Todesbräute - Karen Rose - E-Book + Hörbuch

Todesbräute Hörbuch

Karen Rose

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Beschreibung

Er hatte sie mit Sorgfalt ausgewählt. Mit Genuss entführt. Hatte sie zum Schreien gebracht. Schreie, lang und laut. Sie war die Erste gewesen, die er getötet hatte. Sie würde nicht die Einzige bleiben. Bald würden sie alle bezahlen. Bald würden sie wissen, dass er zurückgekehrt war! Werden Special Agent Daniel Vartanian und Alexandra Fallon, die Schwester eines der Opfer, diesen wahnsinnigen Killer aufhalten können? Von der Autorin des Spiegel-Bestsellers »Todesschrei«. Todesbräute von Karen Rose: Spannung pur im eBook!

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Zeit:6 Std. 22 min

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Karen Rose

Todesbräute

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kerstin Winter

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. KapitelDanksagung
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Für Martin, weil die Sonne stets heller scheint,

wenn du bei mir bist.

Die Tatsache, dass wir in einem sehr sonnigen Staat leben,

ist vielleicht nicht ganz unschuldig daran,

aber du weißt, was ich meine.

Ich liebe dich.

 

Für Kay und Marc.

Eure Freundschaft ist von unschätzbarem Wert.

 

Und für meine Lektorin Karen Kosȥtolnyik und

Robin Rue, meine Agentin. Danke.

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Prolog

Mansfield Community Hospital, Dutton, GeorgiaDreizehn Jahre zuvor

Ein Ping. Wieder war ein Fahrstuhl angekommen. Alex starrte zu Boden und wünschte sich, unsichtbar zu sein. Ein starker Parfumduft drang in ihre Nase.

»Violet Drummond, jetzt komm schon. Wir müssen noch zwei Patienten besuchen. Warum bleibst du denn stehen? Oh!« Die Sprecherin zog scharf die Luft ein.

Geht doch weg, dachte Alex.

»Ist das nicht … dieses Mädchen?« Das Flüstern erklang zu Alex’ Linken. »Die kleine Tremaine – die überlebt hat?«

Alex hielt den Blick starr auf ihre Fäuste geheftet, die in ihrem Schoß lagen. Lasst mich in Ruhe.

»Ich glaube auch«, antwortete die erste Frau mit gedämpfter Stimme. »Meine Güte, sie sieht wie ihre Schwester aus. Ich habe das Bild in der Zeitung gesehen. Das gleiche Gesicht.«

»Na ja, es sind Zwillinge. Eineiige. Oder besser, waren. Möge sie in Frieden ruhen.«

Alicia. Alex schnürte es die Kehle zu, und plötzlich konnte sie nicht mehr atmen.

»Es ist eine Schande. Das hübsche kleine Ding splitterfasernackt in den Graben zu werfen. Gott allein weiß, was dieser Mann ihr angetan hat, bevor er sie tötete.«

»Dreckskerl. Solchen Herumtreibern ist nicht zu trauen. Er sollte bei lebendigem Leib verbrannt werden. Angeblich hat er … oh, du weißt schon.«

Schreie. Schreie. In ihrem Kopf schrien eine Million Stimmen. Halt dir die Ohren zu. Schließ sie aus. Aber Alex’ Hände lagen reglos in ihrem Schoß. Tür zu. Mach die Tür zu. Die Tür in ihrem Geist schloss sich, und die Stimmen verstummten abrupt. Stille. Alex holte mühsam Luft. Ihr Herz raste.

»Na ja, und die da im Rollstuhl«, fuhr die Frauenstimme fort, »soll versucht haben, sich umzubringen, als sie ihre Mutter gefunden hat. Angeblich hat sie die Tabletten geschluckt, die Doc Fabares der Mutter für ihre Nerven verschrieben hat. Zum Glück hat ihre Tante sie noch rechtzeitig gefunden. Das Mädchen, nicht die Mutter.«

»Das ist mir schon klar. Man steht selten wieder auf, wenn man sich in den Kopf geschossen hat.«

Alex zuckte zusammen, als sei der Knall des Schusses, der in ihrem Kopf erklang, real. So laut. Ohrenbetäubend. Und das viele Blut. So viel Blut. Mama.

Ich hasse dich, ich hasse dich, ich wünschte, du wärst tot.

Alex kniff die Augen zu. Versuchte, die Schreie auszuschließen, aber diesmal gelang es ihr nicht. Ich hasse dich, ich hasse dich, ich wünschte, du wärst tot.

Mach die Tür zu.

»Und die Tante? Wo kommt sie her?«

»Delia aus der Bank meint, aus Ohio. Sie ist Kathys Schwester. Oder war es jedenfalls. Als die Frau an ihren Schalter kam, ist Delia fast das Herz stehengeblieben. Sieht genauso aus wie Kathy – einfach unheimlich.«

»Wollen wir hoffen, dass diese Schwester ein bisschen mehr Anstand besitzt als Kathy Tremaine. Mit zwei halbwüchsigen Töchtern einfach zu einem Mann zu ziehen … Das ist doch kein Vorbild für zwei junge Mädchen.«

Panik stieg in ihr auf. Mach die Tür zu.

»Drei. Er hat doch auch eine Tochter. Bailey heißt sie.«

»Ja, ein wilder Haufen, die drei. So etwas musste ja irgendwann passieren.«

»Wanda, bitte. Das Mädchen ist doch nicht schuld daran, dass ein Landstreicher es vergewaltigt und ermordet hat.«

Wieder musste Alex um Atem ringen. Geht doch weg. Geht zur Hölle. Beide. Alle. Lasst mich doch in Ruhe beenden, was ich angefangen habe.

Wanda schnaubte. »Hast du mal gesehen, wie sich die Mädchen heutzutage anziehen? Sie betteln ja förmlich darum, dass ein Kerl sie in die Büsche zerrt und mit ihnen wer weiß was anstellt. Ich bin nur froh, dass sie von hier verschwindet.«

»Ach so? Nimmt ihre Tante sie mit nach Ohio?«

»Das hat Delia jedenfalls gesagt. Es ist wirklich besser, dass sie nicht auf die Highschool zurückkehrt. Meine Enkelin geht auf dieselbe Schule, auch in die Zehnte, genau wie Alex Tremaine. Ein solches Mädchen in der Klasse … das ist doch niemandem zuzumuten.«

»Da sagst du was«, stimmte Violet ihr zu. »Oh, sieh nur, wie spät es ist. Wir müssen noch zu Gracie und Estelle Johnson. Hol du den Fahrstuhl, Wanda. Mir fallen sonst die Blumen aus der Hand.« Wieder erklang die Glocke des ankommenden Aufzugs, und die zwei alten Damen waren fort.

Das Beben in Alex’ Körper ließ sich nicht unterdrücken. Kim wollte sie also mit nach Ohio nehmen. Na und? Alex kümmerte es nicht. Sie hatte nicht vor, in Ohio anzukommen. Sie wollte nur beenden, was sie begonnen hatte.

»Alex?« Schritte klackerten auf den Kacheln, und sie roch ein blumiges, frisches Parfum. »Was ist los? Du zitterst ja entsetzlich. Meredith, was ist passiert? Du solltest auf sie aufpassen, nicht auf der Bank sitzen und lesen.«

Kim berührte ihre Stirn, und Alex fuhr zurück, ohne den Blick von den Händen zu nehmen. Fass mich nicht an. Sie hätte es gerne hervorgestoßen, aber die Worte hallten nur in ihrem Kopf wider.

»Ist alles in Ordnung mit ihr, Mom?« Merediths Stimme. Alex erinnerte sich vage an ihre Cousine, an ein damals großes siebenjähriges Mädchen, das mit zwei fünfjährigen Barbie gespielt hatte. Zwei kleine Mädchen. Alicia. Alex war nicht mehr die eine von zwei. Ich bin allein. Wieder stieg Panik in ihr auf. Herrgott noch mal, mach die Tür zu. Alex holte tief Luft. Konzentrierte sich auf die Finsternis in ihrem Geist. Das stille Dunkel.

»Ja, ich glaube schon.« Kim hockte sich vor den Rollstuhl und tippte an Alex’ Kinn, bis sie den Kopf hob. Ihr Blick begegnete Kims und glitt sofort zur Seite. Mit einem Seufzen richtete sich Kim wieder auf, und Alex stieß den Atem aus. »Komm, bringen wir sie zum Wagen. Dad fährt ihn vor den Eingang.« Der Fahrstuhl gab erneut ein Ping von sich, und Alex wurde rückwärts hineingefahren. »Aber was hat sie denn so aufgeregt? Ich war doch nur ein paar Minuten fort.«

»Da waren zwei alte Ladys. Ich glaube, sie haben über Alex und Tante Kathy gesprochen.«

»Was? Meredith, warum hast du sie denn nicht angesprochen?«

»Ich habe nicht alles verstanden und dachte, Alex würde sie auch nicht hören. Sie haben die ganze Zeit geflüstert.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen. Alte Klatschtanten.«

Die Fahrstuhltür glitt auf, und der Rollstuhl wurde in die Eingangshalle geschoben.

»Mom.« Merediths Stimme klang warnend. »Da ist Mr. Crighton. Bailey und Wade sind bei ihm.«

»Mist. Ich hätte gedacht, er wäre schlauer. Meredith, lauf zum Wagen und hol deinen Vater. Er soll den Sheriff anrufen – nur für den Fall, dass Mr. Crighton Ärger macht.«

»Okay. Mom … mach ihn nicht wütend, ja? Bitte.«

»Keine Sorge. Lauf jetzt.«

Der Rollstuhl hielt an, und Alex starrte konzentriert auf die Hände in ihrem Schoß. Ihre eigenen Hände. Hatten sie schon immer so ausgesehen?

