Todesengel - Ulrike Puderbach - E-Book

Todesengel E-Book

Ulrike Puderbach

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Beschreibung

In einem Pflegeheim stirbt ein alter Mann - zunächst deutet alles auf einen natürlichen Tod hin, bis einer Praktikantin eine ungewöhnlich aussehende Einstichstelle auffällt. Die Obduktion ergibt Tod durch Vergiftung und so wird das K9 auf den Plan gerufen. Kommissar Robert Kunz, der mit der Schwangerschaftsvertretung seiner Kollegin ein paar Startschwierigkeiten hat, ahnt nicht, dass dies der Auftakt zu einer Mordserie ist, die das K9 noch einige Zeit in Atem halten wird. Und während Marina Thomas sich auf ihren Nachwuchs vorbereitet, tritt Robert auf der Suche nach dem Mörder eine Reise in die Vergangenheit an, die Unglaubliches zu Tage fördert. Und die Vergangenheit des Täters ist nicht die einzige Vergangenheit, die auf einmal Einfluss auf sein Leben nimmt.

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Buchbeschreibung:

In einem Pflegeheim stirbt ein alter Mann - zunächst deutet alles auf einen natürlichen Tod hin, bis einer Praktikantin eine ungewöhnlich aussehende Einstichstelle auffällt. Die Obduktion ergibt Tod durch Vergiftung und so wird das K9 auf den Plan gerufen.

Kommissar Robert Kunz, der mit der Schwangerschaftsvertretung seiner Kollegin ein paar Startschwierigkeiten hat, ahnt nicht, dass dies der Auftakt zu einer Mordserie ist, die das K9 noch einige Zeit in Atem halten wird. Und während Marina Thomas sich auf ihren Nachwuchs vorbereitet, tritt Robert auf der Suche nach dem Mörder eine Reise in die Vergangenheit an, die Unglaubliches zu Tage fördert. Und die Vergangenheit des Täters ist nicht die einzige Vergangenheit, die auf einmal Einfluss auf sein Leben nimmt.

Über die Autorin:

Ulrike Puderbach wurde 1972 in Wuppertal geboren. Nach dem Abitur in Rheinland-Pfalz und einer technischen Ausbildung studierte sie Sprachpädagogik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz.

Ihre Leidenschaft war von jeher das Schreiben und nach der Veröffentlichung eines Lehrwerks für technisches Englisch war "Eiskalte Erinnerung" ihr erster Kriminalroman. Inzwischen sind mit "Blinder Hass", "Abpfiff", "Bittere Vergeltung", "Mord im Eifelpark" und "Todesengel" fünf weitere Romane um die Kommissare aus Hannover und das Kinderbuch "Der Schängel-Schatz" dazu gekommen.

Heute lebt sie mit ihrem erwachsenen Sohn in einem kleinen Ort im Westerwald und arbeitet hauptberuflich als Technische Redakteurin. In ihrer Freizeit treibt sie Sport, liest Krimis und historische Romane, fotografiert und fährt ehrenamtlich im Rettungsdienst.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

