6,99 €
Eine Vermisstenanzeige macht Hauptkommissar Alexander Rosenbaum zu schaffen. Er glaubt nicht an eine Entführung und auch nicht daran, dass Oswald Zehner plötzlich untergetaucht sein könnte. Sein Bauchgefühl sagt ihm, dass der angesehene Geschäftsmann ermordet worden ist, aber sein angeschlagenes Nervenkostüm behindert ihn bei seiner Ermittlungsarbeit. Als Naturfreund Walther Siekmeyer eine Leiche im Moor findet, bestätigt sich Rosenbaums Vermutung. Ist Zehner, dessen Firma ehemalige Sowjetrepubliken mit Medizintechnik versorgt, das Opfer unseriöser Geschäfte und krimineller Machenschaften geworden?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2014
Titelseite
Impressum
Über die Autorin
U-Bahn-Fahrt
Joggen
Strunzi
Anrufe in Abwesenheit
Auslandseinsatz
Vermisst
Naturfrevel
Identifiziert
„Morast“
Reifenspuren
Fraglich
Verdächtig
Abdruck
Untersuchungshaft
Hintergründe
Sekretariate
Geldköfferchen
Intensivstation
Freundschaft
Literatur
Vorbei
Allein
Die Goldene Stadt
Abgang
Coming-out
Feierabend
Danksagung
Andrea Gerecke
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2014 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
Alle Rechte vorbehalten
Der Umschlag verwendet ein Motiv von shutterstock.com
Two fighting stag beetle, Natalia D. 2014
eISBN: 978-3-8271-9868-6
EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de
Die Romanreihe spielt direkt am Treffpunkt von Weser- und Wiehengebirge im Nordrhein-Westfälischen. Malerisch liegt das mittelgroße Städtchen an der Weser, die beide Erhebungen teilt oder vereint. Je nachdem, aus welcher Perspektive man das betrachtet. Alle Handlungen und Charaktere sind natürlich frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten ergeben sich also rein zufällig. Regionale Wiedererkennungseffekte sind indes erwünscht ...
Über die Autorin:
Gebürtige Berlinerin mit stetem Koffer in der Stadt. Studierte Diplom-Journalistin und Fachreferentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Kurz vor dem Jahrtausendwechsel Entdeckung der Liebe zum Landleben mit den dortigen kreativen Möglichkeiten. Umzug ins vorletzte Haus an einer Dorfstraße in NRW. Arbeit als freie Autorin und überregionale Journalistin. Literarische Spezialität sind mörderische Geschichten, in denen ganz alltägliche Situationen kippen. Nach den Gutenachtgeschichten für Erwachsene „Gelegentlich tödlich“ folgten „Warum nicht Mord?!“ und „Ruhe unsanft“. 2011 erschien der erste Fall von Kommissar Alexander Rosenbaum „Mörderischer Feldzug“ innerhalb der Weserbergland-Krimi-Reihe, der in Minden spielt. Dem schloss sich 2012 der zweite Fall an: „Der Tote im Mittellandkanal“. 2013 geschah Fall drei: „Die Mühlen des Todes“. Dazu kommen humoristische und satirische Texte, Prosa und Lyrik. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften. Mitglied der Mörderischen Schwestern und des Syndikats sowie des Leitungsteams der Mindener Lesebühne.
Siehe auch: www.autorin-andrea-gerecke.de
Flackernd lösen sich vom Sumpf
ungewisse Schemen ...
Nach der alten Weide Stumpf
sieh den Weg sie nehmen.
Auf dem Stumpfe sitzt der Tod:
Dumpfe Fiedel lockt und droht
mit verworrnen Themen ...
Christian Morgenstern (aus: Am Moor)
Olga zog kraftvoll ein Stück ihrer roten Jacke aus der Tür, das sich beim Schließen dort verfangen hatte. Dann setzte sie sich erschöpft in eine Ecke des Waggons, stellte ihre Sporttasche neben sich auf den Platz und fuhr sich mit beiden Händen durch das kurzgeschnittene Haar. Ein Glück aber auch, dass sie die Bahn noch erreicht hatte, wenngleich nur die letzte Tür. Bei dem Gedanken atmete sie tief durch. Keinen Schritt weiter! Es war spät geworden und um diese Zeit musste man meist lange auf den nächsten Zug warten. Zu lange, wenn man müde und ausgepowert war. So wie sie nach dem Fitnesskurs an der Volkshochschule. Auch würden die Eltern warten, die daheim auf Lena und Tina aufpassten.
Als sie saß, drang ihr ein unangenehmer Geruch in die Nase. Olga schaute sich flüchtig um, konnte aber nichts entdecken. Doch der Gestank wurde intensiver. Schließlich bemerkte sie das Malheur. Ihr rechter Schuh war von einem klebrigen dunkelbraunen Rand gesäumt. Verdammte Scheiße, fluchte sie innerlich. Da musste sie doch eben in so einen Hundehaufen getreten sein, wie es sie allenthalben auf den Straßen von Berlin gab. Nichts gegen diese Vierbeiner, aber die übertriebene Tierliebe der Großstädter hinterließ eben deutliche Spuren. Wie oft kamen die Mädchen mit solchermaßen verdreckten Schuhen nach Hause. Selbst vor dem Spielplatz machten einige Hundebesitzer nicht Halt und gingen dort mit ihren Vierbeinern Gassi ... Das ist aber auch zu eklig, dachte Olga und schüttelte sich.
Langsam fielen ihr die Augen zu. Momentan konnte sie sowieso nichts dagegen tun, etwa mit einem Zellstofftaschentuch daran herumreiben und dann den Dreck vielleicht noch an den Fingern haben! Da musste sie daheim ran, entschied sie im Stillen.
