Todeskleid - Karen Rose - E-Book + Hörbuch

Todeskleid Hörbuch

Karen Rose

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Beschreibung

Rasant, hochspannend, romantisch – der zweite Thriller in Karen Roses Baltimore-Reihe im neuen Look! Die Nerven liegen blank. Privatdetektivin Paige Holden steht vor ihrem brenzligsten Fall: Sie vertritt einen Klienten, der wegen Mordes im Gefängnis sitzt. Unschuldig, behauptet er. Wer aber hat den brutalen Mord an dem 12-jährigen Mädchen im blauen Kleid verübt? Die attraktive Privatdetektivin findet heraus, dass es eine ganze Serie toter Mädchen gibt. Alle blondgelockt, alle blau gekleidet. Durch ihre Ermittlungen bringt sich Paige selbst in größte Gefahr. Ein Scharfschütze verfehlt sie nur um Millimeter. Höchste Zeit, den charismatischen Staatsanwalt Grayson Smith um Hilfe zu bitten … "Der knallharte Thriller 'Todeskleid' von Karen Rose zeichnet sich durch akribische Recherche, präzisen Spannungsaufbau, psychologische Raffinesse und einen betörenden Schuss Romantik aus." (Tagblatt) "700 Seiten Spannung, am besten mit Handschuhen zu lesen, um nicht an den Fingernägeln zu kauen." (Hit Radio RT1) Die Baltimore-Thriller von Bestseller-Autorin Karen Rose sind in folgender Reihenfolge erschienen: Band 1: "Todesherz" Band 2: "Todeskleid" Band 3: "Todeskind" Band 4: "Todesschuss" Band 5: "Todesfalle"

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Zeit:7 Std. 18 min

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Karen Rose

Todeskleid

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kerstin Winter

Knaur e-books

Über dieses Buch

Privatdetektivin Paige Holden vertritt einen Klienten, der wegen Mordes im Gefängnis sitzt. Unschuldig, behauptet er. Wer aber hat den brutalen Mord an dem zwölfjährigen Mädchen im blauen Kleid verübt? Die attraktive Privatdetektivin findet heraus, dass es eine ganze Serie toter Mädchen gibt. Alle blondgelockt, alle blau gekleidet. Durch ihre Ermittlungen bringt sich Paige selbst in größte Gefahr. Ein Scharfschütze verfehlt sie nur um Millimeter. Höchste Zeit, den charismatischen Staatsanwalt Grayson Smith um Hilfe zu bitten …

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. KapitelDankKaren Rose bei KnaurLeseprobe »Todesnächte«
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Für meine liebe Mom, die in einem schwierigen Jahr Stärke, Anmut und Glauben bewiesen hat.

 

Für meine sensei, Sonie Lasker. Du fehlst mir, Mädchen, aber ich bin so stolz auf dich!

 

Und für Martin. Ich liebe dich ewig.

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Prolog

Sechs Jahre zuvor

Er war in der Nähe. Crystal glaubte, seinen schweren Atem hören zu können, und spürte, dass er sie beobachtete. Wenn sie nach rechts über die säuberlich getrimmte Hecke schaute, würde sie ihn sehen. Sein Blick wäre gierig, sein Körper erregt. Aber sie würde nicht hinsehen. Diese Befriedigung gönnte sie ihm nicht.

Stattdessen spähte sie über ihre Schulter. Die Tür zum Gärtnerschuppen stand einen Spalt offen, genau wie er es angekündigt hatte.

Der Gärtnerschuppen. Sie hob das Kinn. Er hätte sich überall auf diesem stattlichen Anwesen mit ihr treffen können, aber er hatte den Gärtnerschuppen gewählt. Dafür würde er büßen. Er würde für alles büßen, was er getan hatte.

Leise drückte sie die Schuppentür auf und warf einen Blick zurück. Die Party am Pool war in vollem Gang und die Musik so laut, dass man sie wahrscheinlich noch im benachbarten County hören konnte. Zum Glück war das Grundstück riesig, andernfalls hätten die Cops längst auf der Matte gestanden und Verwarnungen verteilt. Sie lächelte verbittert. Was für eine absurde Vorstellung.

Als würde die Polizei es je wagen, hier jemanden zu verwarnen!

Für die Feiernden war das natürlich eine gute Sache. Und für mich auch. Das Partyvolk war so sehr damit beschäftigt, sich zu amüsieren, dass ihr Fehlen nicht weiter auffallen würde. Im Pool ging es besonders hoch her – Koks und Sex sorgten für eine enthemmte Stimmung –, doch auch auf der Tanzfläche unter den Lampionketten wogten die erhitzten Leiber. Wer noch angezogen war, trug Designerkleidung, und Crystal war froh, dass sie so schlau gewesen war, in das teure Kleid und die noch teureren Schuhe zu investieren. Ihre Kreditkarte war hoffnungslos ausgereizt.

Aber sie hatte sich anpassen müssen. Gut genug jedenfalls, um sich Zugang zu der Party der Saison zu verschaffen, und genau darauf kam es an. Sie hatte unbedingt herkommen wollen – nein, müssen! Um sein Gesicht zu sehen, wenn sie ihm sagte, wer sie wirklich war. Wenn sie ihm sagte, dass sie etwas besaß, das ihn ruinieren würde.

Dass er nun in ihrer Hand war!

Er würde schockiert sein. Wie vom Donner gerührt. Vielleicht würde er sich sogar aufs Betteln verlegen.

Crystal lächelte. Das wäre schön.

Sie warf noch einen letzten Blick zu dem großen Haus auf dem Hügel oberhalb des Partygeschehens. Er hätte mich auch in eines der Schlafzimmer bestellen können. Immerhin gab es dort oben mindestens zehn, und jedes sah aus wie aus einer Wohnzeitschrift.

Aber nein – sie stand hier unten vor dem Gärtnerschuppen. Nun, egal. Eines Tages gehört das alles mir.

Sie schloss die Tür und sah sich stirnrunzelnd um. Das war wahrhaftig ein Gärtnerschuppen! Drinnen war alles penibel aufgeräumt, jedes Werkzeug, jede Maschine, die ein Gärtner zur Instandhaltung und Pflege eines Grundstücks von dieser Größe benötigen mochte, stand an Ort und Stelle. Den meisten Platz nahmen zwei Aufsitzmäher ein. Daher der Geruch nach Benzin, der ihr gleich beim Betreten des Schuppens aufgefallen war! Kein praktisches Feldbett weit und breit. Eigentlich überhaupt kein Platz, um irgendetwas zu tun.

Crystal verdrehte die Augen. Hinknien könnte man sich. Das wäre typisch.

Hinter ihr öffnete und schloss sich die Tür. »Amber«, sagte er.

Crystal gab sich einen Moment Zeit, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Amber. Der Name, den sie ihm genannt hatte. Hätte er gewusst, wie sie wirklich hieß, hätte er sich niemals mit ihr hier getroffen. Er hätte sie ignoriert, so wie er ihre Nachrichten ignoriert hatte, die sie dem verdammten Butler oben im Haus durchgegeben hatte. Das war das Problematische an Erpressung. Man musste zunächst das Interesse des zukünftigen Opfers wecken, damit es einem zuhörte. Erst dann ließen sich die Bedingungen festlegen. Aber nun hatte sie seine Aufmerksamkeit. Endlich.

Los geht’s, Mädchen. Spiel deine Rolle und spiel sie gut. Deine Zukunft hängt von den nächsten fünf Minuten ab.

»Du bist gekommen«, murmelte sie mit verführerischer Stimme. »Ich war mir nicht sicher.«

Er lachte leise, aber es klang alles andere als freundlich. »Du wusstest doch, dass ich hier bin und dich beobachte.«

»Stimmt«, erwiderte sie in laszivem Ton. »Ich hatte auf etwas … Gemütlicheres gehofft. Damit wir entspannt reden können.«

»Reden? Hm. Wohl kaum. Crystal«, fügte er hinzu, und sie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte.

»Du hast es gewusst«, flüsterte sie.

»Natürlich. Ich habe dich beschatten lassen. Wenn ein hübsches Mädchen wie du auf mich zukommt, noch dazu mit so schönen goldblonden Locken, dann muss ich vorsichtig sein. Es gibt so viele schlechte Menschen, Crystal. Man weiß nie, wer etwas Dummes ausprobieren will. Erpressung zum Beispiel. Willst du mich erpressen, Crystal?«

Panik stieg in ihr auf. Mit bemüht langsamen Bewegungen griff sie in ihre Handtasche, um das als Lippenstift getarnte Pfefferspray aus ihrem winzigen Täschchen zu angeln. Sie war froh, dass sie nicht unvorbereitet hergekommen war. Im Geist zählte sie die Schritte zur Tür. Sechs. Sechs Schritte schaffte sie. Musste sie schaffen, um ihm zu entkommen.

Keine hektischen Bewegungen. Hol das Spray aus der Tasche. Zeig ihm nicht, dass du Angst hast. Das würde ihm gefallen.

Er kam näher, bis sie die Wärme seines Körpers spürte. »Du hättest nicht kommen sollen.« In seiner Stimme lag ein spöttischer Unterton, und plötzlich war ihr eiskalt.

»Ich habe Be…« Etwas Seidiges strich leicht über ihre Wangen, legte sich um ihren Hals und zog sich zu. Beweise. Ich habe Beweise. Aber die Worte wollten nicht herauskommen.

Ich kriege keine Luft mehr. Instinktiv griff sie sich an die Kehle, wand sich, schlug um sich. Panisch trat sie nach hinten aus in der Hoffnung, sein Knie oder zwischen die Beine zu treffen, doch er zerrte sie hoch, bis ihre Füße keinen Bodenkontakt mehr hatten.