»Dad! Sie will sie mitnehmen! Bitte nicht! Sie darf Alex nicht mitnehmen.« Bailey. Sie klang, als weinte sie. Nicht weinen, Bailey. Es ist besser so.

»Sie wird sie nirgendwo hinbringen.« Das schlurfende Geräusch seiner Stiefel war nicht mehr zu hören.

Kim seufzte. »Craig, bitte. Mach keine Szene. Das ist weder gut für Alex noch für deine beiden Kinder. Bring Bailey und Wade nach Hause. Ich nehme Alex mit.«

»Alex ist meine Tochter. Du kannst sie mir nicht einfach wegnehmen.«

»Sie ist nicht deine Tochter, Craig. Du warst mit Kathy nicht verheiratet, und du hast sie nicht adoptiert. Sie ist meine Nichte und gehört zu mir. Es tut mir leid, Bailey«, fügte sie sanfter hinzu. »Es geht nicht anders. Aber du darfst natürlich jederzeit zu Besuch kommen.«

Abgewetzte Arbeiterstiefel blieben vor dem Rollstuhl stehen. Alex zog die Füße ein. Fixierte ihre Hände. Atme.

»Nein. Das Mädchen hat fünf Jahre in meinem Haus gelebt, Kim. Sie hat mich Daddy genannt.«

Nein, das hatte Alex nie getan. Sie hatte »Sir« gesagt.

Bailey weinte nun laut und schluchzend. »Bitte, Kim, nimm sie mir nicht weg.«

»Du kannst nicht einfach mit ihr verschwinden. Sie will dich ja nicht einmal ansehen.« In Craigs Stimme lag ein Hauch Hysterie, aber er sagte die Wahrheit. Alex konnte Kim nicht ansehen, nicht einmal jetzt, da sie ihr Haar verändert hatte. Es war ein gutgemeinter Versuch gewesen, und Alex wusste, sie hätte ihrer Tante dankbar sein müssen. Aber Kim konnte ihre Augen nicht verändern, und das wusste Craig auch. »Du hast dir das Haar geschnitten und gefärbt, aber du siehst noch immer aus wie Kathy. Jedes Mal, wenn sie dich ansieht, sieht sie ihre Mama. Willst du ihr das antun?«

»Und wenn sie bei dir bliebe, würde sie ihre Mutter jedes Mal, wenn sie das Wohnzimmer betritt, tot auf dem Boden liegen sehen«, fuhr Kim ihn an. »Wie konntest du sie nur allein lassen?«

»Ich musste zur Arbeit«, knurrte Craig. »Damit sorgt man im Allgemeinen dafür, dass das Essen auf den Tisch kommt.«

Ich hasse dich. Ich wünschte, du wärst tot. Die Stimmen kreischten in ihrem Kopf, laut, ausdauernd, zornig. Alex ließ den Kopf sinken, und Kims Hand strich leicht über ihren Nacken. Fass mich nicht an. Sie wollte wegrücken, aber Craig stand zu dicht bei ihr. So blieb sie reglos sitzen.

»Herrgott noch mal. Deine verdammte Arbeit«, stieß Kim hervor. »Du hast Kathy am schlimmsten Tag ihres Lebens allein gelassen. Wenn du zu Hause gewesen wärst, könnte sie noch leben, und Alex wäre jetzt nicht hier.«

Die Stiefel kamen näher. Alex versuchte verzweifelt, sich noch weiter in den Stuhl zurückzuziehen.

»Willst du damit sagen, dass ich daran schuld bin? Dass ich für Kathys Tod verantwortlich bin? Und Alex dazu gebracht habe, die Pillen zu schlucken? Ist es das, was du sagen willst?«

Das Schweigen zwischen ihnen war angespannt, und Alex hielt den Atem an. Kim sagte nicht nein, und Craigs Fäuste waren genauso fest geballt wie Alex’.

Die Eingangstüren glitten auseinander und wieder zusammen, Schritte waren in der Halle zu hören.

»Kim? Gibt es ein Problem?« Steve, Kims Mann. Alex stieß den Atem wieder aus. Steve war ein großer Mann mit einem netten Gesicht. Ihn konnte sie ansehen. Aber nicht jetzt.

»Ich weiß es nicht.« Kims Stimme zitterte. »Craig, gibt es ein Problem?«

Wieder ein paar Augenblicke Schweigen, dann entspannten sich Craigs Fäuste langsam. »Nein. Können die Kinder und ich wenigstens ›auf Wiedersehen‹ sagen?«

»Ja, ich denke, das ist okay.« Der Duft von Kims Parfum wurde schwächer, als sie davonging.

Craig kam näher. Mach die Tür zu. Alex kniff die Augen zusammen und wagte nicht zu atmen, als er sich herabbeugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Sie konzentrierte sich, zwang sich, ihn aus ihrem Verstand auszuschließen, und endlich, endlich trat er zurück.

Ihr Oberkörper war gekrümmt, als Bailey sie umarmte. »Du wirst mir so fehlen, Alex. Wessen Klamotten soll ich denn jetzt klauen?« Bailey versuchte zu lachen, aber es klang wie ein Schluchzen. »Bitte schreib mir.«

Wade kam zuletzt. Mach die Tür zu. Wieder versteifte sie sich, als er sie zum Abschied umarmte. Die Stimmen kreischten. Es tat weh. Bitte. Es soll aufhören. Sie stellte sich ihre Hände an der Tür vor, stemmte sich dagegen, drückte sie zu. Und dann war auch Wade fort, und sie konnte wieder atmen.

»Wir fahren jetzt«, sagte Kim. »Lasst uns bitte gehen.«

Alex hielt die Augen geschlossen, bis sie einen weißen Wagen erreicht hatten. Steve hob sie aus dem Stuhl und setzte sie ins Auto.

Klick. Er schnallte sie an und umschloss ihr Gesicht mit seinen Händen.

»Wir passen auf dich auf, Alex, das verspreche ich dir«, sagte er sanft.

Die Autotür fiel zu, und erst jetzt erlaubte sich Alex, die Fäuste zu öffnen. Nur ein wenig. Nur um zu sehen, ob die Tüte noch in ihrer Hand war. Die Tüte mit den kleinen weißen Pillen. Wo? Und wann? Aber das spielte keine Rolle. Sie musste nur beenden, was sie begonnen hatte. Sie leckte sich über die Lippen und hob den Kopf ein wenig.

»Bitte.« Der Klang ihrer Stimme erschreckte sie. Es war, als sei sie durch mangelnden Gebrauch eingerostet.

Sowohl Steve als auch Kim fuhren in ihren Vordersitzen zu ihr herum.

»Mom! Alex hat gesprochen!« Meredith grinste breit.

Alex nicht.

»Was ist denn, Liebes?«, fragte Kim. »Was möchtest du?«

Alex senkte den Blick. »Wasser. Bitte.«

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1. Kapitel

Arcadia, Georgia, GegenwartFreitag, 26. Januar, 1.25 Uhr

Er hatte sie mit Sorgfalt ausgewählt. Mit Genuss entführt. Hatte sie zum Schreien gebracht. Schreie, lang und laut.

Mack O’Brien schauderte. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Noch immer löste allein der Gedanke daran eine heftige körperliche Reaktion in ihm aus. Seine Nasenflügel blähten sich, als er sich daran erinnerte, wie sie ausgesehen, sich angehört, wie sie geschmeckt hatte. Der Geschmack nackter Angst war unvergleichlich. Das wusste er nur allzu gut. Sie war die Erste gewesen, die er getötet hatte. Sie würde nicht die Einzige bleiben.

Auch ihre letzte Ruhestätte hatte er mit großer Sorgfalt ausgewählt. Er ließ ihre Leiche von seinem Rücken rutschen, sie fiel mit einem gedämpften Laut auf die durchweichte Erde. Dann ging er neben ihr in die Hocke und zog die grobe braune Decke, in die sie eingewickelt war, zurecht. Seine Erregung wuchs. Sonntag fand das Crossrennen statt. Hundert Fahrradfahrer würden hier vorbeirasen. Er hatte sie so plaziert, dass sie von der Straße aus zu sehen war.

Bald würde sie gefunden werden. Bald würden sie von ihrem Tod erfahren.

Und sie werden sich alle den Kopf zerbrechen. Sich gegenseitig verdächtigen. Sich fürchten.

Er richtete sich auf und betrachtete zufrieden sein Werk. Sie sollten sich fürchten. Sie sollten zittern und beben wie kleine Mädchen. Sie sollten diesen einzigartigen Geschmack der Angst kennen- und hassen lernen.

Ja, er kannte ihn, diesen Geschmack. Genau wie er sich mit dem Geschmack von Hunger und Wut auskannte. Und dass dem so war, hatten nur sie zu verantworten.

Er sah auf die Tote hinab und stieß sie mit dem Fuß an. Sie hatte bezahlt. Bald würden sie alle bezahlen. Bald würden sie wissen, dass er zurückgekehrt war.

Hallo, Dutton. Mack ist wieder da.

Und er würde nicht eher ruhen, bis er sie alle fertiggemacht hatte.

