TodLeben - Peter Florian - E-Book

TodLeben E-Book

Peter Florian

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Beschreibung

Witzig, skurril und absolut genial: ein Wien-Krimi der besonderen Art!
Konrad, ein Angestellter des Arbeitsmarktservice im multikulturellen 16. Wiener Bezirk, ist durch seinen Job zum Menschenfeind geworden. Besonders türkische, gutgebaute Männer schüren seine Aggression, weil diese das sexuelle Interesse seiner Frau wecken. Als er seine Frau im ehelichen Schlafzimmer beim Sex mit mehreren türkischen Männern erwischt, kommt es zum Eklat. Schüsse fallen. Die zwei Liebhaber und Konrad werden getötet. In einer Zwischenwelt entscheidet ein Geistwesen, das Hitler zum Verwechseln ähnlich sieht, über Konrads weiteres Schicksal. Dieser schickt ihn zurück ins Leben mit der Aufgabe, im Körper der türkischstämmigen Polizistin Senia die Ermittlungen in "seinem" Mordfall aufzunehmen, worauf es zu weiteren überraschenden Wendungen und grausamen Verbrechen kommt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Erster Teil : Vom Leben zum Tod

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Zweiter Teil : Vom Tod zum Leben

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Erster Teil

Vom Leben zum Tod

1

Es war 11.30 Uhr an diesem 10. Dezember und der Winter hatte Wien fest im Würgegriff. Die Stadt erstickte in noch nie da gewesenen Schneemassen und die Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice für den 16. Gemeindebezirk in der Koppstraße 51 erstickte in noch nie da gewesenen Massen an Arbeitslosen. Und es sollte noch schlimmer kommen.

Konrad Geiger, zuständig für die Buchstaben T bis Z, lehnte sich in seinem Sessel zurück. Endlich Mittagspause. Sechzig Minuten der Entspannung und der inneren Einkehr nach fast fünf Stunden Dauerstress. Konrad packte seine in Frischhaltefolie gewickelte Kümmelbratensemmel aus und biss davon ab. Die Verbindungstür zum Nebenbüro ging auf und sein Kollege und Freund Heinz Schinnerl brachte, wie jeden Tag, einen Kaffee aus dem Automaten.

»Schwarz, zwei Zucker!«, er reichte Konrad den dunkelbraunen Plastikbecher.

Konrad nickte nur, nahm einen Schluck und stellte den Becher neben sich ab. Die Minuten vergingen.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Schinnerl und blickte besorgt auf den still vor sich hin kauenden Konrad. Er kannte ihn als einen sehr impulsiven, etwas nervösen Charakter, der selten entspannt wirkte und in der Mittagspause eigentlich immer etwas zu berichten hatte. Besonders an einem Tag wie heute, an dem vorwiegend ausländische Arbeitsuchende die Wartezimmer bevölkerten. War Konrad doch dafür bekannt, dass er eine gewisse Aversion gegen fremdländische Mitbürger hegte und diese Abneigung mit entsprechenden, nicht immer politisch korrekten Aussagen untermauerte. Er war aber in dieser Hinsicht nicht wählerisch. Auch Inländer – und da besonders die Frauen – bekamen seinen Frust und seine Abscheu gegen die Spezies Mensch zu spüren. Heute war er jedoch auffallend mundfaul und introvertiert, was gar nicht zu ihm passte und Schinnerls Neugierde weckte.

»Du hast sicher wieder Probleme mit deiner Gudrun, stimmt’s?«

Konrad antwortete nicht und schluckte die mittlerweile zu Brei gewordene Kümmelbratensemmel hinunter.

»Komm schon, raus mit der Sprache! Du weißt, mit mir kannst du über alles reden!«, drängte Schinnerl und platzierte sein Hinterteil mit Schwung auf Konrads Schreibtisch.

»Ja, ich weiß, aber das ist sehr privat«, entgegnete Konrad.

»Ich bin Spezialist für private Probleme«, erwiderte Schinnerl und lächelte Konrad breit an, um dann gleich sehr ›privat‹ zu werden. »Hat dich deine Alte nicht rangelassen?«

Konrad antwortete nicht, aber sein Blick sprach Bände und Schinnerl wusste Bescheid.

»Bin ich froh, dass ich mich als glücklicher Single nicht mehr mit Ehefrauen herumschlagen muss«, sagte er und klopfte sich innerlich auf die Schulter, weil er so klug war, noch rechtzeitig die Kurve zu kratzen. Heinz Schinnerl war seit über zwanzig Jahren geschieden und genoss nach eigenen Aussagen das Singleleben in vollen Zügen. Seine Freizeit verbrachte er hauptsächlich im Laufhaus »Love Paradise« am Hernalser Gürtel. Es wurde gewissermaßen zu seinem zweiten Wohnzimmer und Schinnerl war stolz darauf, jede einzelne Hure dort bei ihrem richtigen Namen zu kennen. »Keine Nutte kann in zwanzig Jahren so viel Nerven kosten wie eine Ehefrau in einem Jahr.«

Diese ernüchternde Feststellung rieb er Konrad fast täglich unter die Nase und mindestens genauso oft ignorierte Konrad Schinnerls abfällige Bemerkungen über die Ehe. In dieser Hinsicht war Konrad sehr konservativ, fast kleinbürgerlich, er sah die Ehe noch immer als unzerstörbaren und untrennbaren Bund zwischen Mann und Frau an. An dieser Einstellung konnte auch Schinnerls täglicher Vortrag nichts ändern, in dem er die zweifelhaften Vorteile dieses speziellen Dienstleistungsgewerbes immer wieder vor Konrad ausbreitete. Doch wie unkompliziert und unverbindlich die Hure-Freier-Konstellation in Schinnerls Augen auch sein mochte, für Konrad blieb sie ein moralisch zweifelhaftes Geschäft.

»Eine Nutte wird in ihrem Freier immer den potenten Hengst sehen. Egal wie gut oder schlecht er sich im Bett geschlagen hat. Alles nur eine Frage des Preises.«

Auch diese Begründung fand bei Konrad kein Gehör. Für ihn war schon der Gedanke schrecklich, dass Geld die sexuelle Leistung im Bett bestimmte. Obwohl Schinnerl wusste, dass die Ehe für Konrad heilig war, musste er gegen diese Institution, wie er sie bezeichnete, ein paar Argumente loswerden.

»Ich habe erlebt, wie sich eine Ehe entwickeln kann. Langsam, fast unbemerkt legt sie sich wie ein Korsett um dich und noch bevor du überhaupt reagieren kannst, bist du zugeschnürt und qualvoll erstickt«, erklärte Schinnerl mit mahnender Stimme. Man konnte die Abscheu, die er empfand, regerecht spüren. Er ließ auch nichts unversucht, Konrad einen Laufhausbesuch schmackhaft zu machen. »Schau, Konrad, es ist überhaupt nichts dabei! Viele Männer gehen zu Huren, weil sie frigide Frauen in Jogginghosen und selbstgestrickten Wollsocken zu Hause sitzen haben, deren einzige Lust darin besteht, sich Schnulzen von Inga Lindström und Rosamunde Pilcher reinzuziehen. Dabei verbrauchen sie tonnenweise Taschentücher, Chips und Cola und sehen dann so aus wie deine Gudrun.«

Konrad hatte Schinnerl nicht zugehört. Er hörte ihm eigentlich nie zu, wenn dieser über Nutten, Sex und Eheprobleme sprach. Konrad wollte davon nichts wissen. Nicht, weil er keine Lust auf Sex verspürte, schließlich war er ja auch nur ein Mann, aber Sex gegen Bezahlung kam für ihn nicht in Frage. Die Angst, sich zu blamieren, war größer als die Lust und das hatte einen Grund. Konrad fühlte sich von der Natur nicht groß genug ausgestattet und so passte er sein Selbstwertgefühl der Größe seines Schwanzes an und mit dem schwindenden Selbstvertrauen ging auch die Potenz verloren. In seinem Fall war es nicht die Frau, sondern er, der es im Bett nicht brachte. Selbst die berühmte blaue Pille, die Schinnerl abfällig als »Maschierpulver « bezeichnete und die er als ein vor Potenz strotzender, naturgeiler Hengst natürlich nicht nötig hätte, konnte Konrads Schwellkörper nur kurzfristig aktivieren. Mehr als ein Quickie war also auch mit Doping nicht möglich. Der Kopf spielte einfach nicht mit. Schinnerl meinte es sicher nur gut mit ihm, aber dieses Problem war zu persönlich, um bei Kaffee und Kümmelbratensemmel darüber zu plaudern. Er musste sich damit abfinden, dass sein Penis zur effektvollen Befriedigung einer Frau so gut wie unbrauchbar war. Seine Frau Gudrun ließ ihn das spüren und eine bezahlte Muschi würde das ebenso tun.