Nein! Bitte nicht! Ihre Lungen brannten. Sie zog die Hand mit dem Pfefferspray aus der Tasche und versuchte hektisch, mit dem Daumen die Verschlusskappe zu lösen. Ich muss hier weg. Nur weg.

Endlich spürte sie, dass die Kappe sich löste. Ich will nicht sterben. Bitte hilf mir, ich will nicht sterben.

»Du Schlampe«, murmelte er. »Kommst her und bedrohst mich, mich und meine Familie. Hast du wirklich geglaubt, dass du damit durchkommst?«

Sie zielte mit dem Sprühkopf, aber er packte ihr Handgelenk, verdrehte es und drückte die Hand nieder, bis sie auf Höhe ihres Gesichts war, dann presste sich sein Finger auf ihren. Ein neuer Schmerz durchfuhr sie, ihre Augen brannten wie Feuer, und sie wollte schreien, doch ihre Stimme versagte. Sie ließ die Spraydose fallen, riss ihre Hände los und rieb sich verzweifelt die Augen.

Das tut so weh! Bitte hör doch auf. Bitte hör doch –

 

Schwer atmend trat er zurück. Ihre Arme baumelten schlaff an ihren Seiten herab; als er sie losließ, sackte sie leblos zu Boden. Sie war tot. Er hatte sie getötet.

Ich hab’s getan. Seit langem schon hatte er sich gefragt, wie es sich anfühlte, wenn man jemanden tötete – nun wusste er es. Er hatte es endlich getan.

Dieses Miststück. Hat wirklich geglaubt, sie könne einfach herkommen und mir zeigen, wo es langgeht. Nun, sie hatte sich geirrt. Niemand versucht, mich zu gängeln. Er knüllte das Seidentuch, mit dem er sie erwürgt hatte, zusammen und stopfte es in seine Tasche, dann bückte er sich, sammelte ihre Sachen auf und versteckte sie unter seiner Jacke. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass nichts liegen geblieben war, öffnete er die Tür einen Spaltbreit und spähte hinaus.

Niemand kam. Niemand sah her. Alle feierten. Amüsierten sich. Die Musik der Band würde jedes Geräusch übertönt haben. Er schlüpfte aus dem Schuppen und verschwand hinter der Hecke. Geschafft.

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1. Kapitel

Baltimore, Maryland, Dienstag, 5. April, 6.00 Uhr

Paige Holden setzte ihren Pick-up verärgert in die letzte freie Parklücke auf dem Gelände. War ja klar, dass diese nicht weiter von ihrer Wohnung entfernt hätte liegen können. War ja klar, dass es regnete.

Wenn du zu Hause wärest, hättest du jetzt gemütlich in deine Garage fahren und im Trockenen aussteigen können. Du hättest Minneapolis niemals verlassen sollen. Was hast du dir bloß dabei gedacht?

Ihre Spottstimme. Sie hasste ihre Spottstimme. Sie schien sich immer dann in ihrem Bewusstsein einzunisten, wenn sie ihr am wenigsten entgegenzusetzen hatte. Zum Beispiel, wenn sie vollkommen erschöpft war. Wie jetzt.

»Zieh bloß Leine«, murrte sie, und der Rottweiler auf dem Beifahrersitz stieß ein tiefes Grollen aus, das Paige als Zustimmung wertete. »Wenn wir zu Hause geblieben wären, dann wäre das kleine Kind jetzt noch immer bei seiner Schlampe von Mutter.« Sie presste die Kiefer zusammen, als die nur wenige Stunden alte Erinnerung in ihr aufstieg. Den entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen würde sie wohl niemals vergessen. Wollte es auch gar nicht.

Heute Nacht hatte sie etwas bewirkt. Sie, Paige Holden, hatte dazu beigetragen, dass ein Mensch vor einem schlimmen Schicksal bewahrt werden konnte. Und genau das musste sie sich vor Augen führen, wenn sich wieder einmal ihre Spottstimme einmischte. Die Gesichter der Opfer, denen sie hatte helfen können, waren die Erinnerungen, die sie heraufbeschwören musste, wenn sie aus ihren Alpträumen hochschreckte. Wenn das Schuldgefühl in ihrer Kehle aufstieg und sie zu ersticken drohte.

Zachary Davis würde sein Leben leben können. Zumindest auf lange Sicht. Weil ich heute Nacht da war.

»Das haben wir gut gemacht, Peabody«, sagte sie mit fester Stimme. »Du und ich, wir beide.«

Der Hund scharrte mit der Vorderpfote an der Tür. Er war stundenlang mit ihr im Wagen eingepfercht gewesen und hatte geduldig gewartet. Seine Pflicht getan. Und auf mich aufgepasst.

In seiner Anwesenheit fühlte sie sich sicherer, auch wenn es sie ärgerte, dass sie immer noch seinen Schutz brauchte, um nachts ruhig schlafen zu können, dass sie trotzdem noch zusammenfuhr, sobald sie in unmittelbarer Umgebung eine plötzliche Bewegung wahrnahm. Aber so war es nun einmal, und nur langsam lernte sie, damit umzugehen. Ihre Freunde zu Hause hatten sie zur Geduld ermahnt: Es sei erst neun Monate her, und sich von einem Überfall zu erholen konnte Jahre dauern.

Jahre! Paige dachte nicht daran, so lange zu warten. Mit einer unwirschen Bewegung zog sie sich die Kapuze über den Kopf und befestigte die Leine an Peabodys Halsband. Sie würde ihn Gassi führen, sich einen Kaffee besorgen und anschließend schnell unter die Dusche springen, bevor sie zu ihrem nächsten Termin aufbrach.

Schlafen konnte sie später. Wenn sie müde genug war, träumte sie nicht. Und ein paar Stunden traumloser Schlaf klangen nahezu himmlisch.

Peabody trabte schnurstracks auf den Laternenmast zu, an den alle Hunde des Viertels am liebsten pinkelten. Während er noch schnupperte, klingelte ihr Telefon. Sie jonglierte einhändig mit Schirm und Leine und blickte aufs Display, bevor sie sich das Handy zwischen Ohr und Schulter klemmte. Es war Clay Maynard, seit drei Monaten ihr Partner und, bis sie selbst eine Ermittlerlizenz in den Händen hatte, ihr Chef und selbsternannter Beschützer.

»Wo bist du?«, bellte der Privatdetektiv in den Hörer. Er hielt sich nur selten mit Grüßen auf, gab sich meistens barsch, manchmal sogar grob, aber er war ein verdammt kluger Mann. Der einen schrecklichen Verlust erlitten hatte und immer noch trauerte. Und weil Paige seine Trauer nur allzu gut nachempfinden konnte, übte sie Nachsicht.

Unter der ruppigen Oberfläche verbarg sich ein guter Mensch, der ihr in den drei Monaten, die sie nun schon in Baltimore wohnte, so etwas wie ein großer Bruder geworden war. Und da sie in den vergangenen fünfzehn Jahren in ihrem ehemaligen Karate-dojo mit unzähligen selbsternannten »großen Brüdern« trainiert hatte, wusste sie inzwischen ganz genau, wie man mit dem lästigen, doch unweigerlich auftretenden männlichen Beschützerinstinkt am besten umging: cool bleiben, mit Humor kontern.

»Ich stehe unter einer Laterne und sehe Peabody beim Pinkeln zu. Soll ich dir ein Foto davon schicken?«, fragte sie trocken. »Peabody nimmt es mit seiner Privatsphäre nicht so genau, wenn es dich also beruhigen würde …«

Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann glaubte sie ein leises Lachen zu hören. »Tut mir leid. Ich hatte versucht, dich übers Festnetz zu erreichen. Ich war der Meinung, du müsstest eigentlich längst zu Hause sein.«

Paige hätte ihn gerne daran erinnert, dass sie vierunddreißig war, nicht vier, und er nicht ihr Vormund, aber sie ließ es. Seine letzte Partnerin war grausam ermordet worden. Er wollte sich für keinen weiteren Mord schuldig fühlen müssen, und das konnte Paige bestens verstehen, vielleicht sogar mehr, als Clay ahnte.

Theas Gesicht, das stets am Rande ihres Bewusstseins lauerte, zog riesengroß vor ihrem inneren Auge auf. Thea in Todesangst, die Waffe gegen die Schläfe gedrückt. Und dann tot.

Egal, wie viele Zachary Davis’ du rettest – du machst Thea damit nicht wieder lebendig.

»Ich musste bei der Polizei noch meine Aussage machen.« Die Erinnerung an ihre Freundin verblasste und wurde ersetzt durch das, was sie vor wenigen Stunden durch ein Fenster beobachtet hatte.

»Hast du so was schon einmal gesehen?«, fragte Clay.

»Eine Koks schnupfende Mutter? Ja.« Das war eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen, doch davon erzählte sie so gut wie nie. »Eine Mutter, die ihrem zugedröhnten Lover erlaubt, ihr Kind zu begrapschen? Nein.«

Der sechsjährige Zachary war Gegenstand eines brutalen Sorgerechtsstreits gewesen. Mom war kokainabhängig geworden, und Dad hatte die Scheidung eingereicht und das alleinige Sorgerecht beantragt. Mom hatte dagegen geklagt und behauptet, sie sei längst wieder clean. Aus Angst, das Gericht würde sich auf die Seite der Mutter schlagen, hatte John Davis Clay engagiert, um zu beweisen, dass seine Ex-Frau immer noch Drogen konsumierte.

Was der Grund dafür gewesen war, dass Paige als neuestes Mitglied von Clays Detektei die ganze Nacht vor Sylvias Wohnung gesessen und Bilder gemacht hatte.

