Today I'll Talk to Him (1) - Bianca Wege - E-Book

Today I'll Talk to Him (1) E-Book

Bianca Wege

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Beschreibung

New Adult Romance mit Augenzwinkern: romantisch, sexy und luftig-locker erzählt von Bianca Wege (@waystowrite_) Layla und Asher sind ein glückliches Liebespaar - zumindest bei Sims, das Layla anonym auf Twitch streamt. In der Realität hat die introvertierte 18-Jährige noch kein einziges Wort mit Mädchenschwarm Asher gewechselt. Doch das soll sich ändern! Gemeinsam mit ihrer Online-Community ruft sie die Challenge "Today I'll Talk to Him" ins Leben. Ihre Follower stellen Layla Aufgaben, durch die sie Asher endlich näherkommen soll. Wäre da nicht der mürrische und ziemlich gutaussehende Henry, Ashers Erzfeind, mit dem sich die Challenges so viel leichter erfüllen lassen …

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Seitenzahl: 444

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Für alle, die manchmalein bisschen Mut brauchen

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage 2023

© 2023 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Text: Bianca Wege

Umschlaggestaltung: Petra Braun

Umschlagtypografie: Juliane Lindemann

Lektorat: Deborah Schirrmann

Layout und Satz: Malte Ritter, Berlin

E-Book ISBN 978-3-401-81064-5

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

Prolog

Sportplätze sind meine persönliche Hölle. Und dass ich selbst auch noch genötigt bin, in dieser Hölle aktiv zu werden, setzt dem Ganzen die teuflische Krone auf. Ich hasse den Clarks-Day. Nur ihm habe ich es zu verdanken, dass ich jetzt in Sportkleidung in praller Hitze im Stadion der William Clark High School stehe und beinahe sterbe.

Es gibt verschiedene Disziplinen, an denen jeder Schüler und jede Schülerin teilnehmen muss: Sprint, Ausdauerlauf und Weitsprung. Mein Herz hämmert seit einer knappen Stunde im Tempo eines Vorschlaghammers. Man sollte meinen, dass einem die verschiedenen Disziplinen nach einer Weile leichterfallen, dass man sich daran gewöhnt, sich vor anderen lächerlich zu machen, indem man wie eine Schnecke hundert Meter sprintet, aber nein. Stattdessen wird es immer schlimmer und meine Brust schnürt sich mit jeder Minute mehr zusammen. Ich komme mir vor wie in einer Zwangsjacke.

»Ich weiß, dass du keine Lust hast, aber es ist nur Sport, das schaffst du schon«, hat meine Mom heute Morgen gesagt. Nur Sport ist gut. Es ist ein gesamter Tag, an dem Leute beobachten können, wie ich schlechte Leistungen abliefere. Wie ich versage. Wieder und wieder. Ein ganzer Tag, an dem ich mit fremden Menschen reden, mich erklären und Small Talk halten muss. In einer Umgebung, die mir nicht gefällt. In der ich mich nicht wohlfühle.

Zum ersten Mal in meinem Leben wünsche ich mir ein Gewitter herbei. Das hätte nämlich dafür gesorgt, dass der Clarks-Day ins Wasser gefallen wäre. Doch leider erhört mich der Wettergott nicht.

Der einzige Grund, weshalb ich überhaupt heute hergekommen bin, ist Asher. Asher, der mit seinem schiefen Grinsen mein Herz höherschlagen lässt – auch wenn dieses Grinsen nicht mir direkt gilt. Weil Asher keine Ahnung hat, dass ich existiere. Er ist in der Abschlussklasse und ein ziemliches Ass in Sport, vor allem im Volleyball. Wegen ihm lohnt es sich, zu Volleyballspielen zu gehen, auch wenn ich absolut keine Ahnung von den Regeln habe. Es macht einfach Spaß zuzusehen, wie Asher ganz in seiner Leidenschaft aufgeht, wie er Bälle übers Netz schmettert und dabei die Muskeln spielen lässt … Ja, er ist verdammt noch mal der einzige Grund, der mich davon abgehalten hat, mich heute krankzumelden, wie es meine Freundin Joe getan hat. Denn ein irrationaler Teil in mir hofft, dass Asher mich vielleicht bemerkt. Dass er das höchstens wegen meiner miesen sportlichen Leistungen tun könnte, habe ich dabei allerdings nicht bedacht.

Er steht gerade mit den anderen Jungs seines Jahrgangs an der Startlinie für den Sprint. Und da ich nicht an der Reihe bin, irgendeinen Mist machen zu müssen, beobachte ich von der Tribüne direkt vor der Ziellinie aus, wie er sich in Position bringt. Der Startschuss fällt und Asher sprintet los, setzt sich bereits nach kurzer Zeit an die Spitze ab. Was auch sonst? Er ist so unglaublich schnell, so unglaublich gut und sieht dabei auch noch so unglaublich heiß aus. Nicht so verkniffen wie die anderen … Er sieht aus, als wäre das hier seine persönliche Komfortzone. Der Wettkampf. Seine Schritte werden länger, weiter. Kaum hat er die Ziellinie als Erster überquert, legt sich ein triumphierender Ausdruck auf sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der ausgeprägten Kieferpartie, was seine Augen zum Strahlen bringt. Er atmet heftig, seine Brust hebt und senkt sich. Er ist nur wenige Meter von mir entfernt. Ich könnte etwas sagen … etwas rufen, ihm zum Sieg gratulieren, ich könnte … Doch genau darin liegt das Problem. Ich könnte, aber ich werde es sowieso nicht tun. Weil ich zu viel Angst habe, meine Gedanken tatsächlich in Worte zu verpacken und ihnen Taten folgen zu lassen. Ich kann es einfach nicht. Irgendetwas hält mich jedes Mal zurück. Ich schaffe es nicht, über meinen Schatten zu springen. Und so bleibt mir nichts anderes übrig, als Asher einfach nur aus der Ferne anzuschauen. So wie immer.

»Komm, Layla, stell dich schon mal aufs Feld, gleich ist die Team-Disziplin dran.« Mrs. Hecat beugt sich mit strenger Miene über das Tribünengeländer vor mir und reißt mich aus meiner Asher-Anschmachterei.

Ich stöhne auf. Das hat mir gerade noch gefehlt! »Ja, ich komme gleich …« Meine Stimme ist viel zu leise, kratzig, als hätte ich sie zu lange nicht benutzt.

»Was?« Mrs. Hecat hebt die Augenbrauen.

»I…ich sagte, ich komme«, wiederhole ich und presse die Lippen erneut fest aufeinander, um zu vertuschen, wie sehr sie zittern. Wieso rede ich nicht einfach lauter? So ist es nur noch unangenehmer. Rasch senke ich den Blick, wische meine schweißnassen Hände an meiner Sporthose ab. Wie ich es hasse! Vielleicht hätte ich Joes Beispiel doch folgen und mich krankmelden sollen … dann könnte ich jetzt im Bett liegen und eine Serie ansehen.

»Die anderen warten schon. Merke dir deine Nummer«, sagt Mrs. Hecat, ehe sie sich umdreht. Es klingt wie eine Drohung. Und genau genommen, ist es das auch. Alle mussten zu Beginn eine Nummer ziehen, nach der wir uns jetzt in Zweierteams zusammenfinden müssen, um einen Parcours zu durchlaufen. Die Team-Disziplin soll angeblich den Schulzusammenhalt stärken. Pustekuchen. Ich werde mit der Person, die das Pech hat, mit mir ein Team bilden zu müssen, nie wieder ein Wort reden. Na ja, gut … wahrscheinlich werde ich sogar während des Parcours nicht mit ihr reden, weil ich nichts herausbekomme.

Mit weichen Knien stelle ich mich an den Rand des Feldes. So, dass ich noch als Teil meiner Klasse erkannt werde, aber nicht auffalle. Auch die anderen verteilen sich auf der Grünfläche inmitten der Rennbahn. Drei Lehrer bauen die letzten Hindernisse auf.

Die Schulleiterin steht in der Mitte, ein Klemmbrett in der Hand, auf dem die Nummern aufgelistet sind. »Nummer eins bitte!«

Zwei Schülerinnen treten zu ihr. Sie hakt beide ab, dann wird ihnen ein Band gereicht, mit dem sie ihre Füße zusammenbinden sollen. Oh Gott, auch das noch! Meine Beine werden weich. Mit zittrigen Fingern nehme ich den Zettel aus meiner Hosentasche, den ich heute Morgen gezogen habe. 4 steht darauf.