»Gudrun hat einen Liebhaber!«, platzte Konrad plötzlich heraus.

Schinnerl glaubte, sich verhört zu haben. Er sprang vom Schreibtisch. »Geh, hör auf, schau dir deine Gudrun doch mal an!«, lästerte er. »Du weißt, ich mag sie wirklich, aber ich glaube, es gibt keinen Mann, der sie nicht von der Bettkante stoßen würde, wenn er die Kraft dazu hätte.«

»Sie hat abgenommen …«, konterte Konrad. Sein Blick wurde ernst. »… und genau das macht mich misstrauisch.« Er wurde laut. »Sie lebt in einer unglücklichen Beziehung und da hat sie verdammt noch einmal fett und unansehnlich zu bleiben!«, schrie er und schlug mit beiden Fäusten auf den Schreibtisch. Der Kaffeebecher konnte der Erschütterung nicht standhalten, fiel um und über den Schreibtisch ergoss sich lauwarmer Automatenkaffee, zu dem sich Kugelschreiber, Bleistifte und allfälliges Büromaterial gesellten und über die gesamte Schreibtischplatte verteilt wurden. Das war wieder der alte unberechenbare Konrad, der seinen Aggressionen freien Lauf ließ, ungeachtet der möglichen Konsequenzen. »Sie hat sich auch die Haare blond gefärbt«, sagte er abfällig, während er hastig versuchte, mit einem Taschentuch die Überschwemmung auf seinem Schreibtisch trockenzulegen. Er tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Wegen mir schaut sie jetzt sicher nicht aus wie Marilyn Monroe nach einer Mastkur. Die fette Schlampe hat einen Stecher, da bin ich mir sicher! Und wenn es so ist, dann gnade ihr Gott!«

»Na ja, du musst ja nicht gleich das Schlimmste annehmen. Vielleicht will sie mit einer neuen Haarfarbe nur von den Kilos zu viel ablenken«, sagte Schinnerl. »Aber wenn ich so überlege und vor allem, wenn ich es mir so vorstelle … Er winkte angewidert ab. »Nein! Ich kann und will mir deine Gudrun nicht im Marilyn-Monroe-Look vorstellen.«

Konrads Stimmung war auf den Nullpunkt. Er warf ein kaffeegetränktes Taschentuch nach dem anderen in den Papierkorb und setzte sich wieder in seinen Sessel. Für ein paar Minuten herrschte absolute Stille.

»Okay, sie hat also einen anderen«, sagte Schinnerl, um das Gespräch wiederaufzunehmen.

»Ich vermute es. Ich weiß es nicht.«

»Gut, dann vermuten wir halt.« Schinnerl hielt kurz inne. »Und wer soll … ich meine, wer könnte das sein?« Es klang so wie Den Typen musst du mir zeigen, der bei Gudrun einen hochkriegt. »Dein Verdacht kommt ja nicht von ungefähr, oder? Irgendeinen konkreten Anhaltspunkt musst du ja haben.«

»Es ist mehr ein Gefühl«, erwiderte Konrad. »Sie ist schon seit einiger Zeit irgendwie besser drauf. Viel agiler und vor allem viel selbstbewusster. Da war dieser türkische Installateur bei uns wegen der Gastherme und einer undichten Wasserleitung. Ich erfuhr erst später, dass dieser Typ gar kein Installateur mehr war und durch Empfehlung überall dort Hand anlegte, wo es etwas zu reparieren gab.« Konrad warf seine Stirn in Falten. »Er soll außerdem einen französischen Akzent haben! Auf diese geschwollene Sprache stehen angeblich die Frauen ganz besonders«, raunzte er abfällig.

Schinnerl schürzte seine Lippen und schnurrte ein leidenschaftliches, lang gezogenes: »Isch liebe disch!«

Konrad schaute Schinnerl überrascht an. »Du liebst einen Tisch?«

»Nein, ich meine dich!«

»Du liebst mich?«, Konrad war entsetzt. »Bist du etwa schwul geworden?« Er fühlte sich plötzlich sehr unwohl. Das Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, die weit außerhalb seiner Wohlfühlzone lag.

»Nein, verdammt … ich bin nicht schwul! Das war doch nur Ich liebe dich mit französischem Akzent gesprochen«, antwortete Schinnerl genervt.

Konrad atmete erleichtert auf und fuhr fort. »Auf jeden Fall gab es plötzlich und aus unerklärlichen Gründen einen sprunghaften Anstieg schadhafter Gasthermen und Wasserleitungen im Bezirk. Ich bin mir nicht mal sicher, ob wir wirklich ein Problem mit der Gastherme hatten und Gudrun diesen Typen nur in die Wohnung locken wollte.«

»Ja? Und was ist so besonders an diesem türkischen Installateur, der eigentlich gar kein Installateur mehr war?«, fragte Schinnerl. Konrads Vermutungen waren in seinen Augen doch sehr an den Haaren herbeigezogen. Für ihn waren es Hirngespinste, die nur in Konrads Kopf existierten.

»Ich habe keine Ahnung, aber ich war ja nicht zu Hause und der war immerhin einen ganzen Tag in der Wohnung zusammen mit Gudrun.«

»Und jetzt glaubst du, der Installateur hat nicht nur in der Wohnung ein Rohr verlegt, sondern auch gleich bei deiner Gudrun?«, vervollständigte Schinnerl Konrads Gedankengang. »Dem Installateur ist nichts zu schwör, nicht einmal deine Alte!« Er lachte kurz auf.

Konrad verzog keine Miene. »Egal, aber seitdem hält sie eisern Diät. Sie schminkt sich sogar, wenn sie nur den Müll nach unten bringt. Ihre Birkenstocksandalen hat sie durch Stöckelschuhe ersetzt und …« Konrad machte eine Kunstpause. »Sie trägt …«

Nein! Bitte sag jetzt nicht, dass sie Miniröcke trägt!, dachte Schinnerl entsetzt.

Konrad achtete nicht auf seinen Kollegen, dessen Gesicht plötzlich eine sonderbare Form annahm. Ein hochroter Kopf, weit aus den Höhlen tretende Augen und fest aufeinandergepresste Lippen deuteten darauf hin, dass Schinnerl dem inneren Druck wohl nicht standhalten könnte, wenn Konrad das magische Wort »Minirock« wirklich aussprechen würde.

»Sie trägt neuerdings schwarze Strumpfhosen«, sagte Konrad schließlich und sein Tonfall hatte etwas Fassungsloses an sich. »Hauchdünne, schwarze Strumpfhosen«, wiederholte er leise, als wäre eine Frau, die schwarze Strumpfhosen trägt, das Schlimmste, was einem Mann passieren konnte.

