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ENDGÜLTIG: REDAKTIONSSCHLUSS! Als die Assistentin Maud den Poststapel sichtet, explodiert eine Paketsendung. Sie kommt mit dem Schrecken und leichten Verletzungen davon. Steckt ein Stalker dahinter, ihr Ex? Oder hat jemand etwas gegen ihr ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge innerhalb der traditionsreichen Mindener Kirchengemeinde von St. Marien, die gerade für den Erhalt ihres Turmes sammelt? Noch während die Polizei die Ermittlungen aufnimmt, häufen sich die Ereignisse bei der "Weser-Gazette". War die explosive Sendung der Auftakt einer Reihe von Attentaten? Ein Brand im Papierlager der Druckerei scheint noch relativ harmlos, doch es taucht ein Bekennerschreiben auf. Es mutet nach einem terroristischen Anschlag an, vom Klüngel aus Wirtschaftsmagnaten, Politikern und Journalisten geht die Rede. Redakteure verunglücken unter mysteriösen Umständen tödlich. Die Chefredakteurin wird entführt. Ihre Erpresser fordern den Erhalt des Konkurrenzblattes "Minden-Journal", dessen Ende aufgrund sinkender Abonnentenzahlen schon beschlossene Sache ist. Nur eine Tageszeitung soll erhalten bleiben, haben die Verantwortlichen – bestehend auch aus Gewerkschaftsvertretern – vereinbart. Spuren über Spuren. Doch erste Verdächtige haben Alibis, muss der ermittelnde Hauptkommissar Alexander Rosenbaum feststellen. Wie steht es aber um den international agierenden Großinvestor und Medienmogul, der Zeitungen in seinem Besitz sammelt? Wer geht hier über Leichen?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
„Wo keine bösen Zungen wären,da wäre kein Schwert nötig.“(Martin Luther)
Die Romanreihe spielt direkt am Treffpunkt von Weser- und Wiehengebirge im Nordrhein-Westfälischen. Malerisch liegt das mittelgroße Städtchen an der Weser, die beide Erhebungen teilt oder vereint. Je nachdem, aus welcher Perspektive man das betrachtet. Alle Handlungen und Charaktere sind natürlich frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten oder scheinbare Übereinstimmungen ergeben sich also rein zufällig und sind auch für die Autorin eine echte Überraschung. Regionale Wiedererkennungseffekte sind indes erwünscht …Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.deBibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2020 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8386-6
Andrea GereckeZeilenfall
Über die AutorinGebürtige Berlinerin mit stetem Koffer in der Stadt. Studierte Diplom-Journalistin und Fachreferentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Kurz vor dem Jahrtausendwechsel Entdeckung der Liebe zum Landleben mit den dortigen kreativen Möglichkeiten. Umzug ins vorletzte Haus an einer Dorfstraße in NRW (Ostwestfalen). Arbeit als freie Autorin und überregionale Journalistin. Literarische Spezialität sind mörderische Geschichten, in denen ganz alltägliche Situationen kippen. Nach den Gutenachtgeschichten für Erwachsene „Gelegentlich tödlich“ folgten „Warum nicht Mord?!“ und „Ruhe unsanft“. Ab 2011 die Minden-Krimis innerhalb der Weserbergland- bzw. Niemeyer-Krimi-Reihe mit Kommissar Alexander Rosenbaum:- 2011 „Mörderischer Feldzug“- 2012 „Der Tote im Mittellandkanal“- 2013 „Die Mühlen des Todes“- 2014 „Tödliche Begegnung im Moor“- 2015 „Finales Foul“ - 2016 „Kein letzter Akt“- 2017 „Die Weserleiche“- 2018 „Freischießen“- 2019 „Endstation Minden“Dazu gesellen sich humoristische und satirische Texte, Prosa und Lyrik sowie im Jahr 2015 „Weihnachtsgeschichten aus dem Weserbergland“, 2017 „Weserbergland. Um fünf am Weserstein!“, 2019 „Starke Frauen aus Westfalen“ und 2020 „Unheimlich weihnachtlich – böse Geschichten aus Westfalen“. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften. Mitglied der Mörderischen Schwestern … Literaturnetzwerkerin und -organisatorin. Siehe auch: www.autorin-andrea-gerecke.de
Der Wind trieb ein paar zusammengeknüllte Papiertüten und to go-Becher vom Imbiss vor sich her. An einer Hausecke blieben sie zeitweilig hängen, tanzten einen Kreis, aber kurz darauf trudelten sie weiter ihres Wegs. Ein schwacher Regen nässte jetzt das Pflaster durchdringend. Seine feinen Tropfen hatten auch die Jacke der hageren, hochgewachsenen Gestalt gezeichnet, die ihr Fahrrad von der Vinckestraße kommend über den Großen Domhof schob. Auf dem Gepäckträger befand sich ein Paket, eingehüllt in eine schwarzgraue Plastiktüte. Das Gekreisch einer einzigen Möwe drang aus Richtung Weser an das Ohr des Mannes.
