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In den vergangenen 25 Jahren sind mehr als 35.500 Menschen auf der Flucht nach und in Europa ums Leben gekommen. Dieses Buch will das Ausmaß dieser Tragödie sichtbar machen. Dokumentiert sind nur die belegten Fälle, die meisten Toten sind namenlos verzeichnet. Überlebende der Flucht haben den Herausgeberinnen einige Namen ihrer Toten genannt, andere sind recherchiert. Die Liste wurde ergänzt durch Porträts und Fotos der Menschen, die sie waren. Sie sollen dem Vergessen entrissen werden – denn hinter jeder Zahl steht ein Mensch. Das Sterben muss aufhören!
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Seitenzahl: 683
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Eine unvollständige Liste
herausgegeben von Kristina Milz und Anja Tuckermann
Originalausgabe
© 2018 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055
Berlin; [email protected];
www.jugendkulturen-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage Dezember 2018
Vertrieb für den Buchhandel:
Runge Verlagsauslieferung; [email protected]
Privatkunden und Mailorder:
https://shop.hirnkost.de/
Layout: Linda Kutzki
Lektorat: Klaus Farin, Alex Papaloukas
ISBN:
978-3-947380-29-9 print
978-3-947380-30-5 epub
978-3-947380-31-2 pdf
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In the cemetary of my endless skin
Yet another grave
In the cemetary of my endless skin
I am tired of creating graves
Tired of walking upon them
Stumbling
In search of my own
schon wieder ein grab
im ewigen grabfeld meiner haut
will kein grab mehr graben
will nicht mehr auf ihnen laufen
stolpern
auf der suche nach den meinen
Adam Zameenzad
Adam Zameenzad (1937–2017), geboren in Pakistan, wuchs in Kenia auf, studierte Philosophie, Persisch und Literaturwissenschaft, arbeitete anschließend in Pakistan und begann dann sein Wanderleben: Skandinavien, Kanada, Amerika. Er lebte als freier Schriftsteller in Südengland. Sein Roman Das 13. Haus wurde bei Erscheinen mit dem begehrten David Higham Award ausgezeichnet. Das Honorar für Mein Freund Matt und Hena die Hure spendete er der Hungerhilfe Afrika. Sein bisher unveröffentlichtes Gedicht wurde übersetzt von Guntram Weber.
Diese Kampagne wird unterstützt von:
Die fatale Politik der Festung Europa
UNITED’s Liste der Todesfälle von Geflüchteten
UNITED for Intercultural Action
Namenlose: Gedanken zum Gedenken
Bernd Mesovic (Pro Asyl)
Die Todsünden Europas
Flüchtlingspolitik mit Todesfolge
Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung)
Das Meer
Helene Seipelt (Schülerin in Marburg)
Gottes Liebe ist global
Rettung ist eine christliche und humanitäre Pflicht!
Heinrich Bedford-Strohm (Evangelische Kirche Deutschland)
Es liegt an uns
Heike Martin (Gemeinsam für Menschenrechte und Demokratie)
Amman. Beirut. Istanbul. Ich.
Flucht in der Nussschale: Begegnungen im Jahr 2018
Mohammed Ibrahim (Aynouna)
Die dunkle Kehrseite unserer westlichen Werte
Zur verdrängten Mitverantwortung Deutschlands, Europas und des Westens für gravierende Fluchtursachen und tödliche Fluchtbedingungen
Rolf Gössner (Internationale Liga für Menschenrechte)
Ist Menschlichkeit nur etwas für Wohlfühlzeiten?
Carlos Collado Seidel (PEN Zentrum Deutschland)
Mein Freund Zaki
Ruben Schenzle (Seminar für Semitistik und Arabistik der FU Berlin)
Es sterben Menschen, die wir retten könnten.
Lorenz Narku Laing (Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU München)
Die stille Krise der Menschenrechte
Moustapha Diallo (Literaturwissenschaftler und Publizist)
Die tödliche Gleichgültigkeit
Stephan Lessenich (Institut für Soziologie der LMU München)
Zeugnis ablegen über eine humanitäre Katastrophe
Angela Hermann (NS-Dokumentationszentrum München)
Nicht. Mehr.
Mahmoud Juma (Schüler in Göttingen)
Festung Europa und ihr mediterraner Burggraben
Die EU als imperiale Struktur und das Sterben im Mittelmeer
Christoph K. Neumann (Institut für den Nahen und Mittleren Osten der LMU München)
Menschenrechte für Bootsflüchtlinge durchsetzen!
Ein neuer Pakt der Vereinten Nationen weckt Hoffnungsschimmer Karl-Heinz Meier-Braun (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen)
Wir wollen eine menschliche, verantwortungsvolle und vernünftige Flüchtlingspolitik!
Monika Hoenen (matteo – Kirche und Asyl)
Die Liste
Europa, deine Toten
Nachwort von Kristina Milz und Anja Tuckermann
Dank
Seit 1993 beobachtet UNITED for Intercultural Action den Tod von Asylbewerbern, Flüchtlingen und Migranten, die ein besseres Leben in Europa suchen. Auf dem Weg zur Festung Europa, in Haft- oder Registrierungslagern, während der Abschiebung oder zurück im Herkunftsland sterben viele Geflüchtete und Migranten. Mit dieser „Liste der zu Tode gekommenen Geflüchteten“ will UNITED aufmerksam machen auf die Rolle unserer Gesellschaften beim Schutz von Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Armut oder Naturkatastrophen fliehen, und die schwerwiegenden Mängel in unseren Asyl- und Einwanderungssystemen hervorheben, die die Menschenwürde immer wieder bedrohen. Bis zum 30. September 2018 sind mehr als 35.597 Todesfälle dokumentiert. Die genaue Zahl der Geflüchteten, die wegen der Festung Europa gestorben sind, bleibt unbekannt, geschätzt wird sie dreimal höher als die dokumentierte Zahl, viele Menschen werden nie gefunden. Jeder Tod ist einer zu viel. Wie viele Todesfälle müssen wir zählen, bevor sich diese fatale Politik ändert?
Europas Abschottungspolitik macht es fast unmöglich, legal nach Europa zu gelangen. Diese fatale Politik zwingt tausende von Menschen, auf illegale Wege in ein Land auszuweichen, in dem sie Sicherheit finden und ein ökonomisches Überleben möglich ist. So unterschiedlich die Gründe für diese Todesfälle auch sind, lassen sie sich letztlich alle zurückführen auf die Errichtung einer Festung Europa, die Politik der Abschottung und die kontinuierliche Verschärfung der Asylpolitik der EU. Die Entscheidungen werden auf höchster politischer Ebene getroffen: das Schengen-Abkommen, die Dublin-Verordnung und die EU-Grenzkontrollprogramme. Wir sehen uns einem Wetteifern der europäischen Mitgliedstaaten um die härtere Asylpolitik gegenüber – flankiert von europäischen Initiativen zur Beschränkung der Einwanderung. Die Migrationspolitik der EU wird von Zielen und Vorgaben statt von Menschlichkeit bestimmt.
Trotz Bürgerkriegen, globalen, politischen und sozialen Unruhen schottet Europa sich ab und ignoriert die Ursachen der Migration. Flüchtlinge und Migranten, die nach Europa fliehen, werden in der Öffentlichkeit als die Ursache für innereuropäische Probleme dargestellt. Sie werden als Sündenböcke missbraucht, was den Rassismus befördert und rechtspopulistischen Parteien einen Nährboden bereitet. Anstatt ein Problem zu sein, suchen Geflüchtete selbst nach einer Lösung für die schwerwiegenden Probleme, derentwegen sie aus ihren Ländern fliehen mussten. Die Geflüchteten sind nicht das Problem! Das eigentliche Problem ist ein allgemeiner Mangel an Visionen in Europa bezüglich Migration und ein Mangel an Unterstützung für eine friedliche Entwicklung in ihren Heimatländern.
Zu bedenken ist, dass all diese Todesfälle auf eine Politik zurückzuführen sind, die ein grundlegendes Menschenrecht kriminalisieren: die Freizügigkeit. Auch das Recht auszureisen und in das Herkunftsland zurückzukehren, das Recht auf Asyl und das Recht auf Familienzusammenführung werden verletzt. Diese Rechte sind in der Genfer Konvention von 1951 festgelegt und stellen nicht nur eine Reihe von Werten und Prinzipien dar, die die EU wahren sollte, sondern sind Grundlage von internationalem Recht, an das jeder Staat gebunden ist.
Das europäische Abkommen mit der Bezeichnung „Dublin-Verordnung“ verpflichtet Asylsuchende, sich in dem Land zu registrieren, in dem sie zum ersten Mal in die EU einreisen. In der Realität ist dies der Süden Europas, Italien, Spanien und Griechenland. Diese drei Länder sind hoch verschuldet und versorgen die Geflüchteten minimal. Viele Geflüchtete sind nach der Einreise in die EU schutzlos, werden aber gezwungen, in dem Land zu bleiben, das für sie „verantwortlich“ ist. Das Dublin-Abkommen wurde zu einem Instrument der Grenzkontrollen, das es ermöglichte, Geflüchtete aus den wohlhabenderen nördlichen Ländern in ärmere Beitrittsländer abzuschieben. Die EU-Grenzländer ihrerseits drängen neu eingetroffene Geflüchtete in das Nicht-EU-Gebiet zurück. Und ihre Nicht-EU-Nachbarn werden finanziell unterstützt, um die Geflüchteten noch weiter von „unseren“ Grenzen fernzuhalten. Diese Pushback-Maßnahmen müssen gestoppt und Verantwortung muss übernommen werden.