Schinnerl hatte sofort das Bild einer schwarzbestrumpften Schweinsstelze vor Augen und meinte nur kopfschüttelnd: »Stimmt, wirklich ein bizarrer Gedanke, deine Gudrun in schwarzen Strumpfhosen. Hm, vielleicht trägt sie wegen eurer Beziehung Trauer?« Er konnte sich einen kurzen Lacher nicht verkneifen. Er hielt kurz inne, hob seine Augenbrauen, schnalzte dann genüsslich mit der Zunge und sagte sehnsüchtig: »Ich muss unbedingt wieder mal ins Schweizerhaus gehen!«

Konrad schaute ihn fragend an.

»Die haben wirklich die besten und fettesten Schweinsstelzen«, flüsterte Schinnerl sehnsuchtsvoll.

Konrad holte seine Geldbörse aus der Gesäßtasche, schlug sie auf und zog aus einem Fach ein verknittertes Foto heraus, das er seinem Kollegen vor die Nase hielt. »Gudrun war einmal eine wirklich schöne Frau«, seine Stimme klang etwas wehmütig. »Und sie war schlank wie eine Gazelle«, ergänzte er.

Schinnerl nahm das Foto in die Hand. »Ja, ich weiß, deine Gudrun war einmal eine sehr attraktive Frau.« Er betrachtete das Foto sehr genau. »Interessant, nein wirklich! Echt kein Vergleich! Es ist eine Art zoologische Transformation von einer Tierart in eine andere«, sagte er in einem sachlichen, leicht sarkastischen Ton. Kaum zu glauben, wie dehnbar die menschliche Haut ist, dachte er und verglich Gudruns momentane Figur mit der Gudrun auf dem Foto. »Evolutionstechnisch gesehen ist das zwar unmöglich, aber so, wie es aussieht, ist die schlanke Gazelle zum ausgewachsenen Elefanten mutiert«, sagte er ironisch.

Konrad nickte resigniert und stopfte das Foto wieder in das Geldbörsenfach. Gudrun war mit den Jahren immer mehr auseinandergegangen. Er konnte sich noch so gut daran erinnern, wie sie ihm hier in diesem Raum gegenübersaß, ihre Hände fest zwischen ihre schlanken Schenkel gepresst, mit einem schüchternen Lächeln, das ihn sofort verzauberte. Ihr Name war Gudrun Elisabeth Schmutzer und sie hatte damals gerade ihren Job als Lagerarbeiterin bei einem großen Heilmittelkonzern verloren. Die Firma wurde von einem amerikanischen Unternehmen geschluckt und im Zuge der Umstrukturierung fielen viele, vor allem weibliche Arbeiterinnen, durch den Rost, direkt auf die Matte des Arbeitsamts. Sechs Monate später hatten sie geheiratet. Die Ehe lief ausgesprochen gut und harmonisch. Konrads zu klein geratener Penis stellte sich nicht als Lustbremse heraus. Er verstand es ausgezeichnet, die fehlende Größe mit Ausdauer und enormer Stoßgeschwindigkeit zu kompensieren. Doch kaum hatte sich die rosarote Wolke der allumfassenden Toleranz verzogen, wurde Gudrun mit der zwar harten, aber doch sehr kleinen Realität Konrads konfrontiert. Sie entpuppte sich als sinnliche und fordernde Frau. Selbst als Konrad sie mit der Geschwindigkeit einer Nähmaschine bearbeitete, entlockte ihr dies statt leidenschaftlichem Stöhnen nur das von ihr zum Mantra erhobene: »Ich spür nichts! Ich spür nichts! Ich spür nichts!« Der eigentlich liebevolle Kosename »Spatzl« bekam in ihrer Beziehung eine ganz neue, wenn auch zweifelhafte Bedeutung. Gudruns zunehmende Gier nach Quantität und Größe und ihr offensichtliches Interesse an südländischen Männern mit großen Nasen machte Konrad wütend – wütend auf alles Männliche, das überdurchschnittlich bestückt war. Erschreckend für ihn war der hohe Anteil an Ausländern, die Gudruns Hormone in Aufruhr brachten. Es glich einem Schlag in die Magengrube, waren es doch die gleichen Ausländer, vor allem türkische Männer, die täglich sein Büro heimsuchten und seine Nerven strapazierten.

Für Konrad blieb nur die Gewissheit, dass sich wohl keine ihrer sexuellen Fantasien je erfüllen würde. Ihre Figur konnte man nämlich getrost als »sehr weiblich« bezeichnen. Mit ihren prallen Schenkeln, dem ausladenden Becken und den riesigen Brüsten entsprach sie überhaupt nicht dem aktuellen Schönheitsideal. Eigentlich entsprach sie gar keinem Schönheitsideal. Vor 25.000 Jahren, zu Zeiten der »Venus von Willendorf«, hätte sie wahrscheinlich ungefährdet jeden Schönheitswettbewerb gewonnen, aber in der heutigen Zeit, wo ausgehungerte Models mit kaum 35 Kilo Körpergewicht durch die Spalten internationaler Laufstege fielen und ein völlig degeneriertes, pervertiertes Bild der »Idealfrau« zeichneten, war Gudrun einfach nur fett. Und solange sie so fett war, davon war Konrad überzeugt, würde sich kein Mann für sie interessieren. Nicht einmal ein türkischer Großschwanzträger. Sein Interesse an seiner Frau schwand mit jedem zusätzlichen Kilo, das sich an ihr ansetzte. Der kommunikative Austausch zwischen ihnen erfolgte schließlich nur mehr auf der nonverbalen Ebene. Essenzielle Dinge, die vor allem den ökonomischen Bereich ihres Zusammenlebens betrafen, konnten sie mühelos im Telegrammstil abhandeln. Der zwischenmenschliche Bereich, das Zeigen von Emotionen und Gefühlen, in welchem Zusammenhang diese Stimmungen auch stehen mochten, wurden nur mehr über Augenkontakt und Mimik vermittelt. Gespräche in diesem Themenbereich beinhalteten lediglich Wortfetzen und kryptische Floskeln.

Je länger dieser unerträgliche Zustand andauerte, desto unüberschaubarer wurden die Mengen an Süßigkeiten, die Gudrun in sich hineinstopfte. Der Frust eines unbefriedigten Lebens zeigte sein hässliches, fettes Gesicht an ihren Körpermaßen, die unaufhaltsam außer Kontrolle gerieten. Gudrun war ein Suchtmensch und als sie die Sucht nach Sex nicht mehr befriedigen konnte, wählte sie eine typisch weibliche Ersatzdroge: Schokolade. Sie hatte sich die letzten zwei Jahre mit Unmengen davon versüßt, aber auch mit Kuchen und Keksen, eigentlich mit allem, was die Bezeichnung »Glukosebombe « verdiente. Interessant an Gudruns körperlicher Veränderung war, dass ihre Fesseln und auch die Taille relativ schlank blieben – ein kleiner Hinweis darauf, dass diese Frau einmal eine wirklich gute Figur hatte.