»Er hätte den Jungen vergewaltigt«, sagte Clay. »Du hast das verhindert. Jetzt kriegen sie Sylvia wegen Drogenbesitz und Kinderprostitution dran.«

»Ich hatte Glück, der Streifenwagen kam nur eine Minute nachdem ich den Notruf gewählt hatte. Allerdings wäre ich selbst reingegangen, hätte es länger gedauert – zur Not hätte ich sogar die Tür eingetreten. Unter keinen Umständen hätte ich zugesehen, wie dieser Kerl sich an dem Kind vergreift.«

»Ich wohl auch nicht, aber dieser Kerl hatte dummerweise eine Pistole. Und gegen die kann selbst dein Schwarzer Gürtel nichts ausrichten.«

Paige ertappte sich dabei, wie sie unweigerlich ihre Schulter rieb, wo eine hässliche wulstige Narbe ihre Haut verunzierte. Clay hatte sich nett ausgedrückt, hatte sich verkniffen, hinzuzufügen: Genauso wenig wie im vergangenen Sommer.

Plötzlich waren ihre Handflächen schweißfeucht. Sie wischte sie an ihrer Jeans ab und straffte den Rücken. »Ich hatte meine Waffe dabei.« Damals hatte sie keine gehabt. Diesen Fehler werde ich nie wieder machen.

»Er hätte zuerst geschossen.«

»Dann zeig mir deine Spezialtricks, damit ich einen Raum betreten kann, ohne mir eine Kugel einzufangen.« Ihre Stimme war hart und spröde geworden.

Bevor er Privatermittler geworden war, hatte Clay in Washington als Polizist gearbeitet. Davor hatte er bei den Marines Rekruten ausgebildet, und sie war im Grunde nichts anderes als das: eine Rekrutin, ein Ermittlerneuling. Die vielen Jahre, die sie schon verschiedene Kampfkünste trainierte, hatten ihr jedoch einen tiefen Respekt vor den Meistern eingeimpft, weswegen sie jetzt ihren Tonfall korrigierte. »Bitte«, setzte sie ruhiger hinzu.

»Okay. Morgen. Du hast eine harte Nacht hinter dir, und dazu brauchst du einen klaren Kopf. Nimm dir heute frei.«

»Ja, vielleicht. Oder ich arbeite von zu Hause. An Marias Fall gibt es noch einiges zu tun.«

»Den Fall, den du pro bono übernommen hast«, sagte er mit einem Hauch von Missbilligung.

»Du hättest es nicht anders gemacht, Clay.«

Er seufzte. »Paige, jeder Knastbruder hat eine Mama, die von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt ist.«

»Ich weiß, dass du mich für naiv hältst«, antwortete sie. »Alles hat dafürgesprochen, dass Ramon Muñoz schuldig ist, aber ein paar Einzelheiten passen nicht. Schlimmstenfalls ackere ich mich durch stapelweise Prozessprotokolle und sammle Erfahrung.« Sie dachte an die Tränen in Marias Augen, als sie sie um Hilfe gebeten hatte. »Im besten Fall kann ich Mama Muñoz ein bisschen Frieden verschaffen.«

»Verwende nur nicht zu viel Zeit darauf, okay? Wir müssen auch unsere Stromrechnung bezahlen.«

»Maria will nachher vorbeikommen und mir neue Informationen bringen. Wenn die nichts taugen, lasse ich die Finger davon. Wenn doch, kannst du ja mal einen Blick daraufwerfen. Ich muss jetzt Schluss machen. Ich brauche einen Kaffee.«

Das Quietschen von Reifen ließ sie herumfahren. Beim Anblick des Minivans, der auf sie zuschoss, reagierte sie sofort. Sie sprang zur Seite, riss Peabody an der Leine mit sich und landete hart auf Knien und Händen im Matsch. Hinter sich hörte sie das Knirschen von Metall. Einen Moment lang verharrte sie reglos und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Endlich drang Peabodys Gebell zu ihr durch, und sie blickte wie betäubt auf. »Sitz«, befahl sie ihm, und er senkte zitternd vor Erwartung das Hinterteil.

»Paige? Paige!«, drangen Clays Rufe aus ihrem Handy, das ein paar Meter entfernt auf dem Boden lag. Noch immer auf allen vieren, kroch sie hin und nahm es an sich, während sie sich gleichzeitig umwandte und nach dem Van Ausschau hielt. Ihr Herz hämmerte wild.

»Alles in Ordnung, ich bin wieder da.« Ruhig, ganz ruhig. Atme tief durch.

»Was ist da gerade passiert?«

»Ein Minivan.« Der gegen den Laternenmast gekracht war, an dem sie gerade eben noch gestanden hatte. Einschusslöcher zogen sich vom Heck bis zur Windschutzscheibe, die Fenster waren gesplittert. »Auf den Wagen ist geschossen worden.«

»Ich rufe die 911«, sagte Clay knapp. »Bring dich in Sicherheit.«

Sie sprang auf die Füße, erstarrte aber plötzlich, als sie die Schiebetür der Fahrerseite sah. Sie war rostrot, während der restliche Wagen blau lackiert war. »Das ist Marias Van!« Paige rannte los, während ihr Herz erneut zu hämmern begann. Über dem Lenkrad zusammengesunken, lag eine Frau. Oberkörper und Airbag waren voller Blut. »Clay, sag der Zentrale, dass hier jemand verblutet. Schnell!«

»Bleib in der Leitung, Paige«, befahl er. »Ich rufe die Polizei von einem anderen Telefon an.«

Ohne aufzulegen, schob Paige das Handy in die Tasche. Déjàvu, zischte die Stimme in ihrem Kopf, doch sie schob die Erinnerung von sich. »Maria? Bitte!« Mit aller Kraft zerrte sie die eingedellte Tür zur Seite und bemühte sich, die aufsteigende Panik niederzukämpfen.

In Marias abgewetztem Mantel waren Löcher zu sehen. Einschusslöcher. Sie legte ihre Finger an Marias Hals und fühlte ihren Puls. Da war er. Schwach, aber vorhanden. Gott sei Dank, sie lebt!

Behutsam richtete Paige Maria auf, dann zog sie scharf die Luft ein. Das war gar nicht Maria, sondern Elena, Marias Schwiegertochter – Ramons Frau. Aber wer würde denn –?

»O Gott.« Furcht hüllte sie ein wie eine dunkle Wolke. Elena hatte sich neue Informationen verschaffen wollen. Mit wachsender Furcht blickte sich Paige nach einem zweiten Auto um. Elena hatte in diesem Zustand nicht weit fahren können. Der Schütze musste ganz in der Nähe sein.

Sie öffnete den Mantel der Frau und suchte nach einer Wunde, die sie versorgen konnte, aber Elena blutete zu stark. Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll.

»Elena. Sag mir, was passiert ist«, drängte Paige. »Wer hat das getan?«

»Keine Cops.« Elenas Stimme war schwach, sie atmete kaum noch. »Bitte.«

»Wag es ja nicht, mir wegzusterben«, presste Paige hervor. Mit zitternden Händen knöpfte sie auch noch die Bluse der Frau auf. »Verdammt noch mal. Ich kann nicht sehen, wo du getroffen wurdest.«

Sie fuhr zusammen, als Elenas blutige Hand ihr Handgelenk packte. Angestrengt versuchte die Frau, die Augen offen zu halten. »Keine Cops«, flüsterte sie heiser. »Nur du. Versprich mir das!«

»Okay«, sagte Paige verzweifelt. »Versprochen. Also – wer hat das getan?«

»Cops. Jagen mich.« Elena sprach undeutlich, schleppend. »BH.«

Paige hörte Sirenen in der Ferne. Danke, Clay. Das Geheul würde den Schützen vertreiben, sollte er sich noch in der Nähe befinden. Rasch zog sie sich den Schal vom Hals und presste ihn auf die Stelle, an der sie die schlimmste Wunde vermutete. »Hilfe ist unterwegs.«

»USB. Stick.« Nach Atem ringend, griff sich Elena an die Brust und zerrte an ihrem blutdurchtränkten BH, dann packte sie wieder Paiges Hand und umklammerte sie mit letzter Kraft. »Sag Ramon, ich liebe ihn.«

»Sag du es ihm. Du schaffst das.«

Aber Paige glaubte selbst nicht daran, und Elenas gepeinigter Blick verriet ihr, dass sie es ebenfalls nicht glaubte. »Sag ihm, ich hab nie … aufgehört, an seine … Unschuld zu glauben«, flehte Elena kaum hörbar. »Bitte.«

»Ich sag’s ihm. Aber du musst versprechen, durchzuhalten.« Hinter ihr kam quietschend der Krankenwagen zum Stehen. Sie hörte Türen zufallen und Stiefel, die sich rasch näherten.

»Miss, bitte gehen Sie zur Seite«, befahl jemand hinter ihr. »Und halten Sie Ihren Hund in Schach.«

Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Peabody zwischen ihr und der stetig größer werdenden Menge an Schaulustigen stand und die Zähne fletschte. Doch bevor sie reagieren konnte, hörte sie ein hohes Summen wie von einer Mücke. Elenas Hand erschlaffte. Entsetzt taumelte Paige zurück.

In Elenas Stirn befand sich ein Loch, das eben noch nicht da gewesen war.

Fassungslos, die blutigen Hände machtlos zu Fäusten geballt, starrte Paige auf die Frau. Sie spürte, dass etwas Hartes, Kleines gegen ihre Handfläche drückte. Der USB-Stick. Den Elena in ihrem BH versteckt und ihr in die Hand gedrückt hatte.

Cops. Jagen mich.