»Nummer vier bitte!«, ruft die Schulleiterin da auch schon.

»Ah, das bin ich!« Eine große blonde Gestalt löst sich aus der Menge und mein Herz bleibt stehen. Auch das noch!

Asher geht lässig auf die Schulleiterin zu. Ich kann spüren, wie mir jegliches Blut aus dem Gesicht weicht. Er hat dieselbe Nummer wie ich. ASHER ist mein Teampartner! Das ist meine Chance, mit ihm ins Gespräch zu kommen! All die Jahre habe ich vor mich hin geträumt, wie es wäre, mit ihm zu reden, wie es wäre, ihm näherzukommen. Unzählige Szenarien habe ich in meinem Kopf durchgespielt. Aber nichts hat mich auf die Realität vorbereitet.

Etwas in mir blockiert. Ich will nach vorne gehen, will mich melden, irgendetwas sagen. Aber ich kann nicht. Kein Ton verlässt meine Lippen.

Ich kann mich nicht bewegen, als hätte jemand die Verbindung von meinen Gliedern zu meinem Gehirn gekappt.

Sämtliche Funktionen auf Stand-by geschaltet.

»Wer hat noch die Nummer vier?« Die Schulleiterin sucht die Menge mit dem Blick ab.

Mein Atem stockt, der Zettel klemmt zwischen meinen Fingern und ich sehe zu Boden. Tu etwas! Irgendetwas! Doch ich kann nicht, stattdessen bleibe ich regungslos stehen, unfähig, mich zu rühren.

»Ich habe die Nummer!«

Ich zucke zusammen und sehe auf. Ein schwarzhaariges großes Mädchen geht auf Asher zu.

Speichel sammelt sich unter meiner Zunge an, als müsste ich mich gleich übergeben. Übel genug ist mir dafür jedenfalls. Mein Magen rumort. Theresa geht in meine Parallelklasse und gehört zu den Leichtathletinnen, wodurch sie ohnehin schon ein bisschen mehr mit Asher zu tun hat. Natürlich lässt sie sich die Chance, heute mit ihm ein Team zu bilden, nicht entgehen. Ich kann es ihr nicht verdenken …

Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle, der immer größer wird, bis er schmerzt. Asher hält Theresa die Hand zum Abschlagen hin.

Mein Puls wird langsamer, beruhigt sich, obwohl ich keine Erleichterung empfinde. Es ist Wut. Wut und Enttäuschung. Weil ich das sein sollte. Ich, die Ashers High Five erwidert. Ich, die ihm gerade das Band um den Knöchel bindet. Nicht sie!

Aber ich habe mich nicht vom Fleck bewegt, stehe immer noch stocksteif da. Der Zettel in meiner Hand ist mittlerweile nur noch ein zerknüllter Klumpen. Theresa hätte ich sein können … hätte ich sein müssen. Aber ich habe mich nicht getraut. Ich war verdammt noch mal zu feige. So wie immer.

Zwei Jahre später.

–Motherlode–

(Oder: Wie ich einen Neuanfang wage)

Asher geht vor mir auf die Knie und mein Puls schnellt in die Höhe. Der Mann meiner Träume holt eine kleine Schachtel aus seiner Hosentasche, öffnet sie und lächelt von unten zu mir hoch. Ich könnte nicht glücklicher sein, als mich der Glanz des Diamantrings beinahe das Augenlicht kostet.

»So lange habe ich auf diesen Moment gewartet«, sage ich, wobei meine Stimme einen feierlichen Unterton annimmt. »Ja, tausend Mal ja!« Ich nehme den Ring in die Hand und betrachte ihn glücksselig. Wir werden zusammen in dem Haus wohnen, das wir erst vor wenigen Wochen nach meiner Beförderung zum Internet-Sternchen gekauft haben. Ich muss noch ein bisschen auf das Bett sparen, dass ich mir für das Schlafzimmer wünsche, aber alles in allem ist das Haus fertig eingerichtet. Das ist einfach das perfekte Happy End für Asher und mich.

»Layla, kommst du?!«, ruft meine Mitbewohnerin India aus dem Flur.

Ich zucke zusammen und stoße dabei gegen meine Tasse, aus der prompt Pfirsichtee schwappt und sich neben meiner Tastatur verteilt. Groble! Hektisch greife ich nach der Taschentücherbox, die prophylaktisch auf meinem Tisch steht, und ziehe eines heraus, um die Sauerei zu beseitigen. Ganz offensichtlich habe ich beim Sims-Spielen mal wieder komplett die Zeit vergessen.

»Ähm … zwei Minuten noch!«, rufe ich in Richtung Tür, ehe ich mich wieder meinem Bildschirm und der Webcam zuwende. »Ich muss jetzt los, ihr Lieben. Heute ist der Einführungstag am College und ich bin ziemlich aufgeregt.« Aufgeregt ist, genau genommen, die Untertreibung des Jahrhunderts. Passender wäre es wohl zu sagen, dass ich sterbe vor Angst.

Erste Tage sind nicht unbedingt meine Stärke. Da ist mir meine gewohnte Umgebung, mein WG-Zimmer, mein PC und vor allem Sims lieber. Mit einem Klick stoppe ich das Spiel, gerade als Ashers und mein Sim sich küssen.

»So, dann machen wir hier eine Pause.« Der Anblick auf dem Bildschirm lässt mich seltsam wehmütig werden. Ashers Heiratsantrag ist ein großer Meilenstein und ich habe noch so viel mehr für die beiden geplant: Flitterwochen, eine eifersüchtige Nachbarin, die die beiden entzweien will … aber erst mal habe ich andere Sorgen.

»Drückt mir die Daumen, dass ich den ersten Tag am College gut überstehe.« Ich sehe zur Webcam und ziehe eine Grimasse, die wegen meiner Koalamaske für meine Follower nur bis zu meiner Nase erkennbar ist.

LouTreasure: Du schaffst das!

GrayWooolf: Es wird bestimmt toll! Erzähl uns dann alles!

»Danke, das mache ich.« Wärme breitet sich in meinem Brustkorb aus, als ich die Kommentare meiner Zuschauenden lese. Es lindert die Anspannung ein wenig, die seit Tagen unterschwellig Besitz von mir ergriffen hat. Ich sehe auf die Uhr am unteren Rand des Bildschirms. Okay, ich muss mich definitiv beeilen.

Mit beiden Händen winke ich in die Kamera. »Däg, däg, ihr Lieben«, verabschiede ich mich mit dem simlischen Begriff für Tschüss von meinen Followern. »Bis heute Abend.«

Noch einmal ein Winken, dann beende ich den Stream. Stille breitet sich in meinem Zimmer aus und mit ihr auch die Nervosität. All die Gefühle, die ich durch den Stream in den Hintergrund gedrängt habe, strömen ungehindert auf mich ein. Wie winzige Klingen graben sie sich in meine Haut, hinterlassen dort kleine, brennende Schnitte.

Ich ziehe mir wie in Zeitlupe die Koalamaske vom Kopf, die ich stets bei meinen Streams trage. Sie hat die Größe einer Schlafmaske mit plüschigem Fell, niedlichen Ohren und Löchern für die Augen. Ein unangenehm kühler Luftzug streicht über meine Wangen. Ich weiß, dass ich nicht mit Maske am College aufkreuzen kann. Aber gerade wünschte ich, ich könnte sie anbehalten. Die Sicherheit und das Gefühl der Anonymität aufrechterhalten.

Lass das hier nicht zu einem Kartoffelmoment werden, höre ich in Gedanken die energische Stimme meiner Mutter. Kartoffelmoment. Das ist ihre gemüsige Bezeichnung für mein Verhalten, wenn ich alles um mich herum ausschalte und mich tief in der Erde vergrabe, um in meiner Komfortzone zu bleiben. Aber heute geht das nicht.

»Layla?« Wieder Indias Stimme vom Flur.

Ich nehme einen tiefen Atemzug. Dann einen zweiten. Heute kann ich keine Kartoffel sein und mich einfach vergraben.

»Bin gleich so weit!«, rufe ich und zwinge mich aufzustehen. Noch einmal tief ein- und ausatmen.