Trotz dieser eher aussichtslosen Beziehungssituation nahm keiner der beiden das Wort »Scheidung« in den Mund, obwohl eine Trennung die Lösung gewesen wäre. Sie waren im Teufelskreis ihrer körperlichen Unzulänglichkeiten gefangen und keiner der beiden getraute sich, aus diesem auszubrechen. So blieben sie in ihrer einbetonierten, einsamen Zweisamkeit. Sie entfernten sich immer weiter voneinander. Konrad nahm immer wieder ein paar Tage Urlaub, um aus der bedrückenden häuslichen Situation auszubrechen, und fuhr nach Niederösterreich zum Angeln. Sein Vater, der ebenfalls ein begeisterter Angler war, hatte dort vor vielen Jahren in der Stockerauer Au einen Grund erworben und sich einen Bungalow hingebaut. Der Fischteich in der Wolfsgrube war nur einen Steinwurf entfernt. An einem Spätsommertag im Jahr 1982 starb sein Vater völlig unerwartet. Er bezahlte die leidenschaftliche Ausübung seines Hobbys mit dem Leben, indem ihn während des Angelns ein Herzinfarkt vom Klappstuhl kopfüber in den See kippen und Leopold Geiger so zur traurigen Lachnummer der regionalen Presse werden ließ. Es wurde sogar kurz darauf behauptet, dass dieses Ereignis der Hauptgrund dafür sei, dass die Stockerauer Au zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. Besonders Spaßige montierten in einer nächtlichen Aktion eine Tafel am See mit der Aufschrift »Müll und Fischer abladen verboten!« und sorgten damit für die nächste Schlagzeile in der regionalen Klatschpresse. Diese Aktion, mit ihrer ganzen Vorgeschichte, war auch der auflagenstärksten Zeitschrift des Landes, den »Niederösterreichischen Nachrichten«, einen halbseitigen Bericht mit Foto wert. Mittlerweile waren fast dreißig Jahre vergangen und der Tod seines Vaters Leopold Geiger, der den damals zwölf Jahre alten Konrad traumatisierte, war längst vergessen und nurmehr eine Fußnote in den Annalen der Gemeinde Stockerau. Konrad mied aus Aberglaube und auch aus Pietät die Stelle, die seinem Vater zum Verhängnis geworden war, und suchte sich ein paar Meter davon entfernt einen Platz.

Zum Gedenken an seinen Vater ließ er etwas abseits des Hauses eine Gedenkstätte errichten und auf dem Gedenkstein aus poliertem Marmor einen goldenen Schriftzug anbringen: »In liebevoller Erinnerung an meinen Vater Leopold Geiger 18.01.1941–11.09.1982, der in Ausübung seines geliebten Hobbys auf tragische Weise den Tod fand.« Den verschlissenen Klappstuhl, auf dem Leopold Geigers Arsch Jahre seines Fischerlebens verbracht hatte, ließ er oberhalb der Marmorplatte im Boden fixieren. Auf dem ehemals weißen Stoffbezug hatten sich mittlerweile Algen angesetzt und diesen mit einem dreckigen, ins Schwarz gehenden Grün überzogen. Das Stahlgerüst war verrostet, es bot den traurigen Anblick der Vergänglichkeit und war reif für den Sperrmüll. Doch für Konrad war der Stuhl eine Reliquie und der Platz ein »heiliger« Ort, den er vor jedem Angeln aufsuchte, um eine Kerze anzuzünden. Erst nach einigen Minuten der inneren Einkehr und einem hingehauchten »Petri Heil« machte er sich gestärkt und voller Zuversicht auf den Weg zum Teich. Doch weder dieses Ritual noch der neue Angelplatz verhalfen ihm zu einer höheren Fangquote und so wurden seine Angelversuche mit der Zeit immer seltener. Wenn er nicht fischte, machte er mit einer SIG-Sauer-Sportpistole, einem Relikt aus seiner Zeit als Sportschütze, Schießübungen im Wald hinter dem Haus. Nach Beschwerden von Anglern, denen er durch die Knallerei angeblich die Fische und den Jägern das Wild verscheuchte, verlegte er seine Schießübungen kurzerhand in dem von seinem Vater zum Kellerstüberl umgebauten langgezogenen alten Bunker, der nur wenige Meter vom Haus entfernt lag.

Im Sommer kam immer öfter auch Heinz Schinnerl mit ins Haus. Für Konrad war dadurch die Anreise in die Stockerauer Au einfacher und bequemer, denn Schinnerl hatte im Gegensatz zu ihm ein Auto. War Konrad alleine unterwegs, musste er die Schnellbahn bis Stockerau nehmen. Vom Bahnhof bis in die Au hatte er dann noch fünfundzwanzig Minuten zu Fuß. Schinnerl war eigentlich Konrads einziger Freund. Mit ihm konnte er sich austauschen und über alles reden. Schinnerl mochte, so wie er, Ausländer nur dann, wenn sie im Ausland waren und nicht ihre Geschäftsstelle bevölkerten. So hatten sie genug berufsbedingte Berührungspunkte, über die sie diskutieren und schimpfen konnten. Von Schinnerl fühlte sich Konrad verstanden. Gudrun begleitete Konrad nur äußerst selten. Sie teilte sein Interesse am Angeln und Schießen überhaupt nicht. Doch dadurch, dass Schinnerl dabei war und bei ihren Steitgesprächen die Funktion eines emotionalen Puffers übernahm, konnte auch Gudrun den Ausflügen aufs Land etwas abgewinnen. Während Konrad viel Zeit am Teich verbrachte und seine Würmer darin badete, erhielt Gudrun von Schinnerl die Aufmerksamkeit, die sie eigentlich von Konrad erwartet hätte. Schinnerl war ein charmanter Zuhörer und ging mit viel Feingefühl und Empathie auf Gudrun ein. Es war Balsam für ihre verletzte Frauenseele. Dann hatte Schinnerl immer häufiger Verpflichtungen an den Wochenenden und keine Zeit mehr. Gudrun verlor das Interesse an der Provinz und zog es vor, die Wochenenden wieder in Wien zu verbringen. Konrad nahm es zur Kenntnis. Es dauerte nicht lange und er fing an, das Alleinsein zu genießen. Er, der ohnehin kein Philanthrop war, kapselte sich immer mehr ab. Das hatte zur Folge, dass sich seine latente Versteck- und Verrätselungsneurose bedenklich verstärkte. Der fast schon pathologische Wahn, persönliche Dinge zu kodieren, sie zu »verrätseln«, um sie vor einem unerlaubten Zugriff zu schützen, erreichte ein neues Level. Er konstruierte komplizierte Zahlenrätsel und geheimnisvolle, kryptische Verse. Selbst den PIN-Code für sein Handy bedachte er mit einem komplizierten Rätsel, das er dann selbst nicht zu lösen vermochte. Schließlich meldete er das Handy ab und ließ sich zu Hause einen Festnetzsanschluss installieren. Im Haus in der Au hatte man weder einen Handyempfang, noch gab es eine Sat-Schüssel oder einen Telefonanschluss. War Konrad erst einmal im Haus, war die Verbindung zur Außenwelt gekappt. Kein Kontakt mit dem Rest der Welt bedeutete aber auch keine Verbindung zu Gudrun und somit war sie außerhalb seiner Kontrolle.