16. Oktober 2017 – Montag, 16:50 Uhr

16. Oktober 2017 – Montag, 21:40 Uhr

17. Oktober 2017 – Dienstag, 07:50 Uhr

17. Oktober 2017 – Dienstag, 09:30 Uhr

17. Oktober 2017 – Dienstag, 12:30 Uhr

17. Oktober 2017 – Dienstag, 16:50 Uhr

17. Oktober 2017 – Dienstag, 20:20 Uhr

18. Oktober 2017 – Mittwoch, 05:15 Uhr

18. Oktober 2017 – Mittwoch, 14:45 Uhr

18. Oktober 2017 – Mittwoch, 15:15 Uhr

18. Oktober 2017 – Mittwoch, 17:00 Uhr

18. Oktober 2017 – Mittwoch, 22:15 Uhr

19. Oktober 2017 – Donnerstag,8:00 Uhr

19. Oktober 2017 – Donnerstag,10:30 Uhr

19. Oktober 2017 – Donnerstag,16:30 Uhr

19. Oktober 2017 – Donnerstag, 20:15 Uhr

20. Oktober 2017 – Freitag, 09:00 Uhr

20. Oktober 2017 – Freitag, 17:00 Uhr

21. Oktober 2017 – Samstag, 18:15 Uhr

10. Dezember 2017 – Sonntag, 9:00 Uhr

10. Dezember 2017 – Sonntag, 10:15 Uhr

13. Dezember 2017 – Mittwoch, 11:00Uhr

13. Dezember 2017 – Mittwoch, 12:45 Uhr

14. Dezember 2017 – Donnerstag, 18:45Uhr

15. Dezember 2017 – Freitag, 11:30 Uhr

15. Dezember 2017 – Freitag, 14:00 Uhr

15. Dezember 2015 – Freitag, 18:30 Uhr

16. Dezember 2017 – Samstag, 19:00 Uhr

18. Dezember 2018 – Montag, 09:30 Uhr

18. Dezember 2018 – Montag, 16:45 Uhr

18. Dezember 2017 – Montag, 20:30 Uhr

18. Dezember 2018 – Montag, 21:00 Uhr

19. Dezember 2017 – Dienstag, 07:30 Uhr

19. Dezember 2017 – Dienstag, 08:15 Uhr

19. Dezember 2017 – Dienstag, 14:00 Uhr

19. Dezember 2017 – Dienstag, 17:30 Uhr

20. Dezember 2017 – Mittwoch, 08:00 Uhr

20. Dezember 2017 – Mittwoch, 19:00 Uhr

22. Dezember 2017 – Freitag, 19:30 Uhr

25. Dezember 2017 – Montag, 09:15 Uhr

25. Dezember 2017 – Montag, 09:45 Uhr

25. Dezember 2017 – Montag, 09:30 Uhr

25. Dezember 2017 – Montag, 10:45 Uhr

25. Dezember 2017 – Montag, 18:30 Uhr

25. Dezember 2017 – Montag, 20:30 Uhr

26. Dezember 2017 – Dienstag, 08:00 Uhr

26. Dezember 2017 – Dienstag, 13:30 Uhr

27. Dezember 2017 – Mittwoch, 07:30 Uhr

27. Dezember 2017 – Mittwoch, 16:45 Uhr

28. Dezember 2017 – Donnerstag, 07:30 Uhr

28. Dezember 2017 – Donnerstag, 09:00 Uhr

28. Dezember 2017 – Donnerstag, 17:45 Uhr

28. Dezember 2017 – Donnerstag, 19:00 Uhr

29. Dezember 2019 – Freitag, 06:30 Uhr

29. Dezember 2017 – Freitag, 08:15 Uhr

29. Dezember 2017 – Freitag, 11:00 Uhr

29. Dezember 2017 – Freitag, 14:00 Uhr

29. Dezember 2017 – Freitag, 14:30 Uhr

29. Dezember 2017 – Freitag, 16:00 Uhr

31. Dezember 2017 – Sonntag, 19:00 Uhr

02. Januar 2018 – Dienstag, 08:30 Uhr

02. Januar 2018 – Dienstag, 12:00 Uhr

02. Januar 2018 – Dienstag, 14:00 Uhr

03. Januar 2018 – Mittwoch, 09:30 Uhr

Epilog

Prolog

Heute war die Schule früher aus als geplant. Die Doppelstunde Chemie in der fünften und sechsten war ausgefallen, denn der Lehrer hatte die Grippe. Alle anderen Kinder hatten gejubelt, sich ihre Rucksäcke und Taschen geschnappt und waren aus dem Klassenzimmer gestürmt. Es war ein milder Spätsommertag und die letzten Sonnenstrahlen lockten zum Eis essen oder bummeln durch die Stadt. Sie wollte eigentlich gar nicht nach Hause, hatte aber natürlich vorgegeben, sich über den frühen Schulschluss zu freuen, denn als Streber und Spielverderber wollte sie schließlich auch nicht gelten.

Jetzt ging sie mit schleppenden Schritten die Straße entlang, die zu dem großen Wohnhaus führte, in dem sie mit ihrer Mutter wohnte und wo auch die aktuellen Lebensabschnittsgefährten ihrer Mutter ein- und ausgingen. Auch wenn sie für diese neudeutschen Begriffe nichts übrig hatte, im Falle ihrer Mutter traf das Wort Lebensabschnittsgefährte genau zu.

Es war eine kleine Dreizimmerwohnung in einer anonymen Gegend – eine der Gegenden, in denen sich niemand für den anderen interessierte. Gesichts- und namenlose Nachbarn kamen und gingen, manche waren von heute auf morgen verschwunden, andere wohnten länger dort, aber das Leben spielte sich ausschließlich hinter verschlossenen Türen ab.

Sie hatte den Eingang erreicht und schaute auf ihre Armbanduhr, die eine letzte Erinnerung an ihren Vater war. Er hatte sie mit ihr zusammen in der Stadt ausgesucht – eine Woche, bevor er sich das Leben genommen hatte. Er war ein wundervoller und sensibler Mensch gewesen und mit Sicherheit hatte er ein schlechtes Gewissen dabei gehabt, sie alleine zurückzulassen. Denn jetzt war sie alleine. Die Interessen ihrer Mutter galten in erster Linie ihrem eigenen Vergnügen und ihren zahlreichen Affären mit reichen, allerdings auch fast immer verheirateten Männern, von denen sie sich stets die große Liebe und ein besseres Leben erhoffte. Natürlich wollte keiner der Männer, die bei ihnen zu Hause auftauchten, eine ernsthafte Beziehung mit ihrer Mutter. Sie alle waren auf den schnellen Sex und das Abenteuer aus, die sie sich gerne ein paar schicke Klamotten und ein Taschengeld kosten ließen. Nach ein paar Wochen, in denen sie ihrer Mutter die ganz großen Gefühle vorgegaukelt hatten, verschwanden sie dann so plötzlich wieder, wie sie aufgetaucht waren. Ihre Mutter blieb dann enttäuscht zurück, heulte, fluchte und schimpfte auf alle Männer, behauptete, nie wieder etwas mit einem Kerl zu tun haben zu wollen – doch kurz darauf fand sie die nächste große Liebe und alles begann von neuem. So war es auch schon gewesen, als ihr Vater noch gelebt hatte, bis er irgendwann die endlosen Demütigungen durch sie nicht mehr ausgehalten hatte. Er war depressiv geworden, hatte Tabletten genommen und es irgendwann nicht mehr aus einem Schub heraus geschafft. Eine Woche nach ihrem zwölften Geburtstag war er abends in eine abgelegene Pension gefahren, hatte ihr einen langen Abschiedsbrief geschrieben, in dem er sich bei ihr entschuldigte, und dann eine Packung Benzodiazepine geschluckt, die er mit einer Flasche Wodka heruntergespült hatte.