Seit Jahren versuchen europäische Regierungen, Grenzkontrollen und Militarisierungsmaßnahmen einzuführen. An den Außengrenzen Europas werden strengere Kontrollen durchgeführt. Das ultimative Ziel des „Grenzschutzes an den Außengrenzen“ besteht darin, Opfer von Verfolgung, Bürgerkrieg und Zwangsmigration aufzuhalten, bevor sie Europa überhaupt erreichen. Zahlreiche Todesfälle sind eine direkte Folge der Befestigung der EU-Grenzen. Eine Schließung von Grenzen führt nur dazu, dass Geflüchtete versuchen, andere Wege zu finden, oft noch gefährlichere Wege. Egal, wie sehr Europa sich bemüht, es wird seine Tore nicht effektiv schließen können. Indem es die Politik der Abschottung verschärft, zwingt es die Schwächsten bloß in noch gefährlichere Situationen und erhöht die Zahl der Todesfälle.
Europäische Politiker identifizieren „Menschenhändler“ und „Menschenschmuggler“ als die großen Bösewichte, doch die geschlossenen Grenzen und die verschärfte Asylpolitik drängen Menschen in die Illegalität und schaffen einen Bedarf an Vermittlern, die Migranten beim Grenzübertritt unterstützen. Menschenhändler sind nicht der Grund für die Migration. Wenn sich so viele lieber das Leben nehmen, statt zu den Lebensbedingungen zurückzukehren, aus denen sie geflohen sind, wenn Migration nicht nur die schönere, sondern die einzige Option ist, besteht eindeutig die Notwendigkeit, dass die Regierungen ihre Entscheidungsprozesse überprüfen.
Die Reden von Rechtspopulisten gegen Einwanderung führen zu Fremdenfeindlichkeit, rassistischen Angriffen, Hassverbrechen und wachsenden populistischen politischen Bewegungen.
Geflüchtete, Asylbewerber und „illegale“ Migranten, auch Kinder, werden oft inhaftiert. In ganz Europa gibt es Haftanstalten, in denen die Haft von einigen Wochen bis zu einem Jahr und sogar länger andauern kann. Inhaftierte Migranten werden oft schlechter behandelt als Kriminelle. Rechtsbeistand wird oft verweigert und NGOs und humanitären Organisationen wird regelmäßig der Zutritt verweigert. Die Verwaltung der Haftanstalten erfolgt oft militärisch, und mangels Dolmetschern und Sozialarbeitern werden Konflikte und Missverständnisse durch den Einsatz von Gewalt gelöst.
Berichte über selbstzerstörerische Handlungen gibt es häufig: von Hungerstreiks, Augen- und Mundzunähen bis hin zu allen Arten von Selbsttötung, einschließlich der Selbstverbrennung. Flüchtlings- und Gefangenenlager sind, gemessen an den internationalen Übereinkommen zu Asyl, Menschenrechten und Präventivhaft, oft halblegal. Die Regierungen müssen aufhören, Migranten (und ihre Kinder) wegen des „Verbrechens“ des Reisens ohne Papiere zu inhaftieren.
Ob aufgrund des (Irr-)Glaubens, dass Konfliktländer jetzt sichere Orte seien, an die man zurückkehren kann, oder einfach nur, weil die Voraussetzungen für den Verbleib in der EU nicht erfüllt sind: Abschiebungen sind ein bequemer Weg, um Einwanderungsstatistiken zu verwalten. Abschiebungen sind nur vertretbar, wenn wir die Sicherheit und Wiedereingliederung der Geflüchteten gewährleisten können. Unabhängig von der Korrektheit der Entscheidung der Behörden sind diese verpflichtet, Abschiebeverfahren so durchzuführen, dass Sicherheit, Wohlergehen und die Menschenwürde gewahrt bleiben.
Die Tatsache, dass Regierungen in ganz Europa regelmäßig Asyl ablehnen oder Abschiebungen anordnen, hat enorme Auswirkungen auf den psychischen und emotionalen Zustand der Antragsteller. UNITED hat im Laufe der Jahre viele Fälle verzeichnet, in denen Zwangsrückführungen oder gescheiterte Asylanträge zum Tod geführt haben.
Eine aktualisierte Version der Liste wird jährlich unter www.UNITEDAgainstRefugeeDeaths.eu veröffentlicht und kann von AktivistInnen, ForscherInnen, JournalistInnen und KünstlerInnen genutzt werden, um durch eigene Arbeiten und Projekte mehr Bewusstsein dafür zu schaffen. JournalistInnen und ForscherInnen können die kompletten Anmerkungen für die Recherche unter [email protected] anfordern.
Spenden sind sehr willkommen, um die Liste regelmäßig aktualisieren zu können.
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Geringere Summen: Verwenden Sie die Schaltfläche Paypal auf der Website von UNITED.
UNITED für Intercultural Action - European network against
nationalism, racism, fascism and in support of migrants and refugees
Campaign Fatal Policies of Fortress Europe
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„Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren
als das der Berühmten,
dem Gedächtnis der Namenlosen ist die
historische Konstruktion geweiht.“
Diese Notiz von Walter Benjamin steht eingraviert auf einer Glasplatte am Ende eines Korridors aus Stahl, der über das Meer ragt. Die Glasplatte verschließt den Korridor, setzt der Bewegung ein Ende, lässt jedoch den Blick auf Meer und Bucht zu.
Der Gedenkort „Passagen“, gestaltet von Dani Karavan, erinnert an den Philosophen Walter Benjamin, der sich im nahen Port Bou auf der Flucht vor der Gestapo das Leben nahm, als ihm die Tatsache eröffnet wurde, dass ihm die Einreise nach Spanien verweigert werde. Doch das 1994 eingeweihte Denkmal ist – wie alle große Kunst – viel mehr. Es ist eben jener Versuch, mit dem Gedanken Benjamins derer zu gedenken, die als nicht Berühmte im Mahlstrom der Geschichte untergegangen sind. Erst dieses Gedenken schafft die Geschichte. Nur was im Gedächtnis bewahrt wird, ist Geschichte, die mehr ist als eine Aneinanderreihung großer Namen und eine zumeist von Siegern geschriebene Ereignisgeschichte.
Wer den Gedenkort gesehen hat, besser gesagt: im Denkmal gewesen ist, wird sich mit dem Blick aufs Meer nicht des Eindrucks erwehren können, dass der chancenlose Blick ins weite Blau das Gedenken an die Hoffnungen vieler Flüchtlinge einschließt, die in der Geschichte den Weg übers Meer versucht haben, sich in seeuntüchtigen Booten oder mit Hilfe von HelferInnen an Land gerettet haben oder mit ihren Hoffnungen gescheitert und gestorben sind. Die oft provisorisch wirkenden Grabstätten auf den Inseln und Küsten des Mittelmeers, entlang der heutigen Fluchtrouten, sind ebenfalls Gedenkorte, oft auch der Namenlosen, deren Überreste nicht identifiziert wurden.
Menschen, die Angehörige verloren haben, finden es oft besonders schwierig, mit ihrer Trauer zu leben, wenn es keinen Ort des Gedenkens gibt, den man besuchen kann, weil die Toten verschollen sind. Denkmäler als Gedenkorte sind, wenn sie nicht in banaler Pflichterfüllung entstehen, Versuche, den Verlust begreifbar zu machen.
Auch Totenlisten, wie sie seit vielen Jahren geführt werden, sind ein Versuch, Namen und die Erwähnung der unbekannt gebliebenen Toten gegen das zu setzen, was man als politisch erwünschtes Vergessen bezeichnen muss. Viele hätten gerettet werden können, durch adäquate Seenotrettung, organisiert von denen, die eigentlich dafür verantwortlich sind, die Anrainerstaaten des Mittelmeeres; durch die Bereitschaft Europas, solches zu unterstützen und sich an der Aufnahme der Geretteten zu beteiligen; und, wenn man weiter ausgreifen will: durch den ernsthaften Versuch, Fluchtursachen in den Herkunftsregionen zu bekämpfen – und nicht diejenigen, die den Weg an die Küste und in die Boote nach oft unsäglichem Leiden geschafft haben.
Die Toten mahnen – auch eine solche Formulierung ist eine historische Konstruktion. Sie erinnern uns daran (genauer: Wir erinnern uns), dass dieses Europa, dass sich gern für die „Erfindung“ der Menschenrechte feiern lässt, es fertiggebracht hat, über lange Zeit hinweg dem Sterben auf dem Meer ungerührt zuzusehen. Man mag es zynisch eine Kultur des Sterbenlassens nennen, die dann von eher halbherzigen Rettungsaktionen abgelöst wurde, bis es der Einsatz der freiwilligen nichtstaatlichen Seenotrettungsinitiativen war, der deutlich gemacht hat, was man tun kann, wenn man will. Europa hat es fertig gebracht, die Kernverpflichtung aller Schiffsbesatzungen, die Seenotrettung, zu zerreden, zu diskreditieren und Besatzungen, die ihre menschenrechtliche Pflicht tun, unter Verdacht zu stellen und zu kriminalisieren. Mit den aktuellen Versuchen, Rettungsschiffe an die Kette zu legen, gegen die NGOs zu ermitteln, Schiffe am Einlaufen in die nächsten sicheren Häfen zu hindern oder ihnen die seerechtliche Zulassung zu entziehen, ist eine neue Stufe erreicht, die weit mehr ist als unterlassene Hilfeleistung, nämlich die Verhinderung effektiver Rettung gegen die Vorschriften des internationalen Seerechts.