Ich ertrage diese piefige Enge nicht mehr, dachte er und nestelte am Verschluss der Kapuze, die er tief über die Stirn gezogen hatte. Und: Es musste ja alles so kommen! Er glaubte zu spüren, wie die Häuser ringsum auf ihn zudrängten, ihn schier erdrücken wollten, ihm die Luft zum Atmen nahmen. Allen voran der mächtige Dom. Die Bürgersteige hatte man längst hochgeklappt, lachte der Mann bitter auf, der die gesamte Zeit über sein Umfeld im Auge hatte. Niemand begegnete ihm.
Er bewegte sich schneller voran, um sein Ziel zu erreichen. An den Briefkästen neben den Treppen, die zum Hauptpostamt führten, blieb er stehen und lehnte sein Fahrrad, ein älterer Jahrgang so wie er, an die Hauswand. Dann griff er zu dem Paket und zog es behutsam aus der wasserdichten Verpackung. Kein Zögern, kein letzter Blick auf die Anschrift. Nur die pure Entschlossenheit.
Es kostete ihn ein wenig Mühe, die Sendung durch den Schlitz zu schieben, sie passte gerade so mit einigem Drücken hindurch und fiel dann mit einem Plumpsen geräuschvoll auf den Boden. Das Innere des dicken Briefes war mit Luftpolsterfolie umgeben, und der Inhalt würde nicht auf Anhieb zu ertasten sein, machte sich ein Gedanke im Kopf des Mannes breit. Vom Ärmelbündchen seiner Jacke löste sich beim Zurückziehen der Hand ein Lederknopf und verklemmte sich seitlich im Inneren des gelben Kastens. Er bemerkte es nicht.
Dann schnappte sich der Mann wieder sein Fahrrad, schwang sich jetzt darauf und trat kraftvoll in die Pedalen. Sein Weg führte ihn zur Bäckerstraße. Rechts und links Geschäfte, da und dort Leerstand oder die Ankündigung davon. „Wegen Räumung … alles billiger … Hier entsteht demnächst …“ So manchen Laden hatte der Mann kommen und gehen sehen, seit er berufsbedingt aus Wilhelmshaven zugezogen war und mit seiner Frau in Minden wohnte.
Die Obermarktpassagen hatten beide sehr gemocht und waren gern hindurchgebummelt. Die kurze Verbindung vom Busbahnhof zu besagtem Obermarkt mit den kleinen oder auch größeren netten Läden und ein paar Arztpraxen. Die Abkürzung war schon seit Jahren nicht mehr möglich, und selbst der Supermarkt im Untergeschoss und die Tiefgarage hatten sich inzwischen verabschiedet.