Sie dachte kurz darüber nach, wie surreal es war, dass sie in ihrem Alter wusste, was Benzodiazepine waren, während andere Mädchen gerade eine vage Ahnung davon hatten, wozu die Anti-Baby-Pille gut war.

Am nächsten Morgen hatte die Putzfrau ihn gefunden – es war zu spät gewesen, sein Herz hatte bereits seit mehreren Stunden aufgehört zu schlagen. Sie hatte gewusst, dass etwas nicht stimmte, als sie aus der Schule nach Hause kam und den Polizeiwagen unten vor dem Haus stehen gesehen hatte. Eine dunkle Ahnung hatte sich wie ein schwarzer Schatten über ihre Seele gelegt und drohte sie auf dem Weg nach oben in die Wohnung zu ersticken. Wie ein bleiernes Band legte sich die Angst um ihre Brust und zog sich immer enger zu. Die Tür zur Wohnung stand offen und sie blieb stehen, unschlüssig, ob sie den Fuß über die Schwelle setzen sollte, als ein junger Polizist ihr entgegentrat. Er gab sich wirklich viel Mühe, ihr die bittere Wahrheit möglichst schonend beizubringen, doch sie hatte geweint, geschrien und getobt. Der eiligst herbeigerufene Rettungsassistent hatte sie vorsichtig weggeführt und so lange im Arm gehalten, bis der Notarzt ihr ein Beruhigungsmittel spritzte und sie sofort einschlief. Als sie in der Klinik erwachte, saß ihre Tante an ihrem Bett. Sie musste noch eine ganze Weile in der Klinik bleiben, denn die Weinkrämpfe und Panikattacken kamen fast jede Nacht. Nach zwei Wochen nahm ihre Tante sie mit zu sich nach Hamburg, wo sie weitere sechs Wochen blieb, bis sich ihre Mutter plötzlich wieder an ihre Existenz erinnerte und darauf bestand, dass sie zurück zu ihr nach Hannover zog. Sie hatte lange Zeit nicht verstanden, woher das plötzliche Interesse an ihr kam – bis irgendwann in einem Gespräch zwischen ihrer Tante und ihrer Mutter das Wort Halbwaisenrente fiel. Da verstand sie – es ging nicht um sie, es ging lediglich ums Geld.

Alle diese Erinnerungen gingen ihr durch den Kopf, als sie leise die Wohnungstür aufschloss und eintrat. Aus dem Schlafzimmer hörte sie Geräusche – Kichern und Stöhnen. Angewidert schüttelte sie den Kopf, stellte den Rucksack leise unter der Garderobe ab und verließ die Wohnung so lautlos, wie sie sie betreten hatte. Sie ging nach unten auf den Spielplatz und legte sich in das Vogelnest, in dem sie auf dem Rücken liegend leicht schaukelnd den Himmel betrachtete und ihren Gedanken nachhing. Noch knapp sechs Jahre, dann war sie volljährig und konnte diese Wohnung ein für alle Mal verlassen - und sie würde nie zurückkehren, so viel stand fest. Sie wusste nicht, wie lange sie tief in Gedanken versunken vor sich hingeschaukelt hatte, als eine Stimme sie zurück in die Wirklichkeit holte.

„Hej, was machst du denn schon hier? Früher Schule ausgehabt?“, es war Max, der in einem der Nachbarhäuser mit seinen Eltern wohnte und ihr einziger richtiger Freund war. Max war ein Jahr älter als sie und ging auf dasselbe Gymnasium wie sie, allerdings schon in die siebte Klasse.

„Ja, Chemie ist ausgefallen, der Hausmann hat die Grippe“, antwortete sie, während sie sich aufsetzte.

„Was machst du denn heute noch?“, wollte er wissen.

Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

Max schaute sie lange und intensiv an. „Du willst nicht nach Hause, hab ich Recht?“

Er war der Einzige, der von den Zuständen bei ihr zu Hause wusste, auch wenn er ihr nicht wirklich helfen konnte. Er lud sie, so oft es ging, zu sich nach Hause ein, damit sie ihrem tristen Dasein entfliehen konnte. Und sie nahm diese Einladungen gerne an, denn bei Max zu Hause war es gemütlich.

„Wenn du Lust hast, komm doch mit hoch, meine Mum hat sowieso wieder viel zu viel gekocht.“

Sie lächelte ihn scheu an. „Wird das deinen Eltern nicht zu viel, wenn ich so oft bei euch bin?“ Er schüttelte lachend den Kopf, seine stahlblauen Augen blitzten und neben seinen Mundwinkeln bildeten sich Grübchen. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus und sie stemmte sich aus dem Vogelnest hoch. Erleichtert folgte sie ihm in die Wohnung, wo Max‘ Mutter mit einem Küchenhandtuch im Bund ihrer Jeans am Herd stand und Bratkartoffeln in einer Pfanne wendete.

Sie drehte sich um. „Hallo Laura, schön dich zu sehen“, aus ihrer Stimme strahlte Wärme und Herzlichkeit, „du bleibst doch zum Essen.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. „In zehn Minuten können wir essen.“

Max brachte seine Schultasche in sein Zimmer, Laura folgte ihm und nebeneinander ließen sie sich auf seine Schlafcouch fallen.