Heute ist ein ganz und gar unkartoffeliger Tag, an dem mein neues, mutigeres Leben beginnt. Entschlossen lege ich die Koalamaske neben meine Tastatur. Dicht gefolgt von den pastellrosa Clip-on-Extensions, die ich mir vor jedem Stream in die Haare stecke. Ich wollte schon immer pastellrosa Strähnchen haben, habe mich aber bisher nie getraut, meine Haare wirklich zu färben. Wenigstens sind sie ein Teil meines Online-Ichs.

»Und genau deswegen brauche ich auch diesen Neuanfang«, murmele ich, um mich selbst daran zu erinnern, weshalb ich unbedingt in Harpersville studieren wollte. Ich musste aus meiner Komfortzone. Weg von New York, weg von meinem alten Ich und vor allem weg von Asher, der sich für ein New Yorker College entschieden hat. Allein die Tatsache, dass ich das weiß, obwohl er ein Jahr vor mir die Highschool verlassen hat, zeigt, wie bitter nötig es ist, endlich meine sinnlose Schwärmerei für ihn zu begraben.

Rasch wende ich mich von meinem PC ab und nehme meinen Rucksack. Ich trete in den Flur unserer WG, wo India bereits ungeduldig an der Wohnungstür wartet. Sie wippt auf den Zehenspitzen auf und ab, was mich darin bestätigt, dass wir uns wirklich beeilen müssen.

»Entschuldigung«, sage ich und schnappe mir meine Jacke vom Haken. »Bin so weit.«

»Vergiss die Schuhe nicht«, ist ihr belustigter Kommentar und ich sehe überrascht auf meine Avocado-Socken hinab. Ach ja, Schuhe! Angesichts meines Outfits, das aus einer ausgewaschenen schwarzen Jeans und einem weißen Shirt mit gelbem Blumenaufdruck besteht, entscheide ich mich für schwarze Boots. Oder doch lieber die Sneakers?

»Nimm die Sneakers, heute wird es warm.« India lächelt mich an, wobei sich die schmale Lücke zwischen ihren Schneidezähnen offenbart. »Und mach dir keine Sorgen, du siehst gut aus.«

Es überrascht mich, dass sie mir meine Gedanken so anzusehen scheint, immerhin kennen wir uns erst seit ein paar Tagen, die mir allerdings eher wie Monate vorkommen. Bei meinem Einzug war ich tierisch aufgeregt, doch India hat es mit ihrer offenen Art geschafft, dass ich mich sofort wohlgefühlt habe.

»Danke, du auch«, gebe ich das Kompliment zurück, während ich lächelnd in meine Sneakers schlüpfe. Und es stimmt, India Summer sieht grundsätzlich immer gut aus. Ihre moosgrünen Augen, die Sommersprossen auf der elfenbeinfarbenen Haut und die naturroten, welligen Haare, die ihr bis zur Taille reichen, verleihen ihr etwas Elfenhaftes. Sie sieht – passend zu ihrem Namen – aus wie die Personifizierung des Indian Summers und ich wette, ihre Eltern haben sie mit purer Absicht India genannt. Ein ziemlich cooler Schachzug, wenn ich ehrlich bin.

»Ich hoffe, sie zeigen uns nicht nur die Gebäude, sondern auch die Bars und ein paar Cafés. Wir müssen ja Orte haben, an denen wir lernen können. Oder trinken. Oder beides.« India sperrt die Wohnungstür ab. Ich folge ihr die Treppe nach unten, bedacht darauf, keine der Stufen zu verfehlen. Das ist mir vorgestern passiert und der blaue Fleck an meinem Kinn ist selbst unter meinem Make-up noch zu sehen.

»Ich hoffe, die Leute sind nett.« In meinem Magen rumort es passend zu meinem mulmigen Gefühl, als würde jemand mit einem Schneebesen darin herumfuhrwerken.

India winkt ab. »Bestimmt. Mach dir darüber mal keine Gedanken.«

Ich werfe ihr ein dankbares Lächeln zu.

Wir verlassen den Altbau, in dem sich unsere Fünfzig-Quadratmeter-Dachgeschosswohnung befindet, und laufen die Straße hinab bis zur Bushaltestelle. Es ist ein warmer Spätsommertag, weiße Wattewolken schweben am Himmel und lassen ihn noch blauer wirken. Das Wetter ist so gut, dass ich nicht einmal meine App auf Gewitter gecheckt habe.

»Für dich ist das sicherlich ein Kulturschock im Gegensatz zu New York. Aber für mich ist das hier Highlife.« India dreht sich euphorisch einmal um die eigene Achse und ich lache leise über ihren Übermut.

»Ich glaube, man gewöhnt sich schnell an den Flair.« Wobei sie recht hat. Von New York in diese ländliche Gegend zu kommen, ist wirklich eine Umstellung. Allein die Tatsache, plötzlich auf den Bus angewiesen zu sein, statt immer und überall U-Bahn fahren zu können, ist eine echte Umstellung.

Harpersville liegt in Connecticut und hat an sich nicht sonderlich viel zu bieten außer einer Einkaufsmeile in der Altstadt. Die Kleinstadt ist von sehr viel Natur geprägt: Seen, Berge und Wälder bieten jede Menge Möglichkeiten, die Freizeit zu verbringen – wenn man denn auf Natur steht.

Mich hat viel eher eine der neueren Fakultäten des Colleges hergelockt, die sich auf Spieleentwicklung und Gamedesign spezialisiert und mir so einen Plan B für meine Zukunft liefert. Gamedesign. Zumindest bis ich als Streamerin richtig durchstarte. Das ist Plan A. Solange ich mir diesen Traum noch nicht erfüllt habe, ist es eben Gamedesign. Dafür lasse ich auch die New Yorker Penthousewohnung meiner Eltern gerne hinter mir. Mein Dad hat sogar angeboten, mir hier eine eigene Wohnung zu kaufen oder zumindest eine eigene für mich allein zu mieten. Doch obwohl das eher meinem Naturell entsprochen hätte – immerhin bin ich gern allein –, habe ich abgelehnt. Ich kenne mich und meine innere Kartoffel. Und weil ich mich hier mehr trauen will, kann es nicht schaden, mal das WG-Leben auszuprobieren. Dieser Einwand hat Mom und Dad dann doch schnell überzeugt.

Der Bus hält vor uns, es ist ein eher klappriges Modell, das aussieht, als gehöre es schon in die Oldtimer-Rubrik. Wir steigen ein, zeigen unseren Studierendenausweis vor und ich lasse mich auf einen freien Sitzplatz am Fenster plumpsen. India setzt sich mit einem »Uff« neben mich. Kaum dass der Bus anfährt, kramt sie einen Zettel aus ihrer Tasche hervor, auf dem sie sich Stichpunkte notiert hat.

»Ich muss die nächsten Tage dringend Ordner kaufen. Und ich muss in die Bibliothek, ein Buch für Medienwissenschaften holen.« Sie fährt mit dem Zeigefinger die einzelnen mit blauer Tinte geschriebenen Worte nach. »Ach ja, und wir dürfen nicht vergessen, uns für die Erstsemester-AGs anzumelden. Die Frist endet heute Nachmittag. Jeder Ersti muss sich für irgendeine AG eintragen, um einen Beitrag zur Studiengemeinschaft zu leisten.« Letzteres sagt sie, als würde sie es original aus der Studienordnung zitieren. »Im Forum haben sie geschrieben, dass man Schwierigkeiten bekommen könnte, wenn man sich nicht anmeldet …«

Das Schild eines kleinen Möbelladens gerät in mein Blickfeld. Einige Dinge für mein Zimmer sollte ich auch noch einkaufen – ob ich dort vielleicht etwas finde? Den Laden muss ich dringend mal genauer unter die Lupe nehmen.

»… Punkt Nummer fünf: Ich brauche neue Pflanzen.«

Oh! Ich habe India gar nicht mehr zugehört.

»Okay«, sage ich verwundert.

Neue Pflanzen? Und das, obwohl du einen schwarzen Daumen hast?, denke ich, verkneife mir aber den Kommentar.

»Gestern ist mir leider eine … friedlich eingeschlafen.« Sie schenkt mir einen schuldbewussten Seitenblick, der vermutlich darauf hindeutet, dass die Pflanze keineswegs einen friedlichen Tod gestorben ist, sondern Opfer von Indias Vergesslichkeit wurde und bis zum bitteren Ende kämpfen musste.