Irgendwann war er einmal mit seiner Frau zu einer Veranstaltung in der Stadthalle eingeladen. So hieß sie doch, wenn er sich richtig entsann. Alles etwas plüschig und nicht ganz so modern, aber längst kein Grund, um die Lichter für immer auszuschalten. Fraglich, was nun dort entstehen würde. Erst alles plattmachen, ohne Sinn und Verstand, und dann irgendwie mal überlegen, wie es weitergehen könnte. Im Hintergrund nebulöse Finanzinvestoren, die einzig und allein Geld im Sinn hatten, was man ihnen nicht einmal verübeln konnte. Ihr Herz hing nicht an fremden Städten oder Objekten. Der Mann schüttelte den Kopf, die dürftigen, nun feuchten Haarsträhnen, die aus der Kapuze hervorlugten, blieben unordentlich daran kleben.
Oft war er mit seiner Frau durch die Bäckerstraße geschlendert, sie hatten einen Eisbecher geleert, einen Espresso getrunken und geplaudert. Über Gott und die Welt. Mit keinem Menschen konnte man so gut reden wie mit ihr. Seiner großen Liebe schon aus Kindheitstagen, ihre Familien waren benachbart. Selbst schweigen konnte man einhellig mit ihr.
Und jetzt war sie tot. Im Grunde war es eine Lappalie gewesen, wegen der sie ins Krankenhaus musste. Die Schmerzen im rechten Arm waren unerträglich geworden. Nur ein routinemäßiger Eingriff, hatte der Chefarzt lächelnd betont, als sie sich verwunderten, dass man doch auf den Papieren unterschreiben musste, es könne auch tödlich enden. Solche Formulierungen wären eben üblich und überhaupt kein Grund zur Sorge. Also setzte sie ihre Unterschrift darunter. Doch nach der OP verfiel sie in rasantem Tempo. Das Stichwort Krankenhauskeime lag in der Luft, aber niemand wollte es aussprechen.
Als sie ihr Leben aushauchte, hatte er völlig verstört an ihrem Bett gesessen und ihr die Hand gehalten. Aber da war sie schon seit Tagen nicht mehr ansprechbar gewesen, und ihre Haut hatte zunehmend eine blauschwarze Färbung angenommen. Er wurde diesen fürchterlichen Anblick nicht mehr los. Auch den Geruch nach Sterilität meinte er immer noch in der Nase zu haben.
Der Mann bog von der Bäckerstraße in die Hufschmiede ab und beschleunigte trotz der Steigung unterhalb der Marienkirche, vorüber an den Weinstöcken mit ihren sorgsam gebundenen Reben, sein Tempo. Fast schien es, als hätte er einen drängenden Termin, zu dem er nicht zu spät kommen durfte. Erst als er auf der Hahler Straße die Ringstraße kreuzte, verlangsamte er seine Geschwindigkeit. Warum die Eile, zu Hause erwartete ihn doch nichts und niemand mehr?!
„Papa, das war einfach grandios“, schwärmte Lena überschwänglich und strahlte. „Ich war die Chefin der Presseabteilung, nachdem die anderen mich dazu einstimmig gewählt hatten, und alle mussten nach meiner Pfeife tanzen. Wie wunderbar. Schade, dass das schon am Nachmittag vorüber war …“
Alexander grinste in sich hinein. Papa also und nicht Dad. Schon mal sehr schön, die gute alte Formulierung. Und dann hatte sein Kind sich bei einer Schulaktion pudelwohl gefühlt. Da wollte er wohl mehr wissen, schaute außerordentlich freundlich drein und ließ sie fortfahren.
„… So könnte ich mir mein Berufsleben gut vorstellen! Muss ein toller Job sein. Wir haben Pressemitteilungen über das Unternehmen und unser neues Produkt erstellt, das extra auf Wunsch eines Kunden angefertigt wurde. Ein Imagevideo haben wir gemacht, ganz viele Fotos geschossen. Und ich habe sogar den Bürgermeister interviewt! Der war ganz locker im Gespräch, richtig nett.“
„Was du nicht sagst?“, fuhr Alex jetzt doch dazwischen. „Den Bürgermeister, wirklich?!“
„Tatsache, Paps. Ich flunkere nicht die Spur!“
Treuherzig sah ihm seine Große in die Augen.
