass sich beim letzten Familientreffen alle Augen auf ihn gerichtet hatten. Er war der Versierteste unter seinen Kameraden, keine Frage. Und normalerweise kam er mit ordentlich Fisch nach Hause. Oft blieb noch einiges zum Verschenken an die Nachbarn übrig. Aber natürlich gab es auch magere Tage; in letzter Zeit war er auch manchmal mit ganz leeren Händen zurückgekommen. Und jetzt, am frühen Nachmittag, war eh keine gute Zeit fürs Angeln. Der Besuch würde um sechs kommen. Ein halbes Dutzend Barsche sollten es da schon sein, besser mehr. Auch wenn ihm selbst eine
ordentliche Pasta alle vongole aus Lidias Küche genauso lieb gewesen wäre.
Guido ordnete vor dem Ablegen die Gerätschaften in seinem kleinen Ruderboot sorgfältig an. Die beiden erlaubten Ruten würde er erst draussen im Wasser zusammensetzen, auch erst dort Wasser in den Eimer für den Fang füllen. Das Angelzeug lag vorerst noch in einem sturmerprobten, alten Rucksack vor seinen Füssen. Darin befand sich auch eine Schachtel mit Würmern, die er aus seinem kleinen Gärtchen mitgebracht hatte. Daneben ein Flacon mit Grappa. Was man so braucht.
Als er sich seinem gewohnten Ankerplatz neben der kleineren Brissago-Insel, der Isola di Sant’Apollinare, näherte, warf er einen flüchtigen Blick nach links zum Ufer.
Zuerst hielt er es für ein grosses Stück Treibholz. Aber als er mit zwei Schlägen sein Boot zurück in Richtung Ufer gelenkt hatte, wurde ihm klar, was er da gefunden hatte. Sein Herz klopfte, wie er es lange nicht mehr erlebt hatte.
Guido griff mechanisch in die rechte Innentasche seiner Anglerjacke. Aber klar, er hatte sein altes Handy ja zu Hause gelassen, wie immer, wenn er beim Angeln seine Ruhe haben wollte.
So wendete er sein Boot und ruderte mit aller Kraft in Richtung des Fähranlegers am Ufer. Dort würde hoffentlich jemand stehen, von dem er ein Handy leihen könnte. Obwohl nun wirklich keine Eile mehr bestand.
Nach dem zweiten Blitz begann Carlo Flury im Sekundentakt zu zählen. Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs – sieben – acht – neun. Obwohl das Gewitter also noch drei Kilometer entfernt war, im Westen, erfüllte der Donner das Tal bereits markeschütternd. Der nächste Schlag folgte wenige Sekunden nach dem Blitz, kam also aus noch kürzerer Distanz. Der Wind hatte aufgefrischt; unten auf dem See, der vor kurzem noch spiegelglatt gelegen hatte, bildeten sich kleine Schaumkrönchen. Zeit, ins Haus zu gehen, zumal auch erste Regentropfen fielen, vereinzelt nur, aber schon schwer.
Carlo beschloss, das Naturspektakel von seinem überdachten Balkon aus zu geniessen. Lange war es heiss und schwül gewesen, da war eine Abkühlung und Luftauffrischung nicht unwillkommen. Wenn das nur nicht das Ende des Sommers ankündigte! Ein Dichter, der sich in der Gegend gut auskannte, hatte einmal geschrieben, um diese Jahreszeit werde hier dem Sommer „das Genick gebrochen“. Immerhin, es war schon Mitte September. Da musste man mit dem Genickbruch jederzeit rechnen. Oder mit Schlimmerem.
Oben auf dem tiefen, schmalen Balkon, rund um seinen hölzernen Lieblingssessel verteilt, fand Carlo mehrere Bücherstapel, die sich während der vergangenen Schönwetterzeit, in der er zudem einen komplizierten Fall bearbeitet hatte, in und auf den Holzkisten angesammelt hatten. Es war erst früher Nachmittag. Aber das Gewitter hatte dem Tag so viel Licht genommen, dass an Lesen draussen ohnehin nicht mehr zu denken war. Ausserdem liebte Carlo Gewitter. Jedenfalls, wenn sie nicht zu lange dauerten. Man lebte dann ein wenig, als wäre man eingeschneit: Höhere Gewalt war hereingebrochen, die einen von allen irdischen Pflichten und Gewohnheiten befreite. Von Arbeit sowieso, davon gab es ja immer genug. Aber sogar von den albernen Zerstreuungen, die man hervorholen mochte, wenn einem nichts Besseres einfiel. Wenn man also nach Ablenkung suchte, weil das Leben keine erkennbare Richtung, kein unabweisliches Ziel vorgab. Andere Menschen retteten sich bei solchen Gelegenheiten vor den Fernseher.
Carlo entschied nun endgültig, sich für diesen Sonntagsrest frei zu geben. Sein Abschlussbericht durfte bis mindestens Dienstag warten, der Fall schien ja gelöst. Obwohl man da nie ganz sicher sein konnte. Er stieg die schmale Holztreppe ins Erdgeschoss hinab und fand im kleinen Kühlschrank unter der tiefen Küchenbank eine Literflasche Rocailles. Ausser dem Gewitter gab es nichts zu feiern, und so würde der biedere Fendant einen würdigen Begleiter machen für seine Abendlektüre, die er mit Blick auf den Cruit zu geniessen dachte, einen Zweitausender auf der gegenüberliegenden Seite des Sees, den zu besteigen ihm schon einige Male vergönnt gewesen war. Die Blitze liessen gelegentlich das gleichmässig-schöne Pyramidenmassiv für Momente erkennen.