Wegen ihres kohlschwarzen Daumens ist Indias Pflanzenverschleiß wohl wirklich enorm. Wenn alles eingeht, was sich in ihrer Nähe befindet, muss eben öfter für Nachschub gesorgt werden. Ich habe das Trauerspiel in Indias Zimmer gesehen.

»Außerdem hat meine Ufopflanze Läuse und ich muss sie irgendwie von den anderen trennen, damit sie sich nicht anstecken.« India faltet den Zettel wieder zusammen und steckt ihn in die Jackentasche.

»Ich könnte dir mit den Pflanzen helfen«, biete ich an.

»Oh, das würdest du tun?« In ihren Augen blitzt etwas auf und ich habe das Gefühl, dass sie gehofft hat, dass das Gespräch diese Wendung nimmt. »Also dann würde ich dir die mit den Läusen geben. Ich habe keine Ahnung, was ich mit ihr machen soll.«

»Das kriegen wir hin.« Ich grinse. »Aber wir müssen etwas gegen deinen Pflanzenverschleiß tun.«

»Okay, und was?«

Ich überlege. »Das nächste Mal, wenn eine stirbt, beerdigst du sie! Vielleicht hilft das, deine Bindung zu den Pflanzen zu stärken.«

»Beerdigen?«

»Ja beerdigen.«

»Mit Zeremonie?«

»Mit allem Drum und Dran!«, sage ich und meine das todernst. »Ich werde dich daran erinnern!«

»Abgemacht.«

Der Bus bleibt an der Collegehaltestelle stehen und wir gesellen uns zu dem Schwarm Studierende, der durch die geöffneten Bustüren ins Freie strömt. Kaum draußen, legt India einen Zahn zu.

»Nicht so schnell, ich habe kurze Beine!«

»Oh.« Sie sieht mich entschuldigend an und grinst. »So kurz sind deine Beine nicht.«

»Im Gegensatz zu deinen Beinen ist alles kurz.«

Wir erreichen den Campus durch ein schmiedeeisernes Tor und ich komme mir vor, als würde ich den Hof eines Schlosses betreten. Ich war zwar mit meinen Eltern kurz nach meinem Einzug vor zwei Wochen hier, aber der Anblick überwältigt mich dennoch erneut.

Die Gemäuer des Colleges sind im gregorianischen Stil gehalten und aus hellem, warmem Sandstein gefertigt. Fenster und Simse sind mit verschlungenen Steinornamenten verziert, kleine Türmchen erweitern den Bau hier und da und auf den Dächern thronen spitze Giebel. Den Kopf in den Nacken gelegt, schaue ich nach oben und entdecke ein paar Raben, die um eine kupferfarbene Turmspitze in der Form eines Sterns flattern. Efeu rankt an den dicken Mauern empor und neben dem großen schmiedeeisernen Eingangstor vor mir stehen Sockel mit steinernen Wasserspeiern. Einer davon scheint mich anzulächeln.

Das gesamte Schloss wirkt auf mich so beeindruckend, dass sich in meiner Brust ein Gefühl von Ehrfurcht breitmacht. Ich sehe schon meine innere Stimmungsanzeige wie bei Sims auf inspiriert springen. Hier werde ich also studieren. Ein moderner Studiengang in dieser alten, herrschaftlichen Residenz. Studierende lungern auf dem Vorplatz herum und ihren verlorenen Blicken nach zu urteilen, sind sie alle Erstis.

»Ich geh dann mal rüber zu den Journalisten.« India nickt in Richtung einer kleinen Gruppe, die etwas abseits steht.

»Woher, weißt du, dass …?« Ich breche mitten im Satz ab, als ich das Fähnchen sehe, das ein Junge in die Luft hält. Die Aufschrift Journalismus prangt darauf, darunter Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Automatisch halte ich Ausschau nach einem ähnlichen Zeichen für die Gamer, kann aber noch keines entdecken.

»Bis später!« India winkt mir zu. »Und wenn du etwas brauchst, schreib mir einfach!« Sie lächelt mir ermutigend zu, ehe sie sich umdreht.

»Ja … bis später.« Meine Stimme wackelt wie ein Schiff auf hoher See. Natürlich wusste ich, dass wir die Führung nicht gemeinsam haben würden, dafür sind es einfach zu viele Erstis, aber eine klitzekleine Hoffnung hatte ich doch, die sich nun in Luft auflöst.

India verschwindet zwischen ein paar Studierenden. Jetzt bin ich also wirklich auf mich allein gestellt. Hilfe. Ich lasse meinen Blick über die Erstis wandern, kann aber niemanden entdecken, der ein Schild in die Höhe hält, auf dem Gamedesign steht. Woher soll ich denn die Leute aus meinem Studiengang erkennen?

Ich zücke mein Handy und überfliege die Mail an die Erstis meiner Fakultät. Im Anhang befindet sich ein Campusplan, auf dem ein roter Kreis um ein Gebäude mit dem Buchstaben D zu sehen ist. Ich habe mir den Plan gestern noch angesehen, aber jetzt vor Ort habe ich keine Ahnung, welches der Gebäude das mit D gekennzeichnete darstellen soll. Wie um Himmels willen soll ich mich hier zurechtfinden?

Ich höre schon die Durchsage in meinem Kopf: Die kleine Layla SinClair würde gerne von ihrer Fakultät abgeholt werden. Da bemerke ich ein Mädchen, an dessen Rucksack ein Pin steckt. League of Legends steht darauf.

Mein Herz macht einen Sprung. Sie muss einfach in meinem Studiengang sein! Eilig hefte ich mich an ihre Fersen. Okay, wie spreche ich sie an? Mit Hallo? Mit einer Frage? Ich will nicht einfach irgendetwas rufen, am Ende versaue ich damit alles. Aber irgendetwas muss ich sagen.

Mein Herz klopft im Takt meiner Schritte. Das Mädchen läuft um eine Ecke des Gebäudes herum. Ganz schön schnell. So schnell, dass sie India Konkurrenz machen könnte. Das Mädchen baut den Abstand weiter aus, als es durch einen aus Sandstein gefertigten Torbogen in einen grün bepflanzten Innenhof biegt.

Ich muss etwas tun, irgendwie auf mich aufmerksam machen, bevor ich sie verliere. Sie ist momentan meine einzige Hoffnung, die Leute aus meinem Studiengang zu finden, und ich kann heute einfach nicht zu spät kommen. Außerdem wollte ich mich mehr trauen! Also gebe ich mir einen Ruck.

»Musst du auch zu den Gamern?«, rufe ich, bevor ich tief Luft hole, um nicht ins Keuchen zu geraten.

Sie schaut sich suchend um. Als sie mich entdeckt, legt sich ein Lächeln auf ihre Lippen, das bis zu ihren rehbrauen Augen reicht. »Oh, ich habe dich erst nicht gesehen, entschuldige.« Sie trägt ein schwarzes Strickkleid und mintfarbene Schuhe, die perfekt auf ihr Kopftuch abgestimmt sind. »Und zu deiner Frage: Ja. Du demnach auch?«

Ich erwidere ihr Lächeln, sehe, wie sie an ihrem Kleid herumzupft. Scheinbar ist sie auch etwas verlegen.

»Weißt du, wo Gebäude D ist?«, frage ich, als wir uns – nun gemeinsam – wieder in Bewegung setzen.

»Ja, ich bin den Plan gestern extra abgelaufen.« Sie grinst. »Mein Orientierungssinn ist nicht der beste und dann irre ich immer herum, als hätte ich im Code ein Semikolon vergessen.«

Ich schmunzele automatisch. Scheinbar bin ich nicht die Einzige, die ungewöhnliche Sprechweisen in den Alltag integriert. Nur dass ich meine von Sims ableite und sie ihre von Informatik.

»Eine sehr gute Idee.« Das hätte ich auch machen sollen. Aber nachdem ich den Plan online gesehen hatte, war ich der festen Überzeugung, mich zurechtfinden zu können, ohne vorher noch einmal herzukommen. »Ich heiße übrigens Layla, und du?« Etwas plump, aber egal. Innerlich klopfe ich mir auf die Schulter für meinen Mut, an dem Gespräch dranzubleiben. Das ist immerhin ein Anfang.