Maria war überzeugt davon gewesen, dass die Polizei ihrem Sohn vor Jahren einen Mord angehängt hatte. Ihre Theorie hatte – freundlich ausgedrückt – weit hergeholt geklungen. Nun war ihre Schwiegertochter erschossen worden, und auch sie war offenbar davon überzeugt gewesen, dass die Polizei sie töten wollte.

Was immer Paige in ihrer Hand hielt, war der Grund, warum Elena hatte sterben müssen.

Dienstag, 5. April, 6.04 Uhr

Silas senkte sein Gewehr. Seine Hände waren ruhig, aber das Herz schlug ihm bis zum Hals. Verdammt. Er hatte sie nicht erschießen wollen.

Die Frau mit dem langen schwarzen Haar wich von dem Van zurück. Ihre Schritte wirkten sehr viel unsicherer als noch vor wenigen Minuten. Er hatte gesehen, wie der Wagen auf sie zuraste, und war überrascht gewesen, dass es ihr gelungen war, sich mit einem Wahnsinnshechtsprung in Sicherheit zu bringen und sogar noch ihr Monster von Hund mit sich zu zerren.

Wer zum Teufel war sie? Hatte Elena etwas zu ihr gesagt? Er hoffte nicht. Sonst würde er auch sie töten müssen, dabei verabscheute er es, unnötig Leben auszulöschen. Elena hatte ihr Todesurteil unglücklicherweise selbst unterschrieben.

Er schloss den Deckel des Gewehrkoffers, hob die leeren Hülsen auf und ließ sie in seine Tasche fallen. Die Leute schrien auf und ergriffen die Flucht, als ihnen klarwurde, was soeben geschehen war; die Sanitäter duckten sich hinter ihren Rettungswagen, um sich vor möglichen weiteren Schüssen in Sicherheit zu bringen.

Und … da kam auch schon der Streifenwagen. Mit kreischenden Bremsen hielt er an, zwei Polizisten sprangen heraus, die Pistolen im Anschlag. Die wenigen Schaulustigen, die noch nicht das Weite gesucht hatten, zeigten vage, aber für seinen Geschmack doch zu genau in seine Richtung.

Beweg deinen Hintern. Die Cops würden nicht lange brauchen, um die Gegend hier abzuriegeln. Geduckt hastete er zum Rand des Dachs, schwang sich auf die Feuertreppe, stieg, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter und hastete zu seinem Auto. Niemand hielt ihn auf.

Er hatte nur Sekunden gehabt, um sich zu entscheiden, von wo aus er Elena am besten stoppen konnte. Zum Glück hatte das Gebäude in dem kleinen, an ein Wohngebiet angrenzenden Gewerbepark, auf das seine Wahl gefallen war, einwandfreie Sicht und eine rasche Fluchtmöglichkeit geboten. Auch seinen Wagen hatte er dort unauffällig auf einem Parkplatz abstellen können.

Zufrieden scherte er in den fließenden Verkehr ein. Dann zog er sein Handy hervor und gab aus dem Kopf eine Nummer ein. »Erledigt.«

»Ist sie tot?«

»Ja«, murmelte er, »obwohl dieser Vollidiot von Sandoval fast alles verdorben hätte. Er hat es anscheinend nicht erwarten können und ihren Van zerschossen, bevor ich sie vom Highway abdrängen konnte.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte verärgertes Schweigen. »Warum?«

»Keine Ahnung«, sagte er. »Vielleicht sollten Sie ihn selbst fragen. Vielleicht sollten Sie ihn auch fragen, warum er sie überhaupt so nah an sich rangelassen hat.« Dann hätte ich sie wenigstens nicht töten müssen.

»Hm. Wer weiß, ob ich mir die Mühe mache.«

Silas zuckte die Achseln. Er wusste, worauf es hinauslief. Denny Sandoval hatte es verdient. Wie dämlich musste man sein, um belastende Daten aufzubewahren, die jemand wie Elena finden konnte? »Vielleicht sollten Sie es wie einen Selbstmord aussehen lassen.« Er hatte den Satz absichtlich als Vorschlag formuliert, denn ein Befehl wäre nicht toleriert worden. »Was sie in Erfahrung gebracht hat, hätte ihm ohnehin das Rückgrat gebrochen.«

Wieder ein Moment des Schweigens. Dann: »Was hat sie denn in Erfahrung gebracht?«

»Dass er bezahlt worden ist, vor Gericht zu lügen. Dass Muñoz sehr wohl ein Alibi hatte.«

»Dann hätte ihr Wort gegen seins gestanden.«

»Es sei denn, sie hätte einen Beweis gehabt. Jedenfalls hat er genug Angst gekriegt, um mich anzurufen.«

»Und offensichtlich genug, um ihr nachzufahren und auf das Fahrzeug zu schießen.«

»Er war extrem nachlässig. Hat auf die Scheiben gezielt, statt auf die Reifen.«

»Und wieso?«

»Vermutlich weil er nicht gut genug schießen kann, um die Reifen in voller Fahrt zu treffen.« Wahrscheinlich weil der Spinner betrunken war. Mal wieder. »Sie hat es noch ein paar hundert Meter weiter geschafft und ist dann in eine Wohnsiedlung eingebogen, wo sie gegen einen Laternenmast geprallt ist. Ich war gerade noch in Reichweite.«

»Aber sie ist tot.«

»Ja.« Er hatte auf genügend Leute geschossen, um zu beurteilen, wann ein Todesschuss ein Todesschuss war.

»Gut. Du wirst wie üblich entlohnt.«

Was bedeutete, dass eine große Menge Geld auf ein Überseekonto überwiesen werden würde. Schnell und effizient. Doch selbst nach all den Jahren fühlte sich das noch seltsam an. »Danke.«

»Noch etwas. Wer könnte von den ›Daten‹, die Sandoval aufbewahrt hat, außerdem betroffen sein?«

»Keine Ahnung. Schließlich habe nicht ich ihn bezahlt, sondern Sie. Weiß er, wer Sie sind, oder haben Sie Verkleiden gespielt?« Er biss sich auf die Zunge. Behalte deinen Sarkasmus für dich, oder auch du »begehst« irgendwann Selbstmord.

Erneutes Schweigen, dann, nach einer Weile: »Ich habe mich getarnt.«

»Dann sollten Sie sich keine Sorgen machen«, gab er zurück.

»Gut. Ich melde mich.«

Ja, tu das. Um Denny, diesen Trottel, der belastende Beweise zurückbehalten hatte, tat es ihm nicht leid. Damit hatte er sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Und wofür? Erpressung wäre einem Selbstmord gleichgekommen, und eine Sicherheit hätte er nicht gebraucht, wenn er einfach nur den Mund gehalten hätte.

Um Elena Muñoz allerdings tat es ihm schon leid. Eine Schande, dass sie ihren Mann nicht hatte vergessen können. Hätte sie einfach ihr Leben weitergelebt, wäre sie jetzt nicht tot. Und ich hätte einen dunklen Fleck weniger auf meiner Seele.

Dienstag, 5. April, 6.20 Uhr

Drei und zwei und eins. Mit einem Ächzen hievte Grayson Smith das Gewicht zurück auf den Ständer. Hundertdreißig Kilo waren ihm früher irgendwie leichter vorgekommen. Allerdings war er früher auch jünger gewesen. Er ging inzwischen stark auf die vierzig zu, was ihn weit mehr störte, als er erwartet hätte.

Er ließ die Schultern kreisen und nickte seinem Trainingspartner zu. Als sei nichts gewesen, nahm Ben den Faden wieder auf.

»Also rennt der blöde Mistkerl los«, erzählte er weiter, »und wirft die Knarre in den verdammten Abwasserkanal.« Ben verzog angewidert das Gesicht. »Es wird ewig dauern, bis ich den Gestank aus meinen Schuhen wieder raushabe!«

»Hast du die Waffe denn gefunden?«

»Klar! Der Bursche ist ein Wiederholungstäter. Den einzulochen dürfte für dich ein Kinderspiel sein.«

Was Grayson von den Detectives schon öfter gehört hatte, als er zählen konnte. Dummerweise brachte man die Kerle dann doch nicht so locker hinter Gitter, wie man hätte meinen sollen. Nichtsdestoweniger hatte Grayson eine der besseren Verurteilungsquoten im Büro der Staatsanwaltschaft vorzuweisen. Das Wissen, dass er Mistkerle wie den, dem Ben gerade die Handschellen angelegt hatte, wegsperren konnte, sorgte dafür, dass er nachts schlafen konnte. Meistens jedenfalls.

»Es wird mir ein Vergnügen sein.« Grayson packte die Hantelstange und bereitete sich seelisch auf den letzten Satz vor. Er hatte gerade drei Wiederholungen gestemmt, als überall im Studio die Handys klingelten und das Geplauder verebbte.

In einem Sportcenter voller Polizisten war das ein verdammt schlechtes Zeichen.

Grayson legte die Hantelstange ab und setzte sich auf. Es schien, als würden die Anrufe vor allem den Officers aus den östlichen Stadtbezirken gelten. »Was ist denn da los?«

»Keine Ahnung«, murmelte Ben. Er wartete, bis der Mann, der neben ihnen trainierte, sein Handy weggesteckt hatte. »Und? Was gibt’s, Profacci?«

Profacci setzte sich in Richtung Duschen in Bewegung. »Heckenschütze. Das Opfer ist eine Frau in einem Minivan. Der Sergeant ruft alle Leute zusammen, um nach dem Täter zu suchen. Toller Start in den Tag, wirklich.«

Einen Moment lang sagte Grayson nichts. Seine Gedanken rasten zurück zu dem Tag vor zehn Jahren, als Heckenschützen den Großraum Washington terrorisiert hatten. Keiner der Morde geschah in Baltimore oder der unmittelbaren Umgebung, aber das ganze Gebiet lebte drei Wochen lang in Angst und Schrecken. Bis man die beiden Täter schließlich gefasst hatte, waren zehn Menschen gestorben und drei weitere lebensbedrohlich verletzt worden.