Carlo hebelte den Kronkorken mittels des Kapselhebers auf, der griffbereit an einem Kettchen von der Wand hing, und füllte sich ein voluminöses Rotweinglas zur Hälfte, das fast einen Liter fassen mochte. Es beschlug sofort auf das appetitanregendste. Carlo trank Weisswein gerne kalt, so war der Kühlschrank auf „energisch“ eingestellt. Zwei Flaschen Mont sur Rolle, die die Stimmung womöglich noch vorteilhafter geregelt hätten, durften einen späteren Auftritt in ihrer Kühlung erwarten. Carlo passte die Genüsse den Anlässen an.
In den Player der schmalen Stereoanlage, die an der weissgetünchten Küchenwand aus Natursteinen wie ein Fremdkörper angeschraubt war, schob er eine CD. Auch mit Musik pflegte er gelegentlich seine Stimmung zu regulieren. Das warme Vorspiel des Concierto de Aranjuez füllte das kleine Steinhäuschen augenblicklich von Wand zu Wand. Carlo atmete tief ein und aus. Obwohl er sich einbildete, nicht übermässig sentimental zu sein, berührten ihn diese ersten Takte jedes Mal aufs Neue. Wenn sie ihn nicht sogar umwarfen.
Mit dem immer noch beschlagenen Glas in der linken stieg er die Holztreppe zum Obergeschoss wieder hinauf und trat durch die niedrige Tür auf den Sitzplatz hinaus. Die Szenerie draussen war inzwischen so eindrücklich, dass er zunächst am Rand der Überdachung stehenblieb, bevor er sich in seinen Balkonsessel ausstreckte. Der Himmel über dem Lago Maggiore hing so dunkel, als wäre es Nacht. Starke Blitze zuckten alle paar Momente, teils in die gegenüberliegenden Bergketten, teils in den See. Der Donner, ohrenbetäubend, schien das Haus zu erschüttern. Die Musik von unten hatte er längst übertönt. Gleichzeitig ging ein Wolkenbruch nieder, so dicht, dass Carlo meinte, dergleichen im Norden nie erlebt zu haben.
Er richtete sich in seinem Sessel ein und genoss den ersten Schluck. Einen grossen, der ihn augenblicklich erdete: Das Naturschauspiel da draussen, das er dank seines Regendachs unbehelligt verfolgen durfte, das kühle Glas in seiner Hand, das Fehlen irgendwelcher vordringlichen Anforderungen an seine Fähigkeiten — es übte einen süssen Sog auf ihn aus, dem er sich, wie weiland die Bewohner des Zauberbergs, bereitwillig hingab. Eine anstrengende Zeit lag hinter ihm.
Nach einer Weile begann er, über sein Nachtessen nachzudenken. Gabriella war am Donnerstag Knall auf Fall nach Hause abgereist, vor dem Ende einer Woche, in der er wegen einer aufwendigen Ermittlung nie bei Tageslicht nach Hause gekommen war. Es hatte Streit gegeben, wie auch anders, und das nicht zum ersten Mal. „Was ist die Frau eines Bullen?“, hatte er schliesslich gefragt, nicht ohne Selbstironie. „Eine arme Kuh!“ „Soso!“, hatte sie gefaucht. „Aber bin ich vielleicht eine blöde Kuh? Das steht noch nicht fest. Ich glaube, eher nicht!“ Hatte wutentbrannt zusammengepackt und war grusslos abgereist.Er hatte nicht versucht, sie aufzuhalten.
Das Alleinsein hatte auch Vorteile, wie er bei dieser Gelegenheit wieder einmal bemerkte. Er könnte sich einen Thunfischsalat machen. Gabriella hasste Fisch.
Sollte er vorher noch ein wenig Nutzen stiften? Seine Hemden bügeln zum Beispiel, die ihn seit Tagen vorwurfsvoll anstarrten, wenn er auf dem Weg ins Bett an ihnen vorbeischlich? Seinen Sekretär aufräumen, dessen Arbeitsplatte mal wieder mit Papieren in beträchtlicher Schichtdicke befrachtet war? Ariana, seine Haushälterin, hatte strenge Anweisung, dort keinerlei Ordnung herzustellen, und so sah es denn auch aus. Oder endlich die schon gelesenen Bücher in eines der Regale im Schlafzimmer verlagern?
Ach, noch ein bisschen die Augen weitgestellt lassen. Dem See beim Ausatmen Gesellschaft leisten. Über Mäuse und Menschen nachdenken. Oder über Gott und die Welt. Er liess sich in eine tiefe Entspannung fallen. Anders als sonst glitten kaum Worte, nur Bilder durch sein Bewusstsein. Aber auch diese blieben ihm nicht im Gedächtnis.
Er musste doch eine kurze Weile eingenickt sein. Mit dem leeren Glas in der Hand stieg Carlo die Treppe hinab. Die Abstände zwischen den Blitzen waren grösser geworden, der Regen war abgeklungen. Nur aus weiter Ferne war gelegentlich ein resignierendes Grummeln zu hören. Das Gewitter hatte sich verzogen. Es kehrte Stille ein. Nach dem Sturm? Vor dem Sturm?