„Also, Lenchen, dann erzähle doch am besten von vorn. Ich glaube, ich habe gerade Orientierungsschwierigkeiten“, setzte der Vater an.
„Tja, wo soll ich denn da beginnen?“
Lena zog die Stirn kraus. Erwachsene, schrecklich – ob die alle Alzheimer hatten, so wie der Opa inzwischen offensichtlich auch, dachte sie, verkniff sich aber eine despektierliche Bemerkung.
„Wir waren doch neulich gefragt worden, ob wir bei so einer Ganztagsaktion in Minden mitmachen wollten. Ich hatte davon erzählt, und du hast sogar begeistert getan! Das weiß ich noch ganz genau.“
Alexander suchte in seinen Erinnerungsschubladen. Dann fiel es ihm schlagartig ein.
„Stimmt. Und der besagte Termin war ja gestern. Da hättest du doch aber …“
„… dir gestern schon was berichten können?! Wann denn? Du bist doch erst irgendwann in der Nacht von deinem Einsatz zurückgekommen. Wenn ich das korrekt auf dem Schirm habe, habe ich da längst geschlafen. Und heute früh war alles viel zu hektisch, wie immer. Aber jetzt muss ich dir das erzählen, wo gerade keiner von den anderen stört. Wenn die so was für Tina anbieten, dann musst du sie unbedingt hinschicken.“
„Hm.“
Alexander schaute eher fragend.
Er hatte sich ausnahmsweise früher vom Dienst verabschiedet, weil gerade nichts brannte. Aber eigentlich wollte er sich um die Unterlagen für seine nächste Steuererklärung kümmern, zumindest schon einmal um die groben Vorarbeiten. Im Schuhkarton konnte er die Papiere ja nicht weiterreichen, das entsprach nicht der akribischen Art, die man von ihm gewöhnt war …
Und jetzt saß er hier mit seiner Großen am Küchentisch. Sie mit einem heißen Kakao, er mit einem vollen Pott Kaffee. Was soll’s, dachte Alex, die Steuer rennt mir nicht weg, aber ein Gespräch mit meinem Kind sollte schon hin und wieder drin sein. Er lächelte ziemlich breit.
„Nun gut“, fuhr Lena fort. „Eine ganze Woche lang haben die Organisatoren dieser MILEFA-Aktion im Bildungszentrum am Königswall eine fiktive Firma auf die Beine gestellt.“
„Und MILEFA heißt was?“, wollte Alex wissen.
„Na, Mindener Lernfirma, ganz klar, aber das wäre ja in der Langform zu spröde. Wir waren also am gestrigen Donnerstag dran, und insgesamt haben wohl 600 Schüler in dieser Woche teilgenommen. Vorab konnten wir uns aussuchen, in welchem Bereich wir eingesetzt werden wollen.“
„Ich tippe mal auf Geschäftsführung!“
„Woher weißt du das, Dad?“
Lena riss die Augen auf.
„Muss wohl mit meiner beruflich bedingten Kombinationsfähigkeit zusammenhängen“, gab Alex treuherzig zu.