Ihre Gedanken nahmen eine andere Bahn. Sie sah sich, wie sie eben noch in der Turnhalle mit den anderen getanzt hatte. Weltentrückt, als wenn eine fremde Kraft ihren Körper leitete und zu den ungewöhnlichsten Bewegungen verführte. „Zumba“ nannte sich der Kurs, ein Tanz-Fitness-Workout, bei dem alle Teilnehmer unheimlich viel Spaß hatten. Schon allein die feurige lateinamerikanische Musik war grandios: Samba, Salsa, Merengue. Olga hörte die Klänge in ihrem Inneren, ihre Beine wippten unwillkürlich im Rhythmus dazu und sie schnipste mit den Fingern. Dabei waren die Schrittfolgen ganz einfach und unkompliziert.
Außerdem hatte sie so nebenbei schon fünf Pfund abgenommen. Sie haderte mit dem Zuviel an Gewicht, das sie seit der Schwangerschaft mit Tina nie wirklich in den Griff bekommen hatte. Vor allem am Bauch und an den Hüften blieb der Speck hartnäckig sitzen. Jetzt fühlte sie sich zwar ermattet, aber zugleich in ihrer Kondition gestärkt. Sie genoss diese neu gewonnene innere Kraft, die Hektik des Arbeitstages lag hinter ihr.
Sicher war es eine gute Entscheidung gewesen, den Zumbakurs zu buchen. Kurzzeitig hatte sie noch zwischen diesem und der „Einführung in die Alexander-Technik“ geschwankt. Da ging es um praktisches Wissen über Koordination, Körperhaltung und Bewegungsausführung. Dort sollte man störende Gewohnheiten erkennen und lösen, um zu mehr Leichtigkeit und Beweglichkeit zu gelangen. Die Werbebotschaften klangen nicht schlecht und hätten sie fast überzeugt. Wenn sie ehrlich war, dann hatte der Name Alexander den Ausschlag gegeben, dass sie sich gegen dieses Seminar und für Zumba entschied. Ihr Mann hatte für genügend Verspannungen und Stress gesorgt, da wollte sie sich nicht noch an der Volkshochschule mit ihm auseinandersetzen und einen gleichnamigen Kurs belegen.
Die automatische Ansage nuschelte die nächste Station und schon hielt der Zug. Olga schlug kurz die Augen auf, sah eine Gruppe Jugendlicher, die sich zwei Sitzabteile weiter niederließ, die Jungs mit kahl rasierten Schädeln, das eine Mädchen mit einem ordentlichen Pferdeschwanz, fast alle in Springerstiefeln. Eine Schnapsflasche kreiste zwischen ihnen. Jeder nahm einen kräftigen Schluck und reichte sie dem Nebenmann. Olga wandte sich ab, um nicht provozierend zu wirken.
Nebenher streifte ihr Blick noch einen Mann von dunkler Hautfarbe, mit Brille, im Anzug und mit einer Aktentasche, der ein Stück weiter weg saß und konzentriert etwas in sein Handy tippte. Ansonsten schien das Abteil leer zu sein. Sie sah auf den Bildschirm an der Decke, der wechselnde Werbung zum Besten gab. In nur geringen Zeitabständen wiederholten sich die Offerten. Da wurde ein besonders schöner Schnappschuss eines Zuschauers eingeblendet. Viel zu rasch folgte ein Nachrichtenüberblick. Nur Schlagzeilen, nur Katastrophen, ein wenig Politik, die unendliche Geschichte vom nicht fertig werdenden Hauptstadtflughafen, Wirtschaft und Sport, dann die Wetteraussichten. Ein Musical kam wieder nach Berlin ...
Olga gähnte herzhaft, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Noch etwa fünfzehn Minuten, dann konnte sie aussteigen und die paar Meter nach Hause laufen, um erst mal die Schuhe gründlich zu reinigen und sich anschließend mit ihren Eltern darüber auszutauschen, wie der Abend mit den beiden Mädchen gelaufen war. Ob sie artig ins Bett gegangen waren und nicht wieder rumgezickt hatten, wie das neuerdings ihre Masche war.
Sie hätte ja auch den Wagen nehmen können, aber in den Abendstunden war es um die Gebäude herum, die die Volkshochschule belegte, noch voller als sonst. Da musste sie mehrfach durch die Straßen fahren, um irgendwo einen Parkplatz zu finden, der sich nicht im sogenannten bewirtschafteten Bereich befand. Sie wollte nicht jedes Mal noch extra Gebühren bezahlen. Das mit dem Auto hatte sie ausprobiert. Sie war heillos zu spät gekommen und musste anschließend lange nach ihrem Fahrzeug suchen. In der Hektik hatte sie sich nicht wirklich den Standort gemerkt. Eine klassische Situation in der Hauptstadt. Also doch lieber dieÖffentlichen, hatte Olga beschlossen und war seitdem immer mit der U-Bahn unterwegs.
Es wurde lauter im Abteil. Olga hob mühsam die Augenlider. Einer der Jungs war breitbeinig zu dem Mann im Anzug gegangen und hielt ihm die Schnapsflasche hin, während die anderen Unverständliches durcheinanderriefen.
„Hier, nimm einen Schluck. Sollst nicht verdursten, Bimbo.“
Der Mann blickte nur kurz auf, schob seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben, senkte dann wieder den Kopf und schüttelte ihn.
„Ey, Alter. Sind wir dir nicht fein genug? Denkst wohl, du bist in deinem schnieken Anzug was Besseres, du Presskohle.“
Olga zuckte zusammen. Das nahm jetzt irgendwie keine gute Wendung. Noch hielt sie sich zurück. Der Zug stoppte auf einem wie ausgestorben wirkenden Bahnhof. Niemand stieg ein. Wieder schlossen sich die Türen und die Bahn setzte sich mit sanftem Surren in Bewegung.