Cincinnati, Ohio, Freitag, 26. Januar, 14.55 Uhr

»Au. Das tut weh.«

Alex Fallon sah auf das blasse Mädchen herab, das mürrisch ihrem Blick auswich. »Tja, so ist das nun mal.« Schnell fixierte Alex die Nadel an ihrem Arm. »Vielleicht denkst du daran, bevor du das nächste Mal blaumachst, dich mit Karamelleis vollstopfst und anschließend in die Notfallambulanz eingeliefert werden musst. Vonnie, du hast Diabetes, und so zu tun, als wär’s nicht so, ändert nichts daran. Du musst dich unbedingt …«

»An die Diät halten«, murrte Vonnie. »Jaja, ich weiß. Warum lasst ihr mich nicht alle einfach in Frieden?«

Die Worte trafen und hallten wie immer in Alex’ Kopf wider. Und wie immer weckten sie in ihr Mitgefühl für ihre Patienten und Dankbarkeit ihrer Familie gegenüber. Wären Kim, Steve und Meredith nicht gewesen … »Eines Tages isst du das Falsche und landest unten im Keller.«

Vonnies Trotz bäumte sich ein letztes Mal auf. »Na und? Was soll da unten schon sein?«

»Das Leichenschauhaus.« Alex hielt dem verblüfften Blick des Mädchens stand. »Es sei denn, dass du genau da hinwillst.«

Plötzlich klang Vonnies Stimme erstickt. »Manchmal ja.«

»Ich weiß, Liebes.« Und sie verstand besser, als sich jeder, der nicht zu ihrer Familie gehörte, vorstellen konnte. »Aber du wirst dich entscheiden müssen. Für oder gegen das Leben.«

»Alex?« Letta, die Oberschwester, steckte den Kopf in den Untersuchungsraum. »Da ist ein wichtiger Anruf für dich. Ich kann hier übernehmen.«

Alex drückte Vonnies Schulter. »Schon gut, ich bin eigentlich fertig.« Sie zwinkerte Vonnie zu. »Ich will dich hier nicht wiedersehen.« Alex reichte das Krankenblatt an Letta weiter. »Wer ist dran?«

»Nancy Barker vom Sozialamt Fulton County in Georgia.«

Alex war alarmiert. »Da lebt meine Stiefschwester.«

Letta zog die Brauen hoch. »Ich wusste gar nicht, dass du eine Stiefschwester hast.«

Hatte Alex eigentlich auch nicht, aber die Geschichte war zu lang und zu verworren. »Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.« Genauer gesagt, zum letzten Mal vor fünf Jahren, als Bailey hier in Cincinnati auf Alex’ Türschwelle aufgetaucht war. Vollgepumpt mit Drogen. Alex hatte versucht, sie zu einer Entziehungskur zu überreden, aber Bailey war wieder verschwunden und hatte Alex’ Kreditkarten mitgenommen.

Lettas Brauen zogen sich besorgt zusammen. »Dann hoffe ich nur, dass alles in Ordnung ist.«

Alex hatte diesen Anruf seit Jahren sowohl erwartet als auch gefürchtet. »Ja. Ich auch.«

Es war wirklich bittere Ironie, dachte Alex, während sie zum Telefon eilte. Sie hatte vor vielen Jahren versucht, Selbstmord zu begehen, und Bailey war süchtig geworden. Alex hatte Kim, Steve und Meredith gehabt, die ihr beigestanden hatten, aber Bailey … Bailey hatte niemanden gehabt.

Sie nahm das Gespräch auf Leitung zwei an. »Alex Fallon.«

»Nancy Barker, guten Tag. Ich arbeite für das Sozialamt Fulton County.«

Alex seufzte. »Sagen Sie es mir bitte gleich – ist sie noch am Leben?«

Eine lange Pause entstand. Dann: »Wer, Miss Fallon?«

Alex wand sich innerlich bei der Anrede »Miss«. Sie war es noch immer nicht gewohnt, nicht mehr »Mrs. Preville« zu sein. Ihre Cousine Meredith meinte, es sei nur eine Frage der Zeit, aber die Scheidung war nun schon ein Jahr her, und Alex hatte noch immer nicht mit ihrer Ehe abgeschlossen. Nun, vielleicht lag es daran, dass sie und ihr Ex sich jede Woche mehrmals begegneten. Jetzt gerade zum Beispiel. Alex sah zu, wie Dr. Richard Preville nach den für ihn eingegangenen Nachrichten griff, die neben dem Telefon lagen. Sorgsam darauf bedacht, nicht ihrem Blick zu begegnen, brachte er ein linkisches Nicken zustande. Nein, in den gleichen Schichten wie der Ex zu arbeiten, war wirklich nicht hilfreich, wenn man eine Beziehung ad acta legen wollte.

»Miss Fallon?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung.

Alex zwang ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Telefonat. »Entschuldigung. Bailey Crighton. Ihretwegen rufen Sie doch an, nicht wahr?«

»Ähm, nein, es geht um Hope.«

»Hope«, wiederholte Alex verständnislos. »Ich kenne keine Hope. Hope wer?«

»Hope Crighton, Baileys Tochter. Ihre Nichte.«

Alex ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Ich … ich wusste nicht, dass Bailey eine Tochter hat.« Das arme Kind.

»Oh. Nun, dann wussten Sie vermutlich auch nicht, dass Ihr Name auf allen Formularen ihres Kindergartens als Kontaktadresse in Notfällen eingetragen ist.«

»Nein.« Alex atmete schwer. »Ist Bailey tot, Miss Barker?«

»Ich hoffe nicht, aber wir wissen leider nicht, wo sie sich aufhält. Sie ist heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen, daher ist eine Kollegin zu ihr nach Hause gegangen, um nach ihr zu sehen. Sie hat Hope zusammengekauert in einem Schrank gefunden.«

Übelkeit erregende Angst kroch in Alex’ Eingeweiden hoch, aber sie verlieh ihrer Stimme einen neutralen Klang. »Und Bailey war fort.«

»Man hat sie gestern Abend zum letzten Mal gesehen, als sie Hope vom Kindergarten abgeholt hat.«

Kindergarten. Das Mädchen war alt genug, um in den Kindergarten zu gehen, und Alex hatte nicht einmal von seiner Existenz gewusst. O Bailey, was hast du getan? »Und Hope? War sie verletzt?«

»Körperlich ist sie unversehrt, aber sie hat Angst. Schreckliche Angst. Und sie redet mit niemandem.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Im Augenblick ist sie bei einer Pflegefamilie.« Nancy Barker seufzte. »Nun, wenn Sie sie nicht aufnehmen können, setze ich sie auf die Liste für eine permanente Unterbringung …«

»Sie kommt zu mir.« Die Worte waren heraus, noch bevor Alex wusste, dass sie sie sagen wollte. Aber es war das Richtige, sie spürte es.

»Sie wussten bis vor fünf Minuten nicht einmal, dass es sie gibt«, wandte Barker halbherzig ein.

»Das macht nichts. Ich bin ihre Tante. Ich nehme sie auf.« Wie Kim mich damals aufgenommen hat. Ohne sie wäre ich nicht mehr am Leben. »Ich komme, sobald ich mich von meiner Arbeit freimachen kann und einen Flug gebucht habe.«

Alex legte auf, drehte sich um und stieß gegen Letta, deren Augenbrauen beinahe unter ihren Haaren verschwanden. Sie hatte offenbar gelauscht. »Also? Kann ich mir freinehmen?«

Letta musterte sie besorgt. »Hast du nicht noch Urlaubsanspruch?«

»Sechs Wochen. Ich habe seit drei Jahren keinen Tag freigemacht.« Es hatte keinen Grund dazu gegeben. Richard hatte nie genug Zeit gehabt, um eine Reise oder auch nur einen Kurztrip zu unternehmen. Für ihn hatte es nur die Arbeit gegeben.

»Na, dann los«, sagte Letta. »Ich finde schon jemanden, der deine Schichten übernimmt. Aber, Alex … du weißt doch nichts über dieses Kind. Vielleicht ist es behindert oder braucht besondere Betreuung.«

»Es wird schon gehen«, erwiderte Alex. »Sie hat niemanden, und sie gehört zu meiner Familie. Ich kann sie nicht einfach im Stich lassen.«

»Wie ihre Mutter es getan hat.« Letta neigte den Kopf zur Seite. »Wie deine Mutter es getan hat.«

Alex versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihre Vergangenheit war für jeden, der googeln konnte, leicht einsehbar. Aber Letta meinte es nur gut, daher zwang sich Alex zu einem Lächeln. »Ich rufe dich an, sobald ich da bin und mehr weiß. Danke, Letta.«

Arcadia, Georgia, Sonntag, 28. Januar, 16.05 Uhr

»Herzlich willkommen, Danny«, murmelte Special Agent Daniel Vartanian vor sich hin, als er ausstieg und sich umsah. Er war nur zwei Wochen fort gewesen, aber es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Nun, es waren zwei ereignisreiche Wochen gewesen. Aber jetzt war es Zeit, wieder zu seinem Leben, zu seiner Arbeit zurückzukehren. Was ein und dasselbe war. Arbeit war sein Leben, und der Tod war seine Arbeit.

Unwillkürlich dachte er wieder an die vergangenen zwei Wochen, an all die Toten, die zerstörten Leben. Das, was er gesehen und erlebt hatte, reichte aus, um jemanden in den Wahnsinn zu treiben.

Daniel hatte allerdings nicht die Absicht, es dazu kommen zu lassen. Er würde sein gewohntes Dasein wieder aufnehmen und einem Opfer nach dem anderen Gerechtigkeit verschaffen. Er würde sie rächen. Es war seine einzige Chance auf … Wiedergutmachung.

Heute war das Opfer eine Frau. Sie war in einem Graben neben der Straße gefunden worden, die nun von Polizeifahrzeugen jeder Form und Funktion gesäumt wurde.

Die Spurensicherung war bereits hier, ebenso der Gerichtsmediziner. Daniel blieb am Straßenrand vor dem gelben Absperrband stehen und spähte in den Graben. Ein Techniker der medizinischen Abteilung hockte neben der Leiche, die in eine braune Decke eingewickelt worden war. Man hatte die Decke gerade weit genug von ihrem Körper gezogen, um eine erste Untersuchung zu ermöglichen. Daniel sah schwarzes Haar und schätzte die Größe des Opfers auf ungefähr eins siebzig. Die Frau war nackt und ihr Gesicht … verwüstet. Er stieg mit einem Bein über das Band, als eine Stimme ihn aufhielt.