Es geschieht dieses alles nicht zum ersten Mal. Daran sei hier erinnert, ist es doch seltsam, dass weniger als 40 Jahre nach der Flucht der boat people aus Indochina sich offenbar kaum jemand an deren Schicksal erinnert fühlt. Im September 1978 begann die Flucht Hunderttausender über das südchinesische Meer in seeuntüchtigen Booten, bedroht von Piraten. Die meisten Zielstaaten versuchten zunächst, die Boote nicht anlanden zu lassen, machten zumeist die Aufnahme der ankommenden Flüchtlinge in Drittstaaten (Resettlement) zur Bedingung, sie vorläufig bleiben zu lassen. Handelsschiffe fuhren ob dieser Unklarheiten an sinkenden Schiffen vorbei, mussten sie doch befürchten, Gerettete nirgendwo an Land bringen zu können. Nach UNHCR-Schätzungen sollen auf hoher See in der Region binnen weniger Jahre zwischen 200.000 und 400.000 Menschen umgekommen sein. Bedingt durch die extrem schlechten Bedingungen in den Erstaufnahmestaaten dürften noch mehr Flüchtlinge nach der „Rettung“ gestorben sein.
Es war dies aber auch die Stunde der privat organisierten Seenotrettung durch zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich in Deutschland etwa mit der Cap Anamur verbindet, die allein etwa 11.000 Menschenleben rettete. Da die Niederlage der USA im Vietnamkrieg als eine Episode des Kalten Krieges gesehen wurde, bestand eine relativ große Bereitschaft, Aufnahmeplätze zur Verfügung zu stellen. Allein zwanzig westliche Staaten nahmen mehr als 620.000 Indochinaflüchtlinge im Wege des Resettlements auf. Das Zusammenwirken mehrerer Faktoren brachte so eine Lösung für einen relativ großen Teil der Flüchtlinge, die heute angesichts der viel geringeren Größe der Fluchtbewegung über das Mittelmeer und gleichzeitig geringer Aufnahmebereitschaft in den EU-Mitgliedstaaten zu denken gibt.
Doch vergessen ist auch: Die Aufnahme der boat people war in Deutschland früh umstritten. Nicht nur hier begann eine Debatte darüber, ob ihre Aufnahme nicht gerade dazu motiviere, sich auf die gefährliche Reise über See zu begeben. Flüchtlingsaufnahme und Asyl erlebten 1980 eine erste Karriere als Problemthema in Bundestagswahlkämpfen. Wir erkennen das Muster: Fluchtmotive, die zunächst als unmittelbar nachvollziehbar galten, wurden hinterfragt, die Tätigkeit der Seenotretter in Frage gestellt. Man scheute sich nicht, angesichts der dramatischen Bilder von sinkenden Flüchtlingsbooten die Tragfähigkeit des eigenen Staatsschiffes metaphorisch in den Raum zu stellen: Das Boot ist voll.
Das Boot ist niemals voll gewesen, wie wir wissen. Die Indochinaflüchtlinge sind derart integriert, dass offenbar nicht einmal sie in der aktuellen Debatte zu hören sind, die Überlebenden eines Exodus, den viele namentlich Bekannte wie Namenlose nicht überlebt haben. Immerhin: Seit 2009 gibt es einen Gedenkstein der vietnamesischen Flüchtlinge in Deutschland in Hamburg, auf dem auch aller Flüchtlinge gedacht wird, „die auf dem Weg in die Freiheit ihr Leben gelassen haben“. Und in Troisdorf steht eines der Flüchtlingsboote, aus dem Menschen durch die Cap Anamur gerettet worden sind.
Die Liste der Toten ist also auch eine Fortschreibung der ungeschriebenen Liste der Schiffbrüchigen aus den Katastrophen der Geschichte. Rettung ist die Aufgabe. Zu ihrem Gedächtnis.
Bernd Mesovic ist Leiter der Abteilung Rechtspolitik bei PRO ASYL. Er ist verantwortlich für die Pressearbeit von PRO ASYL und befasst sich mit der Analyse asylrechtlicher Praxis sowie der Situation in den Herkunftsländern.
Der Leiche von Aamir Ageeb ging es gut. Sie stand unter der Obhut der Staatsanwaltschaft und fand Betreuung nach den Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren. Die Gerichtsmedizin in München inspizierte und obduzierte den Leichnam. Die Rechtsmedizin in Frankfurt wiederholte die Totenschau, „um ja nichts zu versäumen“, wie der Sprecher der dortigen Staatsanwaltschaft sagte. Das Bundeskriminalamt ermittelte.
So viel juristische Sorgfalt war dem Aamir Ageeb vor seinem Tod auf dem Abschiebeflug in den Sudan nicht widerfahren. Wenigstens sein Leichnam also durfte nun erleben, wie gewissenhaft deutsche Behörden arbeiten können. Jetzt wurden Sachverständige gehört, Zeugen vernommen, Gutachten eingeholt. Immerhin das Todesermittlungsverfahren und das Ermittlungsverfahren gegen drei Grenzschutzbeamte liefen also nach jenen rechtsstaatlichen Regeln, von denen sich das Asylrecht am 1. Juli 1993 verabschiedet hatte. Dieses Asylrecht interessiert sich seitdem kaum dafür, welches Verfolgungsschicksal ein Flüchtling hat, es beschäftigt sich stattdessen mit der Fluchtroute, weil die Modalitäten der Abschiebung davon abhängen.
Aamir Ageeb, geboren am 3. August 1968 in Khartoum, abgewiesener Asylbewerber, seit drei Jahren verheiratet mit einer Deutschen, von ihr zuletzt getrennt lebend und daher ausgewiesen, starb im Mai 1999 nach dem Start des Flugzeugs in Frankfurt. Er starb extrem gefesselt und gebunden und, weil man so seinen Widerstand brechen wollte, mit einem Motorradhelm auf dem Kopf, den Grenzschützer beim Start durch „Nach-unten-Drücken fixiert“ hatten. Aamir Ageeb erstickte. Die Wissenschaft spricht vom Positional Asphyxia-Phänomen, das bei Festnahmen mit hoher Gewaltanwendung und anschließender Fixierung häufig beobachtet wurde.
Die drei Grenzschutzbeamten, die den Flüchtling gefesselt hatten, wurden wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt und zu Schadenersatzzahlungen an die Familie von Aamir Ageeb. Der Vorsitzende der Strafkammer verglich die Zustände in der Abschiebehaft mit den Zuständen im irakischen Abu-Ghraib-Gefängnis.
Es gab nun zwei Möglichkeiten, um aus dieser Straftat und ihrer Verfolgung eine Konsequenz zu ziehen. Erstens: künftig nicht nur der Leiche eines Flüchtlings Fürsorge angedeihen zu lassen, sondern dem lebenden Flüchtling. Zweitens: sich künftig nicht einmal mehr um die Leichen zu kümmern – und den Tod von Flüchtlingen billigend in Kauf zu nehmen. Die deutsche und die europäische Politik entschieden sich für das Zweite. Man könnte nun diesen Platz daher einfach damit füllen, dass man die Namen der namenlosen Flüchtlinge aufzählt, die jüngst im Mittelmeer ertrunken sind. Man könnte den Platz auch damit füllen, dass man die Namen der Orte nennt, an denen es Angriffe und Anschläge auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte in Deutschland gab. Und wollte man die Hetzereien dokumentieren, die solche Angriffe vorbereitet haben – dann bräuchte man auch dafür ein ganzes Buch. In Deutschland gibt es eine immer giftigere flüchtlingsfeindliche Szene, zu deren Kommunikationsmitteln Unverschämtheiten gehören. Die Situation von heute gemahnt an die vor 26 Jahren, an 1992 also, an Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen, als sich die Nachrichten anhörten wie ein Bericht vom Krieg des Mobs gegen Flüchtlinge.
Das Elend der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa fliehen wollen, ist zum Heulen. Zum Heulen ist auch die EU-Flüchtlingspolitik. Sie leidet an Bürokratismus, Heuchelei und Hinterfotzigkeit. Die EU hat den Landweg aus den Kriegsgebieten des Mittleren Ostens versperrt. Man zwingt Flüchtlinge so auf die nasse Fluchtroute übers Meer und vergießt dann, wenn sie dort ertrinken, Krokodilstränen. Wenn es bei der Rettung des Euro so kläglich wenig Einsatz gegeben hätte wie bei der Rettung von Flüchtlingen: Es gäbe den Euro schon längst nicht mehr.
Die EU, Trägerin des Friedensnobelpreises, findet sich damit ab, dass sich einzelne Mitglieder dieser Union einer Flüchtlingspolitik mit Todesfolge rühmen. Und seit Jahren, seit Jahrzehnten gibt es auf EU-Konferenzen die ewig gleichen, tumben Vorschläge zur Flüchtlingspolitik: Bekämpfung der Schleuserbanden, besserer Schutz der EU-Außengrenzen, Rückführungspolitik. Die Abwehr von Flüchtlingen soll also perfektioniert werden. Europas Politiker waschen bei alledem ihre Hände in Unschuld – sie waschen ihre Hände in dem Wasser, in dem die Flüchtlinge ertrinken.