»Basma.«

In Gedanken stelle ich mir vor, dass wie bei Sims zwei dicke grüne Pluszeichen über meinem Kopf erscheinen, die unsere Kennenlernprozente in die Höhe schießen lassen. Vielleicht ist das der Anfang, vielleicht habe ich damit den ersten kleinen Schritt geschafft, mehr aus mir herauszukommen. Ich habe mir geschworen, dass ich mich endlich mehr trauen, mehr selbst in die Hand nehmen werde. An der Highschool habe ich mich zu viel versteckt, zu viele Chancen verstreichen lassen. In Harpersville wird sich das ändern! Hier kann ich mich neu erfinden und ein neues Level starten. Ein neues Spiel, nur dass es hierbei um mein echtes Leben geht.

Am Nachmittag liege ich in meinem Bett. Ich bin ziemlich platt und meine Füße tun weh vom ewigen Herumgelaufe über den Campus. Das College ist wirklich schön, die Räumlichkeiten lassen einen ehrfürchtig umherblicken und sind genau so, wie ich sie mir nach dem ersten Eindruck vorgestellt habe. Die dicken Mauern verströmen eine gemütliche Atmosphäre. Beeindruckend und heimelig zugleich.

Auch die Grünanlage ist beachtlich und erstreckt sich mehrere Meilen um die Collegegebäude herum. Sogar ein Wald gehört zum Campus. Vermutlich damit die Studierenden in ihren Freistunden joggen gehen können. Etwas, das mir mit Sicherheit nicht passieren wird.

Die Leute aus meinem Studiengang wirken freundlich, aber Basma ist mir bisher am sympathischsten. Wir haben uns für den nächsten Tag gleich vor der ersten Stunde verabredet, damit wir zusammen zur Vorlesung gehen können.

Jetzt brauche ich erst mal eine Pause. Die Campusführung hat geholfen, sich besser zurechtzufinden, dafür ist aber auch meine soziale Batterie bis auf die letzte Zelle leer gesaugt.

India ist noch nicht wieder von ihrer Führung zurück. Wahrscheinlich ist sie in einer Bar hängen geblieben. Da sie mir nicht mehr geschrieben hat, schicke ich ihr eine kurze Nachricht, dass ich zu Hause bin.

Beinahe gleichzeitig ploppt eine Textnachricht meiner Mom auf, die wissen will, wie es mir an meinem ersten Tag ergangen ist. Mit einem Schmunzeln sende ich ihr ein paar Bilder, die ich während der Campustour gemacht habe, und schreibe ihr, nicht ohne ein wenig Stolz zu empfinden, dass die Kartoffel heute an der frischen Luft geblieben ist.

Das Kratzen des Schlüssels an unserer Wohnungstür weckt mich.

»India?« Meine Stimme klingt, als wäre ich gerade aus einem jahrhundertelangen Schlaf erwacht. Brüchig und mit einem leiernden Unterton, sodass das a am Ende in eine schräge Note abdriftet. Wie spät ist es? Ich linse mit schweren Lidern auf mein Handy. Halleluja! Habe ich wirklich drei Stunden geschlafen?!

»Ja?«, kommt es aus dem Flur. Die Klinke meiner Tür wird heruntergedrückt. Dann scheint sich meine Mitbewohnerin daran zu erinnern, was wir vereinbart haben, und so ertönt noch während des Türöffnens ein halbherziges Klopfen.

»Herein«, sage ich, während India schon mitten im Zimmer steht.

»Sorry.« Sie grinst ertappt. »Also, wie war’s? Erzähl!«

Ich richte mich im Bett auf und lehne mich mit dem Ellenbogen an mein großes rotes Kissen, das die Form eines Herzens hat. Es ist schon ein wenig abgenutzt, weil meine Mom es mir geschenkt hat, als ich gerade mal fünf war.

»Anstrengend, aber ich habe schon eine Kommilitonin kennengelernt, die wirklich nett ist.« Beinahe automatisch beginne ich, am Kissenbezug herumzuzupfen und kleine Flusen davon zu entfernen. India setzt sich neben mich auf die Matratze und zieht sich meine Bettdecke über den Schoß.

»Sie heißt Basma«, erzähle ich weiter. »Ich glaube, mit ihr könnte ich mich gut verstehen.«

»Okay, Basma. Ist notiert.« Indias Augen glitzern im Licht der durchs Fenster einfallenden Abendsonne.

»Und bei dir?«

»Es sind einige echt coole Leute dabei und auch ein paar komische.« India überlegt einen Moment. »Einer hat die ganze Zeit damit angegeben, dass sein Vater eine große Firma leitet, in die er jederzeit einsteigen könnte. Das war ein bisschen nervtötend.« Sie zieht eine Grimasse. »Für welche AG hast du dich eigentlich eingetragen?«

Ich stutze. »AG? Welche AG?« Ich krame in meinem Gedächtnis, ob ich irgendetwas in die Richtung aufgeschnappt habe, kann mich aber nicht erinnern. India sieht mich mit großen Augen an. »Wir hatten es doch heute Morgen noch davon. Im Bus?«

»Oh nein, das hab ich total vergessen!« Mir wird siedend heiß und ich werde im selben Moment von der Gewissheit getroffen, dass ich die Anmeldefrist durch meinen ungeplanten Akku-auflade-Mittagsschlaf verpasst habe.

»Was mache ich denn jetzt?« In meinem Kopf drehen sich die Gedanken. So ein verdammter Mist! Die AGs waren wichtig, wie konnte ich das einfach versäumen? Am Ende ist mein gesamtes Studium am Arsch, weil ich das vergeigt habe!

»Das ist bestimmt nicht nur dir passiert.« Hat India gerade noch besorgt gewirkt, so ist ihr Gesichtsausdruck jetzt gelassen.

»Schreib einfach dem Studierendensekretariat, das ist sicher kein Problem.« India piekt mir mit ihrem Zeigefinger in den Oberschenkel. »Ich helfe dir.«

Wenn ich mich richtig erinnere, meinte sie heute Morgen zwar, dass es sehr wohl problematisch werden könnte, aber ich weiß ihre Bemühungen, mich zu beruhigen, zu schätzen.

Seufzend greife ich nach meinem Handy und öffne meine Mails. Dann scrolle ich bis zu der Info-Mail nach unten, die die AG-Anmeldung angekündigt hat, und tippe auf Antworten.

»Sehr geehrte alle …«, diktiert India und rückt näher zu mir, damit sie mit auf das Display linsen kann.

Gehorsam tippe ich, was sie gesagt hat. Gemeinsam schreiben wir einen Text, der so herzzerreißend hilflos klingt, dass mich niemand mehr abweisen könnte, selbst wenn es die Regeln besagen. Dieser Meinung ist zumindest India. Ich finde das Ich bin wirklich verzweifelt etwas dick aufgetragen, aber schaden kann es auch nicht. Deswegen bleibt der Satz stehen, als ich auf Senden drücke.

»Gib mir ein Update, wenn sie antworten.«

»Mach ich.« Ich lasse mich wieder auf mein Kissen sinken und blinzele ein paar Mal. Der Schock steckt mir noch in den Gliedern.

»Hast du zufällig Lust, nachher zusammen Gilmore Girls anzusehen?« India steht auf und tritt von einem Fuß auf den anderen, als würde sie überlegen, wie viel an sozialen Interaktionen sie mir heute noch zumuten kann.

»Tatsächlich würde ich gerne, aber ich …« Eigentlich würde ich lieber für mich behalten, dass ich regelmäßig streame, aber unsere Wände sind so dünn, dass India vermutlich jedes Wort verstehen könnte, wenn sie sich anstrengt. Und bevor sie denkt, dass ich ständig Selbstgespräche führe, ist es vielleicht besser, es ihr gleich zu sagen. Außerdem hat sie mich bisher kein einziges Mal verurteilt. Weder für meine anfangs sehr wortkarge Eingewöhnungsphase noch für meine Verpeiltheit. »I…ich habe nachher noch einen Livestream auf Twitch«, sage ich und befeuchte meine Lippen mit der Zungenspitze, die sich plötzlich trocken anfühlen.

»Oh … okay. Was schaust du dir denn an?«

»Nichts … also … ich streame selbst.«

»Was? Wie cool ist das denn?!« Sie scheint ehrlich begeistert. »Meine Mitbewohnerin ist Streamerin! Was streamst du denn so?«

»Sims.« Ein Anflug von Stolz macht sich in mir breit.

»Ist das dieses Spiel, bei dem man sein Leben nachahmen kann?«

»Genau. Man kann Personen erstellen, ihren Alltag simulieren und ihre Bedürfnisse erledigen. Oder auch Häuser bauen … «

»Das klingt spannend. Hast du heute Morgen auch gestreamt?« India hebt interessiert ihre Augenbrauen. Sie hat mich also gehört.