Der Holzstuhl unten vor dem Haus war trockengewischt, der Gedanke an eine frische CD einstweilen verworfen, das zweite Glas war eingeschenkt und über dem Cruit brach das erste Wolkenloch auf, da hörte Carlo ein ihm bislang unbekanntes Motorengeräusch aus dem Tal. Es kam über die schmale, serpentinendurchsetzte Strasse rascher hoch, als er es von den mittlerweile vertrauten Vehikeln der Dorfnachbarn gewohnt war. Dann quietschten sogar Bremsen. Carlo konnte von seinem unteren Sitzplatz aus wegen der dichten Hortensienbüsche nicht erkennen, wer da gekommen war, aber diese Frage beschäftigte ihn nicht lange. Die kurze, steile Treppe vom öffentlichen Parkplatz kam Ispettrice Rita Favini heraufgekeucht und rief ihm schon aus einigem Abstand zu: „Commissario! Carlo! Wir haben einen Kunden!“
Carlo seufzte. Wenn Rita von „Kunden“ sprach, dann waren das Leichen, und das hiess Arbeit. „Ma, bella“, sagte er, „komm doch erst mal rein. Un caffé? Un bianco? Ich wollte gerade was zu Essen machen…“
Aber die Kollegin war das Pflichtbewusstsein selbst. Ausserdem hatte sie Jagdfieber.
„Besser, wir ziehen gleich los. Die Spurensicherung ist schon unterwegs. Es ist in Brissago. Wenn wir uns beeilen, sind wir vielleicht noch vor denen da. Mit Glück und Sirene schaffen wir’s in einer halben Stunde.“
„Na gut, wenn du meinst“, seufzte Carlo erneut. „Vielleicht ist nachher noch Zeit für einen Happen. Ich wollte gerade einen Insalata tonno machen…“ Er wusste, wie gerne die Kollegin ass, und wollte ihre Reaktion testen. „Kannst du fahren? Ich habe leider schon ein bisschen getankt. Könnt sonst Ärger geben. Na ja, ,leider’ nehm ich zurück. Dieser Fandango ist einfach zu schlotzig.“
Rita beteuerte, voll fahrtauglich zu sein. Aber sie hatte den Köder durchaus aufgenommen, das zeigte die Art, mit der sie diskret schnupperte. Sie bemerkte die fast leere Weinflasche. „Ach, der edle Rocailles? OK, für den Anfang geht der durch.“ Sie sah sich flüchtig im Vorgarten um. „Soso, so wohnst du also. Passt irgendwie zu dir… Genehmigt.“
„Na, dann ist ja alles bestens. Ich werf mich rasch noch in ein Gewand. Man ist ja schliesslich Staatsmacht“, meinte Carlo. „Bin gleich marschbereit. Hock dich doch solange nieder.“
Während Carlo rasch die schmale Treppe im Hausinneren erklomm, sah Rita sich draussen um. Die kleine Rasenfläche neben dem zweistöckigen Häuschen war schon eine Weile nicht mehr gemäht worden, auch die Hecke hatte lange keine Schere mehr erlebt. Aber das untere Sprossenfenster, das dem Erdgeschoss sparsames Licht zuteilte, wurde offenbar regelmässig geputzt, auch wenn das sein Alter von mehreren Jahrzehnten nicht verheimlichen konnte. Tisch und Holzstühle, von zeitlosem Stil, aber sonnengebleicht und ein wenig windschief, wirkten ebenfalls gepflegt, wie Ritas geübtes Auge auf einen Blick registrierte. Unter einem der Stühle trocknete ein Paar Stiefel, die der Hausherr offenbar beim Ausbruch des Gewitters übersehen hatte. Eine Gruppe von drei altersschwachen Palmen, die den Sitzplatz einmal beschattet haben musste, erstreckte ihre letzten spärlichen Äste über das Dach des Hauses, verlieh ihm aber immer noch mediterrane, ein wenig elegische Gleichmut. Rita musste sich bemühen, der entspannenden Wirkung des Ortes nicht sofort nachzugeben. Es war schon wieder sommerlich warm geworden.
Carlo kam eilig aus dem Haus gestürmt. Er trug ein Hemd und eine Jeans aus schwarzem Leinen, darüber eine schwarze, etwas in die Jahre gekommene Lederweste. So fühlte er sich etwaigen gesellschaftlichen Verpflichtungen ausreichend gewappnet, ohne auf seine Bequemlichkeit verzichten zu müssen.
„Wir können.“
Während Rita den Streifenwagen startete und auf dem engen Dorfparkplatz routiniert wendete, schnallte Carlo sich seufzend an. In seinem alten Volvo tat er das nie, aber der Wagen hier hatte die Gabe stufenweise zur Penetranz anschwellender Warngeräusche, falls man diese Pflicht ignorierte. Rita grinste, sagte aber nichts.
Der Regen hatte den Staub von der Hügelstrasse gespült und bildete kleine, dampfende Bäche, wo das Wasser nicht gleich in die überall angebrachten Abflusskanäle verschwand. Den Rest würde die Sonne, die inzwischen wieder in voller Nachmittagsstärke schien, bald getrocknet haben. Durch das offene Fenster wehte die Luft herein, frisch gereinigt und noch wohltuend kühl. Hecken, Büsche und Strassenbäume schienen aufzuatmen. Es roch nach feuchter Erde.