Diese Unwissenheit beunruhigte Konrad zunehmend und verstärkte sein Misstrauen ins Unerträgliche. Einmal war seine innere Unruhe so stark, dass er seinen Aufenthalt am See vorzeitig abbrach und früher nach Hause fuhr. Konrad war von der irrationalen Vorstellung getrieben, Gudrun an diesem Tag ganz sicher mit einem anderen Mann im Bett zu erwischen. Als er zu Hause ankam und aus dem Aufzug heraustrat, um die letzten Stufen zur Wohnung zu nehmen, hörte er eine weibliche Stimme, die er eindeutig Gudrun zuordnen konnte, und eine männliche Stimme, die ihm völlig unbekannt war. Ich wusste es! Konrad sah sich in seiner Vermutung bestätigt. Sein Puls raste. Noch bevor er oben angekommen war, hörte er, wie die Tür ins Schloss fiel, bevor der Unbekannte ihn kurz darauf beinahe über den Haufen rannte. Konrad konnte sich noch genau an die riesige Nase im kantigen, unrasierten Gesicht des Mannes erinnern und an seine schwarzen Augen, die ihn groß anblickten, als sie auf den Stufen des Stiegenhauses zusammenprallten. Konrad hatte seinen antrainierten Scannerblick eingesetzt und das Gegenüber blitzschnell auf rassische Merkmale abgetastet. Der Mann wurde von ihm eindeutig als Türke identifiziert. Grund genug, diesem Typen mit Misstrauen zu begegnen. Er konnte sich aber nicht vorstellen, dass ein so junger Mann sich mit seiner fetten Frau … Nein, dieser Gedanke war zu unappetitlich und zu abstrus. Andererseits hatten Türken wie auch Araber eine ganz andere Sichtweise, was die Schönheit einer Frau betraf. In seiner Überzeugung wurden bei den Muftis die Frauen nicht nach ihrer Schönheit bewertet, sondern danach, wie viel Kilos sie auf die Waage brachten. Somit wäre seine Gudrun für diesen osmanischen Kameltreiber sicher ein Hauptgewinn im Lotto, der ihm statt Euros eine namhafte Anzahl Kamele einbringen würde. Konrad spürte, wie sein Blut in Wallung geriet und der Aggressionspegel auf das Heftigste ausschlug. Ich hätte den Typen die Treppen runterstoßen sollen!, dachte er, holte dann aber ein paar Mal tief Luft und beruhigte sich wieder. Denn wenn er eines nicht wollte, dann dass Gudrun auch nur ansatzweise merkte, dass er eifersüchtig war. Sie würde das womöglich als aufkeimendes Interesse an ihrer Person deuten und diese Genugtuung gönnte er ihr auf keinen Fall. Also verbannte Konrad die Begegnung mit dem Mann aus seinem Kopf und erwähnte sie gegenüber Gudrun mit keinem Wort.

Schinnerl, der Konrad die ganze Zeit beobachtet hatte, räusperte sich, um den in Gedanken verlorenen Kollegen wieder in die Gegenwart zurückzuholen. Konrad blickte ihn mit leeren Augen an, nahm sämtliche auf dem Schreibtisch befindlichen Bleistifte zur Hand und reihte sie sorgfältig vor sich auf. Dann brach er einen nach dem anderen in der Mitte auseinander. Schinnerl starrte ihn sprachlos an.

»In diesen schwarzen Strumpfhosen und mit den Stöckelschuhen schaut sie aus wie eine Nutte!«, sagte Konrad plötzlich und starrte geistesabwesend auf die lange Reihe abgebrochener Bleistifte, die wie eine Armee helmloser Soldaten mit verrückten Frisuren auf seinem Schreibtisch aufmarschierten. »Sie erinnert mich an die alten, fetten, ausrangierten Praterhuren, die dir für ein paar Euro im Auto einen blasen!«, fuhr er fort und ging daran, jedem »Soldaten« seine mehr oder weniger spitze Mine abzubrechen, sie sozusagen zu demobilisieren, um einen weiteren Vormarsch dieser von ihm selbst gestalteten Bleistiftarmee zu verhindern.

»Wirklich?«, erwiderte Schinnerl überrascht und ein frivoles Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. »Ich wusste gar nicht, dass du dir schon einmal von einer fetten Praterhure einen hast blasen lassen.«

»Habe ich auch nicht!«, erwiderte Konrad entsetzt.

»Fette Praterhure«, flüsterte Schinnerl und schon hatte er wieder dieses nachdenkliche Schweizerhaus-Gesicht. Schinnerl, der wieder auf Konrads Schreibtisch Platz genommen hatte, beugte sich zu seinem Kollegen hinunter. »Apropos Schweinsstelze, ich war gestern wieder im ›Love Paradise‹«, säuselte er und hoffte, Konrads Neugierde zu erwecken.

Der zeigte sich aber wenig interessiert an seinen Laufhauserlebnissen. Ohne auf Schinnerl einzugehen, zog er den Papierkorb an sich ran und ließ jeden einzelnen Bleistiftsoldaten über die Tischkante in den Abgrund stürzen. Nachdem der Letzte den Tod gefunden hatte, rieb er sich zufrieden die Hände und schlug die nächstgelegene Akte auf. Er ignorierte Schinnerl bewusst und widmete sich dem Schriftstück besonders intensiv.

Schinnerl räusperte sich merklich verstimmt. »Die haben dort scheinbar ein neues Mädchen und stell dir vor, sie heißt Gudrun!«, sagte er beschwörend.

Jetzt reagierte Konrad und zuckte zusammen. Er schob die Akte zur Seite und schaute auf. In dem Blick, den er Schinnerl zuwarf, spiegelten sich tausend Fragen, wobei ihm eine am wichtigsten war: »Ist es meine Gudrun?«

Schinnerl hatte diese Frage erwartet und grinste. »Ich weiß es nicht, aber ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass in diesem Geschäft eine Hure ihren richtigen Namen verwendet. Der Name ist ihr Branding, sozusagen das Firmenlogo, und Gudrun ist als Hurenname nicht gerade der Burner. Klingt eher nach altbackener Hausfrau mit Kopftuch und Kittelschürze. Wenn du das Interesse eines Freiers wecken willst, muss der Name exotisch klingen, wie Yasmin, Jacqueline, Beverly, Carmen, Gina, Chantal – Namen, die im Ohr klingen, die einen Hauch von Luxus und Hollywood verbreiten. Bei Gudrun schwingt eher der herbe Duft von Arschwarzenhofen mit.«

Konrad konnte also hoffen, dass diese Gudrun nicht seine Frau war, und trotzdem zweifelte er.

»Gudrun ist sicher ein schöner Name, aber als Hurenname ist er absolut ungeeignet«, sagte Schinnerl abschließend.

Konrad fiel es schwer, seine Gedanken zu ordnen. Abscheuliche Bilder befeuerten gleich Maschinengewehrsalven seine Fantasie. Kurz bevor diese Gebilde sich zu konketisieren begannen, zog er die Reißleine und holte sich wieder auf den Boden der Realität zurück. Schinnerl hatte sicher recht. Seine Gudrun wäre nicht so blöd, statt eines Pseudonyms ihren richtigen Namen zu nehmen. Oder bestand gerade darin das perfide Spiel seiner unbefriedigten, nach großen Türkenschwänzen geifernden, fetten Ehefrau?

»Seit es diese Gudrun gibt, sollen aber vermehrt ausländische, hauptsächlich türkische Freier im Love Paradise verkehren«, fuhr Schinnerl fort und schüttete damit wohl kalkuliertes Öl in das ohnehin schon lodernde Feuer.

Konrads Wutpegel stieg bedrohlich an und die Sicherungen drohten jeden Moment durchzubrennen. Da ging die Bürotür auf und Dr. Hubert Sihorsch, seinerseits Leiter der Geschäftsstelle, steckte seinen kleinen faltigen Kopf in das Zimmer.

»Meine Herren, es ist nach 12 Uhr und die Warteräume sind voll! Wenn Sie also so freundlich wären …«

Die Aufforderung war eindeutig und unmissverständlich.

»Wir reden später weiter!«, flüsterte Schinnerl Konrad süffisant zu, glitt schwungvoll vom Schreibtisch und verschwand mit großen Schritten im Nebenzimmer. Kurz darauf hörte man einen Ton und auf der kleinen Anzeigetafel im Wartezimmer vor Konrads Tür leuchtete die Zahl 46 hellgelb auf. Konrad rückte seinen Drehsessel zurecht und ließ den nächsten Kunden zu sich ins Büro kommen.

2

Die nächsten Tage waren wie die Tage davor. Der Zustrom arbeitsuchender Menschen jedweder ethnischer Herkunft war unverändert groß. In den letzten Monaten des Jahres stiegen die Arbeitslosenzahlen in Wien und die Berater und Referenten bewältigten den erhöhten Kundenverkehr mit antrainierter, routinierter Gelassenheit.