Ich grinse schuldbewusst, immerhin war der Livestream der Grund, weswegen wir fast zu spät gekommen wären. »Ja … das war spontan, um mich abzulenken. Meistens mache ich aber einen regulären Stream am Mittwochabend.« Meine Streams sind bisher zwar selten an geregelten Tagen, aber ich sollte es zumindest versuchen, wenn es möglich ist. Diese Unregelmäßigkeit ist eine Sache, an der ich definitiv arbeiten will.

»Ah ja.« India nickt verständnisvoll. »Wie lange geht dein Live denn?«

»So etwa eine Stunde … wenn du danach noch Lust hast …«

»Hab ich!«

»… dann wäre ich für ein paar Folgen Gilmore Girls dabei.«

»Sehr gut. Ich freu mich.« Sie geht zur Tür und verlässt mit einem fröhlichen »Viel Spaß!« mein Zimmer. Keine Minute danach erreicht mich eine WhatsApp:

India Summer:

Wo kann ich den Stream denn anschauen? (Falls ich ihn anschauen darf?)

Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Ich schicke ihr den Link zu meinem Twitch-Account und öffne dann Indias Kontakt auf meinem Handy. Es wird höchste Zeit, dass sie einen personalisierten Namen bekommt, so wie alle Menschen, die mir etwas bedeuten. Also tippe ich India (Pflanzenmörderin ) in das Namensfeld.

– Error System Neustart –

(Oder: FML)

Sehr geehrte Miss SinClair,

leider sieht es bei den AGs so aus, als seien alle Plätze schon voll. Eventuell ergibt sich aber noch etwas. Kommen Sie doch bitte morgen um 13:00 Uhr in mein Büro.

Herzliche Grüße,

Gabriel Lancaster

Die Mail lässt mich hoffen und bangen zugleich, als ich mich am nächsten Morgen aus dem Bett rolle. Die Sache per E-Mail zu klären, wäre mir tausendmal lieber gewesen, meinetwegen auch noch ein Anruf … aber persönlich? Bei den Aussichten macht sich ein mulmiges Gefühl in mir breit.

Ich habe schlecht geschlafen und in meinen Träumen bin ich von Enten und Spiderman verfolgt worden. Im Gegensatz zu meinem Traum-Ich finde ich den Zusammenschluss dieser Parteien im wachen Zustand jedoch höchst fragwürdig.

Ich schäle mich aus meinem Schlafanzug und ziehe eine Momjeans und ein enges fliederfarbenes Langarmshirt an. Prüfend drehe ich mich vor dem Spiegel hin und her, der an der Tür des Kleiderschranks befestigt ist. Meine braunen Haare binde ich zu einem Messy Bun, aus dem seitlich ein paar Strähnen heraushängen. Da ich in der letzten Woche durch den ganzen Umzugsstress abgenommen habe, sitzt die Hose etwas lockerer als sonst, was sich aber mit einem Gürtel beheben lässt.

Ich frühstücke gemütlich und schaue nebenbei ein Livevideo meiner Lieblingsstreamerin ThisisMika. Sie hat mich dazu inspiriert, selbst Streamerin werden zu wollen. Ich stehe zwar noch am Anfang, aber Geduld und Durchhaltevermögen werden sich hoffentlich irgendwann auszahlen.

Nach den Vorlesungen haben Basma und ich uns in der Cafeteria des Colleges etwas zu trinken geholt. Basma hat sich einen Iced Coffee Latte bestellt und ich habe mich für einen Tee entschieden, den ich genüsslich schlürfe, während wir zum Schlossbau, dem Hauptgebäude, gehen. Für die Getränke haben wir uns extra einen Mehrwegbecher des Colleges gekauft, sodass wir zukünftig keine Papp- oder Plastikbecher benötigen.

»Ich hoffe, sie finden noch einen Platz für dich. Angeblich wird das zweite Semester echt übel, wenn man da noch zusätzliche Aufgaben hat.« Basma nimmt einen Schluck aus ihrem Becher. Als sie meinen erschrockenen Blick bemerkt, rudert sie zurück. »Also nicht, dass es nicht möglich ist. Aber wenn es sich vermeiden lässt …«

»Alles gut, du hast ja recht.« Ich schenke ihr ein schiefes Grinsen. »Dann sehen wir uns morgen?«

»Yes. Pünktlich um acht?«

Ich nicke und winke ihr hinterher, als sie sich mit einem Grinsen umdreht und in Richtung Bushaltestelle geht. Während für sie jetzt Freizeit ansteht, mache ich mich samt warmem Becher auf den Weg ins Studierendenbüro zu Mr. Lancaster. Die altbekannte Nervosität macht sich in meinen Knochen breit. Den Campusplan auf dem Display meines Handys geöffnet, versuche ich, mich zu orientieren. Das Büro befindet sich im zweiten Stock des Schlossbaus, also müsste ich … Ich drehe mein Handy herum, um es auf die gleiche Position zu bringen wie das Gebäude vor mir.

»Rein, Treppe hoch, dann nach rechts …?«, murmele ich vor mich hin, gehe die Eingangstreppe hinauf und durch das Tor. Schnörkel zieren das dunkle Holz und lassen es noch herrschaftlicher wirken.

Drinnen umgibt mich eine plötzliche Ruhe. Kaum Studierende sind im Foyer und den Gängen unterwegs. Wahrscheinlich verbringen sie ihre Mittagspause lieber in der Mensa oder draußen. Die Sohlen meiner Dr. Martens sind bei jedem Schritt auf dem grauen Stein der Treppe deutlich zu hören: Tapp, tapp, tapp …

Ich umfasse den Becher fester, je näher ich dem Studierendenbüro komme. Hoffentlich regelt sich das alles schnell. Ich habe nämlich keine Lust, nächstes Semester Probleme mit dem vielen Lernstoff zu bekommen, weil ich noch eine AG nachholen muss. Am Ende falle ich durch und bin nicht mehr gemeinsam mit Basma in den Kursen …

Die Tür zum Büro steht schon offen, dann erspare ich mir wenigstens das peinliche Anklopfen. Zum Glück. Jetzt nur nicht nervös werden! Ich atme tief durch und biege um die Ecke ins Studierendenbüro. Ein dumpfer Laut entfährt mir, dicht gefolgt von einem Schrei, als ich nicht nur mit Schwung in jemanden hineinlaufe, sondern sich auch noch der Inhalt meines Bechers über mich ergießt. Verdammt, ist das heiß!

»Kannst du nicht aufpassen?!«, blafft mich der hochgewachsene Typ an, der in der geöffneten Tür steht … und auf dessen Shirt sich die andere Hälfte meines Tees befindet. Einige Spritzer zieren seine braune Haut an Hals und Armen.

Ich hebe den Blick, lege den Kopf in den Nacken und treffe auf zwei obsidianfarbene Augen, die mich verärgert anblitzen. Automatisch weiche ich zurück. Mein Gegenüber hat raspelkurze schwarze Haare und seine vollen Lippen könnten freundlich aussehen, wäre da nicht sein mürrischer Gesichtsausdruck. So mürrisch, dass er einer Grumpy Cat Konkurrenz macht.

»E…Entschuldigung, ich … hab dich nicht gesehen …«, stammele ich, bin zu perplex, um mehr zu entgegnen.

»Nicht gesehen?« Er sieht skeptisch auf mich herunter. Kein Wunder, der Typ ist riesig. Dann schnaubt er leise und steigt mit einem übertrieben großen Schritt über die burgunderrote Teepfütze am Boden. »Nicht gesehen …«, murmelt er erneut, dreht sich einfach um und geht. Okaaay …?!

»Auf Wiedersehen, Mister Bakary.« Ein junger Mann, dessen Namensschild ihn als Mr. Lancaster auszeichnet, lugt hinter seinem Tisch hervor. Er muss die Szene gerade beobachtet haben und der verwirrte Ausdruck in seinem blassen Gesicht gleicht vermutlich meinem eigenen.

Ich schüttele ungläubig den Kopf. Das Ganze ist so schnell passiert, dass ich noch nicht einmal richtig aufgebracht bin. Erst als ich mein Handy aufhebe, das mir offenbar runtergefallen ist, und den Sprung im Schutzglas sehe, macht sich ein Anflug von Ärger in mir breit. So ein Arsch! Natürlich ist es nicht angenehm, heißen Tee über das Shirt zu bekommen, aber er stand ja auch irgendwie im Weg!