»Stopp, Sir. Das Gebiet ist abgesperrt.«

Daniel blickte über die Schulter und sah einen jungen Officer mit ernstem Gesicht, der seine Hand auf die Waffe an seiner Hüfte gelegt hatte. »Ich bin Special Agent Daniel Vartanian, vom Georgia Bureau of Investigation.«

Die Augen des Mannes weiteten sich. »Vartanian? Sie meinen … ich meine …« Er holte tief Luft und straffte die Schultern. »Verzeihen Sie, Sir. Ich war nur überrascht.«

Daniel nickte und schenkte dem Mann ein Lächeln. »Verstehe.« Es gefiel ihm nicht, aber er verstand tatsächlich. Der Name Vartanian war in der Woche nach dem Tod seines Bruders zu einiger Berühmtheit gelangt. Nur leider nicht die Art von Berühmtheit, die man sich wünschte. Simon Vartanian hatte siebzehn Menschen getötet, darunter die eigenen Eltern. Die Story war landesweit in jeder Zeitung veröffentlicht worden. Und es würde noch sehr, sehr lange dauern, bis er seinen Namen nennen konnte, ohne entsetzt angestarrt zu werden. »Wo finde ich Ihren Vorgesetzten?«

Der Officer deutete die Straße entlang. »Das ist Sheriff Corchran.«

»Danke, Officer.« Daniel stieg wieder über das Band und ging in die angezeigte Richtung davon. Er spürte, dass der junge Polizist ihm nachsah. In zwei Minuten würde jeder hier am Fundort wissen, dass ein Vartanian auf den Plan getreten war. Daniel konnte nur hoffen, dass sich das Gerede auf ein Minimum reduzieren ließ. Hier ging es um die Frau im Graben. Sie hatte eine Familie, die sie vermissen würde. Und diese Familie verlangte und brauchte Gerechtigkeit, um einen Abschluss zu finden.

Früher hatte Daniel gedacht, Gerechtigkeit und dieser Abschluss seien dasselbe, hatte geglaubt, das Wissen, dass ein Täter festgenommen und bestraft worden war, reiche aus, damit die Opfer und Familienmitglieder ein quälendes Kapitel in ihrem Leben beenden und mit ihrem Alltag fortfahren konnten.

Doch inzwischen, Hunderte von Fällen, Opfern und trauernden Familien später, wusste er, dass jedes Verbrechen wie ein Stein war, den man ins Wasser warf und der ringförmige, sich fortsetzende Wellen erzeugte: Jedes Verbrechen berührte die Existenz von verschiedenen Menschen auf eine Art, die sich nicht in Statistiken erfassen ließ. Nur zu wissen, dass ein Verbrechen bestraft worden war, reichte nicht immer aus, um den eigenen Weg fortzusetzen. Das hatte Daniel am eigenen Leib erfahren.

»Daniel.« Die überraschte Stimme gehörte zu Ed Randall, dem Leiter der Forensik. »Ich wusste nicht, dass du schon wieder da bist.«

»Ich bin auch erst heute angekommen.« Eigentlich hatte er erst morgen wieder beginnen sollen, doch da er zwei Wochen fort gewesen war, stand er ganz oben auf der Liste für neue Fälle. Als der Fund der Leiche gemeldet worden war, hatte sein Chef zuerst ihn angerufen. Daniel streckte die Hand aus. »Sheriff Corchran, ich bin Special Agent Vartanian, GBI. Wir unterstützen Sie, wo immer es nötig ist.«

Der Sheriff riss die Augen auf, als er Daniel die Hand schüttelte. »Irgendwelche verwandtschaftlichen Beziehungen zu …«

Leider Gottes. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ich fürchte, ja.«

Corchran betrachtete ihn misstrauisch. »Und Sie sind bestimmt schon so weit, wieder den Dienst anzutreten?«

Nein. Daniel behielt das Lächeln bei. »Ja. Aber wenn es für Sie ein Problem darstellt, fordere ich jemand anderen an.«

Corchran schien es in Erwägung zu ziehen, und Daniel wartete, bemüht, den aufsteigenden Zorn niederzukämpfen. Es war nicht fair, und es war nicht richtig, aber es gehörte wohl nun zu seiner Realität, an den Taten seiner Familie gemessen zu werden. Schließlich schüttelte Corchran den Kopf. »Nein, nicht nötig. Sie werden wissen, was Sie tun.«

Daniel beruhigte sich, und er schaffte es sogar, wieder ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. »Gut. Also … können Sie mir sagen, was passiert ist? Wer hat die Leiche entdeckt? Und wann?«

»Heute ist unser jährliches Radrennen. Die Strecke führt hier entlang. Einer der Fahrer hat die Decke bemerkt. Er wollte das Rennen nicht aufgeben, also hat er den Notruf gewählt und ist weitergefahren. Ich habe veranlasst, dass er am Ziel auf uns wartet, falls Sie mit ihm reden wollen.«

»Ja, will ich. Hat sonst noch jemand angehalten?«

»Nein, wir hatten Glück«, meldete sich Ed Randall zu Wort. »Der Fundort war fast unberührt, als wir kamen, und es gab keine Schaulustigen. Die Leute standen alle an der Ziellinie.«

»Tja, das passiert nicht allzu oft. Wer war aus Ihrem Büro als Erster hier, Sheriff?«

»Larkin. Er hat nur einen Zipfel der Decke angehoben und ihr Gesicht gesehen.« In Corchrans steinerner Miene zuckte ein Muskel. »Ich habe sofort bei euch Jungs angerufen. Wir haben nicht die Mittel, um einen solchen Fall zu untersuchen.«

Daniel nahm die letzte Aussage mit einem Nicken zur Kenntnis. Er schätzte Leute wie Sheriff Corchran, die nicht zögerten, das staatliche Ermittlungsbüro einzuschalten. Leider war das keine Selbstverständlichkeit. Viele lokale Behörden pochten auf ihre Revieransprüche und setzten die Einmischung des GBI mit einer … einer Heuschreckenplage gleich. Das hatte vor zwei Wochen jedenfalls der Sheriff aus Daniels Heimatstadt getan. »Wir stellen Ihnen zur Verfügung, was immer Sie brauchen, Sheriff.«

»Im Augenblick können Sie den Fall gerne komplett übernehmen«, erwiderte Corchran. »Mein Büro wird Sie nach Kräften unterstützen.« Seine Kieferknochen traten hervor. »Wir hatten hier in Arcadia seit zehn Jahren keinen Mordfall mehr. Nicht in meiner Amtszeit. Und wir wollen, dass derjenige, der das da getan hat, für lange, lange Zeit weggesperrt wird.«

»Das wollen wir auch.« Daniel wandte sich an Ed. »Kannst du mir schon etwas sagen?«

»Getötet wurde sie woanders. Der Täter hat sie hier nur, in eine braune Decke eingewickelt, abgelegt.«

»Wie in ein Leichentuch«, murmelte Daniel, und Ed nickte.

»Genau. Die Decke sieht neu aus, irgendein Wollgemisch. Ihr Gesicht ist ziemlich übel zugerichtet, um den Mund Blutergüsse. Die Autopsie wird dir mehr dazu sagen. Im und um den Graben herum gibt es keine Spuren eines Kampfes. Keine Fußabdrücke am Hang.«

Daniel runzelte die Stirn und blickte in den Graben. Es war ein Entwässerungsgraben, und das Wasser floss in den Regenwasserkanal in ein paar Metern Entfernung. Die Seitenwände des Grabens waren glatt. »Dann muss er durch das Wasser bis zum Kanal gegangen und dort auch wieder auf die Straße gelangt sein.« Er dachte einen Moment darüber nach. »Dieses Fahrradrennen. Ist es groß angekündigt worden?«

Corchran nickte. »Es ist eine Benefizveranstaltung und ziemlich wichtig für unsere Jugendorganisationen, das heißt, die Plakate hingen überall in einem Umkreis von ungefähr fünfzig Meilen aus. Im Übrigen findet dieses Rennen seit über zehn Jahren immer am letzten Sonntag im Januar statt. Es kommen viele Fahrer aus dem Norden, die sich wärmeres Wetter wünschen. Es ist eine ziemlich große Sache.«

»Dann wollte er, dass sie gefunden wird«, sagte Daniel.