Was soll man machen?, sagen sie. Sollen die Leute halt nicht in die klapprigen Boote steigen! Sollen sie bleiben, wo sie sind! Sollen sie sich eben nicht in Gefahr begeben! Wer sich aufs Meer wagt, der kommt darin um! Was soll man machen? Die EU-Politik betreibt Sicherheitspolitik und betrachtet das Meer als Verbündeten. Das Meer ist das „Ex“ der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Die EU sichert die Grenzen mit einem Netz von Radaranlagen und Satelliten, mit Hubschraubern und Schiffen, die die Flüchtlingsboote abdrängen.
Diese Politik gilt als erfolgreich, wenn möglichst wenige Flüchtlinge Europa erreichen. Frontex ist nicht zuständig für Flüchtlingshilfsaktionen, sondern nur für Flüchtlingsabwehraktionen. Die Europäische Union schützt sich vor Flüchtlingen wie vor Terroristen und behandelt sie so. Die massenhafte Zurückweisung der Flüchtlinge, die Schiffbruchstragödien vor der Insel Lampedusa – es sind dies die Todsünden der europäischen Politik.
Das Mittelmeer ist ein Massengrab für Menschen in Not. Sie waren Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Europa; sie sind verdurstet auf dem Wasser, sie sind ertrunken auf hoher See oder vor Lampedusa, sie sind erfroren in der Kälte der europäischen Flüchtlingspolitik. Die gezählten und die ungezählten Toten sind auch an ihrer Hoffnung gestorben. Diese Hoffnung bestand darin, die wirtschaftliche Not hinter sich zu lassen und in Europa Freiheit und ein besseres Leben zu finden.
Die europäischen Außengrenzen wurden so dichtgemacht, dass es dort für die Humanität kein Durchkommen mehr gibt. Europa schützt die Grenzen, aber nicht die Flüchtlinge. Der nasse Flüchtlingstod ist unheimliche Routine geworden. Er wird behandelt wie ein Schicksal, das man nicht ändern kann. Europa nimmt den Tod in dem Meer, das die Römer Mare Nostrum nannten, fatalistisch hin, weil man fürchtet, dass Hilfe mehr Flüchtlinge locken könnte. Hilfe gilt als Fluchtanreiz. Deshalb laufen keine Hilfsschiffe der Marine aus, um Flüchtlinge zu retten; deshalb gibt es keine europäischen Hilfs- und Aufnahmeprogramme; deshalb werden private Flüchtlingsrettungsschiffe politisch sabotiert und kriminalisiert. Der Tod der Flüchtlinge ist Teil einer Abschreckungsstrategie. Die europäische Demokratie ist eine große exklusive Veranstaltung, die den Reichtum drinnen und die Not draußen behalten möchte.
Indes: Man kann nicht darauf warten, bis irgendwann, hoffentlich, die Bekämpfung der Fluchtursachen einigermaßen gelingt. Flüchtlinge brauchen Hilfe – jetzt! „Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Bring dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!“ So steht es beim Propheten Jesaja. Der Satz des Propheten hat keine Heimat in der europäischen Politik; nicht an Weihnachten und auch an keinem anderen Tag im Jahr. Es wäre gut, wenn sich das ändert.
↑ Prof. Dr. Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und leitet das Ressort Meinung.
→ Helene Seipelt ist 2001 geboren und Schülerin in Marburg.
Ich verbinde alles.
Ich berühre jeden Kontinent, die Erdkruste
wie die Erdatmosphäre.
Ich strecke mich.
Es dauert lange, bis ich all meine Glieder lang gemacht habe.
Ich spüre, was ich immer spüre, wenn ich mich strecke.
Es zieht sich durch meine Arme und Beine.
Ich atme ruhig und die Luft über mir wird in
einem langsam pulsierenden Rhythmus von mir
weggedrückt und nähert sich mir wieder an.
Ich weiß, dass ich alles berühre,
die ganze Welt verbinde, aber es fühlt sich anders an.
Es fühlt sich nicht an, als wäre ich ein
unbedeutender Abstand zwischen zwei Ufern,
sondern als wäre ich das Einzige, was manche Länder verbindet.
Und ich halte uns alle mit ganzer Kraft zusammen.
Und manchmal, wenn es sich anfühlt,
als würde ein Land am liebsten auf einen
anderen Planeten ziehen,
nur, um so weit wie möglich von einem
anderen Land entfernt zu sein,
muss ich besonders stark festhalten.
So viel ist zwischen den Ufern, die ich zusammenhalte,
aber Einiges verbindet sie auch.
Ich halte sie ganz doll fest,
denn wir gehören alle zusammen, auch,
wenn sie sich dagegen sträuben
oder versuchen, sich zu wehren.
Ich bin stärker.
Seit Jahren wird fast an jedem Tag davon berichtet, dass Menschen unter Lebensgefahr auf der Flucht nach Europa sind, die oft mit dem Tod endet. Menschen fliehen aus Kriegsgebieten, vor Hunger, vor politischer und religiöser Verfolgung oder weil sie in ihrem Land keine Perspektive für sich und ihre Kinder sehen. Viele von ihnen sterben auf dem Mittelmeer, aber wir wissen vielfach weder ihre Namen noch ihre Geschichte, noch, wie sie gestorben sind. All das geschieht unbeobachtet, jenseits der medialen Berichterstattung.
Das Buch, das Sie in Ihren Händen halten, veröffentlicht die Liste der belegten Todesfälle sowie Namen von Geflüchteten, deren Identität wir kennen. Die Namen und die kurzen Porträtgeschichten Einzelner stehen stellvertretend für all jene Menschen, die fliehen mussten und die dabei ums Leben gekommen sind.
Auch wenn diese Liste der Namen nicht vollständig sein kann, so vertrauen wir als Christinnen und Christen darauf, dass Gott jeden Namen kennt, dass er um jedes Schicksal weiß und dass die Toten nun in seiner Gegenwart sicher und geborgen sind. Keiner ist bei ihm vergessen – Gott ist im Leben und im Tod bei jedem von uns, und wir haben die Hoffnung auf eine Herrlichkeit bei ihm, in der alle Tränen abgewischt sind. Sowohl das Alte als auch das Neue Testament sprechen davon, dass der Tod nicht das letzte Wort haben wird:
„Er wird den Tod verschlingen auf ewig. Und Gott der HERR wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen und wird aufheben die Schmach seines Volks in allen Landen; denn der HERR hat’s gesagt.“ (Jesaja 25,8)
„Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Offenbarung 21,3-4)
Als Christenmensch trägt mich die Hoffnung auf eine neue Welt ohne Leid. Aber diese Hoffnung gibt mir und vielen anderen Menschen auch Kraft für diese Welt. Es gilt sich zu engagieren und der tagtäglichen Tragödie auf dem Mittelmeer Einhalt zu gebieten. Denn die Geflüchteten sind Opfer einer Politik, die wir mitverantworten. Unser Verantwortungshorizont endet nicht an den deutschen oder europäischen Grenzen. Die Menschenrechte gelten überall. Und sie erfordern überall unseren Einsatz. Mitmenschlichkeit kennt keine Nationalität, sie kennt keine geographischen Grenzen. Daher fordere ich alle politisch Verantwortlichen in unserem Land und auf unserem Kontinent und uns alle auf: Schauen wir nicht länger zu, wie Menschen grausam auf dem Mittelmeer sterben, sondern handeln wir endlich und sprechen über Lösungen, wie Menschenleben gerettet und geschützt werden können.
Ich freue mich über das zivilgesellschaftliche Engagement, das es bereits gibt: Die Aktion Seebrücke hat bundesweit über den ganzen Sommer dieses Jahres zehntausende Menschen mobilisiert. Die Seenotrettungsorganisationen lassen sich nicht unterkriegen und versuchen nach Kräften zu helfen. Seenotrettung ist eine christliche und humanitäre Pflicht!
Ich freue mich auch über alle, die in ihrem Umfeld den Dialog führen, damit wir in unserer pluralen Gesellschaft friedlich zusammenleben können. Dabei muss die Würde der Gesprächspartner wie auch der Geflüchteten, über die debattiert wird, unbedingt geachtet werden. Es braucht eine differenzierte und von gegenseitigem Respekt getragene Sprache, die Menschen immer als das sieht, was sie sind, nämlich Menschen.
Und als Christinnen und Christen können wir ergänzen: Sie sind Gottes geliebte Geschöpfe und seine kostbaren Ebenbilder. Und weil Gottes Liebe global ist, müssen Menschen, die bedroht sind, auch wirklich Schutz finden, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer politischen Überzeugung. Die Rettung von Menschen in Lebensgefahr muss über alles andere gestellt werden. Ein Rechtsstaat, der seinen Namen verdient, muss hier klare Signale geben.
Ich hoffe, dass durch dieses Buch viele Leserinnen und Leser in ihrem Engagement für Menschen auf der Flucht bestärkt werden oder anfangen, sich für Geflüchtete einzusetzen, und ich hoffe, dass die Politik sich von dem Leiden dieser vielen tausend Menschen wachrütteln lässt und ihre Verantwortung wahrnimmt, Menschenleben zu schützen.
Heinrich Bedford-Strohm ist Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Am 3. Oktober 2013 sind über 360 Menschen im Mittelmeer vor Lampedusa ertrunken, sie waren auf der Flucht vor Terror und Gewalt. Diese Tragödie hat sich damals nach einer Zäsur angefühlt, etwas, das nie wieder passieren darf. Ich war wie so viele mit Vollzeitjob und Selbstverwirklichung beschäftigt, also habe ich gespendet. Damit war mein Gewissen auch erstmal beruhigt.