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt eine freundliche Stimme und reißt mich aus meinen Gedanken. Der Sekretär steht nun vor mir. In der Hand hält er eine Packung Papiertaschentücher.

»Ich bin wegen der AG hier. Layla SinClair.« Vielleicht erinnert er sich an mich.

»Ah ja.« Er reicht mir zwei der Taschentücher und gemeinsam wischen wir die Pfütze auf. Ich habe ein kleines Déjà-vu zum Vortag, nur dass ich da meinen Schreibtisch gewischt habe. Vielleicht sollte ich zukünftig nur noch aus fest verschlossenen Gefäßen trinken.

Als wir fertig sind, stecke ich den nun leeren Becher in meinen Rucksack und beginne nervös, an einem losen Faden meines Pullovers herumzuzupfen.

Mr. Lancaster geht mit schnellen Schritten hinter seinen Schreibtisch, wo er die nassen Tücher in einen Papierkorb wirft. Dann sucht er mit geschäftigen Bewegungen seinen chaotisch wirkenden Arbeitsplatz ab und hält schließlich einen Zettel in die Höhe. »Genau. Zu Ihrer AG! Folgendes.« Vielsagend wedelt er mit dem Zettel herum. »Ich hatte Ihnen ja mitgeteilt, dass die Plätze alle schon belegt sind. Zunächst war noch einer bei der Stadtbibliothek frei, aber die haben sich gemeldet, dass sie doch schon voll besetzt sind. Daher wird das leider nichts.« Er zieht die Nase kraus und die Hornbrille rutscht ein Stück nach oben. »Aber dafür habe ich von unserem Coach ein Angebot bekommen. Er bräuchte ein neues Maskottchen für das Volleyballteam.«

Ein was?

»Ein was?«, spreche ich meine Gedanken laut aus und hoffe, dass ich mich verhört habe.

»Ein Maskottchen. Das sind die Leute, die im Kostüm des Mannschaftstiers die Zuschauenden anfeuern.« Der Sekretär sieht mich dabei so begeistert an, dass ich mich frage, ob er den Inhalt seines Satzes nicht begreift. Erstens: Volleyball. Mit Volleyball stehe ich seit der Highschool auf Kriegsfuß. Denn Volleyball ist Ashers Sport und an meinen Highschool-Schwarm will ich eigentlich nur noch denken, wenn ich meine virtuelle Beziehung auf Sims mit ihm auslebe. Sonst nicht. Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass Harpersville ein Volleyballteam hat. Zweitens: Maskottchen. Ausgerechnet ich!

Der Unglaube muss mir deutlich anzusehen sein, denn Mr. Lancasters Miene wird nun verständnisvoll. »Der Coach wird Ihnen bestimmt genauer erklären, welche Aufgaben Sie hätten.«

»Und wann beginnt das?« Der Faden an meinem Oberteil reißt nun endgültig ab, so sehr habe ich ihn mit meinen Nägeln bearbeitet. Ich zwirbele ihn zwischen den Fingerkuppen weiter.

»Sie können gleich rüber in die Trainingshalle gehen.«

Ich weiß nicht recht, ob ich weinen oder lachen soll. Und so kommt eine Mischung aus meinem Mund, die klingt, als wäre man einer Katze über den Schwanz gefahren.

»Oder haben Sie schon etwas vor?«

»N…noch … nicht«, stottere ich und gebe mir innerlich einen Klaps auf den Hinterkopf, weil ich nicht einfach gelogen habe. Ich hätte sagen sollen, dass ich einen wichtigen Termin habe oder dass ich dann doch lieber bis nächstes Semester warte. Aber genau das ist das Problem, wenn man persönlich und nicht per E-Mail kommuniziert. Per E-Mail: Ein Satz und die Sache hätte sich erledigt. Jetzt kommt lediglich ein »Hm« über meine Lippen, das ein Gibt es nicht noch eine andere Möglichkeit? hätte werden sollen.

»Perfekt. Der Coach ist bestimmt schon dort und wird Sie in Empfang nehmen.«

Ein Biber. Ich bin ein verdammter Biber mit riesigem Kopf, flauschigem Ganzkörperfell und einem langen, platten Schwanz. Damit wurde ich unfreiwillig und unvorhersehbar in die dritte Stufe des Sims-Karrierezweigs Sportlerin befördert. Großartig.

»Harvey ist ein bisschen groß«, dringt die Stimme von Coach Trescott durch den plüschigen Biberkopf zu mir.

Das Ding hat auch noch einen Namen. Harvey.

Ich schätze den Coach auf Anfang oder Mitte dreißig. Er riecht nach Aftershave und ist groß und breitschultrig. Ich kann ihn allerdings nur halb sehen, weil es im Kopf dieses Ungeheuers sehr dunkel ist. Da das Kostüm nicht für Menschen von 1,57 m gemacht zu sein scheint, sehe ich sogar noch weniger, weil die Schlitze für die Augen irgendwo auf Höhe meiner Stirn schweben. Ein bisschen groß ist also sehr beschönigt formuliert. Immerhin sorgen die Schlitze aber dafür, dass etwas Licht in dieses muffige Ding fällt.

»Ich weiß nicht so recht«, wage ich anzumerken und meine Stimme klingt dank Biberkopf dumpf in meinen Ohren. Zwei Tage am College und schon habe ich es geschafft, am Tiefpunkt meines Lebens anzukommen. Meine Freude darüber kann ich gar nicht zum Ausdruck bringen.

»Ach, das geht schon!«

Soll das aufmunternd sein? Ich hebe meine Arme, die von braunem Kunstfell verdeckt sind, und wedele in der Luft herum. Vielleicht sollte ich den Coach erwürgen.

»Nur mit den Füßen könnte es schwierig werden.« Der Coach bewegt sich aus meinem Blickfeld und ich drehe mich eiernd herum, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Das Kostüm und vor allem der Kopf sind so schwer, dass ich bezweifle, dass ich im Falle eines Sturzes von selbst wieder aufstehen könnte. Sehr viel wahrscheinlicher würde ich wie ein Käfer auf dem Boden liegen bleiben und mit Armen und Beinen zappeln. Eine Vorstellung, bei der ich nur hoffen kann, dass sie niemals zur Realität wird. Zwei pelzige Schuhe werden mir direkt vor die Bibernase gehalten. Beziehungsweise vor die Augenschlitze auf Höhe meiner Stirn.

»Die gehören auch noch dazu?«, frage ich und kann einen entsetzten Laut nicht unterdrücken, als der Coach die Schuhe vor mir abstellt. Ich senke den Biberkopf, der prompt nach vorne rutscht und mich durch die Gewichtsverlagerung Richtung Boden zieht. Schnell halte ich ihn fest und schaffe es, die Augenschlitze so auszurichten, dass ich endlich etwas sehen kann.

Missmutig betrachte ich die pelzigen Schuhe. Meine Sneakers haben Größe 38. Aber diese Dinger sind doppelt so groß. Sie sehen aus wie Boote, in denen ich es mir auf dem Campusteich gemütlich machen könnte. Ein Boot für mich und eins für Proviant. Ich halte meinen rechten Fuß neben die Boote, um dem Coach nach dem Show-don’t-tell-Prinzip klarzumachen, dass das nicht funktionieren wird.

»Du kannst auch mit Schuhen rein«, sagt er ganz beiläufig.

Alles klar. Ich strecke ihm hinter der Maske die Zunge heraus und fühle mich dabei wie ein Kleinkind. Dann versuche ich, mit meinem dicken Kopf abzuschätzen, ob ich die Öffnungen der Schuhe treffe.

»Hey, Coach!«, ruft jemand, während ich mir die Pelz-Boote über die Dr. Martens ziehe. Ich fahre herum und halte mit den Händen den Kopf fest, um besser sehen zu können. Oh Gott, die Mannschaft kommt!

»Hey, Jungs.« Coach Trescotts Miene erhellt sich augenblicklich. Immer mehr Schritte sind zu hören und ich schlucke trocken. Wie viele sind das denn? Mir bricht der kalte Schweiß aus und die Panik kriecht in meine Glieder, lähmt mich zunehmend.