Der weltweite Finanzmarkt war durch zweifelhafte Spekulationsgeschäfte angesehener Banken ins Trudeln gekommen und stürzte viele kleine, aber auch weltweit agierende Firmen in den Ruin. Ganze Staaten wurden zahlungsunfähig und standen vor dem Offenbarungseid. Die Arbeitslosenquote schnellte in derselben Geschwindigkeit in die Höhe, wie die Aktienkurse nach unten purzelten. Diese Entwicklung spürte auch die Geschäftsstelle in der Koppstraße und natürlich auch Konrad. Freie Arbeitsstellen waren in dieser Zeit Mangelware. Ausgebildete Fachkräfte konnten noch eher hoffen, kurzfristig einen Job zu bekommen. Für unqualifiziertes Personal hingegen war die Arbeitsplatzsituation nahezu aussichtslos. Viele ausländische Hilfsarbeiter stürmten fast täglich das Amt und forderten in ihrer ganzen Naivität und Unkenntnis der prekären Situation mit einer unverfrorenen Selbstverständlichkeit: »Cheffirma kaputt! Du geben mir andere Firma!«

»Scheiß-Computer!«, schimpfte Konrad und sein Zeigefinger vibrierte verzweifelt auf der linken Maustaste in dem Versuch, den Cursor, der wie eingefroren beim letzten Buchstaben seines soeben verfassten Berichts verharrte, wieder in Bewegung zu setzen. Seit der Umstellung auf ein neues Programm, das eigentlich die Arbeit erleichtern sollte, stürzte das Computersystem regelmäßig ab. Konrads Stirn warf tiefe Falten. Die derbe Physiognomie seines Gesichts verstärkte dazu die tiefen Nasenfalten und nach unten gerichteten Mundwinkel. Sein dichter, stets gefärbter dunkelbrauner Haarkranz, der sich wie ein versehentlich hochgerutschter Ohrenschützer aus Fell um seinen haarlosen Oberkopf schmiegte, erinnerte an das ehrwürdige Antlitz eines ehemaligen Landeshauptmanns von Niederösterreich und damit an eine geheimnisvolle St. Pöltner Friseursekte, die alljährlich in einem »schneidigen« Ritual besonders hartnäckigen und unverbesserlichen Plagiatsträgern der Erwin-Pröll-Gedächtnis-Frisur den Kampf angesagt hatte. Konrad, der von den Schergen der Friseursekte bis jetzt unentdeckt geblieben war, war nicht nur ein Gegner äußerlicher Veränderungen, sondern auch der globalen Vernetzung und Probleme wie diese verstärkten diese Abneigung noch mehr.

»Dreck, verdammter!« Konrad schlug verärgert mit der flachen Hand auf die Tastatur seines Computers. An Tagen wie diesen wünschte er sich die gute alte Zeit zurück, in der es mehr Arbeit als Arbeitsuchende gegeben hatte, als ein Computer nur in Form eines Taschenrechners bekannt war und die zu vermittelnden Arbeitslosen ohne Probleme Platz in einer Karteilade fanden. Ja, in den 80er-Jahren, als die alte Ordnung in Europa mit ihren eisernen Vorhängen erfolgreich das Eindringen von unerwünschten Ausländern verhindert hatte und das Leben und Arbeiten als Stellenvermittler noch ein Vergnügen war. Die paar Jugoslawen, die von der Wiener Bevölkerung liebevoll und absolut wertfrei »Tschuschn« genannt wurden, hatte er problemlos verkraften können. Aber seit der EU, den offenen Grenzen und der einheitlichen Währung artete seine Tätigkeit beim Arbeitsamt tatsächlich in Arbeit aus. Und als dann noch der Crash auf den internationalen Finanzmärkten passierte, kam es ihm vor, als würden alle Arbeitslosen von Wien ausschließlich Namen mit den Anfangsbuchstaben T bis Z tragen. Besonders der von türkischen Gastarbeitern besetzte Buchstabe Ü beanspruchte ihn geradezu inflationär. Horden wild gewordener Ümits, Ünals, Ülfets, Ünalps und Üstays besetzten nun schon seit Monaten tagtäglich sein Büro. Obwohl er diesen Job mittlerweile in einer stoischen Gleichgültigkeit erledigte und er sich in den Jahrzehnten als staatlich beauftragter Arbeitsvermittler und Berater von Emotionen und empathischen Gefühlen erfolgreich hatte befreien können, brachten es gerade die ausländischen Arbeitsuchenden fertig, sein abgeklärtes Gemüt auf die unangenehmste Art und Weise aus der antrainierten Lethargie zu holen und seinen Blutdruck in bedenkliche Regionen hochschießen zu lassen. So kam ihm öfter der Gedanke, seine SIG Sauer mit ins Büro zu nehmen, um auf seine Art den ausländischen, vor allem türkischen Arbeitslosenanteil wieder auf den üblichen Prozentsatz zurückzustutzen. Konrad beteuerte immer wieder, dass er absolut nichts gegen Ausländer und Türken habe, solange sie sich im Ausland befänden. Was aber in den letzten Monaten im Amt vorging, war in seinen Augen eine Neuauflage der zweiten Türkenbelagerung von 1683. Wie damals die Horden des Kara Mustafa Pascha, fielen jetzt schnauzbärtige, in billige schwarze Nadelstreifanzüge gekleidete Männer in vorzugsweise kackbraunen, ausgelatschten Schuhen der Größe 45 in die Koppstraße 51 ein, belagerten beharrlich die Räumlichkeiten des Arbeitsamtes und bedrängten ihn täglich, Woche für Woche und Monat für Monat mit: »Bitte, du geben gut Arbeit! Haben Frau, viele Kinder, brauchen Essen!«

Fluchend warf Konrad die Maus auf den Schreibtisch und fuhr ruckartig aus seinem Drehsessel, der mit lauten Krach gegen den Heizkörper knallte. »Blöder Scheißkasten!«, schrie er und blickte auf den Monitor seines Computers, der wie als Antwort auf diese Beleidigung eine Fehlermeldung des Systems anzeigte, seine Aktivität beendete und sich abschaltete.

Genau an solchen Tagen, an denen man der anstürmenden Masse an Arbeitsuchenden nur mit Tränengas oder ausgehungerten, speziell auf Arbeitslose scharf gemachten Kampfhunden oder eben mit einer gut geölten SIG Sauer hätte Herr werden können, stellte der Computer regelmäßig und anscheinend mit voller Absicht seine Arbeit ein. Konrad war überzeugt, dass moderne Computer ein Eigenleben entwickelten und früher oder später die Kontrolle über die Menschheit übernehmen würden. Die gegenwärtige Abhängigkeit von den mit Mikroprozessoren, Chips und Transistoren gefüllten Blechkästen war in seinen Augen ohnehin schon erschreckend.

Der Kopf eines Kollegen erschien in seinem Büro. »Der Server ist wieder einmal überlastet und zusammengebrochen und so wie es aussieht, wird es ein wenig dauern, bis alles wieder funktioniert.«

Konrad knurrte: »Ich sag’s ja, Scheiß-Computer!« Er blickte aus dem Fenster seines Büros, das in die Beingasse hinausging. Es schneite schon seit zwölf Stunden. Die Einsatzfahrzeuge der Magistratsabteilung 48 hatten die letzten Tage alle Hände voll zu tun gehabt, um Wiens Straßen von den Schneemassen zu befreien. Nicht rechtzeitig in Sicherheit gebrachte geparkte Autos wurden von den zur Seite geschobenen Schneemassen gnadenlos zugedeckt. Der Autoverkehr kam völlig zum Erliegen. Typisch für Wien. »Petra« war schon Tage zuvor angekündigt worden, doch als die gewaltige Schlechtwetterfront schließlich Wien erreichte, kam es trotz aller Warnungen zum Verkehrschaos. Konrad war davon unbeeindruckt, er fuhr schon seit Jahren mit der U-Bahn. Sein Auto hatte er vor zehn Jahren verkauft und besonders an solchen Tagen sah er die Richtigkeit seiner Entscheidung bestätigt.