Doch die Zahl der Menschen, die auf der Flucht ihr Leben verlieren, steigt unaufhörlich – es geschieht auf dem Mittelmeer, in der Wüste oder bei dem Versuch, Grenzen zu überwinden. 2014 war mein Gewissen nicht mehr mit Spenden zu besänftigen. Ich bin damals an einem saukalten Septembertag in die Erstaufnahmeeinrichtung in München gefahren, um den Menschen zu helfen, die Deutschland erreichen. Ich habe aus meiner heilen, funktionierenden Welt einen ersten Fuß in eine andere gesetzt und es hat mich mit Wucht getroffen. Es war für mich erschütternd, mit eigenen Augen zu sehen, wie die Menschen in einer Erstaufnahmeeinrichtung – heute heißt das Ankerzentrum – leben müssen. In Mehrbettzimmern, die man nicht abschließen kann, stinkenden Gängen, ekligen sanitären Einrichtungen, kein Einfluss darauf, was und wann sie essen, und keine Schule für die Kinder. Die Erkenntnis, dass in unserem reichen Land etwas sehr schiefläuft, wenn Menschen so untergebracht, teilweise entwürdigend behandelt werden, und wie unfair dann ihr Asylverfahren läuft, hat im Laufe der Zeit mein Vertrauen in unseren Staat erschüttert.
Aber nochmal zurück: 2013 großes Entsetzen über die Tragödie von Lampedusa, dann bis Oktober 2014 Italiens Seenotrettung „Mare Nostrum“, das restliche Europa schaut einfach weg. 2015 der vermeintliche „Sommer des Willkommens“, die Solidarität in Deutschland schien groß zu sein. Aber das war ein Trugbild. Parallel wurden Asylrechtsverschärfungen in der Bundesrepublik umgesetzt, die den einstigen Gedanken des Menschenrechts auf Asyl pervertiert haben. 2016 gab es eine Reihe von Abscheulichkeiten: der dreckige Deal mit der Türkei, Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte, ein Abschiebeabkommen mit Afghanistan, ein Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das Menschen als Zahlen sieht – und die Aufzählung ist hier nicht zu Ende. 2017 wird eine rechtspopulistische und menschenfeindliche Partei in den Bundestag gewählt. Und heute, 2018, geht es längst nicht mehr darum, wie die geflüchteten Menschen untergebracht werden oder wie ihnen ein faires Asylverfahren ermöglicht wird; man diskutiert offen darüber, ob sie überhaupt überleben sollen. Menschen, die andere vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet haben, werden jetzt vor Gericht gestellt und kein einziges Schiff der NGOs darf noch auslaufen, um Leben zu retten. Es scheint legal, Menschen sterben zu lassen, und illegal, sie zu retten.
Ich dachte früher wie so viele: Auch wenn nicht immer alles perfekt im Asylsystem und bei der Aufnahme Schutzsuchender läuft, der Rechtsstaat wird es schon richten. Ein Irrtum.
Von meiner anfänglichen praktischen Hilfe mit Tee ausschenken und Informationen verteilen bin ich schnell zur Verfahrensberatung gekommen. Die Schutzsuchenden geraten völlig unwissend in ein System, das sie erst verschluckt und dann im schlimmsten Fall per Abschiebung wieder ausspuckt. Der Staat fühlt sich nicht zuständig, ihnen zu erklären, welche Rechte sie haben, also tun es Ehrenamtliche, die dabei zu Asylrechtsexpert*innen werden müssen. Zum Beispiel in der Anhörung: Die Asylsuchenden wissen vorher meist nicht, dass sie hier ganz explizit erklären müssen, warum sie in der Heimat bedroht sind. Und schlimmer noch: Sie müssen grausam Erlebtes erzählen, und Unaussprechliches muss ausgesprochen werden vor völlig fremden Menschen, die nicht im Umgang mit Menschen geschult sind, schon gar nicht mit Traumatisierten.
Zu Beginn war ich überzeugt, wenn die Menschen nur ehrlich ihre Geschichte erzählen, bekommen sie ihren Schutzstatus und endlich ein Leben, und habe deshalb sehr vielen bei der Vorbereitung zu ihrer Anhörung geholfen und sie auch begleitet. Dann habe ich die ersten negativen Bescheide zu lesen bekommen. Menschen, die unter Tränen oder in einem fast apathischen Zustand von ihrer Folter oder Vergewaltigung erzählt haben oder sprachlos in der Anhörung ihr T-Shirt hochgerissen haben, um ihre Narben zu zeigen, bekamen zu lesen, dass sie abgelehnt wurden. Die Begründung besteht meist aus zusammenkopierten Textbausteinen. Ein Beispiel: Die Schilderung sei „unglaubwürdig, weil nicht lebendig und detailreich genug erzählt“ – es ging dabei um eine Vergewaltigung. Was geht in einem Behördenmitarbeiter vor, der einen so menschenverachtenden Bescheid ausfertigt? Ich kann es mir nicht vorstellen.
Die Mitarbeiter des BAMF, das Personal der Ausländerbehörden, die Polizisten, die abschieben, sie alle berufen sich gerne darauf, nur Anweisungen zu befolgen; aber niemand in diesem Land hat das Recht, „nur Anweisungen zu befolgen“. Wir alle, ob als Privatperson, im Auftrag einer Behörde oder des Staates, haben die Pflicht, selbst für unser Handeln Verantwortung zu übernehmen; daher kann und werde ich niemandem aus diesen Behörden verzeihen, was sie den Menschen antun und angetan haben.
Seit 2017 sind Rechtsextreme und Rassisten im Bundestag vertreten, wir haben einen Innenminister, der die rechten Kräfte schützt und sogar anstachelt, und eine Regierungs-Koalition, die dazu schweigt. Wir haben Hetzjagden auf Geflüchtete in Chemnitz erlebt, aber auch die #ausgehetzt-Demonstration im Juli 2018 in München. Ich habe diese Demonstration als Teil der Initiative „Gemeinsam für Menschenrechte und Demokratie“ mit organisiert. 50.000 Menschen sind an diesem Tag in München gegen die menschenverachtende Politik der Angst und Spaltung auf die Straße gegangen. Es ist eine neue Bewegung entstanden, bei der sich genau die Menschen gegen den Rechtsdrall solidarisiert haben, die durch Scheindebatten über Geflüchtete gegeneinander ausgespielt werden sollen: Flüchtlingshelfer, Menschen aus der queeren und feministischen Community oder die mit sozialen Problemen wie Wohnungsnot oder prekären Arbeitsverhältnissen kämpfen, dazu Vertreter von Bürgerund Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und viele aus dem kirchlichen Kontext. Und dabei ist es nicht geblieben: Unzählige haben in den Wochen danach in unzähligen Aktionen und Demonstrationen gegen nationalistische, diskriminierende und rassistische Politik protestiert. Und am 13. Oktober 2018 sind mehr als 240.000 Menschen in Berlin unter dem Motto #unteilbar für Solidarität und eine offene Gesellschaft durch die Straßen der Hauptstadt gezogen. Das lässt hoffen.
Menschenrechte sind unteilbar, egal woher wir kommen, an wen oder was wir glauben oder wen wir lieben. Wir dürfen nicht mehr stillschweigend erdulden, was Geflüchteten und anderen, die Hass und Hetze ausgesetzt sind, widerfährt. Wir müssen lauter werden, zusammenstehen, solidarisch sein und die unantastbare Würde eines jeden Menschen verteidigen. Es geht darum, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen, und um Solidarität mit allen, die Diskriminierung ausgesetzt sind. Politik ist auch unsere Aufgabe.
Menschenrechte und Demokratie sind nicht selbstverständlich, nicht mal mit dem Privileg der Geburt in diesem Land, und vor allem nicht für die, die bei uns Schutz suchen. Wir müssen uns dafür einsetzen, jetzt und immer. Wir müssen zu jeder Zeit für unser Handeln und Nicht-Handeln geradestehen. Wir müssen Wege finden, um gehört zu werden, wir müssen uns beteiligen und zu Beteiligten machen. Rassismus und die Verletzung von Menschenrechten sind Angriffe auf jeden Einzelnen von uns. Wenn wir Menschen, die auf der Flucht vor Terror und Gewalt sind, nicht helfen, zerstören wir, was uns als menschliche, zivile und vielfältige Gesellschaft ausmacht – und damit uns selbst. Es liegt an uns.
Heike Martin schreibt im Namen der Initiative Gemeinsam für Menschenrechte und Demokratie, die die Demonstration #ausgehetzt – Gemeinsam gegen die Politik der Angst am 22. Juli 2018 in München organisiert hat, der sich 163 Organisationen anschlossen. Dem Aufruf, auf die Straße zu gehen, folgten zehntausende Menschen. Bei der Massendemonstration #unteilbar – Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung am 13. Oktober 2018 in Berlin war die Initiative aus München einer der Hauptakteure.
Mein Name ist Mohammed, ich bin Medizinstudent aus Hannover. Ich wurde gebeten, für dieses Buch zu schreiben, weil ich, der junge Mann mit dem gängigsten Namen der muslimischen Welt, mir oft die Frage stelle, was mich ausmacht, was für ein Mensch ich sein möchte.
Diese Frage treibt meine Arbeit für den gemeinnützigen Verein Aynouna an. Und sie ist verbunden mit meinen Beobachtungen und Beschreibungen von Flucht und Krieg. Im Zuge unserer Vereinsarbeit in Jordanien und durch die Begegnung mit Geflüchteten im Libanon, in der Türkei und in Deutschland bin ich einer Antwort auf meine Frage nähergekommen, zumindest ein Stückchen.