„Was ist los mit dir?“ Max hatte ein sicheres Gespür dafür, wenn Laura etwas bedrückte.

„Ach, es ist nichts Besonderes. Immer wieder das gleiche halt. Gerade als ich aus der Schule nach Hause kam, war sie wieder mit ihrem neuen Lover im Schlafzimmer zugange. Jedes Mal, wenn ich das höre, dann kommt mir alles hoch.“

Max legte ihr die Hand auf den Arm. „Kann ich gut verstehen. Aber sie wird es nicht ändern – egal, wie sehr du dich aufregst.“

„Ich werde, wenn ich erwachsen bin, niemals heiraten und ich will auch nichts mit Männern zu tun haben“, sagte sie entschlossen und blickte ihren besten Freund an.

Max tat entrüstet. „Wie auch nicht mit mir?“

Sie lachte. „Mit dir ist es doch was Anderes – du bist mein bester Freund.“

„Weißt du was“, begann Max und blickte sie mit einem verschmitzten Grinsen an, „wenn wir erwachsen sind, heiraten einfach wir beide. Dann muss sich keiner von uns mit einem anderen Partner rumschlagen.“

„Das ist doch nicht dein Ernst?“, fragte Laura entgeistert. „Du bist mein Freund, ich kann dich nicht heiraten.“

„Natürlich kannst du.“ Max ließ sich nicht beirren. „Deal?“ Er streckte seiner besten Freundin die Hand hin.

Sie zögerte noch einen kurzen Moment, dann ergriff sie seine warme, trockene Hand. „Deal“, antwortete sie.

„Essen ist fertig“, klang die Stimme von Max‘ Mutter aus dem Flur.

„Komm, vergiss es einfach für eine Weile, die Bratkartoffeln meiner Mutter sind es definitiv wert.“

Sie lächelte ihn ein wenig schief an, folgte ihm aber dann in die Küche. Nach einem schönen Nachmittag ging sie am frühen Abend nach Hause, hoffend dass die neueste Affäre ihrer Mutter nicht mehr da war.

Sie schloss die Tür auf, hörte die Stimmen aus dem Wohnzimmer und wusste, dass sie sich getäuscht hatte. Leise schlich sie in ihr Zimmer und legte sich mit einem Buch auf ihr Bett. Irgendwann zog sie sich aus und legte sich schlafen. Sie hatte den ganzen Tag kein Wort mit ihrer Mutter gewechselt, aber es war auch egal. Sie interessierte sich sowieso nicht für sie. Sie schlief ein und hatte bereits tief und traumlos geschlafen, als sie hochschreckte. Ihre Zimmertür knarrte schon länger und bis jetzt war sie nicht dazu gekommen, sie zu ölen. Eine dunkle Gestalt schob sich in ihr Zimmer und, noch bevor sie einen Laut von sich geben konnte, legte sich eine Hand über ihren Mund.

„Halt die Klappe, dir wird keiner helfen.“ Er drängte sie zurück in die Kissen und schob seine freie Hand gierig unter ihr T-Shirt, unter dem sich die ersten sanften Rundungen ihrer Brüste abzeichneten. Entsetzen machte sich in ihr breit, als sie erkannte, was er vorhatte. Sie kniff die Oberschenkel zusammen, als er sich über sie legte, doch gegen den erwachsenen Mann und seine Kräfte hatte sie nicht den Hauch einer Chance. Mit seinem Knie drückte er ihre Beine auseinander, schob den Slip beiseite und dann folgte der furchtbarste Schmerz, den sie sich vorstellen konnte, als er wuchtig in sie eindrang. Sie hatte das Gefühl, er würde ihren Unterleib auseinanderreißen, doch bevor sie einen Laut von sich geben konnte, war die Hand wieder über Mund und Nase und sie hatte Angst, er würde sie auch noch ersticken. Ungeduldig bewegte er sich in ihr, jede Bewegung brannte wie flüssiges Feuer, bis er endlich ejakulierte. Er zog sich aus ihr zurück, wischte seinen Penis ab und verschwand ohne ein weiteres Wort aus ihrem Zimmer. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sie den Mut, das Licht anzumachen und die Decke zurückzuschlagen. Auf dem Laken zwischen ihren Beinen war Blut, ihr ganzer Körper schmerzte und sie fühlte sich schmutzig. Als sie sicher war, dass alle fest schliefen, stand sie leise auf, ging ins Bad, stellte sich unter die Dusche und schrubbte, bis ihre Haut krebsrot war und das Brennen am ganzen Körper das Brennen zwischen ihren Beinen überwog. Sie zog das Bettzeug ab und legte sich wieder hin – das Grauen immer noch in ihrem Kopf.

Vier Wochen später war dieses Grauen Teil ihres Alltags geworden. Fast jede Nacht kam der neue Freund ihrer Mutter zu ihr und der Versuch, sich ihr anzuvertrauen, war kläglich gescheitert. Das Schlimmste war, dass ihre Mutter davon wusste und es duldete, nur um ihre Affäre zu behalten. Sie hatte ihre Tochter einfach für ihre eigenen Bedürfnisse verkauft. Jetzt war sie endgültig allein auf dieser Welt.