»Daniel.« Die beiden Männer der Rechtsmedizin stiegen über das Absperrband. Einer der beiden ging direkt zum Wagen, der andere blieb neben Ed stehen. »Schön, dich wieder bei uns zu haben.«

»Schön, wieder bei euch zu sein, Malcolm. Was weißt du?«

Malcolm Zuckerman streckte sich. »Dass es spaßig wird, die Leiche aus dem Graben zu holen. Der Hang ist steil und rutschig. Trey versucht, einen Kran zusammenzubasteln.«

»Malcolm«, sagte Daniel übertrieben geduldig. Malcolm beschwerte sich ständig über seinen Rücken, die Wetterbedingungen oder was auch immer sich gerade anbot. »Was weißt du über das Opfer?«

»Weiblich, weiß, Mitte zwanzig. Seit zwei Tagen tot. Todesursache wahrscheinlich Ersticken. Hämatome am Gesäß und an den Innenseiten der Oberschenkel deuten auf sexuelle Nötigung hin. Ihr Gesicht wurde mit einem stumpfen Gegenstand geschlagen. Ich weiß noch nicht, womit genau, aber es hat der Knochenstruktur ernsthaften Schaden zugefügt. Nase, Wangenknochen und Kiefer sind gebrochen.« Er legte die Stirn in Falten. »Diese Verletzungen könnten allerdings post mortem zugefügt worden sein.«

Daniel zog eine Braue hoch. »Also sollte sie gefunden, aber nicht identifiziert werden.«

»Ja, das denke ich auch. Ich wette, ihre Fingerabdrücke sind nicht in der Datenbank erfasst. Auf einer Seite des Mundes ist ein Druckmuster zu sehen. Könnte von den Fingern des Täters stammen.«

»Er hat ihr die Hand auf den Mund gepresst, bis sie erstickt ist«, murmelte Corchran und ballte die Faust. »Und dann hat er ihr Gesicht zu Brei geschlagen. Dieses Schwein.«

»So sieht’s aus.« In Malcolms Stimme lag Mitgefühl, aber seine Augen blickten müde. Daniel verstand das nur allzu gut. Zu viele Leichen, zu viele Killer. »Wir wissen mehr, sobald Dr. Berg sie sich angesehen hat. Brauchst du mich noch, Danny?«

»Nein. Ruf mich an, wenn ihr die Autopsie vornehmt. Ich will dabei sein.«

Malcolm zuckte die Achseln. »Meinetwegen. Doc Berg fängt wahrscheinlich nach dem Drei-M an.«

»Was ist Drei-M?«, fragte Corchran, als Malcolm zu seinem Fahrzeug schlenderte.

»Mediziner-Morgen-Meeting«, erklärte Daniel. »Das bedeutet, dass Berg gegen neun Uhr dreißig oder zehn Uhr anfängt. Falls Sie kommen wollen …«

Corchran schluckte. »Danke. Mach ich, wenn ich es schaffe.«

Corchrans Teint hatte eine grünliche Farbe angenommen, und Daniel konnte es ihm nicht verdenken. Es war nicht leicht, bei einer Autopsie dabei zu sein. Das Geräusch der Knochensäge verursachte Daniel noch immer ein mulmiges Gefühl im Bauch. »Okay. Ed, was noch?«

»Wir haben den Fundort und die Grabenwände aufgenommen«, sagte Ed. »Foto und Video. Wir kümmern uns erst um diese Seite des Grabens, damit Malcolm keine Spuren vernichtet, wenn er sie herausholt. Dann holen wir Scheinwerfer und sehen uns die andere Seite an.« Er bedeutete seinem Team, wieder über das Band zu steigen, und wollte ihnen gerade folgen, als er sich noch einmal zu Daniel umdrehte. Er zögerte einen Moment und zog ihn dann einen Schritt zur Seite. »Das mit deinen Eltern tut mir leid, Daniel«, sagte er leise. »Ich weiß, dass nichts, was ich sage, dir hilft, aber ich wollte, dass du es weißt.«

Überrumpelt senkte Daniel den Blick. Ed tat es leid, dass Arthur und Carol Vartanian tot waren. Daniel war sich nicht sicher, ob er ebenso empfand. An manchen Tagen fragte er sich, in welchem Ausmaß sie ihren schrecklichen Tod selbst verursacht hatten. Simon war eine gestörte Persönlichkeit gewesen, aber in gewisser Hinsicht hatten seine Eltern die Entwicklung gefördert.

Die Menschen, für die Daniel echtes Mitleid empfand, waren Simons andere Opfer. Dennoch … Arthur und Carol waren seine Eltern gewesen. Vor seinem inneren Auge sah er sie noch immer im Leichenschauhaus von Philadelphia, getötet durch die Hand des eigenen Sohnes. Die Erinnerung an ihren grausigen Anblick mischte sich mit all den anderen Bildern, die ihn verfolgten, ob er nun schlief oder wach war. So viele Tote. So viele vernichtete Leben. Der Stein, der ins Wasser geworfen worden war.

Daniel räusperte sich. »Ich habe dich auf der Beerdigung gesehen. Danke, Ed. Das hat mir viel bedeutet.«

»Wenn du irgendetwas brauchst, rufst du einfach an, okay?« Ed schlug ihm fest auf die Schulter, dann wandte er sich verlegen ab, um seinem Team zu folgen.

Daniel kehrte zu Corchran zurück, der die kurze Szene beobachtet hatte.

»Sheriff, ich möchte mit Officer Larkin reden und ihn bitten, mir zu zeigen, wie er zu der Leiche in den Graben gestiegen ist. Ich weiß, dass er einen ausführlichen Bericht schreiben wird, aber ich möchte seine Eindrücke direkt von ihm hören.«

»Kein Problem. Er ist ein Stück die Straße abwärts stationiert und hält Schaulustige fern.« Corchran funkte Larkin an, und in weniger als fünf Minuten war der Officer bei ihnen. Larkins Gesicht war noch immer recht blass, aber sein Blick war heller. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand.

»Der Bericht, Agent Vartanian. Aber da ist noch etwas. Es fiel mir eben ein, als ich zurückkam. Es hat hier in der Gegend vor einiger Zeit einen Mord gegeben, der diesem sehr ähnelt.«

Corchran schaute ihn erstaunt an. »Was? Wo? Und wann?«

»Bevor Sie hier angefangen haben«, erwiderte Larkin. »In diesem April müssen es dreizehn Jahre her sein. Auch damals wurde ein Mädchen in einem Graben gefunden. Es war in eine braune Decke eingewickelt. Sie wurde vergewaltigt und erstickt.« Er schluckte. »Und ihr Gesicht war genauso zugerichtet.«

Daniel spürte, wie ihm ein kalter Schauder über den Rücken lief. »Sie scheinen sich ja noch sehr gut daran zu erinnern, Officer.«

Larkin verzog gequält das Gesicht. »Das Mädchen war erst sechzehn gewesen … genauso alt wie meine Tochter damals. Ich weiß nicht mehr, wie das Opfer hieß, aber es passierte in der Nähe von Dutton. Das liegt ungefähr fünfundzwanzig Meilen von hier entfernt.«

Kälte kroch in Daniels Eingeweide. »Ich weiß, wo Dutton liegt«, sagte er. Er kannte den Ort gut. Er war schon oft durch die Straßen gegangen, hatte dort eingekauft, hatte dort Baseball gespielt. Er wusste auch, dass in Dutton das Böse gelebt und den Namen Vartanian getragen hatte. Dutton war Daniels Heimatstadt.

Larkin nickte. Auch er war informiert. »Davon gehe ich aus.«

»Vielen Dank, Officer.« Daniel war erstaunt, wie ruhig seine Stimme klang. »Ich schaue so bald wie möglich in Ihren Bericht. Lassen Sie uns zunächst einmal unsere Jane Doe betrachten.«

Dutton, Georgia, Sonntag, 28. Januar, 21.05 Uhr

Alex schloss die Schlafzimmertür und lehnte sich erschöpft dagegen. »Sie ist eingeschlafen. Endlich«, murmelte sie mit einem Blick auf ihre Cousine Meredith, die im Wohnraum von Alex’ Hotelsuite saß.

Meredith hatte das aufgeschlagene Malbuch auf dem Schoß, mit dem sich die vierjährige Hope Crighton beschäftigt hatte, seit Alex sie vor sechsunddreißig Stunden in ihre Obhut genommen hatte. »Dann sollten wir reden«, sagte sie leise.

Merediths Blick war besorgt. Und da ihre Cousine Kinderpsychologin mit Spezialisierung auf emotionale Traumatisierung war, war es genau dieser Blick, der Alex’ Furcht noch verstärkte.

Alex setzte sich. »Danke, dass du gekommen bist. Ich weiß, wie viele Patienten du hast.«

»Kein Problem. Für ein oder zwei Tage finde ich immer jemanden, der sich um sie kümmert. Ich wäre auch gestern schon hier gewesen, wenn du mir Bescheid gesagt hättest, dass du kommst. Du kannst sicher sein, dass ich mich neben dich ins Flugzeug gesetzt hätte.« Meredith klang gekränkt. »Ach, Alex, was hast du dir bloß dabei gedacht? Ganz allein hierherzukommen … ausgerechnet hierher!«

Hierher. Dutton, Georgia. Allein der Name verursachte Alex ein Brennen im Magen. Es war der letzte Ort auf dieser Welt, an dem sie sein wollte. Aber das Brennen in ihrem Magen war nichts, verglichen mit der Angst, die sie gepackt hatte, als sie das erste Mal in Hopes leere graue Augen gesehen hatte.