Nun griff der junge Bursche den Mann an der Krawatte: „He, ich rede mit dir. Da schaut man dem anderen in die Augen oder ist das bei dir im Busch nicht üblich, bei den Gorillas und Löwen.“
Die randlose Brille des Mannes fiel auf den Boden und der Jugendliche zertrat sie wie beiläufig, ohne den Griff am Schlips zu lockern. Olga hielt es nicht mehr länger auf ihrem Platz. Sie erhob sich, ließ die Sporttasche auf dem Sitz stehen und lief die wenigen Schritte zu den beiden. Die anderen in der Gruppe verfolgten aufmerksam das Geschehen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Sie schienen zu lauern.
„Jetzt mach aber mal halblang. Lass den Herrn hier in Ruhe und setz dich wieder auf deine vier Buchstaben.“
Olga stand, während sie sprach, fest und sicher auf dem Boden.
„Mann, Strunzi, die Alte ist scharf auf dich“, ertönte es jetzt aus dem Hintergrund. Der Strunzi Genannte ließ die Krawatte des Mannes los und drehte sich ganz langsam, wie in Zeitlupe, zu Olga um. Seine Augen blitzten böse.
„Was willst du, alte Fotze, ficken?“
Gelächter erklang im Abteil.
„Nun werde hier mal nicht unsachlich, junger Freund!“
Olga spürte, wie sich eine Gänsehaut bildete und ihr Herz schneller schlug. Merkwürdig. Der Satz eben hätte von ihrer Mutter stammen können. „Junger Freund“, wie war sie denn auf diese blödsinnige Formulierung gekommen? Der Typ konnte doch höchstens zehn Jahre jünger sein als sie. Nur ruhig bleiben, hämmerte es in ihr.
Strunzi, mit bürgerlichem Namen Mirco Strunz, stand für wenige Augenblicke verunsichert im Waggon. Wieder waren die anderen in der Gang verstummt und starrten gebannt in Richtung der drei. Der Mann im Anzug saß unbeweglich, wie gelähmt, auf dem Sitzpolster, an die Rückenlehne gepresst. Nur die Finger rotierten nervös umeinander. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet.
In Sekundenbruchteilen fuhr Strunzi durch den Kopf, dass er diese Situation unbedingt für sich entscheiden musste. Sonst wäre es aus mit seiner Führungsposition. Die war ohnehin schon etwas wackelig geworden, seitdem er was mit Maja angefangen hatte und die nun ein Kind von ihm erwartete. Was sie jedem, der es hören wollte oder auch nicht, brühwarm servierte. Aber das war ja noch nicht hundertprozentig. Wenn er denn überhaupt der Erzeuger war. Außerdem: So was konnte man schließlich wegmachen lassen. Er würde sich doch nicht in seinem jetzigen Tatendrang stoppen lassen und einen auf Familie machen, mit einem Schreihals. Er doch nicht!
Strunzi strich sich über den im Nacken markant tätowierten Schädel, so als ob er eine imaginäre Haarpracht richten wollte. Die Schnapsflasche rutschte ihm aus der Hand, knallte auf den Boden, ohne Schaden zu nehmen, kippte um und der Inhalt bildete eine große Lache. Der Geruch waberte hoch. Dann schlug Strunzi gezielt mit der Rechten auf Olgas Oberarm, um sie aus dem Weg zu schaffen. Sie taumelte und rutschte auf die Bank gegenüber. Jetzt nahm er sich den Sitzenden vor.
„Bitte, lassen Sie uns in Ruhe“, stammelte der Mann.
„Wie? Ich höre wohl nicht richtig. Ihr Asylantenvolk lasst uns ja nicht in Ruhe. Kommt alle her nach Deutschland mit einer Riesensippe im Schlepptau und kassiert die dicke Knete. Sozialschmarotzer!“
Strunzi redete sich in Rage. Das mit dem Sozialschmarotzer hatte er daheim im Fernsehen aufgeschnappt, als seine Alten gerade davor hockten.
In der Zwischenzeit hatten sich die anderen aus der Gruppe erhoben und kamen näher. In Kürze würde der Zug die nächste Station erreichen.
„Jetzt wird es mir aber zu bunt“, erhob sich der Dunkelhäutige und kniff die Augen zusammen. Er war gut einen Kopf größer als Strunzi und offensichtlich auch durchtrainiert.
Nur keinen Fehler machen, dröhnte es in dem Jugendlichen. Alle schauen auf mich.
Er hatte in seine Jackentasche gefasst und sich den Schlagring über die Finger gestreift. Dann holte er auch schon aus und traf den anderen an der Schläfe, der leise wimmernd in sich zusammensackte.
Eigentlich hatte er gut gezielt und der Treffer hätte mitten im Gesicht landen müssen, aber in dem Augenblick des Schwingers hatte sich Olga aufgerappelt und heftig an den Schultern von Strunzi gerüttelt.
„Bist du völlig verrückt geworden, Junge? So was bringt dich doch ins Gefängnis. Da kannst du doch nicht hinwollen. In deinem Alter hinter Gittern ...“
Olga kam mit ihrem Satz nicht weiter. Denn Strunzi hatte blitzartig eingeordnet, dass von dem Mann keine Gefahr mehr ausging, aber die Frau ihm offensichtlich Schwierigkeiten bereiten wollte. Er schlug zu. Einmal, zweimal, dreimal. Mit voller Wucht und mit der Verstärkung des Schlagrings. Blut spritzte aus mehreren Wunden. Olga schrie vor Schmerzen, wand sich und lag schließlich hilflos am Boden, als sich der Zug bremsend dem nächsten Bahnhof näherte.
„Hör auf! Die Olle is eh hin. Wir sollten verduften“, holte ihn Dennis, sein Konkurrent, in die Wirklichkeit zurück.
Strunzi streckte halb kniend die Rechte in Siegerpose in die Höhe. Die automatische Zugansage hatte schon den folgenden Halt verkündet. Das Licht des menschenleeren Bahnsteigs fiel in den Waggon.