16. Oktober 2017 – Montag, 16:50 Uhr

Anna stand in der Küche, als sie die Haustür ins Schloss fallen hörte. Sie hatte schon mittags Feierabend gemacht und für Robert und sich ein leckeres Abendessen gekocht. Tom und Hanno hatten sich mit Pauline verabredet, die während der Herbstferien ihre Eltern in den USA besucht hatte. Die beiden Jungen hatten eine Woche Partyurlaub am Ballermann hinter sich; Anna war zunächst nicht so richtig begeistert gewesen, aber Robert hatte sie beruhigt und ihr gesagt, dass der Junge mit 18 ruhig mal eine Woche nach Mallorca fliegen könne. Sie hatte zugestimmt, schweren Herzens, aber jetzt musste sie zugeben, dass sie die Woche ungestörter Zweisamkeit ziemlich genossen hatte. Die Zeit hatte ihnen beiden und ihrer Beziehung gutgetan und sie wollte Robert heute Abend ein wenig von dem zurückgeben, was er in den letzten Jahren für sie getan hatte. Außerdem war heute Marinas letzter Arbeitstag im Präsidium gewesen. Mit dem Resturlaub des Jahres hatte sie sich heute in den Mutterschutz verabschiedet. Sie hatte eine dunkle Ahnung, dass ihm das wesentlich mehr zu schaffen machen würde, als er bis jetzt zugegeben hatte. Marina war über Jahre hinweg seine Partnerin und auch beste Freundin gewesen.

Er betrat die Küche und blieb in der Tür stehen.

„Habe ich irgendetwas vergessen – Geburtstag, Namenstag, Hochzeitstag?“, er klang müde und abgespannt. Anna trat vor ihn, verschränkte die Arme in seinem Nacken und küsste ihn auf den Mund. Er erwiderte den Kuss und vergrub dann die Nase in ihren kupferfarbenen Locken, deren Duft ihm immer ein Trost war.

„Du hast nichts vergessen“, beruhigte sie ihn, „ich wollte nur den Abend für uns nutzen, weil die Jungs nicht da sind.“

Er hielt sie weiter fest umschlungen und ihre Ahnung bestätigte sich. „Es ist Marinas Abschied“, stellte sie fest, sie brauchte nicht zu fragen. Er seufzte. Er wusste nicht, wie er seine Gefühle beschreiben sollte.

Sie zog ihn mit sich an die Küchentheke. „Jetzt essen wir erstmal“, sie entkorkte eine Flasche Wein und drückte ihn auf einen der Hocker. Er schaute seiner Frau zu, wie sie den Rosé-Wein in die Gläser goss und sich dann ihm gegenüber hinsetzte. Er konnte nicht anders – auch wenn er sich hundeelend fühlte, weil er Marina schon jetzt vermisste – er musste lächeln.

„Du bist einfach unglaublich.“ Und dann war es plötzlich ganz einfach, darüber zu reden. „Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so viel ausmacht, aber als sie sich heute verabschiedet hat, da habe ich mich gefühlt, als würde ein Teil von mir zur Tür rausgehen. Sieben Jahre und auf einmal stehe ich allein da. Ich weiß, dass sich das total bescheuert anhört, aber so fühle ich eben.“

Anna umschloss seine Hände mit ihren. „Tut es nicht, es ist doch ganz normal.“ Sie grinste verschmitzt. „Immerhin verbringt ihr Polizeibeamte mehr Zeit mit euren Partnern als mit euren Familien.“

„Tun wir gar nicht“, wollte er empört protestieren, als er merkte, dass sie ihn nur auf den Arm genommen hatte. Er küsste nacheinander alle ihre Fingerspitzen, als vom Herd ein verräterisches Zischen kam.

„Essen ist fertig“, sie stand auf und füllte die Teller an der Anrichte. Sie aßen und Robert merkte, wie er sich langsam entspannte, auch wenn er immer noch Angst vor dem ersten Tag im Büro ohne seine langjährige Partnerin hatte. Nach dem Essen verbrachten sie den Rest des Abends auf der Couch vor dem Fernseher. Sie tranken die Flasche Wein aus und gingen dann zu Bett. Tom und Hanno hatten beim Nachhausekommen nur kurz den Kopf durch die Tür gesteckt und sich dann direkt in ihre Zimmer verzogen. Um halb elf gingen sie auch nach oben, Robert kuschelte sich fest an seine Frau und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter. Sie hielt ihn einfach fest, bis seine tiefen gleichmäßigen Atemzüge ihr verrieten, dass er eingeschlafen war.