»Ich weiß auch nicht«, gab Alex zu. »Du hast recht, das war nicht klug. Aber, Mer, ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm um die Kleine stehen würde. Und es ist so schlimm, wie ich denke, nicht wahr?«

»Wenn ich aus dem, was ich die vergangenen drei Stunden gesehen habe, einen Schluss ziehen soll, ja. Ob sie deshalb traumatisiert ist, weil sie am Freitag beim Aufwachen festgestellt hat, dass ihre Mutter verschwunden ist, oder ob die Jahre vorher ihren Zustand verursacht haben, kann ich nicht beurteilen. Ich weiß leider nicht, wie Hope vor Baileys Verschwinden gewesen ist.« Meredith runzelte die Stirn. »Nur ist sie überhaupt nicht so, wie ich es erwartet hätte.«

»Ja, ich weiß. Ich war auf ein verdrecktes, unterernährtes Kind vorbereitet. Ich meine, als ich Bailey das letzte Mal gesehen habe, machte sie wirklich einen furchtbaren Eindruck. Sie war heruntergekommen und high. Ihre Arme waren von Einstichen übersät. Ich hätte einfach mehr tun müssen.«

Meredith sah sie eindringlich an. »Und deshalb bist du jetzt hier?«

»Nein. Na ja, okay, vielleicht war das der ursprüngliche Gedanke. Aber sobald ich Hope sah, war mein Motiv ein anderes.« Das Mädchen hatte goldblonde Locken und ein Engelsgesicht, das von Botticelli hätte stammen können … wenn nicht die leeren grauen Augen gewesen wären. »Zuerst dachte ich, sie hätten mir das falsche Kind gebracht, weil sie so sauber und gepflegt ist. Ihre Kleidung ist ja praktisch neu.«

»Nun ja, die Sozialarbeiterin kann sie eingekleidet haben.«

»Nein. Es sind Hopes Kleider. Die Sozialarbeiterin hat sie vom Kindergarten mitgenommen. Hopes Erzieherin hat gesagt, Bailey habe immer dafür gesorgt, dass in Hopes Spind frische, ordentliche Wechselkleidung hing. Das Kindergartenpersonal war schockiert, als es hörte, dass sie verschwunden war. Mer, die Leiterin der Einrichtung, ist der festen Überzeugung, Bailey hätte ihre Tochter nie im Leben einfach so im Stich gelassen.«

Meredith zog eine Braue hoch. »Heißt das, sie vermutet ein Verbrechen?«

»Die Leiterin? Ja. Das hat sie der Polizei auch gesagt.«

»Und was sagt die Polizei?«

Alex biss die Zähne zusammen. »Dass man jeder Spur nachgeht, aber dass Junkies nun mal ab und an untertauchen. Es war die Standardantwort, die eigentlich nur besagt: ›Geh uns nicht auf die Nerven.‹ Der Anruf hat mich keinen Schritt weitergebracht. Die Cops ignorieren mich. Sie ist jetzt seit drei Tagen weg, aber sie ist noch nicht einmal als vermisst eingetragen worden.«

»Aber Junkies verschwinden wirklich hin und wieder, Alex.«

»Das weiß ich doch. Aber warum sollte sich die Leiterin des Kindergartens so etwas aus den Fingern saugen?«

»Vielleicht hat sie das nicht. Vielleicht ist Bailey eine gute Schauspielerin oder war eine Weile clean und hängt jetzt wieder an der Nadel. Aber ich würde mich jetzt lieber auf Hope konzentrieren. Die Sozialarbeiterin hat dir also erzählt, dass sich Hope die komplette Nacht mit ihrem Malbuch beschäftigt hat?«

»Ja. Die Frau heißt Nancy Barker. Sie sagt, seit sie Hope aus dem Schrank geholt hat, hätte sie nichts anderes getan als gemalt.« Der Schrank in Baileys Haus. Panik stieg in ihr auf, wie jedes Mal, wenn sie an dieses Haus dachte. »Bailey wohnt immer noch dort.«

Meredith riss die Augen auf. »Tatsächlich? Ich dachte, es sei schon vor Jahren verkauft worden.«

»Nein. Ich habe online die Besitzverhältnisse überprüft. Craigs Name steht noch immer im Grundbuch.« Der Druck auf Alex’ Brust wuchs, und sie schloss die Augen, um sich wieder ein wenig zu fangen. Plötzlich spürte sie Merediths Hand auf ihrer.

»Alles klar, Kleine?«

»Ja.« Alex schauderte. »Dumm, diese Panikattacken. Ich sollte sie längst überwunden haben.«

»Na klar, weil du Superwoman bist«, sagte Meredith humorlos. »Hier in diesem Kaff ist damals dein Leben zusammengebrochen, also hör auf, dich selbst zu kasteien, weil du ein Mensch bist.«

Alex zuckte die Achseln und konzentrierte sich wieder auf das, was wirklich wichtig war. »Nancy Barker meinte, das Haus sei vollkommen heruntergekommen gewesen. Überall Müll auf dem Boden. Die Matratzen alt und zerfetzt. Im Kühlschrank verdorbene Nahrungsmittel.«

»Was man im Allgemeinen von der Wohnung eines Junkies erwartet.«

»Schon. Aber nirgendwo waren Kleider für Bailey oder Hope zu finden. Weder saubere noch schmutzige.«

Meredith runzelte die Stirn. »Das ist allerdings merkwürdig, wenn man bedenkt, was der Kindergarten über Hope sagt.« Sie zögerte. »Warst du dort? Im Haus?«

»Nein.« Alex hatte das Wort so heftig hervorgestoßen, dass sie selbst zusammenfuhr. »Nein«, wiederholte sie ruhiger. »Noch nicht.«

»Wenn du hingehst, komme ich mit. Keine Diskussion. Wohnt Craig noch dort?«

Konzentriere dich auf die Stille. »Nein. Nancy Barker hat versucht, ihn aufzuspüren, aber niemand scheint zu wissen, wo er ist. Ich stand als Kontaktperson im Anmeldeformular des Kindergartens.«

»Woher wusste das Sozialamt, in welchem Kindergarten Hope ist?«

»Baileys Kollegin hat es ihr gesagt. So haben sie Hope überhaupt gefunden – Bailey war nicht bei der Arbeit erschienen, und ihre Kollegin hat sich Sorgen gemacht.«

»Wo arbeitet Bailey denn?«

»Bei einem Friseur. Muss ein ziemlich teurer Laden sein.«

Meredith blinzelte ungläubig. »Ein teurer Friseur in Dutton?«

»Nein. Dutton hat Angie’s.« Ihre Mutter war alle zwei Wochen montags bei Angie’s gewesen. »Bailey hat in Atlanta gearbeitet. Ich habe die Nummer der Kollegin bekommen, aber sie war bisher nicht erreichbar. Ich habe ihr Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.«

Meredith nahm eins der Malbücher in die Hand. »Von wem sind all diese Bücher?«

Alex warf einen Blick auf den Stapel. »Eins hat Nancy Barker in Hopes Rucksack gefunden. Sie hat erzählt, dass Hope ins Leere gestarrt habe, aber als man ihr Stifte und Malbuch gab, habe sie sofort angefangen. Nancy hat versucht, ihr ein weißes Blatt Papier unterzuschieben, weil sie hoffte, Hope würde etwas malen, das ihnen Aufschluss über die Ereignisse gäbe. Aber Hope wollte nur das Buch. Gestern Abend waren alle Bücher voll, und ich habe einen Hotelpagen zum nächsten Laden geschickt, um neue zu kaufen. Und noch mehr Stifte.«

Alex starrte die Schachtel an, in der gestern noch vierundsechzig Buntstifte gewesen waren. Nun befanden sich noch siebenundfünfzig darin: Alle Farben außer Rot. Jeder Buntstift einer Rotschattierung war bis auf einen Stummel verbraucht.

»Sie mag Rot«, bemerkte Meredith trocken.

Alex schluckte. »Und ich mag mir nicht einmal vorstellen, was das heißen soll.«

Meredith hob die Schultern. »Vielleicht nichts anderes, als dass sie Rot mag.«

»Aber du glaubst nicht dran.«

»Nein.«

»Sie hat auch jetzt einen roten Stift in der Hand. Sie wollte ihn partout nicht hergeben, also habe ich ihr erlaubt, ihn mit ins Bett zu nehmen.«

»Was ist denn gestern Abend passiert, als kein roter Stift mehr da war?«

»Sie hat geweint, aber kein Wort gesagt.« Alex schauderte. »Ich habe schon unzählige Kinder in der Notaufnahme weinen sehen, vor Schmerzen, aus Angst … aber niemals so. Sie kam mir vor wie … wie ein Roboter. Kein Gefühl, kein einziger Laut. Kein Wort. Und dann war es plötzlich, als würde sie in eine Art katatonische Starre fallen. Ich habe derartige Angst bekommen, dass ich sie zum Arzt brachte. Aber Dr. Granville meinte, sie stünde nur unter Schock.«

»Hat er irgendwelche Tests mit ihr gemacht?«

»Nein. Die Sozialarbeiterin hatte sie am Freitag bereits vorsichtshalber ins Krankenhaus gebracht. Dort hat man eine toxikologische Analyse durchgeführt. Offenbar ist sie gegen die üblichen Kinderkrankheiten geimpft worden, und man hat nichts Auffälliges gefunden.«

»Wer ist ihr Hausarzt?«

»Keine Ahnung. Dr. Granville meinte, er habe weder Bailey noch Hope je in ›beruflicher Hinsicht‹ gesehen. Aber er war überrascht über ihren gepflegten Zustand. Jedenfalls wollte er ihr eine Spritze geben. Ein Beruhigungsmittel.«

Meredith sah sie aufmerksam an. »Und? Hat er?«

»Nein. Er war ziemlich sauer, als ich sagte, dass ich das nicht will. Warum ich sie denn überhaupt hergebracht hätte, wenn er nichts tun dürfe? Aber mir gefiel der Gedanke nicht, sie ruhigzustellen, wenn es doch eigentlich nicht nötig ist. Sie ist nicht aggressiv gewesen, und es bestand in meinen Augen auch keine Gefahr, dass sie sich selbst verletzt.«

»Gut gemacht. Ich bin deiner Meinung. Hope hat also die ganze Zeit noch kein einziges Wort gesagt? Kann sie denn reden?«

»Im Kindergarten sagt man, sie sei normalerweise sehr gesprächig und hätte bereits einen großen Wortschatz. Sie kann sogar schon lesen.«

Meredith stieß einen Pfiff aus. »Wow. Wie alt ist sie? Vier?«

»Knapp. Laut Kindergärtnerin hat Bailey ihr jeden Abend vorgelesen. Meredith, für mich klingt das alles nicht nach einer drogensüchtigen Mutter, die ihr Kind sitzenlässt.«