Dennis drückte den Knopf, die Tür öffnete sich und alle sprangen johlend auf den Bahnsteig. Zuletzt stieg der Anführer mit einem breiten Grinsen aus. In Siegerpose hob er beide Arme, winkte seinen Untergebenen und ließ sich von ihnen feiern. Sein Blick streifte die Kamera, die fest auf den Bahnsteig ausgerichtet war und er hüpfte noch einmal jubelnd in die Höhe. Strunzi entschied, welchen Ausgang sie nehmen sollten und alle folgten ihm ehrfürchtig. Sie schienen keine Eile zu haben.
Teko Masenamela hielt sich die Hand an die pochende Schläfe. Ihm war übel und er fühlte sich hundeelend. Vor allem auch, weil er der Frau nicht zur Seite gestanden hatte, die ihm helfen wollte und jetzt reglos auf dem schmutzigen Fußboden lag. Zunächst wollte er noch aussteigen, um auf dem Bahnsteig Hilfe zu holen. Aber diesen Gedanken verwarf er rasch. Wen hätte er auf einer menschenleeren Station schon erreichen können? Außerdem wollte er die Verletzte in ihrer hilflosen Situation nicht allein lassen. Dann bückte er sich rasch nach seinem Handy, das auf dem Boden gelandet war, und betätigte den Notruf. Die Verständigung war durch ein heftiges Rauschen erschwert. Er gab die U-Bahnlinie an, in der sie sich befanden und die Station, die sie gerade verließen und an der die Jugendlichen ausgestiegen waren.
„Ihren Namen benötige ich noch einmal, den habe ich nicht richtig verstanden!“, klang es ihm am Ohr.
„Teko Masenamela“, sagte er und sprach das ganz gedehnt. Er war es gewohnt, seinen Namen zu wiederholen.
„Wir schicken sofort jemanden zu Ihnen. Das wird jetzt ... Moment ...“
Der Gesprächspartner von der Leitzentrale schien sich im Hintergrund abzustimmen.
„Das wird voraussichtlich an der Endstation sein. Sie müssen ja gleich dort ankommen. Dort treffen die Einsatzkräfte dann in Kürze ein. Bleiben Sie vor Ort und bewahren Sie unbedingt Ruhe.“
Dann war das Gespräch beendet und der Zug fuhr weiter durch die Dunkelheit des Untergrunds.
Teko kniete sich direkt neben Olga.
„Hören Sie mich?“
Keine Reaktion.
„Hallo, können Sie mich verstehen?“
Ihr Gesicht war blutverschmiert, sie lag seltsam verrenkt. Teko dachte daran, Olga in die stabile Seitenlage zu bringen, aber es schien ihm doch nicht angeraten, zu verkrampft und verdreht wirkte der Körper. Vielleicht etwas unter den Kopf, sie liegt so hart, grübelte er und zog sich sein Jackett aus. Er faltete es sorgsam zusammen und schob es ihr behutsam unter. Jetzt entrang sich ihr ein Stöhnen. Der Mann sah nervös auf seine Armbanduhr und auf die Laufbandanzeige mit den Informationen zum folgenden Halt an der Decke des Waggons.
An der nächsten Station stieg ein schmusendes Pärchen ein. Nur oberflächlich schauten sie zu Teko und Olga hinüber, rochen den Fuselgestank, der von der Flasche am Boden ausging, vermischt mit dem Hundekot, dann wandten sie sich in die andere Richtung und setzten sich in eine weit entfernte Ecke, um sich weiter zu küssen.
Teko saß jetzt neben der Verletzten und streichelte ihr über den Arm, um ihr das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein. Aber auch, um sich selbst zu beruhigen.
„Es kommt gleich Hilfe“, flüsterte er.
Da befand er sich nun so viele Tausende Kilometer von seiner Heimat entfernt und dann schlug ihm auch hier dieser Rassenhass entgegen. Er hatte es nicht glauben wollen. Nicht, nachdem es in Südafrika endlich etwas gemäßigter zuging. Seine Eltern und die Großeltern erzählten da noch ganz andere, furchtbare Geschichten. Alle aber hatten es befürwortet, dass er sich nach Deutschland aufmachte, um sein Informatikstudium zu absolvieren. Sie hatten extra dafür gespart, um ihm diese Ausbildung zu ermöglichen. Das lag nun schon wieder ein paar Jahre zurück.
Und immer, wenn er nach Hause reiste, wollte die Familie nicht wahrhaben, was er von nicht nur gelegentlichen Ressentiments gegen Ausländer im Allgemeinen und gegen ihn im Besonderen, vor allem aufgrund seiner Hautfarbe, erzählte. Wobei er es sogar noch herunterspielte. Aber selbst harmlos formuliert hielten das alle für einen Scherz von ihm.
„Was du nur immer hast, Teko, mein Lieber“, pflegte seine Mutter zu sagen. „Vielleicht kommst du nur mit der Ordnung der Deutschen nicht klar. Die sind eben etwas anders als wir. Das weiß man doch.“
Und dann hatten stets alle im Chor gelacht. Er aber hatte das Thema gewechselt. Was sollte es auch! Er musste sie doch nicht verunsichern. Es war nicht so schlimm. Da mal ein harsches Wort, dort ein böser Blick, die Verweigerung der Mietwohnung in einer noblen Anlage ... Nur im Beruf, da kam er sehr gut zurecht. Da zählte einzig und allein seine Leistung. Schließlich hatte er als Bester seines Jahrgangs abgeschlossen. Worauf alle stolz waren, er natürlich, aber auch die Eltern und seine jetzige Frau Sandra, die er beim Studium kennengelernt hatte. Gerade war sie wieder schwanger und diesmal würde es ein Sohn werden, ein Stammhalter. Sein sehnlichster Wunsch ging damit in Erfüllung. Zwei Töchter gehörten schon zur Familie. Sie hatten die Schönheit der Mutter geerbt und einen wundervollen Teint bekommen. Ein zartes Braun, das sich die fahlen Deutschen in ihren Urlauben so herbeisehnten und erzwingen wollten, was häufig in knalligem Rot und lediglich verbrannter, blasiger Haut endete.