„So,“ brummte Carlo, während das Auto in Ritas sportivem Tempo den engen Serpentinenweg zum Seeufer hinunterglitt. „Dann erzähl doch mal. Was genau verschafft mir denn die unerwartete Freude deines Besuchs?“
„Wie gesagt, ein Kunde. Genauer: eine Kundin, anscheinend ertrunken. Vielleicht eine Touristin. In Brissago, gleich unterhalb der Tabakfabrik. Es gibt da eine Badeanstalt und eine kleine Schiffslände. Ein Angler hat sie entdeckt und die Polizia angerufen. Viel mehr weiss ich auch nicht. Die Kollegen haben aber trotzdem gleich die Spurensicherung losgeschickt. Ich hoffe, Dr. Ponti kommt und nicht dieser Arsch Monsanto. Es kann aber sein, dass Ponti im Urlaub ist.“
„Soso, aha“, nickte Carlo. Badeunfälle passierten immer mal wieder und waren eigentlich nicht Sache der Kriminaler, aber nun gut. Er zögerte, bis sie die Kantonsstrasse kurz vor der Landgrenze erreicht hatten und nach rechts abgebogen waren. Rita schaltete das Blaulicht ein und beschleunigte ein wenig. Das Martinshorn blieb einstweilen stumm, um die Sonntagsruhe nicht zu stören. Der Tourismus ist eine geschätzte Einnahmequelle von Wahlbürgern im Tessin. Auch Staatsdiener wissen das.
„Sag mal, nur aus Neugier… Du hättest mich wegen Fendant sowieso abholen müssen. Aber das konntest du ja noch nicht ahnen. Warum hast du nicht einfach angerufen?“
„Hab ich ja versucht. Aber auf dem Festnetz ging niemand ran, und dein Telefonino war auf Störung.“
„Oh verdammt“, stöhnte Carlo. „Den Anruf hab ich anscheinend nicht gehört, das Gewitter war laut. Und das Handy ist wahrscheinlich mal wieder leer. Ich vergess immer, es zu laden. Ich lieb sie nicht, die kleinen Dinger. Bin halt Oldtimer. Na, damit ist das auch geklärt. Vielen Dank.“
Aber Carlo fühlte sich doch noch nicht ganz im Bilde. „Ach ja, nur noch eine letzte Kleinigkeit. Wie kam’s denn, dass ich die Ehre und das Vergnügen bekommen habe? Du weisst wahrscheinlich, dass ich bis beinah grad gestern diese Drogengeschichte in Lugano an der Backe hatte, eigentlich bin ich nicht mal komplett durch damit. War niemand anders dran?“
Doch Rita, die am liebsten mit ihm zusammenarbeitete, dies aber niemals ausgesprochen hätte, wusste auch diese Frage einleuchtend zu beantworten.
„Wir sind heut quasi auf absolutem Sparprogramm, was die Besetzung angeht. Praktisch alle haben frei genommen oder sich krankgemeldet. Ganz eigenartig. Ich habe zufällig mitgekriegt, dass heute Abend Ambri-Piotta gegen Lausanne spielt. Das hat natürlich mit der Frage überhaupt nix zu tun. Ich erzähl’s dir nur, weil’s mir grad durch den Kopf ging. Aber du verstehst: Die Ehre des Kommissariats liegt zur Zeit voll in deinen und meinen Händen.“
„Na, da liegt sie gut. Dann ist ja die letzte Klarheit beseitigt“, grinste Carlo. „Eishockey regiert die Region. Danke, keine weiteren Fragen.“ Seine Neugier war damit befriedigt.
Rita fuhr, als ginge es um die Rallye Monte Carlo. Aber Carlo wusste, auf wen er sich verlassen konnte. Er lehnte sich entspannt zurück. Es war gut, keine Konversation machen zu müssen. Auch das schätzte er an Rita.
Glücklicherweise war nicht viel los auf der via Cantonale. Touristen, die den Streifenwagen rechtzeitig im Rückspiegel bemerkten, machten rasch am Strassenrand Platz. Die anderen konnte Rita ohne weiteres überholen.
Carlo hing seinen Gedanken nach. In seinem Job freute man sich besser nicht leichtsinniger Weise über ruhige Momente, alles konnte sich schlagartig ändern. In der älteren Kriminalliteratur waren es meist die Ehefrauen, die resigniert oder wütend das Essen warm stellten oder die Kinokarten zerrissen, je nach dem, während die ermittelnden Gatten mit oder ohne Schusswaffe, aber stets mit Jagdhundblick und widerspruchslos, hochkonzentriert zum Ort des Geschehens eilten. Er hatte es als Kind ohne viel Erregung aufgenommen, wenn sein Vater gelegentlich ausserdienstlich abberufen worden war; es war ja selten vorgekommen, damals. Später als Quereinsteiger selbst in den Polizeidienst eingetreten, war er überrascht gewesen, wie häufig ungeplante Aktivitätsschübe nötig wurden, gerne an Wochenenden und Feiertagen. Nun ja, auch er nahm es mit wenig Begeisterung, aber doch mit Gleichmut hin. Ein Familienleben, tja, das wäre damit schwer zu führen. Aber so weit war er eh noch nicht.