Er blickte auf die Uhr. Draußen vor der Tür fragte eine laute, polternde Stimme: »Was das heißen, Service ist gestürzt?«

Kollege Lechner, der gleich neben Schinnerl das Büro hatte, erwiderte laut: »Nix Service, Herr Ögeday! Server! Du verstehen?«, und ergänzte in perfektem Türkendeutsch: »Das heißen: Nix mehr gehen heute! Maschine kaputt! Du kommen morgen wieder!«

»Ich warten seit acht Uhr und du sagen jetzt, muss kommen morgen wieder?« Herr Ögeday klang sehr verärgert.

»Was soll ich machen, ist leider so«, entgegnete Lechner, zuckte mit den Achseln und ergänzte: »Ist so wie mit Frau, wenn Maschine kaputt, kannst du auch nix machen Bumstibumsti.«

»Ich nix machen Bumsti mit Frau! Mein Frau gut Frau! Mein Frau türkisch Frau!«, empörte sich der Mann.

»Und woher du haben deine acht Kinder? Hat Heilige Geist gebracht?«, zischte Lechner.

»Ich Moslem!«, erwiderte Herr Ögeday stolz: »Nix eilige Geist!«

»Du gehen jetzt nach Hause zu Frau und Kinder und du kommen morgen wieder«, wimmelte Lechner den Mann ab und ließ ihn vor der Tür stehen. Ein unverständliches Gezeter in türkischer Sprache war die Folge.

Konrad stand am Fenster und beobachtete, wie ein Schneepflug durch die Beingasse fuhr und eine schmale Spur in die Fahrbahn zog. Dem Einsatzfahrzeug folgte ein ebenso langsam dahinschleichendes Auto.

Es klopfte.

Konrad verfolgte das Auto noch, bis es langsam in die nächste Gasse einbog und aus seinem Blickfeld verschwand. Es klopfte wieder. Konrad wollte das Klopfen ignorieren, aber es war hartnäckig und energisch.

»Was ist?«, schrie Konrad genervt und drehte sich in Richtung Tür. Da stürzte ein kleiner, schmächtiger Mann mit dichtem, dunklen Haar, graumeliertem Schnauzbart, einem dunklen, ziemlich abgetragenen Nadelstreifenanzug und ausgelatschten, hellbraunen Schuhen, wahrscheinlich Größe 45, mit hochrotem Gesicht in das Büro.

»Ist deine Scheiße-Service auch gestürzt?!«, schrie er sichtlich verärgert.

Konrad machte einen Satz nach vorne, packte den Mann am Nadelstreifrevers, zerrte ihn zum Schreibtisch, griff in sein dichtes, schwarzgelocktes Haar und während er den Kopf des Mannes rhythmisch gegen den schwarzen Bildschirm des Monitors schlug, schrie er hysterisch: »Was du sehen, Mustafa? Nix, nix und wieder nix!! Kaputt, du verstehen? KAPUTT!!!«

Der Mann, der verzweifelt versuchte, dem Griff Konrads zu entkommen, schrie zurück: »Bist deppert? Ich nix Mustafa! Ich Afet Ögeday!«

»Affe!? Ja, das passt zu dir, du … du türkischer Pavianarsch!«, schrie Konrad außer sich und fing an, den Kopf von Herrn Ögeday rhythmisch gegen die Schreibtischplatte zu klopfen.

»Nix Affe! Afet, Afet!«, schrie Herr Ögeday mit schmerzverzerrter Stimme.

Radelberger, der das Geschrei gehört hatte, stürmte ins Zimmer, packte Konrad und riss ihn von Herrn Ögeday los.

»Waf if denn in Fie gefahren, Geiger!«, fauchte er Konrad an. Er drehte sich zu Herrn Ögeday und fragte vorsichtig: »Find Fie okay? Fie müffen entschuldigen. Mein Kollege ift etwas überarbeitet.«

Karl Heinrich Radelberger war ein kleiner, untersetzter Mann um die vierzig. Sein Gesicht zierte eine schmale, lange Nase, die optimal mit seinem schmalen Gesicht harmonierte. Sein Oberkiefer war derartig gut ausgewachsen, dass er ohne Weiteres ein Buch über »Das Leben ohne Unterkiefer und die damit verbundenen Ernährungsprobleme« schreiben könnte. Diese anatomische Anomalie bewirkte leider eine sehr undeutliche und äußerst flüssige Aussprache, die für das Gegenüber bei Gesprächen die Verwendung eines Regenschutzes rechtfertigen würde.

Herr Ögeday antwortete nicht, sondern sammelte fluchend den Rest seines Nadelstreifrevers vom Boden auf. »Scheiße Arbeitsamt! Scheiße Osterreicher!«, fluchte er, griff sich an den Kopf und stöhnte: »Scheiße meine Kopf!«

»Brauchen Fie eine Kopfwehtablette?«, fragte Radelberger besorgt.

»Bei dem Kopf wäre die Guillotine wirksamer!«, ätzte Konrad.

»Fie fagen beffer nichts mehr, Kollege!!«, fauchte Radelberger und widmete sich wieder Herrn Ögeday, der gerade die letzten Stofffetzen seines Revers in die Hosentasche stopfte. »Herr Ögeday, ich gebe Ihnen ein Kopfwehtabletterl«, sagte er versöhnlich und half ihm in die Reste seines Nadelstreifensakkos. »Fie werden sehen, fo ein Afpirin akut wirkt Wunder.«

Radelberger deutete zur offenen Bürotür, vor der sich mittlerweile eine Traube neugieriger Referenten und Parteien versammelt hatte. Herr Ögeday reagierte nicht auf Radelbergers versteckte Aufforderung und griff in die Innentasche seines zerfetzten, aus billigem Stoff hergestellten Nadelstreifensakkos, zog einen schmalen schwarzen Kamm hervor und versuchte damit sein dichtes, zerzaustes Haar wieder in eine ansehnliche Form zu bringen. Zum Schluss leckte er die Innenseite seiner Finger ab und wischte sich über sein streng nach hinten gekämmtes Haar. Während er den Kamm wieder zurücksteckte, drehte er sich zu Konrad und deutete mit dem rechten Zeigefinger auf ihn.

»Du kommen noch in meine kalte Hose!«, schrie er, drehte sich um und stürmte aus dem Büro.

»Kalte Hose?« Konrad zuckte mit den Achseln und sah Radelberger mit großen, unwissenden Augen an.

»Wilhelm Tell«, sagte Radelberger.

»Aha, Wilhelm Tell … auch ein Kunde von dir, Konrad?«, fragte Schinnerl, der sich mittlerweile ebenfalls im Büro eingefunden hatte, und ergänzte spöttisch: »Müsste der nicht Wülhülm Tüll heißen?«

Konrad reagierte nicht.

»Durch diefe hohle Gaffe muff er kommen!«, warf Radelberger ein. Seine Stimme war voller Ungeduld und Aufregung und klang eindeutig nach dem Streber in der ersten Reihe, der ungeduldig, den Oberkörper quer über die Schulbank gelehnt, die Hände der Lehrkraft entgegenstreckt, um mit flehenden Gesichtsausdruck zu vermitteln: »Bitte, Frau Lehrer! Ich weiß das!« Als er, erfreut über so viel Aufmerksamkeit, tief einatmete und ausholte, um sein Wissen vor den Kollegen auszubreiten, traten alle im Raum anwesenden Personen vorsichtshalber einen Schritt zurück.