Seine Gedankenwelt zerriss abrupt, als der Zug in die Endstation einfuhr – unter dem mechanischen Informationsklang aus den Lautsprechern – und plötzlich ein Trupp von Sanitätern und Polizisten durch sämtliche Türen sprengte. Das verliebte Pärchen, bis eben noch in innigen Küssen aneinandergeschmiegt, erhob sich voller Angst. Eine Polizistin blieb mit einem Kollegen bei ihnen stehen. Die anderen begaben sich zu Teko und Olga.
„Sind Sie es, der uns verständigt hat?“, fragte ein Uniformierter, direkt an den Mann gewandt.
Teko nickte: „Ja, meine Name ist Teko Masenamela. Bei mir ist es eigentlich nicht so schlimm. Aber Sie müssen sich unbedingt um die Frau kümmern. Sie wollte mir helfen und ...“
„Dazu dann gleich. Erst mal schaut sich ein Sanitäter auch Sie an. Der Doktor kümmert sich ja schon um die Frau.“
Frank Richter blickte ernst und nur ganz nebenher Richtung Boden auf das andere Opfer. Wie er diese Einsätze hasste. Heute war er auch nur aushilfsweise dabei, weil die Kollegen mal wieder einen Engpasshatten. Dabei hatte er eigentlich ein paar Überstunden abbummeln wollen.
Immer mehr Gewalt in den Straßen von Berlin. Er hatte schon zu viele Täter und zu viele Opfer in seinen vielen Dienstjahren erlebt. Zum Glück schienen die beiden hier ja wenigstens überlebt zu haben. Wie oft ging das inzwischen auch tödlich aus. Kein Kampf mehr Mann gegen Mann, sondern feige Attacken. Einem Wortwechsel folgte rasch das gezückte Messer oder die Pistole. Selbst unbeteiligte Passanten wurden häufig mit einbezogen. Ob er sich doch lieber in ein Provinznest versetzen lassen sollte? Bei dem Gedanken legte sich trotz allem der Hauch eines Lächelns auf sein Gesicht. Sollte dort ja wohl auch nicht mehr alles so idyllisch sein wie früher, wie man hörte. Er räusperte sich.
Ein Sanitäter hatte sich inzwischen um Teko gekümmert und die Wunden notdürftig versorgt. Mit einem letzten prüfenden Blick meinte er: „Sie müssen auf jeden Fall mit ins Krankenhaus. Das sollte noch geröntgt werden.“
Teko nickte.
„Und wie geht es der armen Frau?“
Erst jetzt wandte Frank Richter sich ihr zu. ArzuÖzkan, eine junge, engagierte Polizistin, reichte ihm den Personalausweis, den sie aus der Sporttasche herausgefischt hatte: „Es müsste sich um Olga Rosenbaum handeln. Das Foto jedenfalls könnte stimmen, wenngleich sie übel zugerichtet ist.“
Frank Richter erstarrte: „Was, wer?!“
Arzu schob sich eine schwarze Strähne hinter das rechte Ohr.
„Olga Rosenbaum, sagte ich. Aber das ist natürlich nur eine vorläufige Annahme.“
„Um Gottes willen!“
Frank fiel auf die Knie und schaute direkt in das Gesicht von Olga. Doch, das musste sie sein. Er hatte die Frau von seinem befreundeten Kollegen Alexander lange nicht mehr gesehen. Aber der Name passte, er war ja nun auch wahrhaftig nicht alltäglich.
Ihm wurde speiübel. Nur das nicht! Seit einiger Zeitlegte sich jeder Ärger bei ihm extrem auf den Magen. Geschwüre, hatte sein Hausarzt nach mehreren strapaziösen Untersuchungen festgestellt und eine ruhigere Lebensweise verordnet. Lächerlich. Auf welchem Stern lebten diese Mediziner eigentlich. Frank strich Olga gedankenverloren über die Stirn.
„Das würde ich jetzt lieber nicht tun“, holte ihn Dr. Karl-Günter Schwedtke aus seinen Gedanken.
„Die Frau muss dringend ins Krankenhaus. Sie hat schwerste Verletzungen. Da hat jemand extrem brutal zugeschlagen, aber sicherlich nicht nur mit seiner Faust ...“
„Nein“, mischte sich Teko ein. „Der Junge hatte einen Schlagring auf der Hand.“
„Na dann!“
Arzt und Polizist antworteten unisono und schauten sich einverständig an. Das bedurfte offensichtlich keiner weiteren Kommentare.
Mit gekonnten Griffen hievten zwei Sanitäter Olga auf eine fahrbare Liege. Einer rümpfte die Nase.
„Können Sie gehen oder benötigen Sie auch Unterstützung?“, erkundigte sich der Mediziner sachlich bei Teko.
„Ich schaffe das so. Sie müssen der Frau helfen. Unbedingt, Doktor. Sie hat mir bestimmt das Leben gerettet. Und ich, ich war so hilflos, wie gelähmt ...“
„Geht schon klar. Wir tun alles, was in unseren Kräften steht.“
Dr. Karl-Günter Schwedtke fühlte sich ertappt. Ertappt bei einem Satz, der ihm immer so leicht über die Lippen ging. Was stand schon in seinen Kräften? Bei so viel roher Gewalt, da konnte mitunter auch die Medizin nichts mehr retten. Die Frau jedenfalls war schlimm zugerichtet.
Als alle wieder auf der Straße vor den Einsatzfahrzeugen standen, beschloss Frank, gleich im Krankenwagen mit dem verletzten Mann mitzufahren. Er trug jetzt dessen Aktentasche und hatte zuvor auch die Bruchstücke der Brille zusammengeklaubt und in eine Plastiktüte getan. Vielleicht konnte er bereits auf dem Weg ins Krankenhaus etwas herausbekommen.