Bevor in Quartino mit dem Kreisverkehr die Hauptverkehrsstrasse erreicht war, schaltete Rita für ein paar Sekunden die Polizeisirene ein. Auch hier waren fast ausschliesslich Touristen aus dem Norden unterwegs, die wussten, was sich gehört. So war Tenero rasch erreicht.
Rita hatte den Wagen bereits halbrechts zum Abbiegen eingeordnet, als sie die ersten Warnblinker kurz vor der Einfahrt in die Tunnelstrecke bemerkte. Mit einem leisen Fluch zog sie ganz nach rechts, um auf die alte Ortsdurchfahrt von Locarno abzubiegen. „Verdammt“, knurrte sie, „im Tunnel ist mal wieder alles dicht. Das kostet uns mindestens zehn Minuten.“
Carlo schwieg. Er wusste, dass sie die Lage im Griff hatte. Dazu musste man nichts sagen.
Aber es dauerte doch noch eine Viertelstunde.
„Auch schon da, die Herrschaften von der Staatsgewalt?“ grinste Dr. Monsanto mit einem süffisanten Unterton, als sie eintrafen. Er drückte seinen Arztkoffer ein wenig eilig zu. „Na ja, wir als ordinäres Fussvolk haben einstweilen schon mal unseren Job gemacht.“ Carlo und Rita blickten ihm ausdruckslos in die Augen. „Und?“ fragte Carlo.
„Wie’s aussieht, ertrunken. Keine groben äusseren Verletzungen erkennbar. Andererseits, schon ein bisschen komisch. Die ist höchstens dreissig, da kann man doch normalerweise schwimmen, heutzutage. Na ja, ich muss los.“
Carlo entdeckte einen kleinen Sticker des HC Ambri-Piotta auf Monsantos Revers. „Wann kriege ich ihren Bericht?“ fragte er.
„Morgen Abend, spätestens Dienstag. Sieht ja nicht so eilig aus, oddr. Bei uns liegen ein paar dringendere Fälle.“
Monsanto ging.
„Verkühlen sie sich nicht heute Abend!“ rief Carlo ihm nach. Rita blickte ihn fragend an.
„Rat mal, warum der es so eilig hat. Hast du das Abzeichen nicht gesehen? Der muss zum Eishockey.“
Die Paramedics, die rauchend auf ein paar Steinen gesessen hatten, standen grinsend auf und reckten sich. Auch sie mochten für den Abend noch etwas vorhaben.
Carlo trat an die Tote heran. Sie schien zu schlafen. Auf ihrem gleichmässigen Gesicht lag eine Abgeklärtheit, als sei sie, nach langer Anstrengung, nun endlich zur Ruhe gekommen. In seinem Kopf begann eine Flöte zu spielen, deutlich wahrnehmbar, eine hohe, melancholische Melodie, die er noch nie gehört hatte.
Als er, wohl nach einer halben Minute, kurz die Augen schloss, überlief ihn ein plötzlicher Schauder.
Carlo riss sich mit Mühe zusammen. Hoffentlich hatte niemand etwas bemerkt. Er ging in die Hocke, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Von Monsanto hielt er wenig, nicht nur als Mensch. Obwohl der Aufenthalt im Wasser, der offensichtlich nicht kurz gewesen war, seine Wirkungen bei der Toten hinterlassen hatte, meinte er geradlinige Spuren einer stumpfen Verletzung auf der linken Hand zu erkennen, vielleicht alte, die es auf der rechten jedenfalls nicht gab. Auf derselben Seite war ein Knopf am Revers des dunkelroten Jackets abgerissen. Einer der Pumps fehlte, der andere, ein schlicht, aber teuer aussehendes Modell mit mittelhohen Absätzen, befand sich noch am Fuss.
Rita hatte seine Reaktion aus den Augenwinkeln beobachtet. Sie selbst war nicht kalt geblieben; die Tote mochte etwa so alt sein wie ihre eigene Tochter. Aber dies, erinnerte sie sich selbst, waren nun mal Erfahrungen, wie sie in ihrem und seinem Beruf unvermeidlich immer wieder anstanden. Dass auch Carlo nicht einfach nur als Profi funktionierte, gefiel ihr an ihm. Für einen Moment gab auch sie den anonymen, wortlosen Bildern in ihrem Kopf Raum, dann liess sie sie verblassen. Rita trat ein paar Schritte auf die Seite.
Auf dem Rückweg zum Auto, während die Paramedics die Tote auf eine Bahre betteten, schwiegen beide. Kurz vor dem Einsteigen sagte Rita leise: „Die war so jung. Die hatte noch so viel vor sich, was?“ Carlo nickte schweigend.
Kurz darauf fuhr unweit ihrer Parkstelle ein weisser Toyota an und verschwand in Richtung Locarno.
Zurück auf dem Weg an die andere Seeseite fiel kein Wort. Der Verkehrsstau hatte sich aufgelöst, sie fuhren durch den Tunnel unter Locarno durch. Beide hingen ihren Gedanken nach. Erst als Rita, diesmal in zivilem Tempo, den geschwungenen Weg hinauf nach Caviano geschafft und den letzten freien Parkplatz ausgemacht hatte, riss Carlo sich aus seiner Stimmung. Während sie ausstiegen, schüttelte er sich kurz.