»Liebe Kollegen und -innen!«, intonierte er feierlich und erzählte dann ausschweifend die komplette Geschichte von Wilhelm Tell, seinen Problemen mit dem bösen Landvogt Gessler, der dem Tell befahl, einen Apfel vom Haupte seines Sohnes Walter zu schießen, weiter von seiner Gefangennahme und Flucht bei der Überführung in die Burg Küssnacht, bis hin zu der legendären hohlen Gasse, in der der Landvogt durch die Hand, besser gesagt durch einen Pfeil Wilhelm Tells sein Ende fand. Kein noch so kleines Detail ließ Radelberger aus und obwohl sich in der Zwischenzeit das Büro längst geleert hatte, kam er nach zwanzig Minuten endlich auf den entscheidenden Punkt und zu der Feststellung: »Herr Ögeday hat diefef berühmte Pfitat nur falsch interpretiert. Ganpf einfach.«

»Herr Radelberger«, sagte Dr. Sihorsch merklich verärgert. »Wenn Sie mit Ihren Schweizer Wasserspielen fertig sind, kümmern Sie sich bitte wieder um Ihre Parteien.«

Wie vom Blitz getroffen, machte Radelberger auf dem Absatz kehrt, stammelte noch ein paar Mal »Fofort, fofort«, nickte unterwürfig und verschwand.

Konrad, der schon lange mit geschlossenen Augen in seinem Drehsessel saß, stand auf, als er seinen Chef erblickte.

»Geiger, Sie gehen nach Hause!«, fauchte Dr. Sihorsch.

Konrad wollte etwas sagen, aber Dr. Sihorsch, der keine Antwort oder Rechtfertigung hören wollte, fiel ihm in das noch nicht einmal ausgesprochene Wort.

»Das wird Konsequenzen haben, Geiger! So etwas ist mir in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht untergekommen. Wie kommen Sie dazu, einen Kunden tätlich anzugreifen? Sind Sie verrückt?« Er fuchtelte wild mit den Händen vor Konrads Nase herum. »Sie sind beurlaubt!«, schrie Dr. Sihorsch und ähnlich wie wenige Minuten zuvor Herr Ögeday baute sich sein Chef drohend vor ihm auf, hob seinen rechten Zeigefinger und Konrad hörte ihn schon sagen: Du kommen noch in meine kalte Hose! Dr. Sihorsch ließ seinen Zeigefinger noch mehrmals warnend vor Konrads Gesicht hin und her pendeln, drehte sich dann um und verließ mit hochrotem Kopf das Büro.

Schinnerl steckte seinen Kopf mit einem breiten Grinsen im Gesicht ins Zimmer.

»Alle Achtung, Konrad! Wie du dem Ögeday seine Visage gegen den Bildschirm gehämmert hast, Chapeau!« Er bezeugte Konrad mit hochgestecktem Daumen und einem wohlwollenden Nicken seine Anerkennung. Dann holte er einen 200-Euro-Schein aus der Tasche und steckte ihn Konrad in die Brusttasche seines Hemds. »Dein Eintrittsgeld ins ›Love Paradise‹, Konniboy!«

Konrad stand teilnahmslos da, als hätte er kein Wort verstanden.

Schinnerl, der schon auf dem Weg nach draußen war, hielt noch mal inne, drehte sich um und flüsterte: »Da wäre ja noch etwas aufzuklären, oder? Ich sage nur – Gudrun!« Er zwinkerte Konrad zu und verließ pfeifend den Raum.

Konrad holte den 200-Euro-Schein aus seiner Brusttasche, betrachtete die gelbe Banknote andächtig und steckte sie wieder zurück. Schinnerl hatte recht. Er musste ein für alle Mal klären, was es mit dieser Gudrun auf sich hatte. Er schob den Drehsessel zurück an den Schreibtisch, nahm seine blaue Daunenjacke vom Kleiderhaken und streifte sie sich über. Er schloss die unterste Lade seines Schreibtischs auf, griff nach einem Päckchen Marlboro Light und zündete sich eine Zigarette an. Seine erste seit zwei Jahren und sie schmeckte scheußlich.

3

Konrad war bereits in der Hasnergasse, die in den Hernalser Gürtel mündete, und stapfte bedächtig, den Kopf tief zwischen seine Schultern gezogen, Richtung U-Bahn-Station. Seine Gedanken waren bei den Vorkommnissen im Amt, die ihn nach wie vor aufwühlten. Doch nicht die Tätlichkeit an sich und die zu erwartenden Konsequenzen beunruhigten ihn, sondern die beängstigende Tatsache, dass er, während er den Türken vermöbelte, einen unglaublichen Drang nach Sex verspürte. Was war nur los mit ihm?

Er fühlte sich wie ein Schnellkochtopf, dessen Überdruckventil nicht funktionierte. Dieses Gefühl kannte er, seit sich seine Frau Gudrun das erste Mal in ihrer Ehe verweigert und von hormonell bedingten Schweißausbrüchen erzählt hatte, von Hitzewallungen und rasenden Kopfschmerzen, die bei ihr nicht nur zu einer erhöhten sexuellen Unlust führen würden, sondern auch ihre Libido auf null sinken ließen und ihren Heißhunger auf Süßes extrem förderten. So kam es, dass zwischen ihren Beinen die Klappe zuging: Rien ne va plus! Nichts geht mehr! Firma geschlossen! Gudrun hatte Konrad mit seiner Geilheit und seiner heruntergelassenen Hose einfach stehen gelassen. Umsonst und völlig sinnlos hielt er seinen kleinen Konradiño mit dem rechten Daumen und Zeigefinger fest umklammert und harrte der erotischen Erlebnisse, die nicht mehr kommen sollten. Er blieb allein mit seiner Aggression und dem gleichzeitig immer stärker werdenden Drang nach Sex. Und er hatte kein Ventil, aus dem diese höchst explosive Mischung hätte entweichen können. Konrads Zündschnur war noch dazu gefährlich kurz. Ein kleiner Funke würde reichen, um das Konglomerat an aufgestauten Emotionen, Aggressionen und ungestillten Sehnsüchten zur Detonation zu bringen. Er konnte froh sein, keine Frauen als unmittelbare Kollegen zu haben. Bei seinem Aggressionspotenzial würde er sich innerhalb kürzester Zeit der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz schuldig machen und mit Sicherheit seinen Job verlieren. Da war es in seinen Augen doch viel besser, als »Vorspiel« einen türkischen Kunden aufzumischen und dann die geeignete Person zu suchen, die ihm helfen würde, seinen hormonellen Überdruck loszuwerden.

Die Glocken der evangelischen Kirche am Georg-Kronawitter-Platz läuteten. Das Laufhaus war nicht mehr weit weg. Schinnerl schwärmte andauernd von den geilen Mädchen im »Love Paradise«, die zwar kein Wort Deutsch, aber dafür exzellent »Französisch« sprechen würden. Konrad waren die Mädchen völlig egal. Er wollte nur wissen, was es mit dieser ominösen Gudrun auf sich hatte und ob seine fette Frau wirklich zur Hure geworden war. Huren hatte er schon immer verabscheut. Vor allem die Geschichten rund um den Wiener Gürtel, das Epizentrum des roten Milieus, empfand er als ekelig und abstoßend. Irgendwie beschäftigten ihn die Schilderungen Schinnerls aber doch und so konnte er eine gewisse Neugier nicht verleugnen. Es war genau diese Ambivalenz und Zerrissenheit, die Konrad unberechenbar machte, und es war schwer abzuschätzen, ob er einen Besuch bei einer Hure dazu nutzen würde, um sie zu ficken, sie zu bekehren oder sie zu töten.