Auch dieses Buch kann dabei helfen, näher zu sich selbst zu kommen. Jedem, der das möchte, empfehle ich beim Lesen zu fragen: Wohin will ich? Und was soll mir wichtig sein? Was für ein Mensch möchte ich sein? Ich glaube, jeder Mensch trägt eine Vielzahl von Gegensätzen in sich, und dennoch verstehen wir uns als kohärente Identitäten. Der Kampf mit mir selbst, den ich zu verstehen versuche, beruht auf diesen Gegensätzen, die manchmal in eine Krise, manchmal in inneren Frieden münden.
Meistens beschreibe ich Menschen, die in nicht alltäglichen Lebenssituationen Entscheidungen treffen (müssen). Ihre Art zu denken, ihre Erfahrungen und Entscheidungen und emotionalen Bindungen helfen mir dabei, ein Urteil über mein moralisches, soziales, sprich: mein ehrenamtliches Ich zu fällen.
Für mich ist es nicht wichtig, ob jemand sein Wunsch-Ich in der fürsorglichen Marian findet, die ihre Liebe den Kindern der Hope School gewidmet hat, oder in keinem der auf den folgenden Seiten porträtierten Personen Menschen sieht, die als Vorbilder taugen. Das Ziel des Textes ist es nicht, moralische Heilige im Sinne Susan Wolfs vorzustellen, Menschen, an denen wir uns eine Scheibe abschneiden sollen. Das Schöne am Menschen finde ich seine Gabe, in Gegensätzen zu leben und darin Glück zu finden.
Die Liste der Toten dient dem einen vielleicht als Mahnung, dem anderen ist sie ein Tribut an die Verstorbenen; wieder andere sehen darin vielleicht keinen Bezug zu sich selbst. Die Liste könnte in unserem Land den Diskurs über das Geschehen im Mittelmeer aufleben lassen. Die Namen und Namenlosen auf der Liste sind die stillen Protagonisten dieses Buches. Auch sie hätten Marian, Ghassan oder Maher werden können, hätten einen entscheidenden Beitrag für unsere Gesellschaften leisten können, wären sie unter den Glücklichen gewesen, die überlebt haben. Es ist die Entscheidung jedes Einzelnen, ob er in den Einträgen in diesem Buch lediglich schwarze Buchstaben auf weißem Papier sieht oder aber eine hochpolitische, vielleicht auch stark emotionale Reise zulässt.
Im einheitlichen Beige der Häuser drohe ich die Orientierung zu verlieren, bis ich an einer Ecke ein kleines metallenes Tor entdecke, darauf gepinselt: Hope School. Hinter dem Tor öffnet sich ein mittelgroßer Hof, darin das Schulgebäude, das vier Klassen beherbergt und dahinter eine große Wiese mit Olivenbäumen. Diese Wiese mitten im städtischen Marj el Hamam, arabisch für „die Wiese der Tauben“, gewährt einen unverstellten Blick auf Jordaniens Hauptstadt: ein Panorama der arabischen Schönheit.
Unser Verein Aynouna unterstützt die Hope School seit 2017, sie ist unsere erste Station auf der Projektreise im Frühjahr 2018. Fast alle Kinder, die die Schule besuchen, sind aus Syrien geflohen. Während die anderen Vereinsmitglieder im Vorraum des Schulgebäudes Platz nehmen, um sich mit den Lehrern zu unterhalten, schlüpfe ich in einen der vier Klassenräume. Erste Klasse: Lehrer Ghassan erklärt den Kindern die Schadda, ein Betonungszeichen in der arabischen Sprache. Die Kinder sitzen still, den Blick auf Ghassan gerichtet. Dass ich mit Kamera und Mikrofon auf einer der engen Schulbänke hinten sitze, kümmert sie nicht. Wenn ihr Lehrer eine Frage stellt, schießen die kleinen Finger in die Luft. Alle wollen an die Tafel und einigen wird erst bewusst, dass sie die Antwort nicht wissen, als sie schon aufgerufen sind. Doch die anderen helfen, sie applaudieren dem auserwählten Kind, bis die Stimme des Lehrers wieder Ruhe einkehren lässt. Der Schulgong erklingt, doch allein der zufriedene Blick des Lehrers signalisiert: „Wir sind fertig für heute!“. Draußen auf der Wiese streifen Lehrkräfte und Schulkinder die Disziplin für eine Weile ab. Zwischen den Olivenbäumen spielen sie Reise nach Jerusalem. Die Hope School mit dem versteckten Garten hinter dem Metalltor wird zum sicheren Hafen von Kindheit.
Einer der Olivenbäume ragt auffällig in die Höhe. Er spendet Schatten, während die Mittagssonne die Wiese in flirrend rotgoldenes Licht taucht. Der Baum trägt nicht genügend Früchte, um daraus Olivenöl zu gewinnen, sagt Lehrer Ghassan. Er scherzt: „Der Baum bräuchte jemanden, der sich kümmert, aber wir kümmern uns ja um die Kinder.“ Die sitzen derweil ordentlich aufgereiht am Bühnenrand der Schulaula und essen frisch für sie zubereitete Sandwiches. Bis zwölf Uhr mittags haben sie heute noch Unterricht, dann wird sie der Pförtner mit einem Van nach Hause fahren. Ghassan und ich setzen uns auf zwei Plastikstühle unter den Baum, ich baue meine Kamera auf und schalte das Mikrofon ein. Wir unterhalten uns ausführlich über die Arbeit an der Schule, über die Herkunft der Kinder, ihre Erfahrungen, die Perspektiven. Ich will unsere Hilfsprojekte für unsere Spender dokumentieren. Während des Interviews wirkt Ghassan angespannt. Seine Antwort auf meine Fragen: steife Haltung, gehobenes Arabisch, Schachtelsätze – fast, als wäre er ganz unverhofft in einer Fernsehtalkshow zu Gast. Ich wirke dagegen wie sein Schüler, mit meinem libanesischen Dialekt und der holprigen Ausdrucksweise. Nach dem Interview verändert sich Ghassans Sprache. Sein – wie ich meine: irakischer – Dialekt bricht durch.
Ghassan erzählt, dass er vor zwei Jahren gemeinsam mit seiner Frau und der kleinen Tochter aus Mossul geflohen ist. Father Hassan, der Leiter der Hope School und örtliche Pastor im jordanischen Stadtteil Jabal Amman, habe das junge Lehrerpaar um Unterstützung gebeten: „Meine Frau unterrichtet eigentlich Abiturienten, kleine Kinder ist sie nicht gewöhnt“, sagt Ghassan. Er selbst sei ausgebildeter Grundschullehrer. In Jordanien hoffen sie wie viele andere christlich-irakische Flüchtlinge auf ein Visum nach Australien. Arbeiten darf er hier eigentlich nicht, sonst verfällt sein Asylanspruch. Die Familie lebt seit zwei Jahren vom Ersparten und Gelegenheitsjobs. „Das Arbeiten verleiht einem Selbstbewusstsein und Sinn in einem fremden Land. Meine Tochter kann hier zur Schule gehen und meine Frau und ich können unseren Beruf ausüben.“ Ich stimme ihm zu. Der beste Weg der Integration ist tatsächlich: Schule, Arbeit, Studium. Für Ghassan und seine Familie kann der jetzige Zustand keine Dauerlösung sein: Wenn in zwei Monaten keine Antwort aus Australien komme, bleibe ihnen nichts anderes übrig, als in den Irak zurückzukehren. Ghassan habe noch Kontakt zu seiner ehemaligen Schule – und er könnte dort wieder arbeiten. Er zeigt mir auf seinem Smartphone Bilder seiner Heimat. „Bevor Daesh nach Mossul kam, hatte ich ein Haus und meine Frau und ich hatten Pläne, noch ein weiteres Kind zu bekommen. Es ging uns gut; dieses Haus habe ich mit meinen eigenen Händen gebaut.“ Daesh ist der arabische Name für den selbsternannten „Islamischen Staat“. Rußgeschwärzte Säulen auf einem Foto sind alles, was von Ghassans einstmals schönem Haus übrig sind.