Grayson sah Ben an. »Ich hoffe nur, es ist nicht das, was wir gerade alle befürchten«, sagte er; dann wandte er sich an die Frau am Empfang. »Sandi, kannst du den Nachrichtensender einschalten?«

Sandi drückte auf die Fernbedienung, und auf dem Sechzig-Zoll-Plasmabildschirm, der an der Wand befestigt war, wechselte die Übertragung des Hockeyspiels vom vergangenen Abend mit einem Reporter vom Lokalsender ab, der vor einem großen Schild stand. Brae Brooke Village Apartments war darauf zu lesen.

Als Grayson den Reporter erkannte, stieg augenblicklich Ärger in ihm auf. Phin Radcliffe stieß ihm das Mikro ins Gesicht, wann immer er aus dem Gericht kam. Eine Menge Reporter taten das, aber Radcliffe ging immer einen Schritt zu weit. Wenn er eine Story wollte, ließ er sich durch nichts und niemanden aufhalten.

» … starb durch die Kugel eines Scharfschützen«, sagte Radcliffe gerade. »Die Anwohner werden gebeten, bis auf weiteres in ihren Wohnungen zu bleiben. Obwohl bislang jeder Hinweis auf den Täter fehlt, verfügen wir über exklusives Material, das den Tathergang sehr deutlich zeigt. Ich möchte Sie jedoch warnen: Die folgenden Bilder sind nicht für junge oder empfindliche Zuschauer geeignet.«

Schnitt. Man sah eine Frau, auf die ein Minivan zuraste, und Grayson blieb der Mund offen stehen. Die Frau ging in die Hocke, federte ab und landete gute zweieinhalb Meter weiter auf den Knien. Den großen Rottweiler an der Leine zerrte sie einfach mit sich.

Einen Sekundenbruchteil später krachte der Wagen gegen den Laternenmast. Das Video hatte keinen Ton, aber es war nicht zu übersehen, dass der Hund wie verrückt bellte. Was man ihm kaum verübeln konnte.

»Hast du das gesehen?«, fragte Ben. »Mann, hat die Gazellengene?«

Grayson hatte es gesehen, und er war sich nicht sicher, ob er seinen Augen trauen konnte. Die Kamera ignorierte den Van und zoomte das Gesicht der Frau heran, und Grayson, der automatisch die Luft angehalten hatte, atmete langsam aus. Ihre Augen waren schwarz wie die Nacht und wirkten riesig in dem blassen Gesicht. Ihr langes, ebenfalls schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, der ihr bis halb über den Rücken fiel.

Grayson konnte den Blick nicht von ihr lösen, und die Person, die filmte, offenbar auch nicht, denn das Objektiv blieb auf sie gerichtet, ohne zu dem verunglückten Minivan zu schwenken.

Statt sich in Deckung zu bringen, kam die Frau wieder auf die Füße und rannte, den Rottweiler auf den Fersen, auf den Wagen zu. Die Kamera folgte ihr, und nun sah man durch das vordere Beifahrerfenster eine Frau, zusammengesackt über dem Steuer des Fahrzeugs. Der Aufnahmewinkel – leicht schräg von oben – blieb die ganze Zeit über gleich.

»Die Kamera befindet sich auf einem der Balkone dieses Apartmentkomplexes«, stellte Grayson beklommen fest. Eine Frau war gestorben, hatte Profacci gesagt. Hoffentlich nicht sie, dachte Grayson und hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen.

»Der Kameramann hat anscheinend einen Narren an der Gazelle gefressen«, bemerkte Sandi.

»Wundert mich nicht«, sagte Ben. »Die ist ja …«

Das Bild riss ab, eindeutig unprofessionell geschnitten, dann sah man, wie die Frau panisch Druck auf die Wunden des Opfers ausübte. Aus dem Blickwinkel der Kamera war das Gesicht der Verletzten nicht zu erkennen. Ein Segen für die Angehörigen, dachte Grayson.

Er wusste, was passieren würde, doch er konnte den Blick nicht vom Bildschirm wenden. Eine der beiden Frauen würde im nächsten Moment erschossen werden. Die Dunkelhaarige arbeitete fieberhaft. Sie schien mit der Verletzten zu sprechen, denn man konnte erkennen, wie sich ihre Lippen bewegten.

Im Hintergrund sah man, wie sich der Hund zähnefletschend zwischen die immer größer werdende Menge der Schaulustigen und den Minivan setzte. Niemand wagte es, näher heranzukommen, obwohl mehrere Leute ihr Handy gezückt hatten. Noch mehr Filmchen. Noch mehr Fotos. Aasgeier, dachte Grayson angewidert.

Du siehst es dir ja auch an. Was sagt das über dich aus?

Ein Krankenwagen kam mit quietschenden Reifen hinter dem Van zu stehen, die Rettungssanitäter sprangen heraus. Die Frau blickte sich nach ihrem Hund um und …

Grayson verzog unwillkürlich das Gesicht, als ein Teil des Bildschirms absichtlich verpixelt wurde, so dass Van, Opfer und die schwarzhaarige Frau verborgen waren.

Die Kamera schwankte wie wild, dann stabilisierte sich das Bild, doch nun wurde aus einem anderen Blickwinkel gefilmt. »Ich schätze, wer immer die Kamera in der Hand hält, hat sich gerade auf den Boden fallen lassen«, murmelte Ben.

»Und filmt weiter«, setzte Sandi ungläubig hinzu. »Ganz schön mutig. Oder total bescheuert.«

Die dunkeläugige Frau taumelte aus dem verpixelten Bereich, fort vom Minivan, der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Graysons angespannte Schultern lockerten sich. Er hat nicht sie getroffen. Einen Augenblick lang blieb die Frau wie erstarrt stehen, während um sie herum das Chaos losbrach. Ein uniformierter Officer rannte zu ihr und zog seine Waffe, als der Hund mit gefletschten Zähnen einen Satz auf ihn zumachte.

Passanten und Gaffer ergriffen schreiend die Flucht, doch die Frau stand immer noch dort und starrte wie gebannt auf den Tumult. Dann blinzelte sie plötzlich und sah zu dem Polizisten hinüber, der die Waffe auf den Rottweiler gerichtet hatte. Sie packte seine Leine und rannte mit ihm auf die Beifahrerseite des Vans, wo sie in Deckung ging, einen Arm um den Hund gelegt, die Augen geschlossen. Wieder zoomte die Kamera auf ihr Gesicht.

Grayson hätte nicht sagen können, ob die Nässe auf ihrem Gesicht von Regen oder Tränen herrührte. Wahrscheinlich von beidem.

Nun teilte sich der Bildschirm und zeigte auf einer Seite wieder Radcliffe, auf der anderen die Nachrichtensprecherin des Senders, deren entsetzte Miene echt zu sein schien.

»Das sind in der Tat außergewöhnliche Aufnahmen«, sagte die Sprecherin ernst. »Die arme Frau. Wir schalten wieder zu unserem Reporter Phin Radcliffe. Wie geht es der Samariterin, Phin?«

»Sie ist anscheinend unverletzt«, antwortete Radcliffe. »Die Polizei hat das Gebiet noch nicht wieder freigegeben, obwohl bisher keine weiteren Schüsse gefallen sind. So bald wie möglich werden wir versuchen, Zeugen zu interviewen und natürlich die tapfere Frau, die ihr Leben riskiert hat, um dem Opfer zu helfen.«

»Vielen Dank, Phin«, sagte die Nachrichtensprecherin, dann blickte sie wieder in die Kamera. »In der Zwischenzeit zeigen wir Ihnen ein weiteres Video, das erst vor wenigen Minuten von einem zufälligen Beobachter bei YouTube hochgeladen wurde. Es zeigt das Geschehen aus einem anderen Blickwinkel. Wieder möchte ich Sie darauf hinweisen, dass die folgenden Aufnahmen sehr drastische Szenen enthalten, die nicht für jedermann geeignet sind.«

Das Video, das nun gezeigt wurde, war sehr viel körniger und eindeutig mit einem Handy gefilmt. Der Mann, der das Handy hielt, schimpfte auf den zähnefletschenden Hund, »das Vieh«, das ihn davon abhielt, näher an die Szenerie heranzukommen. Die Handykamera fokussierte das Opfer, und obwohl der Sender auch hier eingegriffen hatte, um die Frau am Steuer unkenntlich zu machen, war doch deutlich zu erkennen, gegen welche Unmengen an Blut die dunkeläugige Helferin anzukämpfen hatte.

»Ach du Schande«, sagte Ben. »Seht euch nur den Wagen an. Der ist ja völlig durchsiebt. Sie wurde schon vor dem Unfall beschossen. Anscheinend wollte jemand ganz sichergehen, dass die Frau auch wirklich tot ist.«

Aber Grayson hörte ihn kaum. Nein. Sein Verstand versuchte auszublenden, was seine Augen sahen, doch sein Herz hämmerte bereits mit beunruhigender Schnelligkeit. Das kann nicht sein. Aber es war so. Das Opfer hatte den Arm der schwarzäugigen Frau gepackt, die Hand war knapp unter der verschwommenen Bildhälfte sichtbar. Selbst derart blutig war der Ring am Mittelfinger des Opfers zu erkennen. Er war einzigartig. Das Kreuz mit den vier verbreiterten Enden. In der Mitte der große Stein.

Es ist nicht derselbe Ring. Das kann einfach nicht sein.

»Ich muss los«, sagte Grayson. Er ließ Ben und Sandi vor dem Fernseher stehen, ging in die Umkleide und rief auf seinem Smartphone YouTube auf.