„Aber ich war natürlich nicht die Einzige, die das als Favoriten angekreuzt hatte. Konnten ja nicht alle obersten Chef spielen. Dafür muss man auch die entsprechende Gabe haben, so viel steht fest. Fürs Chefdasein muss man schon geboren sein. Presseabteilung war mein zweites Kreuzchen, und da bin ich immerhin die Bossin von meinem Team geworden.“
„Und wie lief das dann ab?“
„Zunächst mit der Wahl zum Abteilungsleiter, also meine Wahl“, strahlte Lena. „Einstimmig übrigens! Und dann gab es allgemeine Erklärungen, was so eine Presse- und Marketingabteilung alles macht. Von einem Volontär der Tageszeitung, der für zwei Stunden mal vorbeischaute. Der hat auch was zu seiner Arbeit als Redakteur erzählt. Echt spannend. Könnte mir beides gefallen – PR-Abteilung und Zeitung. Dann wurde es praktisch. Ich habe meine Leute in die einzelnen Abteilungen rausgeschickt, und die haben dann besprochen, wer was recherchiert. Wir brauchten ja hieb- und stichfeste Infos für unsere Texte. Zwei haben sich von der IT-Abteilung eine Kamera besorgt und dann gefilmt. Am Ende des Tages stand eine Präsentation für alle Teilnehmer, wo jeder Bereich vorgestellt hat, was er so getan hat. Wirklich faszinierend, wie so ein Unternehmen läuft. War ja eher Spaß, wirkte aber richtig echt. Bei einem Zukunftstag oder so bekommt man das alles gar nicht mit …“
Lena hatte ohne Punkt und Komma hintereinander weg geredet. Das musste echte Begeisterung sein, sie strahlte sie definitiv aus. Alex nickte anerkennend.
„Das glaube ich dir, Liebes. Gab es denn bei euch auch eine Kantine?“
„Klaro. Ist genauso wichtig wie alle anderen Abteilungen. Von meiner Klasse waren Jonas und Anastasia dabei. Wusste gar nicht, dass die so was können. Die belegten Brötchen sahen super lecker aus, richtig schön dekoriert mit Gürkchen und Minitomaten. Und geschmeckt hat es außerdem. Wobei man da auch richtig kalkulieren muss, damit es sich rechnet, wie Jonas erzählt hat. Das wäre dann schon wieder nicht so sehr mein Ding …“
Es schloss an der Tür, und Tina betrat das Haus, winkte noch dem davonfahrenden Auto hinterher, knallte die Tür zu, seufzte auf und warf ihre Schultasche in eine Ecke.
„Mann, bin ich fertig“, erklang es aus dem Flur.
Tina lief in die Küche und setzte sich an den Tisch zu Alex und Lena.
„Während ich mich abrackere, lasst ihr es euch hier gut gehen. Kakao und Kaffee. Nicht schlecht. Da mache ich mir mal auch eine Tasse.“
Tina erhob sich wieder, mit einem betonten Ächzen, befüllte den Wasserkocher, stellte ihn an und ging zum Küchenschrank.
„Ein paar Kekse gefällig?“
„Ich muss auf meine Figur achten“, warf Lena ein. „Was du eigentlich auch tun solltest.“
„Blödsinn. Ich habe gerade mein Idealgewicht! Weniger wäre einfach nur schädlich, dann pikst man sich ja an den hervorstehenden Knochen. Außerdem ist das Nervennahrung, die braucht der Mensch gelegentlich“, entgegnete Tina stoisch und schob sich schon einen ersten Schokokeks betont langsam in den Mund.
„Ach, ich würde doch ganz gern ein paar nehmen. Die Sorte ist echt lecker“, lenkte Alex ein, um keinen Streit unter den Schwestern aufkeimen zu lassen. „Heike muss ja auch bald nach Hause kommen.“
Tina goss das heiße Wasser in ihre Lieblingstasse mit der pinkfarbenen Fee, die sie zuvor mit dem Kakaopulver befüllt hatte. Dann rührte sie noch an der Spüle stehend um und strahlte dabei.
„Wie schön, dass wir wieder eine richtige Familie sind. Ich denke immer noch an unsere tolle Feier zurück. So was sollte man öfter im Leben tun. Ein Mal zu Beginn, wenn man noch nicht so steinalt ist. Dann, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind und später, ehe man sich zur Ruhe setzt.“
„Aller guten Dinge sind drei“, antwortete Lena gelassen und nickte. Alle tranken etwas und griffen zu dem Gebäck, selbst die Große.
„Da hat doch heute Anastasia in der Pause von einer Hochzeitsfeier in ihrer Familie berichtet. Die waren fast 400 Gäste! Irre. Allein die vielen Geschenke, mit denen man da rechnen kann“, kalkulierte Lena weiter.