Die Kollegen jedenfalls waren alle entsprechend instruiert. Eine Auswertung der Überwachungskameras auf den U-Bahn-Stationen würde sofort anlaufen. Wenn sie Glück hatten, dann waren die Täter zu sehen. Seit geraumer Zeit schreckten sie ja nicht einmal mehr davor zurück, dass sie öffentlich gefilmt werden könnten. Manche hielten ihre grausamen Aktionen auch mit der Handykamera fest, um sich später im Freundeskreis damit zu brüsten.
„Was ich Sie noch fragen wollte ...“
Der Doktor, mittelgroß und etwas stämmig, hielt Frank die Hand zum Abschied hin.
„Sie waren vorhin so erschüttert. Das schien mir richtig persönlich. Kennen Sie das Opfer?“
Frank überlegte einen Augenblick. Hier und unter diesen Umständen war keine Zeit für lange Erklärungen. Aber er kannte den Arzt und auch der hatte schon mit Alexander zusammengearbeitet. Also doch gleich die Wahrheit.
„Es handelt sich um Olga Rosenbaum.“
„Ja, und ... So auf Anhieb fällt mir da keine Parallele ein.“
„Alexander. Alexander Rosenbaum. Unser Hauptkommissar, der vor einigen Jahren nach Minden gegangen ist. Es ist seine Ehefrau.“
„Oh, nein. Das ist ja schrecklich.“
Der Arzt war ein wenig blass geworden.
„Genau. Irgendeiner muss ihm das nun auch mitteilen.“
„Tja, da möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken“, erwiderte Dr. Schwedtke und kratzte sich am Hinterkopf.
„Wie recht Sie haben“, sagte Frank und schob diesen Auftrag noch ein Weilchen vor sich her. Dann stieg er in den Krankenwagen zu Teko.
„Mir ist so schlecht“, sagte Teko, schluckte auffällig und blickte auf sein beflecktes und zerknittertes Jackett, das er vorher im U-Bahn-Wagen wieder, ohne nachzudenken, angezogen hatte.
„Kein Wunder“, entgegnete Frank. „Sie werden bestimmt eine Gehirnerschütterung haben. Das sind dann die normalen Symptome. Darf ich Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen?“
„Kein Problem. Wenn ich irgendwie helfen kann!“
„Fangen wir mal von vorn an. Was ist denn überhaupt passiert?“, fragte Frank.
Und dann erzählte Teko der Reihe nach, wie sich alles zugetragen hatte. Er erinnerte sich akribisch an jedes Detail. Das hing mit seinem phänomenalen Gedächtnis zusammen.
„Du bist selbst ein kleiner Computer“, pflegte seine Frau Sandra mitunter zu sagen. „Was du dir alles merkst. Da darf man ja keinen Fehler begehen.“ „Das wäre wohl besser“, meinte er daraufhin in diesem familiären Wortgeplänkel stets lächelnd.
„Ihre Beschreibungen klingen sehr detailliert und authentisch. Am besten fertigen wir danach eine Phantomzeichnung von dem Täter an“, erläuterte Frank und wiegte den Kopf hin und her. „Wenn wir allerdings auf anderem Wege fündig werden, dann gibt es vielleicht sogar Bilddokumente ...“
„Was, so etwas wird auch noch gefilmt?“, entrüstete sich Teko.
„Na ja, einerseits mitunter von den Tätern. Aus welchen Beweggründen auch immer nehmen sie ihre Schandtaten häufig auf. An solche Beweise ist allerdings immer schwer heranzukommen. Doch in diesem Fall gibt es noch die Kameras auf den U-Bahnhöfen. Möglicherweise sind Ihre Peiniger dort zu sehen.“
„Aha. Dann werde ich den Täter und die Gruppe schon erkennen, wenn ich wieder eine Brille habe. Die waren alle sehr markant.“
„Tja, Ihre Brille habe ich zwar eingesteckt, aber die ist unbrauchbar geworden“, erklärte Frank, nestelte die Plastiktüte mit dem zerbrochenen Teil hervor, betrachtete sie kurz, zuckte dann die Schultern und packte sie wieder in seine Jackentasche. „Vielleicht kann die Spurensicherung damit noch was anfangen.“
Teko lehnte sich mit leichtem Stöhnen zurück und der begleitende Sanitäter, der sich bis jetzt zurückgehalten hatte, blickte vorwurfsvoll auf den Kommissar. Er hatte hier einen Kranken und der Polizei konnte es wie immer nicht schnell genug gehen.
„Haben Sie ein Problem?“, erkundigte sich Frank etwas bissig, wohl wissend, wie der Blick gemeint war.
„Nö. Alles paletti. Nur unser Patient, der braucht doch aktuell ein wenig Ruhe, wenn ich darum bitten dürfte.“
Das klang sehr nachdrücklich.
„Keine Frage. Die Täter allerdings sind in Nullkommanix auf und davon. Wir müssen einfach rasch handeln. Ich kann ja mit meinen Fragen nicht erst anfangen, wenn es allen wieder gut geht.“
„Ich verstehe Sie schon. Aber wir müssen unseren Job ebenfalls machen.“
„Jeder von uns. Klar doch.“
Man war sich einig und der Rettungswagen hielt auch schon vor dem Krankenhaus.
„Ich komme dann später noch einmal zu Ihnen, Herr Masenamela. Ihre Aktentasche gebe ich dem Personal mit. Ich drücke Ihnen die Daumen, dass jetzt alles gut geht. Soll ich Ihre Angehörigen noch verständigen?“
„Danke“, kam es aufatmend, „das ist nicht nötig. Das würde meine Frau viel zu sehr aufregen. Sie ist gerade schwanger. Wir erwarten unser drittes Kind. Ich rufe nachher selbst an. Meinem Handy ist ja nichts passiert. Vielleicht lasse ich mir erst mal eine kleine Notlüge einfallen.“
Obwohl sich Teko dagegen wehrte, wurde er jetzt in einen Rollstuhl verfrachtet. Zu seiner eigenen Sicherheit, wie der Sanitäter meinte. Also ließ er es über sich ergehen. Vor ihm wurde Olga in den neonerleuchteten Eingangsbereich der Notaufnahme gefahren.