Heckenschütze Baltimore tippte er ins Suchfeld ein. Das Video war bereits tausendmal angeklickt worden. Wie er es erwartet hatte, hatte der Mann, der das Filmchen aufgenommen hatte, keinesfalls etwas unkenntlich gemacht. Das Gesicht des Opfers war erkennbar – für ihn, für die ganze Welt, für ihre Familie.

»O Gott«, flüsterte er und starrte in das schmerzverzerrte Gesicht.

Er kannte diese Frau, hatte sie vor nicht einmal einer Woche gesehen, als sie in sein Büro gekommen war, um ihn anzuflehen, das Verfahren gegen ihren verurteilten Mann wieder aufzurollen.

Wieder zuckte Grayson zusammen, als der Schuss kam.

Elena Muñoz war tot.

Dienstag, 5. April, 6.20 Uhr

»Miss? Miss? Sind Sie getroffen? Brauchen Sie Hilfe?«

Paige konnte den Mann hören, hielt aber dennoch die Augen fest geschlossen. Ihre Schulter brannte, als die Erinnerungen in ihr hochkamen und die Bilder durcheinanderwirbelten. Dennoch war alles, was vor ihrem inneren Auge auftauchte, glasklar.

Sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu antworten: Ja, ich wurde getroffen. Nur nicht heute. Niemand musste wissen, was vor neun Monaten geschehen war, dass es Tage gegeben hatte, an denen sie um ihre geistige Gesundheit gebangt hatte. Denn hier geht es nicht um mich. Sondern um Elena.

Paige saß wie erstarrt am Reifen des Minivans und umklammerte Peabody. Ihre Pistole drückte im Rücken, aber sie rührte sie nicht an. Die Polizei hatte noch keine Entwarnung gegeben, und sie und Peabody würden sich nicht eher regen, bis das geschehen war.

Der Cop hatte gedroht, den Hund zu erschießen. Paige schauderte. Aber nur, weil du in Gefahr warst, meldete sich die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf. Sie hatte dort gestanden wie ein Reh im Scheinwerferlicht, doch die Kugel des Scharfschützen war haarscharf an ihr vorbeigeflogen. Er wollte nicht mich treffen. Er wollte Elena töten.

Die Kugel hatte nur ein kleines Loch in Elenas Stirn hinterlassen, die Austrittswunde dagegen war nicht so klein, Hirnmasse war aus Elenas Hinterkopf herausgespritzt.

»Ist sie verletzt?«, fragte eine Frau.

»Ich glaube nicht!«, antwortete eine männliche Stimme. »Burke. Burke! Verdammt noch mal, bleiben Sie hier.«

»Falls sie getroffen wurde, wird sie nicht verbluten. Nicht, solange ich hier bin.«

»Verdammt, Burke!« Die Stimme des Mannes klang wütend. »Ich lasse Sie suspendieren.«

Paige zuckte zusammen, als sie dicht neben sich ein Geräusch hörte. Burke, oder wer immer sie war, ging neben ihr in die Hocke. Peabody knurrte. Er will mich beschützen. Erschöpft lehnte sie sich gegen ihn.

»Sind Sie verletzt?«, fragte Burke leise.

»Nein«, murmelte Paige. »Bin ich nicht.« Heute nicht.

»Ganz ruhig«, sagte Burke sanft. »Ich will ihr nichts tun, Kumpel. Name?«

»Peabody«, sagte Paige dumpf. »Das ist Peabody.«

»Ihr Name?«, wiederholte Burke.

Paige musste sich konzentrieren. »Paige Holden.«

»Okay, gut. Ich bin Dr. Burke. Ich muss wissen, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist.«

»Wieso?«

»Weil Sie so aussehen, als seien Sie verletzt worden.«

Paige zog die Brauen zusammen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Nein, ich meine, wieso sind Sie als Ärztin hier?«

»Weil ich im praktischen Jahr bin und Erfahrungen sammeln will«, antwortete die Frau überrascht. »Paige, sind Sie verletzt?«

Paige zog schaudernd die Luft ein. »Nein, mit mir ist alles in Ordnung.«

»Warum umklammern Sie dann Ihre Schulter?«, fragte Burke freundlich.

Weil sie so brennt, wollte Paige hervorstoßen, aber … die Schulter brannte ja gar nicht. Sie öffnete vorsichtig die Augen und sah, dass ihre rechte Hand um ihre linke Schulter gekrampft war. Die nicht brannte. Nicht mehr. Nicht wie sie es jedes Mal tat, wenn sie schweißgebadet aus dem Alptraum erwachte und der Schmerz abebbte, sobald sie sich bewusst wurde, wo sie war. Nicht in Minneapolis. Sie lag nicht blutend auf dem Boden, Theas tote Augen auf sich gerichtet.

Wir sind hier in Baltimore. Und heute gehörten die toten Augen Elena Muñoz. Déjà-vu, Baby, spottete die Stimme. Wenn du Mist baust, dann aber richtig.

Paige befahl ihren Muskeln, sich zu entspannen. Sie ließ die Hand sinken, strich dabei leicht über ihren Mantel und ließ sie schließlich auf ihrem Knie ruhen. Der USB-Stick war noch da. Verborgen in ihrer Tasche. Und so würde es bleiben. Keine Polizei. Das hatte sie Elena versprochen.

Zumindest bis ich weiß, was passiert ist. Paige holte tief Luft und wappnete sich gegen das, was sie im Grunde bereits wusste. »Ist sie tot?«

»Ja«, antwortete Burke. »Tut mir leid.« Sie war jung, vielleicht ein paar Jahre jünger als Paige. Ihre Augen blickten ruhig. Über der Windjacke trug sie eine kugelsichere Weste.

Was ihr verdammt viel nutzen würde, wenn jemand auf ihren Schädel zielte.

»Sie hätten sich nicht zu mir setzen sollen. Der Mann hat gesagt, er wird Sie suspendieren lassen.«

»Für diese arme Frau da kann ich nichts mehr tun, aber ich denke nicht daran, eine weitere Person zu verlieren.«

»Und was machen wir jetzt?«

Burke zuckte die Achseln. »Wir warten auf die Freigabe.«

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2. Kapitel

Dienstag, 5. April, 6.40 Uhr

Paige stieß erleichtert die Luft aus, als sie hörte, dass Entwarnung gegeben wurde.

»Gott sei Dank«, murmelte Burke. »Kommen Sie. Wir kümmern uns um Sie.«

»Nein.« Aufwallende Panik schnürte Paige die Kehle zu. »Nicht ins Krankenhaus.«

»Es geht ganz schnell«, versicherte ihr Burke. »Wir machen Sie ein bisschen sauber, checken die Vitalfunktionen … bloß um uns zu vergewissern, dass mit Ihnen alles okay ist.«

»Mit mir ist alles okay. Ich möchte einfach nur nach Hause.« Sie griff nach Peabodys Leine und versuchte aufzustehen, aber ihre Knie waren wie aus Gummi. »Mir geht’s gut, wirklich.«

»Das behaupten Sie schon die ganze Zeit«, gab Burke zurück. »Und in ein paar Stunden könnte das sogar stimmen.« Sie stützte Paige und half ihr zum Rettungswagen. Der Hund tappte neben ihnen her.

»Sie humpeln«, stellte Burke fest. »Wo tut’s weh?«

»Am Knie. Ich bin darauf gelandet, als ich aus dem Weg gesprungen bin.«

Burke bedeutete ihr, sich in den Wagen zu setzen. »Das muss geröntgt werden.«

»Nicht ins Krankenhaus.« Paige hörte selbst, wie verzweifelt sie klang. Langsam atmen. Gleichmäßig. »Bitte nicht«, fügte sie ruhiger hinzu.

Burke sah sich ihre Pupillen an, dann drückte sie leicht gegen ihre Schulter. »Was ist hier passiert?«, fragte sie und musterte Paige ernst. »Und jetzt sagen Sie nicht wieder ›nichts‹.«

»Ich bin angeschossen worden. Vergangenen Sommer.« Sie ließ ihren Blick über die Menge schweifen, die sich mittlerweile wieder versammelt hatte. Jeder Dritte hielt ein Handy hoch und filmte die tote Elena.

»Wie die Geier«, sagte Burke verächtlich und schirmte Paige mit ihrem Körper ab, während sie ihr den Blutdruck maß. »Aber Sie kriegen die jetzt nicht mehr zu sehen.«

»Danke«, murmelte Paige. »Und wann kann der Gerichtsmediziner die Tote mitnehmen? Ich will nicht, dass diese miesen Gaffer noch mehr Fotos von ihr machen. Für ihre Familie muss das die Hölle sein.«

»Ich fürchte, das wird noch eine Weile dauern. Die Spurensicherung wird wahrscheinlich eine Plane als Sichtschutz aufstellen. So, bei Ihnen ist so weit alles in Ordnung, auch Ihr Blutdruck ist fast wieder normal. Aber das Knie sollten Sie dennoch genauer ansehen lassen.«

»Ich kenne meinen Körper. Ich muss nicht geröntgt werden. Wenn ich ein Formular unterschreiben muss, damit Sie nicht in Schwierigkeiten geraten, dann her damit.« Sie stemmte sich hoch, was Peabody als Signal zum Aufbruch verstand, weshalb er sich ebenfalls hochrappelte. Sie streichelte seinen Kopf, während sie darauf wartete, dass die Woge der Übelkeit, die sie jetzt durchflutete, wieder abebbte. »Ich gehe nach Hause.«

»Einen Moment noch, Miss.« Ein Mann kam auf sie zu. Er blickte ernst, trug Anzug und Krawatte, an seiner Brusttasche prangte eine Marke. »Ich bin Detective Perkins. Ich muss mit Ihnen reden.«

Paige ließ sich wieder zurücksinken. Sie hatte gewusst, dass das kommen würde, doch sie hatte gehofft, noch ein wenig Zeit für sich zu haben. »Ich fühle mich im Moment nicht auf der Höhe.«

»Ich werde es kurz machen. Name und Adresse?«

»Paige Holden, das Haus da drüben.« Sie deutete über die Schulter. »3A.«

»Kannten Sie das Opfer?«

»Nur vom Sehen. Ich …« Sie brach ab, als sie hinter dem Detective jemanden kommen sah. Ein großer Mann drängte sich mit den Ellbogen durch die Menschenmenge. Clay war hier. Was beruhigend war.