»Ein neuer Harvey?« Ein Pfiff ertönt. Dann dringt Stimmengewirr an meine Ohren. Ich fühle mich beobachtet und mein eingeschränktes Sichtfeld macht das Ganze noch schlimmer. Ich sehe nur schwarz-dunkelgrüne Shirts an großen Silhouetten. Ironischerweise fühle ich mich in dem Kostüm entblößt und geschützt zugleich. Zwei Hände legen sich auf meine Schultern und schieben mich entschieden nach vorne. Ein Halbkreis hat sich um den Coach und mich gebildet.

»Jungs, alle mal herhören! Das ist Layla, sie ist unser neues Maskottchen«, stellt der Coach mich vor und ich frage mich, ob ich nicht wenigstens den dummen Biberkopf abnehmen sollte. Vielleicht ist es aber auch besser, wenn er draufbleibt, denn meine Wangen glühen vor Scham. Wo habe ich mich hier nur hineinmanövriert? Begrüßungen und Gejohle werden mir entgegengeschleudert, bis sich eine einzelne Stimme über die anderen hebt.

»Dann haben wir für das nächste Spiel gleich mehr Ansporn.«

Ich stutze, drehe meinen Kopf in Richtung des Sprechers. Diese weiche, melodische Stimme, die nur so vor Selbstbewusstsein strotzt. Die es nicht nötig hat, laut zu sprechen, weil sie sowieso den ganzen Raum einnimmt. Sie ist mir vertraut. So vertraut, dass … Mein Atem setzt aus, als ich plötzlich in zwei vergissmeinnichtblaue Augen starre. Die Welt hört auf, sich zu drehen, und in meinem Kopf setzt ein hoher Piepton ein, als würde ein Feuermelder Alarm schlagen. Vor mir steht Asher Woods.

Ich brauche einige Sekunden, um mich zu sammeln und zu realisieren, was da gerade passiert. Wie in Zeitlupe klappt meine Kinnlade nach unten und ein überraschter Laut verlässt meine Lippen, der im Biberkopf dumpf nachhallt und den Piepton in meinen Ohren mit Bass untermalt.

Asher ist hier. Direkt vor mir. Mein heimlicher Highschool-Schwarm, von dem ich dachte, dass ich ihn nie wiedersehe. Nie. Wieder. Weil er zu meinem alten Leben gehört.

Mein Herz wummert in meiner Brust. Unregelmäßig und polternd, schlägt es gegen meine Rippen, als wolle es ausbrechen und Asher entgegenspringen.

Zu meiner Verwunderung spüre ich, wie sich Wut in meine Panik mischt. Dieser Moment hätte nicht passieren dürfen! Gar nichts hiervon! Weder dass ich in einem Biberkostüm feststecke, noch dass Asher vor mir steht. Wieso ist er hier? Ich habe auf Social Media gesehen, dass er im Volleyballteam der St. John’s University in New York spielt. Was zur Hölle tut er also in Harpersville?

Zum Glück muss ich nichts sagen und kann einfach stillschweigend meinen innerlichen Gefühlsausbruch aussitzen, während die Jungs reihum ihre Namen sagen und alle an mir vorbeiziehen, ohne auch nur irgendeinen Eindruck bei mir zu hinterlassen. Bis auf Asher.

Das »Ich bin Asher, der Kapitän« hallt in Dauerschleife in meinem Kopf wider. Ein Loop, den ich nicht abschalten kann. Es ist zum Biberfell-Raufen!

Der Coach klatscht zweimal laut in die Hände und durchbricht damit die seltsame Stille, die sich über die Halle gesenkt hat. Ich verfolge mit zusammengekniffenen Augen, wie Asher seine Arme kreisen lässt, um sich aufzuwärmen. Mein Herz hämmert immer noch in einem unregelmäßigen Takt, tönt so laut in meinen Ohren, dass ich die Geräusche um mich herum wie durch einen dicken Wattebausch wahrnehme. Immerhin wird der Piepton allmählich leiser.

Asher ruft etwas und die Jungs setzen sich in Bewegung, um ihre Runden in der Turnhalle zu joggen. Mich scheinen sie gänzlich vergessen zu haben. Ashers Muskeln zeichnen sich deutlich unter dem eng anliegenden Shirt mit der Nummer eins ab und seine sonnengebräunten Arme schwingen lässig in der Laufbewegung mit. So als würde es ihn keinerlei Mühe kosten und er nur eben mal spazieren gehen. Und was mich umso wütender macht: Ich finde diesen Anblick immer noch anziehend. Er ist der Typ Mann, den ich mir aus dem Kopf schlagen wollte. Dringend. In der Highschool habe ich schon genügend Zeit damit verschwendet, ihm hinterherzuschmachten. Vor allem, weil er nicht einmal wusste, dass ich existiere.

Damit sollte Schluss sein. Damit muss Schluss sein! Denn genau dieses Gefühl, nicht zu existieren, ist es, was ich hinter mir lassen wollte. Ich wollte mutiger sein, aus mir rauskommen, mich nicht mehr verstecken, sondern mich neu erfinden. Stattdessen holt mich die Vergangenheit ein. Trifft mich mit der Heftigkeit einer Abrissbirne. Wieso muss ausgerechnet der Kerl auftauchen, für den ich schon immer Luft war? Der für mich alles war?

– sims.Add_Buff InspiredHigh –

(Oder: Neue Ideen müssen her)

India stößt einen spitzen Schrei aus, als sie die Wohnungstür öffnet und beinahe über mich stolpert. Anstatt einer Begrüßung hebe ich meine rechte Hand, sodass sie mich wenigstens nicht für tot hält, so wie ich auf dem Flurboden liege. Die Hände über dem Bauch gefaltet, als würde ich jederzeit meine Beerdigung erwarten. Tatsächlich fühle ich mich auch so. Sollte ein Meteorit einschlagen oder eine Horde Zombies auftauchen, kann ich nämlich leider nicht von mir behaupten, dass ich große Anstrengungen zur Flucht unternehmen würde.

»Was genau tust du da?« India mustert mich aus großen Augen, während sie immer noch in der Tür steht und nicht zu wissen scheint, wie sie mit dieser Situation umgehen soll. In den Armen hält sie eine Einkaufstüte fest umklammert, die so prall wirkt, als hätte sie Essen für die nächsten drei Monate eingekauft.

»Hatte einen schlechten Tag.« Ich atme tief ein und aus. Eigentlich will ich noch mehr sagen, aber meine Kehle lässt mich nicht. Sie ist wie zugeschnürt, als wollte sie verhindern, dass auch nur ein weiteres Wort über meine Lippen kommt. Dass die schreckliche Wahrheit, dass Asher und ich am selben College sind, real wird.

»Okay … Machst du das öfter? Auf dem Boden rumliegen, wenn du einen schlechten Tag hast?«

Ich nicke und hebe den Blick.

India schließt die Tür hinter sich, steigt auf Zehenspitzen über meine Beine und wuchtet die Einkaufstüte auf den Schuhschrank. »Ist da noch frei?« Sie deutet auf den Boden und ich rutsche überrascht ein wenig zur Seite. India lässt sich auf die grauen Fliesen sinken. Ihre rote Mähne breitet sich neben meinem Kopf aus und ihre langen Beine stupsen leicht gegen meine, als sie sich wie selbstverständlich neben mich legt und die Hände ebenfalls über ihrem Bauch faltet. »Und jetzt raus damit, was ist passiert? Und wen muss ich verhauen?«

Wärme breitet sich in meiner Brust aus. Ja, ich habe mich sozusagen auf dem Serviertablett präsentiert, sodass sie nicht darum herumgekommen ist zu merken, dass es mir schlecht geht. Aber anstatt es als seltsame Angewohnheit abzutun, hat sie sich zu mir gelegt. Das rechne ich ihr hoch an. Sie ist für mich da.

Ich gebe mir einen Ruck und drehe den Kopf, damit ich sie ansehen kann. »Entweder mich oder die Volleyballmannschaft.« Ich stoße einen tiefen Seufzer aus, der schon viel zu lange darauf gewartet hat, endlich nach außen zu dringen.

»Ich verhaue die Volleyballmannschaft.« India grinst verschmitzt. Eine kleine Falte hat sich auf ihrer blassen Stirn gebildet. »Wie komme ich zu der Ehre?«

»Sehr nett von dir.« Ich ringe mir ebenfalls ein Grinsen ab und bereite mich innerlich darauf vor, gleich mein Elend zu schildern. Ich brauche jemanden zum Reden. Und India ist die Einzige, der ich die Sache mit Asher anvertrauen kann