Dr. Schwedtke lief, ein wenig atemlos, raschen Schrittes neben ihr her.
„Schnell. Es geht bei meiner Patientin um Sekunden!“
Er tauschte sich kurz mit den Kollegen vor Ort aus und hetzte dabei schon weiter.
Frank spürte einen Kloß im Hals. Hoffentlich würde man ihr helfen können. Die beiden hatten doch auch zwei Mädchen. Und er, er musste nachher noch Alexander anrufen. Während der Fahrt im Rettungswagen hatte er schon sein Verzeichnis im Handy durchgescrollt. Aber der Umgebungslärm war für ein Gespräch zu groß und dann wollte er sich natürlich innerlich etwas vorbereiten und nicht in Gegenwart von anderen Leuten mit seinem einstigen Kollegen reden. Schließlich waren sie befreundet. Da konnte er auch nicht so einfach mit der Tür ins Haus fallen.
Arzu Özkan hatte ihm vorhin noch das Portemonnaie von Olga gereicht. Darin steckte ein kleiner Zettel in auffälliger Neonfarbe: „Im Notfall anrufen!“ Und darauf waren die Handynummern von Josef und Edwina Huber vermerkt. Das waren dann bestimmt ihre Eltern, kombinierte Frank Richter. Die wohnten doch irgendwo in Bayern, wenn er sich recht erinnerte. Nervös drehte er das Stück Papier zwischen den Fingern hin und her. Erst die Eltern oder erst Alexander?
Der hochgewachsene Kommissar stand für Momente ein wenig verloren im Eingangsbereich des Krankenhauses, um ihn herum ein Kommen und Gehen. Dann trat er nach draußen, atmete tief durch und zog sich eine Schachtel Zigaretten aus der Innentasche seiner Jacke. Er blickte hinein. Es waren nur noch vier Stück darin. Eine eiserne Reserve für den Notfall. Wird wohl mal wieder nichts mit dem Abgewöhnen, dachte er und zündete sich eine an. Der kleine Punkt am Ende glomm in der Dunkelheit, während am Straßenrand der Einsatzwagen auf ihn wartete.
Arzu saß am Lenkrad. Frank mochte es nicht, wenn Frauen ihn chauffierten. Auch das schlug ihm immer auf den Magen und er trat während solcher Fahrten insgeheim angespannt die Kupplung oder die Bremse. Je nach Bedarf. Aber eine Diskussion mit der jungen Kollegin wollte er heute keinesfalls riskieren. Der Schreck saß ihm gerade zu tief in den Gliedern. Nach drei Zügen warf er die Zigarette auf den Boden, trat sie aus und massierte sich mit der Linken die Schläfe. Dann öffnete er die Wagentür und stieg auf der Beifahrerseite ein.
„Was ist denn los mit Ihnen, Chef?“, fragte Arzu höflich. „Ist Ihnen – unabhängig von unserem Fall – eine Laus über die Leber gelaufen?“
Jetzt war ihm doch ein wenig zum Lachen zumute. Erstaunlich, wie perfekt sich Arzu integriert hatte. Als Kleinkind war sie mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Sie hatte als Erste die Sprache beherrscht und für den Vater, aber vor allem für die Mutter, gedolmetscht. Sie war zielstrebig, energisch und wusste genau, was sie wollte. Mitunter zum Leidwesen ihrer Erzeuger, die sie nicht unbedingt im Polizistenberuf gesehen hatten. Doch sie setzte ihren Dickkopf durch und schloss an ihre Berufsausbildung als kaufmännische Angestellte eine gänzlich andere Richtung an. Den Einstellungstest machte sie noch heimlich, aber als sie den mit Bravour bestand, konnte sie endlich auch ihre Mutter überzeugen, die den Vater schließlich mit weiblicher Geschicklichkeit ebenfalls auf ihre Seite brachte.
Als Auszubildende zur Polizeivollzugsbeamtin hatte Frank sie geraume Zeit unter seinen Fittichen gehabt. Die zweieinhalb Jahre waren wie im Fluge vergangen und überall glänzte Arzu: im Einsatztraining, in der Selbstverteidigung, bei der Ersten Hilfe und in der Waffenausbildung. Ihren Führerschein hatte sie ja schon zuvor erworben. Bei der Theorie, im Strafverfahrens-, Polizei-, Verwaltungs-, Verkehrsund besonders Sicherheitsrecht, half sie sogar den anderen in ihrem Ausbildungsjahrgang. Polizeidienstkunde, politische Bildung, Waffenkunde, Beamtenrecht, Englisch ... – es gab eigentlich kein Fach, das ihr nicht lag. Er war stolz auf sie. Bestimmt würde sie ihn in absehbarer Zeit überrundet haben und Karriere machen.
Und wie locker ihr deutsche Wendungen über die Lippen gingen. Wenn man die Augen schloss, hätte man nie auf ihre Herkunft deuten können. Sie schien die deutsche Sprache fast mit der Muttermilch eingesogen zu haben.
„Ach, Arzu, das ist schon eine ziemlich schlimme Angelegenheit. Du kennst doch Alexander?“
„Na klar, der nette, schicke und überaus charmante Kollege, der dann leider Berlin den Rücken gekehrt hat. Was ich ja überhaupt nicht verstehen kann. Schließlich pulsiert hier das Leben, hier geht die Post ab. Was ist denn mit ihm?“
„Also, die Frau, die wir eben verletzt aufgefunden haben, das ist seine Ehefrau. Olga Rosenbaum.“
„Nee!“
„Doch, das ist sie. Schließlich kennen wir uns. Nur als sie zunächst so auf dem Boden lag, ist mir das nicht gleich aufgefallen. Sie sah ja auch ziemlich entstellt aus.“
„Das tut mir leid“, antwortete Arzu sichtlich betroffen.