Perkins hatte ihn ebenfalls entdeckt. »Warten Sie dort«, befahl er barsch. Clays Augen blitzten zornig auf.

»Bitte lassen Sie ihn durch.« Sie streckte die Hand nach Clay aus und zuckte zusammen, als er sie packte und fest zudrückte.

»Geht’s dir gut?«, fragte er leise, und sie schaffte es, ihre Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns zu verziehen.

»Gerührt und geschüttelt, aber okay.« Sie wandte sich wieder zu Perkins um. »Ich wäre jetzt so weit.«

»Kannten Sie das Opfer?«, fragte Perkins erneut.

»Elena Muñoz. Sie und ihre Familie kümmern sich in diesem Komplex um Wartung und Instandhaltung. Sie leeren Mülleimer, wischen den Boden, schaufeln Schnee auf den Bürgersteigen, mähen den Rasen. Maria, ihre Schwiegermutter, leitet das Unternehmen.« Sie war nach Ramons Verhaftung dazu gezwungen gewesen, den Laden zu übernehmen. »Der Verwalter hat bestimmt eine Telefonnummer.«

»Ich werde ihn fragen«, gab Perkins zurück. »Also – was ist passiert?«

»Ich habe den Hund ausgeführt, als der Van plötzlich auf mich zuschoss. Ich bin zur Seite gesprungen, der Wagen ist gegen den Laternenmast geprallt, und ich habe versucht zu helfen. Die Ambulanz war gerade angekommen, als ein Schuss fiel.«

Perkins bedachte sie mit einem prüfenden Blick, unter dem sie sich am liebsten weggeduckt hätte. Aber Clays Hand, die ihre hielt, half ihr, sich zu konzentrieren. »Hat sie etwas gesagt?«, fragte Perkins.

Paige hatte über die Antwort auf eine solche Frage nachgedacht, während sie auf die Entwarnung gewartet hatte. Eine kleine Menschenmenge hatte sich versammelt, aber dank Peabody war vermutlich niemand nah genug an sie herangekommen, um sie reden zu hören. »Sie hat mich angefleht, ihr zu helfen, mehr konnte ich nicht verstehen.«

Perkins nickte. Seine Miene war nicht zu deuten. »Die meisten Menschen wären weggelaufen.«

Sie zuckte die Achseln. »Daran hab ich gar nicht gedacht.« Und das entsprach der Wahrheit.

»Was machen Sie beruflich, Paige?«, erkundigte sich Perkins.

»Vieles. Ich bin halbtags in einem Fitnesscenter als Personal Trainer angestellt. Außerdem arbeite ich für eine Detektei.«

Perkins zog eine Braue hoch. »Und was tun Sie für diese Detektei?«

»Meistens fremdgehende Ehefrauen fotografieren.«

»Könnte es sein, dass Sie Ziel des Scharfschützen waren? Vielleicht wollte jemand nicht, dass Sie Fotos machen.«

Paige blinzelte verdattert. »Nein. Man hat doch schon auf sie geschossen, bevor sie mit dem Wagen gegen den Laternenmast geprallt ist. Ich bin davon ausgegangen, dass der Täter nur … nur beenden wollte, was er angefangen hatte.«

Clay räusperte sich. »Kann sie jetzt gehen, Detective? Sie ist leichenblass.«

Perkins zog einen Notizblock aus der Tasche. »Und wer sind Sie?«

»Clay Maynard«, antwortete Clay.

»In welcher Beziehung stehen Sie zu Miss Holden?«

»Wir sind Freunde«, antwortete Clay und drückte wieder Paiges Hand. »Wenn das alles ist …«

»Im Augenblick, ja. Bitte halten Sie sich zur Verfügung, falls wir noch weitere Fragen haben sollten.«

»Danke«, sagte Paige, an die junge Ärztin gewandt. »Ich hoffe, Sie bekommen meinetwegen keinen Ärger.«

»Versprechen Sie mir nur, dass Sie ins Krankenhaus kommen, sollten irgendwelche Probleme auftreten«, bat Dr. Burke.

»Mach ich.« Wenn die Hölle gefriert. »Danke noch mal.«

»Ich lasse Sie von einem Officer zu Ihrer Wohnung begleiten«, sagte Perkins. »Es werden schon einige Reporter auf Sie warten, denen Sie hoffentlich nichts erzählen.«

»Keine Sorge. Sie können sich auf mich verlassen.« Peabodys Leine fest im Griff, setzte sie sich vorsichtig in Bewegung. Die Reporter fingen an, laut zu rufen, um sie auf sich aufmerksam zu machen, aber sie reagierte nicht. Bis jemand brüllte: »Hey, Paige, wo lernt man denn solche Sprünge?«

»Was meint er?«, fragte Paige Clay. »Wovon redet der?«

Clay schob sie vorwärts. »Geh einfach weiter, Paige.«

Sie schwieg verwirrt, bis sie an den Reportern vorbei waren und ihre Wohnungstür erreicht hatten. »Wieso Sprünge? Was meint er damit? Der Mord ist doch gerade erst passiert, und außer mir war keiner hier.«

»Jemand hat Sie gefilmt, als der Minivan gegen den Mast prallte«, erklärte der Beamte und verzog voller Mitgefühl das Gesicht. »Es war schon Minuten später in den Nachrichten. Ein weiteres Video wurde bei YouTube hochgeladen. Sie sind ein Internetstar.«

Paige schloss die Augen und fragte sich, was die Videos wohl noch gezeigt hatten. »Verdammter Mist.«

Dienstag, 5. April, 7.30 Uhr

»Liebes, was ist los?«

Adele Shaffer blickte auf und sah, wie ihr Mann ihre Tochter aus dem Hochstuhl hob und sie knuddelte, bis der kleine Blondschopf fröhlich quietschte. Adele musste trotz des Knotens in ihrem Magen lächeln. Allie kam ganz nach ihr. Hatte dieselben goldblonden Ringellöckchen wie sie. »Ich kann gar nicht genug von ihrem Lachen kriegen«, sagte sie.

Mit dem Baby auf der Hüfte trat Darren zu ihr und küsste sie auf die Lippen. »Ich auch nicht. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet – was ist los?«

Adele zeigte auf den Fernseher, der auf der Küchentheke stand. »Es hat vorhin eine Schießerei gegeben. Angeblich ein Scharfschütze.«

Darren zog die Brauen zusammen. »Im Ernst? Schon wieder?«

»Hat sich ganz so angehört. Du wirst auf dem Weg zur Arbeit am Tatort vorbeikommen.«

Er küsste sie wieder und übergab ihr Allie. »Keine Angst. Mir passiert nichts.«

»Das sagst du immer« murmelte Adele.

»Und mir passiert ja auch nichts«, erwiderte Darren lächelnd. »Was machst du heute?«

»Ich treffe mich mit einer Klientin, die ihre Teppichmusterauswahl von ungefähr tausend auf fünf reduziert hat.« Sie hatten sich zum Mittagessen verabredet. Danach würde sie sich mit noch jemandem treffen – jemandem, den sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Nicht hatte sehen wollen.

Darren durfte nichts davon erfahren.

Sie hatte das Treffen so lange hinausgeschoben, wie es ihr möglich gewesen war. Blieb zu hoffen, dass es kein zweites Mal geben würde.

Darren legte ihr den Finger unters Kinn, damit sie ihn anblickte. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen, okay? Ich rufe dich an, sobald ich im Büro bin. Du brauchst übrigens unterwegs nicht anzuhalten, ich habe dein Auto gestern Abend noch vollgetankt.«

Das schlechte Gewissen wallte in ihr auf. Immer tat er so nette Dinge für sie, er hatte es einfach nicht verdient, belogen zu werden. Dennoch wusste sie, dass sie es nicht ertragen würde, ihm die Wahrheit zu sagen. »Danke. Pass auf dich auf.«

Er küsste sie auf die Nasenspitze. »Was gibt’s zum Abendessen?«

»Hähnchen mit Couscous. Das magst du doch so gerne.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Mir fallen noch ganz andere Dinge ein, die ich gern mag.«

Sie holte tief Luft und rang sich ein Lächeln ab. »Geh arbeiten, Lüstling. Wir sehen uns später.«

Sie wartete, bis sie hörte, wie die Eingangstür zufiel, dann ließ sie den Tränen freien Lauf. Schluchzend umklammerte sie die Kleine und wiegte sich mit ihr vor und zurück. Bitte, mach, dass es aufhört. Bitte. Ich tue alles, versprochen. Bitte lass es nicht wieder so werden wie früher.

Nach einer Weile riss sie sich zusammen und drehte die Lautstärke am Fernseher auf. Sie hörte noch »Frau des verurteilten Mörders Ramon Muñoz«, »Hinrichtung«, »wahrscheinlich kein Zufallstreffer« und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Wenigstens war nicht wieder die ganze Stadt in Gefahr.

Bei ihr sahen die Dinge anders aus.