»Du glaubst auch an ein Verbrechen.«

Irgendetwas in Merediths Tonfall gefiel Alex nicht. »Du nicht?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ihre Cousine ungerührt. »Mir ist klar, dass du im Zweifel eher für Bailey sprichst, aber hier geht es jetzt vor allem um Hope und um das, was für sie am besten ist. Willst du sie nach Hause mitnehmen? Zu dir nach Hause, meine ich?«

Alex dachte an ihre kleine Wohnung, in der sie nur schlief. Richard hatte das Haus behalten, Alex hatte es nicht haben wollen. Aber ihre Wohnung reichte durchaus für einen Erwachsenen und ein kleines Kind. »Das habe ich vor, ja. Aber, Meredith, wenn Bailey etwas passiert ist … ich meine, falls sie sich doch zum Positiven verändert hat und nun aus einem anderen Grund in Schwierigkeiten steckt …«

»Also – was hast du vor?«

»Ich weiß es noch nicht. Aber telefonisch konnte ich bei der Polizei nichts erreichen, und ich wollte Hope nicht allein lassen, um persönlich hinzugehen. Könntest du ein paar Tage bei mir bleiben und mir mit Hope helfen?«

»Bevor ich geflogen bin, habe ich alle Termine mit den Patienten, die mich am dringendsten brauchen, auf Mittwoch verschoben. Ich muss also Dienstagabend zurückfliegen. Mehr geht nicht.«

»Das würde schon helfen. Dank dir.«

Meredith drückte ihre Hand. »Und jetzt sieh zu, dass du ein bisschen schläfst. Ich lege mich hier aufs Sofa. Wenn du mich brauchst, weck mich.«

»Ich hoffe bloß, dass Hope durchschläft. Bisher waren es immer nur zwei, drei Stunden am Stück, dann wacht sie wieder auf und malt. Ich sag dir Bescheid, wenn es nötig ist.«

»Auch das. Aber ich habe eben von dir gesprochen, nicht von Hope. So, ab ins Bett.«

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2. Kapitel

Atlanta, Sonntag, 28. Januar, 22.45 Uhr

Daniel, ich glaube, dein Hund ist tot.«

Die Stimme kam aus Daniels Wohnzimmer und gehörte seinem Kollegen, Luke Papadopoulos, ebenfalls Ermittler beim GBI. Luke war außerdem das, was einem besten Freund wohl am nächsten kam, obwohl er der Grund war, warum Daniel überhaupt einen Hund hatte.

Daniel stellte den letzten Teller in die Spülmaschine und trat dann in den Türrahmen der Küche. Luke saß auf der Couch und sah ESPN. Der Basset Riley lag zu Lukes Füßen und sah aus wie immer. Wodurch er, wie Daniel zugeben musste, tatsächlich den Anschein erweckte, bereits im Hundehimmel zu sein. »Biete ihm dein Kotelett an. Dann regt er sich schon.«

Riley öffnete bei der Erwähnung des Koteletts ein Auge, schloss es jedoch sofort wieder, da er genau wusste, dass er vermutlich doch keins bekommen würde. Riley war Realist. Daniel und er verstanden sich gut.

»Von wegen. Eben habe ich ihm von der Moussaka angeboten, aber auch das hat ihn nicht geweckt«, murrte Luke.

Daniel seufzte. »Was deine Mutter kocht, ist nichts für Hunde. Es bekommt Riley nicht.«

Lukes Miene verdüsterte sich. »Als ob ich das nicht wüsste. Als ich die zwei Wochen auf ihn aufgepasst habe, habe ich nur ein einziges Mal versucht, ihm Reste von Mamas Essen zu geben.« Er zog den Kopf ein. »Das war gar nicht schön, wirklich nicht, das kann ich dir sagen.«

Daniel verdrehte die Augen. »Glaub ja nicht, dass ich die Teppichreinigung bezahle, Luke.«

»Keine Sorge. Mein Cousin hat eine Reinigungsfirma. Er hat sich schon darum gekümmert.«

»Aber wenn du es doch weißt, warum hast du eben wieder versucht, ihn damit zu füttern?«

Luke stieß das Hinterteil des Hundes sanft mit der Stiefelspitze an. »Er guckt immer so traurig.«

In Lukes Familie bedeutete ein trauriger oder seelenvoller Blick stets: »Gib mir was zu essen.« Was auch der Grund dafür war, warum Luke heute mit einem kompletten griechischen Menü auf Daniels Schwelle aufgetaucht war, obwohl er dafür, wie Daniel wusste, eine Verabredung mit seiner derzeitigen Gelegenheitsfreundin, einer Stewardess, absagen musste.

Aber Mama Papadopoulos sorgte sich um Daniel, seit er vergangene Woche aus Philadelphia zurückgekehrt war. Lukes Mama war eine herzliche Frau, doch ihre Mahlzeiten waren nicht hundekompatibel, und Daniel hatte keinen Cousin mit einer Reinigungsfirma.

»Er ist ein Basset, Luke. Die sehen immer so aus. Riley geht es gut, also hör auf, ihn zu füttern.« Daniel setzte sich in seinen Sessel und stieß einen Pfiff aus. Riley stand schwerfällig auf, trottete zu ihm und ließ sich mit einem tiefen Seufzer zu seinen Füßen fallen. »Ich weiß genau, wie du dich fühlst, Kumpel.«

Luke schwieg einen Moment. »Wie ich gehört habe, hat man dir heute einen gruseligen Fall angehängt.«

Daniel sah augenblicklich das Opfer im Graben vor sich. »Woher weißt du denn das schon?«

Luke sah verlegen zur Seite. »Ed Randall hat mich angerufen. Er macht sich Sorgen um dich. Dein erster Tag im Dienst, und du kriegst ausgerechnet einen Fall wie den in Arcadia.«

Daniel unterdrückte den aufkommenden Ärger. Sie meinten es nur gut mit ihm. »Und da hast du gedacht, du bringst mir etwas zu essen vorbei.«

»Nee. Mama hatte schon vor Eds Anruf alles für dich zusammengepackt. Ich werde ihr sagen, dass du alles verputzt hast und es dir gutgeht, okay? Dir geht es doch gut, oder?«

»Sicher. Ich habe auch keine andere Wahl. Die Arbeit muss erledigt werden.«

»Du hättest dir mehr Urlaub nehmen können. Eine Woche ist nicht besonders viel, wenn man bedenkt.«

In dieser Zeit hatte er seine Eltern beerdigen müssen. »Wenn du die Woche dazu zählst, die ich in Philly nach ihnen gesucht habe, war ich sogar zwei Wochen weg. Das ist lang genug.« Er beugte sich vor, um Riley zwischen den Ohren zu kraulen. »Wenn ich nicht arbeite, drehe ich durch«, fügte er leise hinzu.

»Es ist nicht deine Schuld, Daniel.«

»Nein, nicht direkt. Aber ich wusste seit langem, was für ein Mensch Simon war.«

»Ja, stimmt. Dafür dachtest du aber auch, dass er seit zwölf Jahren tot ist.«

Daniel musste ihm in diesem Punkt recht geben. »Das ist wahr.«

»Und wenn du mich fragst, trägt dein Vater den größten Teil der Schuld. Nach Simon, natürlich.«

Siebzehn Menschen. Simon hatte siebzehn Menschen getötet. Achtzehn, wenn die alte Dame auf der Intensivstation es nicht schaffen würde. Und Daniels Vater hatte nicht nur gewusst, wie gefährlich Simon gewesen war, sondern hatte es ihm auch noch ermöglicht, ungehindert sein Unwesen zu treiben. Zwölf Jahre zuvor hatte Arthur Vartanian seinen jüngsten Sohn aus dem Haus geworfen und der Welt erzählt, er sei tot. Um die Lüge wasserdicht zu machen, hatte er sogar eine fremde Leiche im Familiengrab bestatten lassen und seinem Sohn einen Grabstein gesetzt. Simon hatte also von nun an einen Freibrief besessen, zu tun, was immer ihm beliebte, solange er es nicht im Namen eines Vartanian tat.

»Siebzehn Menschen«, murmelte Daniel und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es sich bei dieser Summe nicht bloß um die Spitze des Eisbergs handelte. Der Gedanke an die Fotos lauerte stets dicht unter der Oberfläche seines Bewusstseins. Fotos, die Simon hinterlassen hatte. Wieder zogen die Gesichter wie in einer grauenhaften Diashow durch seinen Geist. Gesichter von Frauen. Namenlose Vergewaltigungsopfer.