„Da haben wir uns ein Nachtessen verdient, oder? Wir könnten auch in die Beiz gehen, aber mir würd’s daheim besser gefallen.“ Rita war mehr als einverstanden. Sie nickte.
Die Sonne, die kurz nach dem Gewitter zurückgekehrt war, hatte durchgehalten. Vor dem Haus stand noch angenehme Wärme. Alle Stühle waren längst trocken und warm.
„Wenn du dich hier gruppieren magst…“, meinte Carlo. „Ich hol uns erst mal einen ordentlichen Schluck, dann schwing ich mich in die Küche.“
Er begann, die Bedrückung ein weiteres Mal von sich abzuschütteln.
„Wo hast du dein Ladegerät?“, fragte Rita. „Gib mir mal dein Telefonino.“
„Links von der Stereoanlage. Ach, du kennst dich ja hier nicht aus, warte, ich häng es ans Netz. Du bist ein Schatz. Das hätt ich wieder vergessen.“
„Ebbe“, seufzte Rita. „Jetzt darfst du halt morgen nicht vergessen, es einzustecken. Bloss als Talisman im Haus wird’s nicht viel helfen.“
Als er mit zwei Gläsern seines bevorzugten Formats und einer beschlagenen Flasche Mont sur Rolle vor die Tür zurückkam, hatte Rita sich einen Platz im letzten Sonnenstrahl gesucht.
„Ich ahne, dass du mit Rotem mehr anfangen könntest“, meinte Carlo, während er die Gläser füllte, vorschriftsmässig nur zur Hälfte. „Jedenfalls hab ich dich bislang nichts anderes trinken sehen, soweit ich mich erinnere. Aber für diesen Moment passt unser Fendant mit Abstand besser. Aus zwei Gründen: Erstens ist das ja beinahe Sekt, und den brauchen wir, um dieses Ereignis zu feiern. Zweitens: Es gibt momentan nix anderes. Freund Urs war vorletzte Woche zu Besuch hier, und der ist ein bärenstarker Rotweinschädling. Findest du das einleuchtend?“
Rita fragte sich, welches Ereignis er meinte, versicherte aber, dass schon die zweite Begründung sie voll überzeugt habe. Und nach dem ersten Schluck, nach vorgängigem Anstossen und obligatem Salute, ächzte sie lustvoll und fügte hinzu: „Jetzt schliess ich mich auch der ersten Argumentation vollinhaltlich an. Vielleicht laufe ich irgendwann doch noch ins Weissweinlager über. Der ist ja verrückt gut. Grad jetzt, gegen den Durscht.“
Carlo trollte sich zufrieden ins Haus, nachdem er aus dem hinteren Teil des Gartens ein paar Blätter Cilantro geholt hatte. Die Anspannung war von ihm gewichen. Rita, seine Lieblings-Kollegin, fühlte sich wohl bei ihm, das sah er und das freute ihn. Aber es war ja auch Sommer, man wohnte sozusagen vor dem Haus. Das ging immer gut. Winters dagegen… Da erwies sich die kleine Cassetta doch eher als Einmannzelt. Ob das mit Gabriella jemals gutgehen könnte?
Rita nahm einen weiteren grossen Schluck und sah Carlo versonnen nach. Der hätte ihr schon gefallen. Sie konnten miteinander lachen, aber auch problemlos miteinander schweigen. Es gab einen gegenseitigen Respekt und eine unausgesprochene Harmonie, die sie auch bei gemeinsamer Arbeit so routiniert funktionieren liess wie ein geübtes Tanzpaar auf dem Parkett. Leider nur hatte Rita den Kollegen kurz nach seinem Auftauchen einmal beim Einkaufen in Locarno beobachten können, mit einer Freundin. Diese Freundin war gertenschlank gewesen, einen Kopf grösser als sie und hatte nur wenig älter ausgesehen als ihre eigene Tochter. Rita seufzte. So weit sie wusste, war Gabriella, die gegenwärtige, auch nicht viel älter.
„Die Auswahl war schon wieder ein bisschen eingeschränkt. Ariana kommt immer montags und bringt die besseren Sachen von drüben mit. Sonntags ist meist Ebbe im Kühlschrank.“
Carlo deckte den Tisch und schenkte Wein nach.
„Du hast eine Perle?“, fragte Rita mit einem Anflug von Neid. Sie selber warf den Haushalt für sich und ihre Tochter eigenhändig.
„Und noch dazu eine italienische!“, erwiderte Carlo. „Ich unterstütze auf diese Weise die Volkswirtschaft der Lombardei, einer strukturschwachen Region der Europäischen Union! Aber, mal im Ernst: Ich habe es mit Tessinerinnen versucht, bloss, das kostet ein Auge, und dann sind sie auch noch unzuverlässig. Ariana dagegen ist wirklich eine Perle alten Stils. Und, glaub es oder nicht, sie versteuert die Gage sogar. Sagt sie jedenfalls.“
Er dachte einen Moment nach. Sein Gewissen war noch nicht hundertprozentig rein.