16. Oktober 2017 – Montag, 21:40 Uhr

Er lag in seinem Bett und starrte die Decke an. Seit er in dem Pflegeheim untergebracht war, waren seine Tage ein eintöniger Brei aus immer wieder demselben Ablauf. Morgens um sechs Uhr wurden sie geweckt, dann half die Pflegerin ihm beim Waschen und Anziehen und nach dem Frühstück verbrachte er seinen Vormittag in seinem Sessel am Fenster, bis es dann um halb zwölf Mittagessen gab. Dann die Mittagsruhe. Danach saß er vor dem Fernseher und wartete, dass es Abend wurde. Besuch bekam er keinen und in seinen lichten Momenten ging es ihm manchmal durch den Kopf, dass das hier kein lebenswertes Leben mehr war. Sein ganzes Geld nützte ihm hier nichts mehr – er konnte sich zwar das teuerste Pflegeheim der Stadt leisten, aber Zuneigung konnte man eben mit Geld nicht kaufen. In seinen jüngeren Jahren hatte er alles mitgenommen, was das Leben ihm zu bieten hatte – zahlreiche Affären, während seine Frau in der luxuriösen Wohnung saß und auf ihn wartete. Er war ein erfolgreicher Unternehmensberater gewesen und mit seinem Geld hatte er alles bekommen und wenn er es nicht freiwillig bekam, hatte er es sich genommen. Irgendwann war dann seine Frau mit dem Kind verschwunden gewesen. Sie hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen und auch nur das Nötigste mitgenommen. Er hatte weder sie noch seinen Sohn danach je wiedergesehen. Besonders um seinen Sohn tat es ihm leid. Er hätte gerne gewusst, was heute aus dem Jungen geworden war. Offensichtlich hatten die beiden ihre Namen geändert, denn er hatte sie suchen lassen, sie aber nicht gefunden. In seinem Testament hatte er seinen Sohn, der inzwischen Anfang dreißig war, als Alleinerben eingesetzt und den Notar, bei dem er es hinterlegt hatte, damit beauftragt, ihn zu finden. Gutmachen konnte er die Fehler seiner Vergangenheit nicht mehr, aber der Junge sollte wenigstens finanziell abgesichert sein.

Einer der wenigen Lichtblicke in seinem Alltag war die Praktikantin, die seit einigen Wochen ihren Dienst im Pflegeheim versah. Eine junge Frau, vielleicht Anfang zwanzig, die diesen Beruf offensichtlich aus purem Idealismus lernen wollte. Oder sie war einfach noch nicht von der Bürokratiemühle verdorben worden – einer Mühle, die von unmenschlichen Patientenschlüsseln und Zeitnot bestimmt wurde, in der menschliche Nähe und die Wertschätzung des Lebens völlig untergingen. Selbst wenn er sich ein Pflegeheim leisten konnte, in dem der monatliche Unterhalt eine fünfstellige Summe kostete, so hatte auch hier niemand wirklich Zeit für die Patienten. Linda, die junge Frau, war da ganz anders. Sie fragte immer, ob sie noch etwas für ihn tun könne oder blieb einfach mal ein paar Minuten, um sich mit ihm zu unterhalten – an seinen guten Tagen erzählte er ihr von seiner Firma und seinem Job, an den weniger guten las sie ihm manchmal etwas aus der Zeitung vor, auch wenn sie nie sicher sein konnte, dass es auch zu ihm durchdrang. Sie war mittelgroß und schlank mit schulterlangen braunen Haaren und rehbraunen Augen und das besondere an ihr war, dass sie immer für jeden ein Lächeln oder ein freundliches Wort übrighatte. Mit diesen Gedanken schlief er irgendwann ein.

17. Oktober 2017 – Dienstag, 07:50 Uhr

Robert stieß die Tür zu seinem Büro mit dem Fuß auf, denn er hatte eine Platte mit belegten Brötchen dabei. Wenn er sich schon mit einem neuen Kollegen abgeben musste, dann wollte er wenigstens seinen Teil zu einem guten Start beitragen. Dennis Winterberger hieß Marinas Vertretung, war 29 Jahre alt und hatte die Polizeischule mit ausgezeichneten Noten in allen Bereichen abgeschlossen. Auch wenn das natürlich noch keinen guten Polizisten ausmachte – er hatte beschlossen, dem Kollegen eine Chance zu geben. Er war nicht der Erste im Büro, wie er gehofft hatte. An Marinas Schreibtisch – und das versetzte ihm ungewollt einen Stich in der Magengegend – saß bereits der neue Kollege und nichts sah mehr im Geringsten so aus wie noch gestern Nachmittag.

‚Reiß dich zusammen‘, ermahnte Robert sich in Gedanken. ‚Gib ihm eine Chance.‘

Laut sagte er: „Guten Morgen, Robert Kunz“, er stellte die Platte mit den Brötchen auf dem kleinen Tisch unter dem Fenster ab und streckte dem Kollegen die Hand entgegen, „du musst der neue Kollege sein.“

Winterberger zog abschätzend die Augenbrauen hoch und ergriff die dargebotene Hand. Sein Händedruck war kalt, Robert hatte eine Sekunde lang das Gefühl, einen nassen glitschigen Fisch in der Hand zu haben.

„Aber ich bevorzuge das Sie – auch unter Kollegen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Natürlich nicht, Herr Winterberger“, erwiderte Robert mit einem Pokerface, das nichts von seinen wahren Gefühlen verriet. Er dachte sich: ‚Na, das kann ja heiter werden‘, bevor er einen neuen Versuch der Kontaktaufnahme startete. „Ich habe mir erlaubt, zum ersten Arbeitstag etwas zum Frühstück mitzubringen.“

Er befüllte die Kaffeemaschine, drückte auf den Knopf und lauschte dem Geräusch des durchlaufenden Kaffees, während sich im Büro der Duft ausbreitete. In diesem Moment öffnete sich die Tür erneut und Kommissariatsleiter Schulte trat ein – in der einen Hand eine Flasche Sekt, in der anderen drei Gläser.

„Einen wunderschönen guten Morgen“, begrüßte er sein neues Team und stellte die Gläser neben die Brötchen auf den kleinen Tisch. „Dann können wir ja direkt anstoßen.“

„Alkohol im Dienst ist aber gegen die Vorschrift“, sagte der neue Kollege, ohne den Gruß zu erwidern. Robert und Schulte tauschten einen Blick, der Bände sprach.