Inzwischen sind die meisten Kinder nach Hause gegangen und ich setze mich in die Sonne. Baulärm dröhnt an mein Ohr. Marian setzt sich zu mir. Sie ist in ihren Vierzigern, kommt aus Amman und leitet die Schule seit einem Jahr. Ihre schwarzen Haare hat sie in einem Dutt zurückgebunden, um den Hals trägt sie eine schlichte silberne Kette mit Kreuz. Sie wirkt elegant und feminin. Wir unterhalten uns über die Arbeit mit den Kindern. Marian erzählt, wie schwierig es zu Beginn gewesen sei, mit den Kindern zu kommunizieren. „Obwohl wir dieselbe Sprache sprechen, waren viele zunächst stumm.“ Nachdem ich die Kinder auf der Wiese herumtollen sah, kann ich mir das kaum vorstellen. „Wir mussten erst das Vertrauen der Kinder gewinnen. Viele begegnen uns bis heute ängstlich, sie sind traumatisiert“, sagt Marian. Wir reden auch über das Kollegium. Gemeinsam mit MECI, dem Middle East Children’s Institute, einer Organisation, die insbesondere Schulen mit Lehrerfortbildungen unterstützt, hat Aynouna im Oktober eine Trauma-Schulung organisiert. „Die Schulung hilft uns, neue Methoden im Umgang mit traumatisierten Kindern zu erlernen und mit der Problematik umzugehen“, sagt Marian. Sie betont die Bedeutung von Empathiefähigkeit und Geduld der Lehrerinnen und Lehrer: „Das kannst du nicht trainieren, das musst du für diesen Job mitbringen.“
Die liebevolle Beziehung zwischen Marian und ihren Schützlingen war den ganzen Morgen über sichtbar. Sowohl im Unterricht als auch in den Pausen auf der Wiese strahlte sie eine mütterliche Anziehungskraft aus, die selbst mich in ihren Bann zog. Die Kinder lauschten andächtig ihren Worten, nur um im nächsten Moment in Jubel auszubrechen. Ängste und Traumata waren auf den ersten Blick nicht zu erkennen – Marians Erzählungen bestürzen mich. „Wir arbeiten viel, um den Krieg aus den Köpfen der Kinder zu bekommen“, sagt sie. „Das Problem sind aber häufig die Verhältnisse zuhause. Dort werden sie mit den Nachrichten konfrontiert, mit den Bildern, vor denen sie in der Vergangenheit fliehen mussten.“
Die Pausen verbringt auch Marian auf der Wiese. Unter dem Pavillon sitzt sie mit einigen Kindern auf einer Plastikmatte und fragt sie, was sie später werden wollen. Um die Aufmerksamkeit der Kinder auf mich zu lenken, starte ich meine kleine Filmdrohne. Begeistert verfolgen die Kinder die Bewegungen des Geräts in der Luft. Als Marian die freie Minute nutzen will, um ins Büro zu gehen, ist die Begeisterung über die Drohne verblasst. Während sie ihrer Klassenlehrerin hinterherlaufen, denke ich über meinen billigen Trick mit der Drohne nach. Zu stark ist die Liebe zu Marian. Es braucht schon mehr als ein Spielzeug für 100 Euro, um diese Bindung zu lösen.
Marian schöpft Motivation und Kraft aus ihrem Glauben. Der Glaube und seine grundlegenden Werte werden in den Unterricht integriert. „Mit den Kindern unterhalten wir uns nicht über diese oder jene Religion. Ganz egal, ob christlich oder muslimisch: Es ist derselbe Gott.“ Für den Ramadan werden die Eltern und Kinder zu einem gemeinsamen Fastenbrechen eingeladen, doch auch nationale und christliche Feiertage wie Ostern und Weihnachten werden in der Schule gefeiert. Marians Traum ist, dass die Schule größer wird und noch mehr Kindern geholfen werden kann. „Ich möchte, dass mein Name mit guten Taten in Verbindung gebracht wird.“ Sie hofft, dass sie für die Kinder und ihre Familien etwas Nachhaltiges geschaffen hat: die Hoffnung auf eine Perspektive. Auf eine Perspektive hoffen viele Syrerinnen und Syrer in den Nachbarstaaten ihrer Heimat, auch in der Türkei.
Istanbul mag für den einen oder anderen Europäer chaotisch wirken – immerhin übertrifft ihre Größe jede andere europäische Großstadt. Nach einem einmonatigen Aufenthalt in Jordanien und im Libanon für ein Auslandssemester in die Türkei erscheint mir das das Land durchorganisiert und modern. Anders als in Beirut und Amman, wo Taxis und Minibusse ohne Zeitplan oder feste Route und Autos mit Motoren aus den 1980ern herumfahren, finde ich mich in Istanbul in öffentlichen Bussen mit W-LAN und Klimaanlage wieder.
Im Gegensatz zu den beigen einfachen Bauten, die die jordanische Hauptstadt prägen und den heruntergekommenen Nachkriegsbauten Beiruts, sehen Istanbuler Wohnsiedlungen manchmal so aus wie deutsche Stadtteile. Nagelneue Wolkenkratzer werden allerorten aus dem Boden gestampft. Die Stadt wächst rasant und mit ihr die großen infrastrukturellen Projekte. Wer in Istanbul lebt, erkennt sofort den europäischen Charakter dieser Stadt. Die Menschen in diesem Land leben seit jeher in einem besonderen Zwiespalt: Sie stehen zwischen muslimischer Identität einerseits, die seit einigen Jahren eine Renaissance erlebt, und nationaler Identität andererseits, die sich in die moderne, die westliche Welt eingliedert bzw. einzugliedern versucht.
Symbolisch dafür steht Istanbul: eine Stadt in Asien und in Europa. Inzwischen gibt es viele Verbindungen in Stein und Beton über die eurasische Grenze des Bosporus: drei große Brücken, eine Unterwasser-U-Bahn und einen Autotunnel. Wenn ich meine neu gewonnenen Freunde hier frage, welcher Seite sie sich zugehörig fühlen, schütteln sie entsetzt den Kopf. Für sie kennt Istanbul kein „entweder – oder“, die Stadt kennt bloß das „und“. Viele sehen keinen Gegensatz zwischen ihrer muslimischen und europäischen Identität.
All das weiß ich noch nicht, als ich am 2. August türkischen Boden betrete. Mein Shuttle-Bus vom Flughafen Sabiha-Gökcen bringt mich bis zum Taksim-Platz. Früher, erzählen mir Kommilitonen später, sei der Platz schöner gewesen. Grün und sauber, der ideale Ort, um Freunde zu treffen und über Gott und die Welt zu diskutieren. Heute unterliegt er ständigen Neuerungen, Grünflächen werden zu grauen Betonböden umgebaut. Als ich aussteige, gerate ich in eine gewaltige Menschenmasse. Ich sehe telefonierende Anzugträger, ungeduldige Taxifahrer, Verschleierte mit Gucci- und Chanel-Tüten, kahlrasierte Männer mit weißen Verbänden um den Kopf und elegante Frauen mit Pflaster auf der Nase, die vorläufigen Ergebnisse ihrer Schönheitsoperationen.
Die Sprachschule, meine erste Anlaufstelle, befindet sich in der Nähe des deutschen Konsulats. Da mein Handy-Akku leer ist, versuche ich, mich mit Hilfe einer Karte zu orientieren. Es ist heiß, ich ziehe einen schweren Koffer und habe einen großen Wanderrucksack auf dem Rücken. Mein Hemd ist durchgeschwitzt. Ich entkomme der unübersichtlich drängenden Menschenmenge in eine Seitenstraße, die meiner Karte zufolge zum Bosporus-Ufer führt. Vor einem kleinen Kiosk sitzt ein junger Mann in einem Plastikstuhl und döst vor sich hin.
„Sorry, could you help me? I am lost“, sage ich zu ihm.
Während ich spreche, schreckt der Mann auf und starrt mich stumm und hilflos an. „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er Arabisch spricht?“, frage ich mich. Immerhin machen Araber den größten Teil der ausländischen Bewohner und Besucher Istanbuls aus. Ich stelle meine Frage erneut, auf Arabisch. Und tatsächlich: Plötzlich verwandelt sich die angespannte Mimik des Mannes in ein herzliches Lächeln. Die weit aufgerissenen dunklen Lider umrahmen seine schläfrigen schwarzen Augen. „Herzlich willkommen in Istanbul, mein Freund“, sagt der Mann und erklärt mir den Weg zum Konsulat. Ich lege meine schwere Tasche ab und wir kommen ins Gespräch. Ahmad – hier in der Türkei Ahmet – kommt aus Aleppo und ist seit vier Jahren in Istanbul. Er arbeitet mal hier, mal da und kommt über die Runden. Sein langfristiges Ziel ist Europa. „Dort respektiert man die Menschenwürde und unsere Situation“, erklärt er mir überzeugt. Geduldig wartet er darauf, dass Familienmitglieder, die es nach Deutschland geschafft haben, seinen Visumsprozess erleichtern. Es gebe auch andere Wege nach Europa, sagt er mir, einige seiner Freunde hätten Kontakte zu Schleppern und Grenzbeamten. Aber diese Wege will er nicht auf sich nehmen.
Ich bedanke mich für seine Hilfe und wünsche ihm alles Gute. Er lädt mich auf einen Tee ein, aber ich kann nicht bleiben. Mein erster Kurstag beginnt in zehn Minuten. Hastig eile ich den Hügel hinunter, am Konsulat mit den roten Backsteinen und dem Stacheldrahtzaun vorbei. Ich muss etwas schmunzeln, als ich merke, dass meine ersten Worte auf türkischem Boden Arabisch waren.
Meine Türkischlernkurve ging seit jenem Augustnachmittag steil nach oben. Meine Klassenkameraden im Sprachkurs kommen aus aller Welt, die meisten aber aus Syrien. Junge Männer und Frauen, deren Aussicht auf Rückkehr schlecht steht und die so gut wie möglich versuchen, in der Türkei Fuß zu fassen. Viele von ihnen haben studiert oder waren Schüler, können aber hier nicht weiterlernen. Sie halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, und ehe sie sich versehen, sind drei oder vier Jahre vergangen. Wenn ich die İstiklal Caddesi, die Haupteinkaufsstraße Istanbuls, entlanglaufe, begegne ich vielen Menschen aus Syrien. Sie arbeiten in den vielen Cafés und Restaurants, in denen Arabisch häufiger gesprochen wird als Türkisch – für die Touristen, versteht sich. Seit der heftigen Abwertung der türkischen Währung boomt der Besuch aus den Golfstaaten.