„Und mir erst. Ich weiß gar nicht, wie ich das den Angehörigen und vor allem Alex nun beibringen soll.“
„Soll ich das übernehmen, Chef?“
„Danke für das Angebot, Arzu, aber ich glaube, da muss ich durch. Das würde mir Alexander nie verzeihen, wenn ich jetzt kneife und ihm das auf Umwegen übermitteln lasse. Ich muss nur mal eben noch etwas Luft holen und mich konzentrieren.“
In der Dienststelle angekommen besorgte sich Frank zunächst einen großen Becher Kaffee. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und dachte nach. Rufe ich nun zunächst Alexander oder erst seine Schwiegereltern an? Immer noch eine äußerst schwierige Frage. Ach was, dachte er, gar nicht schwierig. Natürlich zuerst den Ehemann. Egal, was es da für Reibereien in der Partnerschaft gibt oder gab. Eben fiel ihm die Sache mit dem Vaterschaftstest ein, da war doch was mit der Kleinen, weshalb Alex daran zweifelte, der Erzeuger zu sein. Egal. Frank seufzte. Das sollte wohl unter diesen Umständen keine Rolle spielen.
Er suchte die entsprechende Nummer in seinem Telefonverzeichnis heraus und betätigte die Taste für den Anruf. Ein paar Mal ertönte das übliche Zeichen, dann kam die neutrale Damenstimme, die mitteilte, der Teilnehmer wäre zurzeit nicht zu erreichen.
„Wo steckst du, alter Junge, es ist dringend“, brummte Frank Richter vor sich hin. Er schaute auf die Uhr. Was immer Olga auch vorgehabt hatte. Irgendjemand würde sich heftige Sorgen um sie machen. Und wer kümmerte sich überhaupt in ihrer Abwesenheit um die beiden Töchter? Er gab die Nummer von Josef Huber ein.
„Bist du das Kind? Von wo rufst du denn an? Da stand jetzt ,unbekannt‘ anstelle der Rufnummer! Wir machen uns unheimliche Sorgen, deine Mutter und ich ...“
Der Redefluss von Josef Huber war nicht zu bremsen.
„Nein, hier ist nicht Ihre Tochter, sondern ...“
Frank überlegte einen kurzen Augenblick.
„... ein Freund von Alexander. Frank Richter ist mein Name.“
„Ja, und was wollen Sie mitten in der Nacht? Was spielt denn mein Schwiegersohn da für eine Rolle. Der ist doch in Minden. Und wir passen hier auf unsere Enkeltöchter auf. Olga ist zum Sport gefahren und lange überfällig. Manchmal verstehe ich ja die jungen Frauen heutzutage nicht. Wahrscheinlich nehmen die Damen irgendwo ganz gemütlich einen Absacker. Sie kann doch nicht mit ihren Sportkameradinnen noch um die Häuser ziehen und dabei die Familie vergessen.“
„Nein, das hat sie auch nicht.“
„Und was hat sie dann, Herr ...?“
„Richter, Frank Richter. Ich sagte ja, ein Freund und Kollege von Alexander.“
„Kollege? Die Sache wird ja immer suspekter!“
„Ich könnte auch gern bei Ihnen vorbeikommen ...“, schlug Frank spontan vor.
„Aber sonst geht es Ihnen noch gut? Was fällt Ihnen denn ein! Ich will jetzt sofort wissen, was mit meinem Kind ist!“, fuhr Josef ihn an.
„Ihre Tochter liegt im Krankenhaus“, entschied sich Frank nun für einen Teil der Wahrheit.
„Um Himmels willen! Was ist denn passiert?“
„Sie hatte ...“
Nein, das konnte er doch nicht am Telefon sagen. Frank nahm sich zurück.
„Ähm, es gab einen Vorfall in der U-Bahn. Da war sie offensichtlich auf dem Heimweg von ihrer Sportgruppe. Sie ist verletzt und befindet sich momentan in ärztlicher Behandlung.“
Am anderen Ende herrschte Funkstille. Dann hatte sich Josef Huber offensichtlich gefasst.
„Sagen Sie mir bitte, wo meine Tochter genau liegt. Wir machen uns sofort auf den Weg zu ihr ...“
Es herrschte eine kurze Pause, in der Josef Huber offensichtlich nachdachte.
„Beziehungsweise einer von uns beiden. Wir können die Mädchen ja nicht unbeaufsichtigt lassen!“
Frank gab die Details der Adresse durch und versicherte, dass er Alexander umgehend informieren würde, dann beendete er das Gespräch. Er versuchte es erneut auf dem Handy von Alexander. Nichts. Der Gesprächsteilnehmer war „not available“.
Ricardo Kuhlmann fuhr langsam die Schlandorfstraße in Hille entlang, um dann in den Geestmoordamm abzubiegen. Kurz nachdem er den Mittellandkanal überquert hatte, entdeckte er schon Sonjas Auto. Perfektes Timing, dachte Ricardo und ließ sein Fahrzeug ausrollen. Er parkte in Sichtweite, aber doch nicht in unmittelbarer Nähe. Sie wählten bei jedem Treffen eine andere Variante, damit niemandem etwas auffiel. Wobei sie für Spaziergänger eben befreundete Jogger waren, die sich hier im Großen Torfmoor gelegentlich trafen, um gemeinsam ihrem Sport zu frönen. Eigentlich die normalste Sache von der Welt. Wer wollte sich dabei wohl etwas anderes denken?
Er blickte auf seine Armbanduhr. Dann stieg er aus dem Wagen und wärmte sich mit ein paar Dehnübungen kurz auf, ehe er losrannte. Er wollte pünktlich auf die Minute am Aussichtsturm ankommen.