„Das“, Robert dehnte das A endlos und zog in der für ihn so typischen Art die eine Augenbraue hoch, „ist unser neuer Kollege. Darf ich vorstellen – Herr Winterberger. Herr Winterberger bevorzugt das ‚Sie‘ im Dienst.“

Schulte zog für einen kurzen Augenblick die Augenbrauen nach oben, zuckte dann aber gleichmütig mit den Schultern. „Jedem das Seine.“

Er streckte Winterberger die Hand hin, wie zuvor auch Robert – was hinter seiner Stirn vorging, konnte ja niemand sehen. Insgeheim dachte auch er, dass das hier eine Menge Potential für Konflikte barg, denn die Spannung, die zwischen Robert und dem neuen Kollegen im Raum stand, ließ sich förmlich mit den Händen greifen.

‚Wahrscheinlich bin ich einfach verwöhnt, weil ich jahrelang ein Dream-Team in diesem Büro sitzen hatte‘, ging es ihm durch den Kopf. „Na, dann wollen wir mal frühstücken und mit alkoholfreiem Sekt“, er betonte das Wort überdeutlich, „auf gute Zusammenarbeit anstoßen.“ Er öffnete die Flasche und schenkte ein.

„Kann ich Sie gleich mal kurz unter vier Augen sprechen?“, raunte Robert ihm zu, als er ihm die Platte mit den belegten Brötchen reichte.

„Natürlich, aber ich weiß, was Sie mir sagen wollen, nur – ich kann es nicht ändern.“ Sie aßen schweigend, ein Gespräch wollte nicht zustande kommen. Robert dachte mit Grauen an die nächsten Monate, bis Marina wieder an seiner Seite arbeiten würde.

„Ich habe mit Kommissar Kunz noch etwas zu besprechen“, wandte sich Schulte schließlich an den neuen Kollegen. „Vielleicht machen Sie sich schon einmal mit den laufenden Fällen vertraut, allzu viel ist im Moment ja im K9 nicht zu tun. Aber“, und mit diesem Satz wandte er sich an beide Kollegen, „das gibt uns die Gelegenheit, hier endlich einmal Ordnung in die liegengebliebenen Akten zu bringen.“

Er konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen, denn es gab nicht einen Ermittler, der diese Arbeit nicht hasste wie die Pest und jeder war froh, wenn ein neuer Fall hereinkam, der dann das Ende dieser eintönigen und verhassten Arbeit bedeutete.

„Ich habe heute Morgen bereits begonnen“, beeilte Winterberger sich, dienstbeflissen zu sagen.

„Streber“, murmelte Robert, als sie den Raum verließen, um in Schultes Büro zu gehen. Kaum hatte dieser die Tür hinter sich geschlossen, platzte es aus Robert heraus. „Der Typ hier geht gar nicht, mit dem halte ich es keine Sekunde länger aus. Spätestens wenn der sich beim nächsten Fall so benimmt, dann bringe ich ihn um.“

Schulte wies auf den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch, Robert ließ sich mit einem Seufzer darauf fallen und streckte seine langen Beine vor sich aus.

Schulte schaute ihn einen Moment lang an, dann seufzte er tief. „Ich kann Sie ja verstehen“, gab er zu, „der erste Eindruck war nun wirklich nicht besonders. Aber seine Bewertungen und Zeugnisse von den anderen Dienststellen waren alle einwandfrei.“

„Wahrscheinlich war das deren einzige Möglichkeit, ihn auf elegante Art loszuwerden“, grummelte Robert. „Das kennt man doch. Wenn er sich nichts zuschulden kommen lässt, dann wird man so einen Kollegen nur auf eine Art und Weise los – man lobt ihn weg. Und jetzt haben wir ihn am Hals und loswerden können wir ihn nicht.“

Über Schultes Gesicht zuckte ein kleines verstohlenes Grinsen. „Also werden Sie sich den Kollegen zurechtbiegen. Er wird sich schon an die Methoden hier im K9 gewöhnen.“

Robert schaute seinen Chef erstaunt an. „Das haben Sie mir aber jetzt nicht ernsthaft ans Herz gelegt?“, wider Willen musste auch er grinsen. Auch wenn er der Situation nicht viel Gutes abgewinnen konnte, dann blieb ihm wohl nichts anderes übrig als Schultes Idee zu versuchen. „Versuchen können wir es ja“, sagte er und fühlte sich ein wenig besser dabei, „aber Ihnen ist schon bewusst, dass das ein hartes Stück Arbeit wird.“

„Oh ja“, bestätigte Schulte, „aber mit Sicherheit auch kein Spaß für den Kollegen.“ Der Zug um seinen Mund hatte ein bisschen etwas Diabolisches und Robert musste lächeln.

„Dann mal auf in den Kampf. Als Erstes werde ich den lieben Kollegen mal in die Praxis des Aufarbeitens von Akten einführen – davon sind in den letzten Monaten nämlich genug liegengeblieben.“ Er stand auf, zwinkerte Schulte ein letztes Mal beim Herausgehen zu und machte sich auf den Weg zurück ins Büro. Dann sollte der gute Herr Winterberger doch einmal die Polizeiarbeit von einer ganz anderen Seite kennenlernen.