Eines Nachmittags setze ich mich in der Nähe meiner Schule mit meinen Türkisch-Lernsachen in ein Café. Ein Kellner von etwa zwanzig Jahren bringt mir einen türkischen Mokka. Während er den Kaffee serviert, grinst er mich an. Er blickt neugierig auf das Lehrbuch auf meinem Tisch. Auch während er andere Tische bedient, geht sein fragender Blick auf mein Lehrbuch. Ich winke ihn zu mir und frage nach seinem Namen: „Adın ne?“ Mein Türkisch ist zwar noch gebrochen, aber den für Araber typischen Akzent höre ich aus seiner Antwort umgehend heraus. Araber haben große Probleme mit den Umlauten „ü“ und „ö“. Und auch der Kellner erkennt meine mangelnde Aussprache sofort – er wechselt abrupt ins Arabische.
„Was machst du?“, fragt er mich. Wir kommen schnell ins Gespräch und wenig später sitzt er bei mir am Tisch: „Als ich dich gesehen habe mit deinem Buch und deinem Heft, da habe ich das vermisst. Ich meine das Lernen an der Uni, das Wissen und die Bücher.“ Seine Miene verändert sich, sein Grinsen verwandelt sich in ein unsicheres Lächeln. Er blickt immer wieder auf mein Buch und auf den darauf liegenden Stift. Dann reden wir über meinen Erasmus-Aufenthalt und über sein abgebrochenes Wirtschaftsstudium. Er kommt aus Aleppo. Seit drei Jahren ist er in Istanbul, um Geld zu verdienen. Einen Teil schickt er zu seiner Familie, den anderen Teil spart er. „Ich werde weiterstudieren, so Gott will“, sagt er zum Abschied. Der Oberkellner hat ihn gerufen.
Die Sehnsucht nach Uni, nach Schule und der Wert des Lernens stehen mir nicht häufig so deutlich vor Augen wie an diesem Tag. Hier in der Türkei hat das Semester begonnen, außerdem besuche ich drei Abende die Woche meine Sprachkurse. Erst gegen 22 Uhr steige ich den Hügel hinab, auf dem meine Sprachschule liegt. Es ist dunkel auf den steilen Abhängen nach Kabataş und nur wenige Menschen sind um diese Uhrzeit unterwegs. Einige sitzen am Straßenrand und gönnen sich eine Abendzigarette. Langsam und konzentriert steige ich die steile Treppe hinab. Auf der letzten Stufe, kurz bevor ich meine Trambahn erreiche, bemerke ich einen kleinen Jungen. Er lehnt am Treppenrand, seine Oberschenkel drückt er an den Bauch, sein Kopf hängt zwischen seinen Knien. Wenn Passanten an ihm vorbeilaufen, schaut er auf. Sein Gesicht ist hell, aber wie mit einer graubraunen Staubschicht bedeckt. Er ist barfuß und trägt ein zu weites weißes T-Shirt – zumindest vermute ich, dass es irgendwann einmal weiß war. Wenn er aufsieht, blickt er den Menschen tief in die Augen. Nicht hilflos oder bittend, sondern ernst und wütend, wie es für ein Kind seines Alters ganz unüblich ist. Seine Gesichtszüge gleichen denen eines verbitterten Greises. Niemand schenkt ihm Beachtung. Die meisten Fußgänger schauen verlegen weg. Auch ich gehe an dem Kind vorbei, dabei schaue ich ihm kalt in sein junges altes Gesicht. Durch eine Unterführung gehe ich auf die andere Straßenseite, an der sich die Bahnhaltestelle befindet. Aus der Entfernung, zwischen den Autos und Passanten, sehe ich, wie er immer noch in derselben Stellung verharrt. Meine Kälte und Distanz ekeln mich an. Dann bin ich angeekelt von den Passanten und von den Autofahrern. Am Schluss ekelt mich die Straßenbeleuchtung, die den Jungen so tragisch in Szene setzt. Trotzdem schaffe ich es nicht, zurückzukehren und den Jungen anzusprechen. Stattdessen finde ich Erklärungen für mein Handeln: „Bestimmt gehört er einer organisierten Gruppe von Bettlern an“, denke ich. Meine billige Selbstrechtfertigung regt meinen Ekel nur mehr an. Dabei wäre es keine große Sache für mich, den Kleinen einfach zu fragen, warum er in der Nacht hier sitzt. Wo er lebt und wo seine Eltern leben. Ob er zur Schule geht. Während ich mich schäme, kommt meine Tram und ich steige ein. Ich kehre in den nächsten Tagen zurück, doch der Junge ist spurlos verschwunden. Die Wochen vergehen und ich kehre immer wieder zur selben Stelle zurück, um meine Bahn zu nehmen. Aber das Kind von Kabataş ist weg. Ich frage mich manchmal, was sich in seinem Leben geändert hätte, wäre ich noch am selben Abend zu ihm gegangen. Vielleicht nicht viel, vielleicht aber hätte ich dem Jungen irgendwie helfen können. Und ich denke an eine Frau, die ich in Jordanien kennengelernt und im Libanon begleitet habe. Ich frage mich, was sie getan hätte.
Was mich an Großstädten wie Beirut, Amman und Istanbul besonders fasziniert, sind ihre scheinbaren Paradoxien. Die Gesellschaft lebt in diesen Gegensätzen, oft über Jahrzehnte, ohne sie zu hinterfragen. Zum Beispiel die palästinensischen Flüchtlinge in Beirut: Seit vielen Generationen leben sie als Bürger zweiter Klasse im Libanon. Die provisorischen Zelte der 1960er Jahre sind schon vor Langem festen Wohnsiedlungen gewichen. Die Wände der Häuser sehen erschöpft aus, ebenso wie ihre Bewohner. Sie sind müde vom Krieg, der offiziell in den 1990ern endete, aber jeden Tag anders fortgeführt wird. In vielen libanesischen Stadtteilen erkenne ich, dass Krieg keine AK-47 braucht. Die Kämpfe finden hier immer statt: um Wasser im Sommer, tagtäglich um Strom und alljährlich um die Schulgebühren der Kinder.
Ich fahre Richtung Pier in die Downtown Beiruts. Nur wenige Kilometer von den Stadtteilen jenseits der ehemaligen Green Line, die Beirut im Bürgerkrieg in Ost und West trennte, entstanden im Nachkriegslibanon hier um die Jahrtausendwende Boutiquen namhafter Modemarken. Cafés und Restaurants soweit das Auge reicht. Das Sushi-Lokal, in das mich meine Cousine führt, ist voll. Jung und Alt sind in schicker Abendgarderobe versammelt. Es wird gegessen, getrunken und gelacht. Wenn der Strom ausfällt, und das kommt häufig vor, wird es kurz dunkel. Die Gespräche gehen weiter, das Brummen des Stromgenerators signalisiert: Gleich erblüht alles wieder in heller Pracht.
Ich wohne in Beirut bei meinen Großeltern. Ich sitze im Wohnzimmer, als das Telefon klingelt. Mein Opa sitzt links von mir auf seinem Lieblingsplatz gegenüber dem alten Fernseher. Die ägyptischen SchwarzWeiß-Filme aus den 1950er Jahren laufen in Dauerschleife. Die Dialoge kennt mein Opa auswendig, die Filme hat er hunderte Male gesehen. Er ist eingenickt. Manchmal schreckt mein Opa bei einer lauten Szene auf, die aber schon zum nächsten Film gehört. Während er zufrieden weiterschaut, ruft meine Oma aus dem Garten, jemand solle ans Telefon gehen.
Lulu, die Haushälterin aus dem Senegal, läuft zum Telefon: „Ist für dich, Hamad“. Meinen arabischen Namen kann sie nicht so gut aussprechen. Lulu ist bei meiner Oma, seit ich denken kann. Sie hilft ihr bei den Hausarbeiten. Mehrere tausende Kilometer entfernt von ihrer Familie lebt sie bei meinen libanesischen Großeltern. Sie verdient für ihre Vollzeitbeschäftigung 200 Dollar im Monat. Eine Summe, die noch vergleichsweise hoch ist im Vergleich zu anderen Haushälterinnen im Libanon. Mein Onkel sagt, man solle sie nicht allzu gut behandeln, sonst erlauben sie sich noch was. „Sie schläft und isst kostenlos bei uns, und 200 Dollar ist ein Vermögen, da, wo sie herkommt“, erklärte mal meine Oma, als wir über das Thema sprachen. Lulu schickt ihr Geld ihrer Familie und alle paar Jahre fliegt sie in die Heimat zu Besuch. Bald will sie heiraten, denn sie hat in den vergangenen 15 Jahren genug Geld dafür angespart.
Am Telefon höre ich die Stimme von Nowell. Nowell ist eine libanesische Christin aus Bcharre – der Heimat meines Lieblingsdichters und -philosophen Khalil Gibran. Sie lebte lange in Australien, mittlerweile in Bahrain, und sammelt seit sechs Jahren Spenden. Kennengelernt habe ich sie während meiner Jordanienreise im April. In nur wenigen Jahren konnte sie mehrere hunderttausend Dollar an Spenden sammeln: hauptsächlich durch Essensverkäufe, Charity-Veranstaltungen und Vorträge, die sie über ihre Arbeit an verschiedenen Orten vor interessiertem und zahlungsfreudigem Publikum hält.
„Ich kann nichts am Krieg ändern, aber ich kann den Menschen das Leben erleichtern. Gott sei Dank geht es mir und meiner Familie gut und ich habe die Mittel, zu helfen. Das ist nicht selbstverständlich“, sagte sie mir damals im Auto auf der Rückfahrt von der Azraq-Schule, das ist die zweite Schule, die unser Verein Aynouna in Jordanien unterstützt.