Dienstag, 5. April, 7.30 Uhr

Silas hatte recht, dachte der Mann, als er das Schloss der Hintertür von Denny Sandovals Bar knackte. Sandoval hatte seinen Nutzwert längst überschritten, er musste weg. Vor allem, wenn er belastende Beweise besaß, die Elena für so wichtig gehalten hatte, dass sie dafür zu sterben bereit gewesen war.

Er betrat die Bar und dachte dabei an das letzte Mal, als er hier gewesen war. In den vergangenen sechs Jahren war viel passiert. Sandoval hatte in sein Lokal investiert. Und ich bin jetzt sehr reich.

Und das wollte er auch bleiben. Wenn Sandoval irgendwelche Beweise hatte, dann musste er sie an sich bringen. Alle paar Schritte verharrte er, um zu lauschen. Sandoval war oben in seiner Wohnung über der Bar. Er schlich die Treppe hinauf und blieb vor Sandovals Schlafzimmertür stehen.

Der Fernseher lief. Es ging natürlich um die Schießerei. Ein Video wurde gezeigt. Seine Augen verengten sich. Was war denn das?

Elena hatte mit der Frau gesprochen, die sie zu retten versucht hatte. Gott allein wusste, was sie der »barmherzigen Samariterin«, wie die Medien sie nannten, gesagt hatte. Silas muss das doch gesehen haben. Er hätte beide erschießen sollen. Aber noch ärgerlicher war, dass Silas nicht die Wahrheit gesagt hatte. Vielleicht hatte auch Silas seinen Nutzwert verloren.

Sandoval trat rückwärts aus dem Bad ins Schlafzimmer, einen Koffer in der Hand.

So nicht, kleiner Kriecher, erst brauche ich Informationen. Er wollte wissen, was Elena gesehen hatte. Er wollte wissen, ob irgendetwas auf ihn verwies. Und ich kriege immer, was ich will.

Dienstag, 5. April, 7.30 Uhr

»Hier. Trink das.«

Paige löste den Blick von ihrem Wohnzimmerfenster und nahm die Tasse mit heißem Tee aus Clays Hand. Es war die dritte, die er ihr aufzwang, während sie durch die Jalousien die Polizei draußen beobachtete und überlegte, was zum Teufel sie nun tun sollte.

Inzwischen hatte auch sie die Videos gesehen, und sie wusste genau, wer ihren Sprung aufgenommen hatte. Der Junge aus der Wohnung über ihr war verknallt in sie und schleppte immer einen Camcorder mit sich herum. Einmal hatte sie Logan Booker erwischt, wie er sie gefilmt hatte, als sie spätabends mit Peabody unterwegs gewesen war. Eigentlich hatte sie gedacht, er hätte sich ihre Drohung, es seiner Mutter erzählen, wenn sie ihn noch einmal dabei ertappte, zu Herzen genommen. War wohl nichts.

Weder auf Logans Video noch auf dem Handyfilmchen war zu sehen gewesen, wie Elena ihr den USB-Stick in die Hand gedrückt hatte, und verstehen konnte man auch nichts. Peabody sei Dank. Er hatte die Aasgeier nicht nah genug herankommen lassen.

Der Mord selbst dagegen war in allen Einzelheiten festgehalten – inklusive Hirnmasse, die ans Fenster des Vans spritzte. Paige wurde das Herz schwer. Elenas Familie würde sie sterben sehen.

Clay stupste sie an. »Trink«, wiederholte er.

Sie nippte gehorsam an der Tasse. »Ich werde gleich weggeschwemmt«, murmelte sie.

»Du hättest dich durchchecken lassen sollen.«

»Ich bin nicht verletzt. Nur durcheinander. Das wäre wohl jeder.«

»Du hättest dabei draufgehen können!« Seine Stimme klang heiser, und sie wusste, dass er wieder vor sich sah, wie er die Leiche seiner ehemaligen Partnerin gefunden hatte.

»Bin ich aber nicht. Und sollte ich wohl auch nicht. Der Schütze hat abgedrückt, als ich mich umgedreht habe, um nach Peabody zu sehen. Eine Sekunde vorher habe ich mich noch über Elena gebeugt.«

Er riss die Augen auf. »Du meinst, er hat abgewartet, dass du dich aus der Schusslinie bewegst?«

»Ja, genau das meine ich.« Sie spürte die Wärme der Tasse an ihren kalten Fingern und sah erneut aus dem Fenster. »Die Leute von der Rechtsmedizin nehmen sie endlich mit. Wurde auch Zeit.«

»Der Tatort war ziemlich chaotisch«, sagte Clay. »Sie mussten sehr sorgfältig sein.«

»›Chaotisch‹ trifft es allerdings.«

»Falls du dir Sorgen wegen der Videos machst, das brauchst du nicht. Ein, zwei Tage bist du der Star, dann geht irgendein Sternchen in eine Entzugsklinik, und du bist wieder vergessen.«

»Darum geht es mir nicht«, erwiderte sie ruhig.

Clay musterte sie einen Moment lang mit durchdringendem Blick. »Also, kommen wir auf den Punkt. Du hast der Polizei erzählt, sie habe dich lediglich angefleht, ihr zu helfen. Warum hast du gelogen?«

Paige zog ihr Handy aus der Tasche und legte es aufs Fensterbrett. Irgendwann war ihre Verbindung mit Clay abgerissen, doch sie hatte keine Ahnung, wann. »Wie viel hast du gehört?«, fragte sie daher.

»Fast gar nichts. Ihre Stimme war zu schwach. Du hast sie gefragt, wer das getan hat. Was hat sie geantwortet?«

Paige strich mit den Fingern über die Tasche und tastete nach dem USB-Stick. Dann trat sie abrupt von den Jalousien zurück und begegnete seinem Blick. »Cops. Jagen mich.«

Er zog die Brauen zusammen. »Ein Cop hat sie erschossen?«

»Nein. Sie hat gesagt, die Polizei sei hinter ihr her. Erst dachte ich, der Schütze und ihr Verfolger seien ein und dieselbe Person, aber dann kam der Rettungswagen und plötzlich aus dem Nichts ein weiterer Schuss.«

»Derselbe Schütze?«, fragte Clay. Paige zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht. Eigentlich hätte der Schütze noch ganz in der Nähe sein müssen, da Elena mit derart starken Verletzungen nicht weit gekommen sein konnte.« Sie hielt inne, um nachzudenken. »Es war vielleicht derselbe Schütze, aber nicht dieselbe Waffe. Die Eintrittswunden in ihrem Oberkörper sind größer als bei dem letzten Schuss in den Kopf. Die Austrittswunden dagegen waren im ersten Fall … kleiner.«

»Ich vermute, dass der tödliche Schuss von einem Hochgeschwindigkeitsgewehr stammt. Die Cops sind sofort auf die Dächer gestiegen und haben dort nach Spuren gesucht. Sie sind ziemlich beunruhigt. Ich habe vorhin ein paar Leute spekulieren hören, ob wir es erneut mit einem Serientäter zu tun haben.«

Paige runzelte die Stirn und verstand zuerst nicht, doch dann fiel es ihr wieder ein. »Der Heckenschütze von Washington. Aber das ist Jahre her.«

»Zehn, um genau zu sein«, sagte Clay. »Aber für die, die es miterlebt haben, scheint es erst gestern passiert zu sein. Du kannst dir sicher sein, dass das in der Gegend ziemlich viel Panik auslösen wird.«

»Aber Elena war kein zufälliges Opfer«, beharrte Paige. Sie setzte sich an ihren Tisch, holte einen Latexhandschuh aus der Schublade, zog ihn sich über, fischte den USB-Stick aus ihrer Tasche und hielt ihn Clay auf der Handfläche hin. Er war blutverklebt.

»Du lieber Himmel, Paige«, flüsterte Clay und riss entsetzt die Augen auf. »Was ist denn das?«

»Elenas Speicherstick«, antwortete sie. »Sie hat ihn mir in die Hand gedrückt, bevor sie gestorben ist. Ich musste ihr versprechen, nichts der Polizei zu sagen.«

»Na und? Das sind wichtige Beweise. Die kannst du doch nicht einfach unterschlagen.«

Sie sah ihn ungläubig an. »Als würdest du immer sofort zu den Cops rennen und ihnen in die Hand drücken, was du gefunden hast! Du vertraust der Polizei doch selbst nicht wesentlich mehr, als Elena es getan hat.«

Damit hatte Paige ins Schwarze getroffen: Clays Gesicht verfärbte sich rot. Er hatte gewusst, wer seine Partnerin umgebracht hatte, aber er hatte die Informationen aus einer ganzen Reihe von Gründen zurückgehalten, während er auf eigene Faust weiterermittelt hatte – und seine eigenen Rachegelüste hatte auf der Liste nicht unbedingt zuunterst gestanden.

»Verdammt«, murmelte er. »Das heißt ja nicht, dass es auch in diesem Fall die richtige Strategie ist.«

»Aber wo willst du denn hier ansetzen? Ich meine, wem willst du den USB-Stick übergeben? Elena glaubte, die Polizei sei hinter ihr her. Vielleicht der Typ, der mich verhört hat? Was, wenn er Elena verfolgt hat?«

»Verdammt«, sagte Clay wieder, dann seufzte er. »Was ist denn auf dem verfluchten Ding drauf?«

»Keine Ahnung. Sie konnte es mir nicht mehr sagen. Auf jeden Fall muss es wichtig genug sein, dass jemand sie dafür hat töten wollen.« Paige hielt den Stick unter die Schreibtischlampe. »Bleibt zu hoffen, dass er sich ganz normal lesen lässt.«

Clays Augen weiteten sich noch mehr. »Du willst das Ding doch nicht in deinen Computer stecken.«