17. Oktober 2017 – Dienstag, 09:30 Uhr

„Guten Morgen, Herr Zimmermann“, die Pflegerin stieß die Tür zum Zimmer des alten Mannes auf, „jetzt ist es aber langsam Zeit zum Aufstehen.“

Sie blieb verwundert stehen, denn am Bett des Mannes brannte kein Licht.

„Herr Zimmermann?“, sie trat vorsichtig an das Bett heran. Der Mann lag ruhig und friedlich da – zu ruhig und zu friedlich. Ihr stockte der Atem, sie legte vorsichtig zwei Finger an den Hals des Mannes, doch nach dem Puls brauchte sie nicht mehr zu tasten, seine Haut war schon eiskalt. Entsetzt wich sie zurück und lief auf den Gang, denn das war ihr erster Toter, auch wenn der Tod im Pflegeheim ein ständiger Begleiter war. Doch Herr Zimmermann war zwar im Anfangsstadium dement gewesen, aber körperlich in sehr gutem Zustand. Der Arzt wurde gerufen, sagte aber, dass er erst in zwei bis drei Stunden da sein könne, weil die Lebenden schließlich Vorrang vor den Toten hätten. Recht hatte er, doch es klang schon pietätlos.

Lena, die Praktikantin, kam in das Schwesternzimmer und schaute sich verwundert um. „Was ist denn hier los?“ Sie erklärten es ihr und die junge Frau war wirklich geschockt. Sie ging in das Zimmer des toten Mannes, um sicherzugehen, dass wirklich kein Irrtum vorlag. Sie schlug die Decke ein wenig zurück und schob die Ärmel über den steifen kalten Armen hoch. Als sie den Pyjama schon wieder herunterschieben wollte, fiel ihr am rechten Arm ein dunkler Fleck auf. Es sah auf den ersten Blick aus wie ein normaler Bluterguss, doch irgendwie kam es ihr komisch vor. Sicher, dass ihr sowieso keiner glauben würde, zog sie ihr Handy aus der Tasche und machte drei Fotos von dem seltsamen Fleck. Sie zog die Ärmel vorsichtig wieder herunter, deckte den alten Mann wieder zu und verließ nach einem letzten Blick auf den Mann leise das Zimmer.

Zwei Stunden später kam dann endlich der herbeigerufene Arzt. Er überprüfte die Vitalfunktionen, die ja schon seit Stunden nicht mehr vorhanden waren, und unterschrieb den Totenschein. Als Todesursache trug er „Herzversagen“ ein. Für ihn war ein natürlicher Tod selbstverständlich, den seltsamen Fleck hatte er gar nicht zur Kenntnis genommen. Sie überlegte kurz, den Arzt oder die Heimleitung darauf anzusprechen, verwarf den Gedanken aber wieder. Wer würde einer kleinen Praktikantin schon glauben? Davon abgesehen war es nirgendwo gern gesehen, wenn in einem Pflegeheim ermittelt wurde. Das wirbelte immer Staub auf und gab negative Publicity. Und die konnte kein Pflegeheim gebrauchen. Wahrscheinlich würde sie ihren Job verlieren, also verwarf sie den Gedanken wieder. Wer sollte schon einem netten alten Rentner wie Herrn Zimmermann etwas antun wollen? Vielleicht hatte sie ja auch einfach nur Gespenster gesehen? Sie verbannte die Gedanken aus ihrem Kopf und ging zurück an ihre tägliche Arbeit.

17. Oktober 2017 – Dienstag, 12:30 Uhr

Seit Stunden arbeiteten Robert und der neue Kollege Dennis Winterberger nun die alten Akten auf, die während der letzten Ermittlungen liegengeblieben waren. Winterberger schaffte es tatsächlich, stundenlang ohne Unterbrechung auf den Bildschirm zu starren, ohne auch nur ein einziges Wort zu sprechen oder auch nur einmal aufzusehen. Robert hatte das Büro zwischendurch zweimal verlassen – das erste Mal, um mit Marina zu telefonieren, die sich zu Hause zu Tode langweilte und das zweite Mal einfach nur, weil ihn die lärmende Stille schier wahnsinnig machte. Natürlich erzählte er Marina nicht, wie grausam ihre Vertretung war und wie sehr er sich seine Kollegin zurücksehnte. Das hätte diese zum Anlass genommen, innerhalb der nächsten Viertelstunde in der Tür zu stehen. Irgendwann, wenn sie sich an das zu Hause sein gewöhnt hatte, würde er ihr von dem furchtbaren Kollegen erzählen. Selbst als er zum zweiten Mal das Büro verließ, hatte Winterberger noch nicht einmal aufgesehen. Robert war ziellos durch das Präsidium gestreift und dann auf eine Tasse Kaffee bei den Kollegen vom OK gelandet. Die hatten immer etwas Interessantes zu erzählen und sie hatten erst vor etwas mehr als einem Jahr zusammengearbeitet, als sie die illegalen Wettbetrüger hatten hochgehen lassen, die seinen Freund Dominik fast umgebracht hatten. Er schauderte bei dem Gedanken an diese unschöne Episode, aber letzten Endes war doch alles gut ausgegangen. Und auch wenn Nießen und er nicht immer auf einer Wellenlänge gelegen hatten, so hatte er ihn doch als guten und ehrlichen Kollegen schätzen gelernt.