„Ich hab es anfangs eine Weile solo probiert, hab alles selber gemacht, wie früher auch. Aber damals hab ich in wirklich kleinen Mietwohnungen gelebt. Die Cassetta hier ist zwar nicht riesig, aber doch ein anderes Kaliber, ein ganzes Haus halt. Sie gehört übrigens nicht mir. Wenn Freund Urs, der Besitzer, mal zu Besuch kommt, ist alles pulito. Mich würd das Tage kosten, wenn ich es überhaupt so perfekt schaffen könnte. Ariana bekommt von mir um einiges mehr als von ihren italienischen Kunden drüben in Luino. Sie ist zufrieden, ich bin zufrieden. Nett ist sie übrigens auch noch. Diesen Luxus gönn ich mir einfach.“
Sein Gewissen gab Ruhe. Rita beschloss, das Thema fallenzulassen. Zumal Carlo während des kleinen Disputs eine umfängliche Salatschüssel und einen kleinen Korb getoastete Croissants aufgetragen hatte. Zwar schmückte keine Tischdecke den runden Klapptisch aus Buchenholz, es fehlte der eigentlich obligate Blumenstrauss, und die Servietten waren nur aus Papier. Aber alles war blitzsauber, auch das Geschirr aus toskanischer Terracotta und das Bistrobesteck, die überdimensionierten Rotweingläser ohnehin. Auf Ariana war offenbar wirklich Verlass.
„En guete!“, wünschte Carlo und schob ihr die Schüssel entgegen.
„Gluschtig!“, rief Rita nach den ersten Bissen. „Klar ist mir bereits, dass das ein Thon-Salat ist, aber doch irgendwie ganz anders, als wir ihn hier kennen. Wie hast du denn den so hingekriegt?“
„Na, das Wesentliche hast du ja schon erkannt, Tonno. Allerdings: Der italienische Thunfisch, aus den kleinen Dosen, ist wesentlich aromatischer als das, was man sonst so bekommt. Ein paar gekochte grüne Bohnen waren noch im Kühlschrank, stammen also aus Familienbesitz. Die weissenBohnen sind aus der Dose. Ach ja, ganz wichtig: Baumnussöl und Baumnussessig! Das schmeckt man.“
Carlo füllte die Teller nach. Er verzichtete darauf zu erwähnen, dass auch das Gemüse italienischen Ursprungs war.
„Aber das ist doch noch nicht das ganze Geheimnis“, insistierte Rita. „Das ist alles so aromatisch… Sind das die Kräuter?“
„Ach ja, das hätte ich fast vergessen, weil ich es eigentlich immer verwende: die Kräuter. Überwiegend trockene, aber frisch im Mörser pulverisiert. Lorbeerblätter, Piment, Nelken, weisser Pfeffer, so etwa wie Wildgewürz. Das ist dann schon mehr als die halbe Miete.“
Sie assen schweigend und mit gutem Appetit. Als Rita aufgeben wollte, erinnerte Carlo sie an ihre Verantwortung für das morgige gute Wetter. So schafften sie es denn gemeinsam, die umfängliche Salatschüssel zu leeren.
Schliesslich ging er noch einmal ins Haus und kam kurz darauf mit zwei Weingläsern zurück, die er, ein wenig ungeschickt, oben mit Bitterschokolade dekoriert hatte. Rita stöhnte nach einem ersten Löffelchen genüsslich auf und fragte: „Köstlich! Was ist denn das schon wieder? Anscheinend kannst du wirklich zaubern?“
Eigentlich wäre ihr ein Löffel Zucker nicht unwillkommen gewesen, aber das verschwieg sie höflich.
„Alles nur improvisiert“, beruhigte Carlo. „Ohne Netz und doppelten Boden. Ein Stückchen weiter oben, wo die Strasse aufhört und der Wald anfängt, stehen ein paar Obstbäume, um die sich anscheinend niemand mehr kümmert. Ein Lorbeerbaum übrigens auch, von dem hole ich mir immer mal ein paar Zweige. Um die Birnen ist es wirklich schade, aber so viel Obst kann ich nicht essen, und fürs Einmachen bin ich denn doch zu faul. Da hole ich mir ein paar von den Allerschönsten, pochiere sie und lege sie in Rum ein. Das war hier die pièce de résistance. Die Oberschicht, das war ein Vanilleeis, das ich zu meiner Verblüffung im Frost gefunden habe, offenbar eine Hinterlassenschaft von Gabriella. Die Dekoration ist ein bisschen verunglückt, ich gebe es unumwunden zu. Dekorativ bin ich unbegabt.“
Er holte einen Grappa, den Rita, die noch fahren musste, widerstrebend ablehnte. Sie rauchte eine Zigarette, er dachte über ein Cigarillo nach, verwarf die Idee dann aber. Die Sonne war längst hinter den Bergen verschwunden, es dunkelte langsam. Carlo zündete eine Kerze an. Der See lag spiegelglatt und schweigend, nicht einmal Motorboote waren unterwegs.
Trotz des harmonischen Beieinanders war weder Carlo noch Rita so recht nach Austausch zumute, nach kollegialem Geschwätz schon gar nicht. Als Ritas Tochter Paola, von der Arbeit zurückgekommen, anrief und fragte, ob sie eine Suchmeldung aufgeben solle, waren beide ein wenig erleichtert.
Rita dankte für das Nachtessen, das sie noch einmal lobend hervorhob, und verabschiedete sich vorzeitig. Carlo räumte den Tisch ab und stieg wieder zu seinem Balkon hinauf. Oben fand er alles vor, wie er es verlassen hatte. Die Welt war also die selbe wie noch am Nachmittag. Oder doch nicht? Er hing eine Weile seinen Gedanken nach.