Wie die Frau im Graben. Er musste dafür sorgen, dass das Arcadia-Opfer rasch einen Namen bekam. Dass sie gerächt wurde. Nur das würde ihm helfen, sich seine geistige Gesundheit zu bewahren. »Einer der Officer aus Arcadia erwähnte einen ähnlichen Mord, der vor dreizehn Jahren begangen wurde. Ich war gerade dabei, das zu überprüfen, als du kamst. Es passierte in Dutton.«

Lukes Brauen zogen sich zusammen. »Dutton? Daniel, da bist du doch groß geworden.«

»Oh, vielen Dank. Hätte ich fast vergessen«, erwiderte Daniel sarkastisch. »Als ich vorhin im Büro meinen Bericht einreichte, habe ich in unserer Datenbank nachgesehen, aber da das GBI damals nicht ermittelt hat, konnte ich nichts finden. Ich habe Frank Loomis, dem Sheriff von Dutton, eine Nachricht hinterlassen, aber er hat sich noch nicht gemeldet. Die Deputys wollte ich nicht anrufen. Dutton kann momentan nicht noch mehr Publicity gebrauchen. Und diese Geier von Reportern lauern dort überall.«

»Aber du hast etwas gefunden, richtig?«, drängte Luke ihn. »Also?«

»Einen alten Zeitungsartikel. Im Netz.« Er tippte an den Laptop, den er auf den Couchtisch gestellt hatte, als Luke mit dem Essen gekommen war. »Alicia Tremaine wurde vor dreizehn Jahren, am 2. April, ermordet in einem Graben außerhalb von Dutton gefunden. Sie war in eine braune Wolldecke eingewickelt, und ihre Gesichtsknochen waren gebrochen. Vergewaltigt. Sie war erst sechzehn.«

»Ein Nachahmer?«

»Ja, vielleicht. Bei all den Schlagzeilen, die Dutton in der vergangenen Woche gemacht hat, ist vielleicht jemand auf den Artikel gestoßen und hat beschlossen, die Tat nachzuahmen. Möglich wäre es. Leider war bei dem Artikel kein Foto dabei. Ich war auf der Suche nach einem Bild von Alicia.«

Luke warf ihm einen herablassenden und gleichzeitig gequälten Blick zu. Luke war Computerexperte und oft entsetzt über Daniels mangelhaftes Grundlagenwissen … oder zumindest das, was Luke als Grundlagenwissen betrachtete. »Gib mir das Laptop.« In weniger als drei Minuten lehnte sich Luke mit zufriedener Miene zurück. »Hab’s. Schau her.«

Daniel beugte sich vor und erstarrte. Das kann nicht sein. Seine müden Augen spielten ihm einen Streich. Er blinzelte mehrere Male, aber das Bild blieb dasselbe. »Mein Gott.«

»Was ist?«

Daniel warf Luke einen raschen Seitenblick zu. Sein Puls raste. »Ich kenne sie, das ist alles.« Aber er hörte selbst, wie verstellt seine Stimme klang. Ja, er kannte sie. Ihr Gesicht verfolgte ihn seit Jahren in seinen Alpträumen, ihres und das von all den anderen. Jahrelang hatte er gehofft, die Bilder seien gefälscht gewesen, nur gestellt. Jahrelang hatte er gefürchtet, sie seien echt. Dass sie alle tot waren. Nun wusste er es. Nun hatte eines der namenlosen Opfer einen Namen. Alicia Tremaine.

»Woher kennst du sie?« Lukes Stimme klang barsch. »Daniel?«

Daniel holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Wir lebten damals beide in Dutton. Es ist doch nicht unlogisch, dass ich sie kannte.«

Lukes Kieferknochen traten hervor. »Eben hast du gesagt, du ›kennst‹ sie, nicht ›kanntest‹.«

Verärgerung löste seine schockierte Erstarrung. »Was soll das, Luke? Ist das ein Verhör?«

»Ja. Du sagst mir nicht die Wahrheit. Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Das habe ich auch.« Mit brennenden Augen starrte er in ihr Gesicht. Sie war sehr hübsch gewesen. Karamellfarbenes Haar hing ihr in dicken Locken über die Schultern, und ihre Augen schienen zu funkeln, als sei sie zu jedem Spaß aufgelegt. Gewesen. Sie war tot.

»Wer ist sie?«, fragte Luke, nun etwas sanfter. »Eine Ex von früher?«

»Nein.« Er ließ die Schultern hängen und senkte den Kopf. »Sie ist mir nie begegnet.«

»Aber du kennst sie«, erwiderte Luke. »Sag schon – woher?«

Daniel richtete sich auf, straffte den Rücken und ging hinter die Bar in der Ecke des Wohnzimmers. Er schob das Coolidge-Gemälde Dogs Playing Poker zur Seite und machte sich am Safe zu schaffen. Lukes Überraschung konnte er förmlich spüren.

»Du hast einen Wandsafe?«

»Familientradition«, erwiderte Daniel knapp. Blieb zu hoffen, dass es die einzige Vorliebe war, die er mit seinem Vater gemein hatte. Er gab die Zahlenkombination ein und holte den Briefumschlag heraus, den er nach seiner Rückkehr aus Philadelphia dort verstaut hatte. Er durchsuchte den Stapel, fand Alicias Foto und reichte es Luke, der sichtlich zusammenfuhr.

»O Gott. Sie ist es.« Entsetzt sah er zu Daniel auf. »Wer ist der Mann?«

Daniel schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.«

Lukes Augen funkelten wütend. »Das ist doch krank, Daniel. Woher hast du diese Fotos?«

»Von meiner Mutter«, sagte Daniel verbittert.

Luke machte den Mund auf und schloss ihn wieder. »Von deiner Mutter«, wiederholte er ungläubig.

Daniel ließ sich erschöpft auf die Couch fallen. »Meine Mutter hat mir diese Fotos hinterlassen, als …«

Luke hielt die Hand hoch. »Moment. Fotos? Plural? Was ist da noch im Umschlag?«

»Noch mehr Fotos dieser Art. Verschiedene Mädchen. Verschiedene Männer.«

»Sie sieht aus, als stünde sie unter Drogen.«

»Ja. Alle. Keine ist bei Bewusstsein. Es sind insgesamt fünfzehn. Die Bilder, die eindeutig aus Zeitschriften ausgeschnitten sind, nicht mitgezählt.«

»Fünfzehn«, murmelte Luke. »Okay, jetzt erzähl, wieso deine Mutter dir solche Fotos gibt.«

»Geben ist nicht das richtige Wort. Sie hat sie mir hinterlassen. Mein Vater hatte sie ursprünglich und …« Als Luke ihn verständnislos ansah, seufzte Daniel. »Vielleicht sollte ich es von Anfang an erzählen.«

»Das wäre wohl das Beste.«

»Einiges wusste ich. Einiges wusste meine Schwester. Aber wir haben erst vergangene Woche darüber gesprochen und die Puzzleteile zusammengesetzt. Nach Simons Tod.«

»Deine Schwester weiß auch davon?«

Daniel dachte an den hoffnungslosen Blick in Susannahs Augen. »Ja.« Sie wusste weit mehr, als sie ihm gesagt hatte, dessen war sich Daniel sicher. Und er war sich außerdem sicher, dass Simon ihr etwas angetan hatte. Er konnte nur hoffen, dass sie es ihm irgendwann erzählte.

»Wer sonst noch?«

»Die Polizei von Philadelphia. Ich habe Detective Ciccotelli Abzüge der Fotos gegeben. Ich dachte, sie würden mit seinem Fall zusammenhängen.« Daniel stützte die Ellenbogen auf die Knie und blickte auf Alicia Tremaines Foto. »Die Fotos haben Simon gehört. Ob er sie von jemand anderem bekommen hat, weiß ich nicht. Er hatte sie jedenfalls schon vor seinem Tod.« Er warf Luke einen Blick zu. »Seinem ersten Tod.«

»Vor zwölf Jahren«, präzisierte Luke, dann zuckte er die Achseln. »Mama hat es in der Zeitung gelesen.«

Daniel presste die Lippen zusammen. »Mama, Papa und Millionen ihrer besten Freundinnen. Aber im Grunde ist es jetzt egal. Jedenfalls fand mein Vater die Bilder, setzte Simon vor die Tür und sagte ihm, dass er ihn anzeigen würde, sollte er sich je wieder blicken lassen. Simon war gerade achtzehn geworden.«

»Dein Vater. Der Richter. Er hat Simon einfach davonkommen lassen.«

»Ja, der gute, alte Dad. Er hatte Angst, dass er seine Kandidatur für den Senat zurückziehen müsste, falls die Sache mit den Fotos publik würde.«

»Aber die Fotos hat er behalten. Warum?«

»Es war seine Rückversicherung. Solange er die Fotos hatte, konnte er Simon erpressen, sich von ihm fernzuhalten. Ein paar Tage später erzählte er meiner Mutter, er habe einen Anruf erhalten. Simon sei bei einem Autounfall in Mexiko umgekommen. Dad flog runter, brachte die Leiche heim und ließ sie im Familiengrab beisetzen.«

»Wo tatsächlich ein nicht identifizierter Mann lag, beinahe dreißig Zentimeter kleiner, als Simon gewesen war. Autsch.« Luke zuckte wieder die Achseln. »Komm, das war ein guter Artikel. Viele interessante Einzelheiten. Aber wie auch immer. Wie ist deine Mutter an die Fotos gekommen?«

»Vor elf Jahren, kurz nachdem Simon ›gestorben‹ war, entdeckte Mutter sie durch Zufall in Vaters Safe. Die Fotos und einige Zeichnungen, die Simon nach den Fotovorlagen angefertigt hatte. Meine Mutter weinte nicht oft, aber damals tat sie es … und ich ertappte sie dabei.«

»Und du hast diese Bilder ebenfalls gesehen.«

»Nur flüchtig. Es reichte allerdings, um in mir den Verdacht zu wecken, dass einige der Bilder nicht nur gestellt waren. Aber dann kehrte mein Vater zurück – und tobte! Er musste zugeben, dass er schon seit einem Jahr davon wusste. Ich verlangte, dass wir sie der Polizei übergaben, aber er weigerte sich. Das würde dem Familiennamen schaden, und Simon sei doch ohnehin tot, was hätte es also gebracht?«

Luke blickte finster auf den Umschlag. »Was es gebracht hätte? Tja, den Opfern vermutlich verdammt viel.«

»Natürlich. Aber als ich darauf bestand, zur Polizei zu gehen, gab es fürchterlichen Streit.« Daniel ballte die Fäuste. »Ich war so unglaublich wütend. Ich wäre beinahe auf ihn losgegangen.«

»Und wie ging es weiter?«

»Ich verließ das Haus, um mich ein wenig zu beruhigen. Als ich zurückkehrte, verbrannten die Fotos im Kamin. Mein Vater hatte sie vernichtet.«

»Offenbar nicht.« Luke deutete auf den Umschlag.