Eine ertrunkene Touristin, so etwas gab es nicht alle Tage. Aber derart sensationell war das nun auch wieder nicht, dass es seine innere Unruhe erklärt hätte. Ob das ein „Fall“ werden würde? Nach einem Badeunfall sah es nicht aus. Er dachte an die Spuren auf der linken Hand. Na, morgen würde man mehr erfahren. Rita war ein Goldstück. Mit niemandem hatte er je so problemlos zusammengearbeitet. Wie kam es, dass sie noch nie da gewesen war, wo man sich doch schon ein Weilchen kannte und unverkennbar gegenseitig schätzte? Es hatte sich anscheinend nie ergeben. War das Zufall? Ach, naja, er hatte halt immer feste Freundinnen gehabt, erst Gianna und dann Gabriella. Das hatte Rita wohl geahnt oder gemerkt, es mochte sie auf Distanz gehalten haben. Ob er Gabriella anrufen sollte? Für heute war es eh zu spät, sie ging früh schlafen. Dann morgen? Vielleicht war es sowieso zu spät… Ob das schlimm wäre? Schlimm für wen? Für Gabriella schon, soviel schien sicher. Oder bildete er sich das nur ein? Schlussendlich war sie jung und hübsch, und dumm war sie auch nicht. Die würde schon jemanden finden, der sie tröstete.
Na, und wie schaut‘s denn bei Ihnen aus, Herr Kommissar? Carlo geriet ins Grübeln.
Für die Rolle einer Polizistenfrau war Gabriella nicht die Idealbesetzung, so viel war schon mal klar; gegenüber den Prioritäten seines Berufs zurückzustecken, das würde ihr schwerfallen. Man kannte das Klischee des mit dem Beruf verheirateten Kriminalers von den literarischen Kollegen Montalbano und Brunetti, da entsprach die Dichtung ziemlich genau der Wahrheit, soweit er die Ehen seiner Kollegen einschätzen konnte. Das Privatleben musste zurückstecken. Andererseits, mit Gabriella verband ihn ja auch einiges, nach immerhin anderthalb Jahren, sie mit ihm hoffentlich auch…
Nicht ablenken, Carlo! Wie’s mit dir aussieht, war die Frage!
Tja. Gabriella zu verlieren, wäre schon bitter, so viel war unbestreitbar. Andererseits… Sie war jünger, um einiges. Ob das auf Dauer gut gehen könnte?
Ein vorsichtiges Streifen an seiner rechten Wade holte Carlo in die Gegenwart zurück. Die kleine schwarze Katze des Hauses hatte offenbar ihre abendliche Kontrollwanderung in der Umgebung beendet, nun war ihr noch nach etwas Menschenkontakt. Sie war ihm im vorvorigen Winter zugelaufen und hatte ihn im Sturm erobert. Carlo klopfte einladend auf sein Knie, und nach ein wenig Zieren sprang das Tier entschlossen auf seinen Schoss. Er kraulte ihm gegen den Strich sanft durch das Rückenfell, was es mit wohligem Schnurren belohnte. Es rollte sich zum Halbmond zusammen und häkelte mit den Vorderkrallen an Carlos Knie.
„Du hast es gut, du kleine Katz“, flüsterte er. „Ab und zu ein bisschen Trockenfutter, ein warmer Schlafplatz, ein paar Streicheleinheiten, mehr braucht’s für dich nicht…“ Die Katze blickte ihm unverwandt ins Gesicht.
Carlo verstand sie auch stumm. „Ja, ja, hast schon recht, alles selber schuld, alles Kopfkino. Ich könnt es ja genauso machen wie du, na, jedenfalls fast…“
Er war unschlüssig, und schon darum fand er keine Ruhe. Besonders ärgerte ihn, dass er nicht einmal hätte sagen können, was mit ihm los war. Ein frischer Fall, danach sah es jedenfalls aus. Der vorige bürokratisch noch nicht einmal ganz abgeschlossen; na gut. Selbst ein bisschen müde und verbraucht, das schon. Aber wäre das der Grund, dann sollte es ihn jetzt zeitig ins Bett ziehen. Stattdessen rutschte er so unstet auf dem Sessel herum, dass die Katze missbilligend davongesprungen war.
Noch ein Glas? Ach, es war genug gewesen heute. Musik? Lesen? Nichts reizte ihn. Vielleicht noch ein bisschen Landschaft geniessen. Das pflegte ihn normalerweise zu beruhigen.
Carlo nahm sicherheitshalber eine Taschenlampe mit, als er an seinem Häuschen vorbei und die steilen Stufen hinaufstieg, die Freund Urs dahinter mit primitivsten Mitteln angelegt hatte. Die kleine Bank oben hinter der Hausrückseite hatte allerdings er selbst mit Gneisplatten befestigt, die er im zweiten Sommer vom Gambarogno heruntergebracht hatte. Viele Fuhren waren das gewesen, denn der alte Volvo ging rasch in die Knie unter der ungewohnten Nutzlast.
Jetzt trugen die steinernen Sitze und Lehnen noch die angenehme Wärme der untergegangenen Sonne. Das war schon eine Weile her, denn die Berge auf der Gegenseite des Sees waren hoch. Es wehte kaum noch ein Lüftchen. Drüben in Ascona wurde am Strand gefeiert. Aus der Ferne war mit jeweils gehörigem Zeitverzug das zaghafte