„Kein Wunder, das sind doch Russlanddeutsche, die haben eben größere Familien als wir. Außerdem musst du als Gastgeber so eine Feierlichkeit finanzieren! Aber unsere 80 Leute bei der Party waren doch auch toll“, sagte Tina zufrieden. „Und wie perfekt wir das alles gemeinsam organisiert haben.“
„Traumhaft, ihr beiden, mein kleines Dream-Team, wenn ich mal was dazu sagen darf“, meinte Alex. „Und was die vorgeschlagenen drei Hochzeiten im Leben angeht, so sollte man auch nicht übertreiben. Eigentlich reichen eine tolle Feier und der wahre Bund fürs Leben aus.“
„Hat ja bei dir schon mal nicht geklappt“, warf Tina trocken ein, pustete gedankenverloren auf ihr Getränk und nahm einen weiteren Schluck.
Alex spürte ein Würgen im Hals. Wie sollte er darauf diplomatisch antworten?
„Für Mamas Tod konnte Dad ja nun wahrhaftig nichts“, nahm ihm seine Große eine Antwort ab. Sie blickte vorwurfsvoll auf ihre Schwester. „Die zweite Hochzeit jetzt war doch eher eine praktische Angelegenheit, weil ein Mann auf Dauer nicht allein bleiben kann, vor allem nicht, wenn er Kinder am Hals hat. Und steuerlich hat das bestimmt auch Vorteile, habe ich gehört.“
Jetzt hätte Alex fast gelacht.
„Seid ihr denn mit der zweiten Lösung namens Heike zufrieden?“
„Was für eine Frage, Papa“, sagte nun Tina und stützte einen Arm auf ihrem Oberschenkel ab, exakt zwischen zwei wie zufällig eingefügten Querschlitzen ihrer Hose. Alexanders Blicke waren gefolgt, und seine Gedanken tourten kurz durch die Welt der Mode. Kaputte Jeans, damit hätte er mal in dem Alter nach Hause kommen sollen. Ein kleines Donnerwetter hätte es gegeben, und Hella hätte sich stehenden Fußes an die Nähmaschine gesetzt, um das Desaster aus der Welt zu schaffen. Meist mit einem großen, ziemlich hässlichen Flicken obendrauf.
„Die beste Entscheidung deines Lebens …“, hatte Tina noch nachgesetzt.
Es schloss erneut an der Haustür, und jetzt kam Heike dazu. Sie stellte ihre Handtasche an der Garderobe ab, wechselte die Schuhe und gesellte sich zu der Runde in der Küche.
„Na, meine Lieben! Habe ich hier was verpasst?“, wollte sie wissen und stand schon neben Alexander, der sie fest umschlang.
„Setz dich mal zu uns, du beste Entscheidung meines Lebens“, sagte er mit einem Funkeln in den Augen, zog sie auf den Stuhl und gab ihr einen Kuss.
„Was bin ich?“, erstaunte sich Heike und lief rot an. Aber Alex und die Kinder sahen sich nur verschwörerisch an.
Maud drehte die letzte Sendung in den Händen, alles andere hatte sie schon ausgepackt, mit einem Eingangsstempel versehen und sortiert. Eigentlich hätte es fast als Päckchen frankiert werden müssen, dachte sie. Aber da wollte wohl einer wieder Porto sparen. Die Frau stand ohne weiter nachzudenken auf und öffnete hinter sich eine Schranktür. Auf der untersten Etage standen eine Waage und ein Maß für die Postformate.
Was tust du hier eigentlich?, fuhr ihr eine Frage durch den Kopf, als sie das Gewicht registrierte. Knapp unter tausend Gramm und auch vom Umfang her exakt noch als Brief machbar, registrierte sie. Die Handschrift kam ihr fast bekannt vor, aber der Absender war nur sehr unleserlich geschrieben. Ob doch wieder …?
Sie schüttelte den Kopf, während sie erneut auf ihrem Stuhl Platz nahm, griff sich das scharfe Messer und trennte das braune Klebeband vorsichtig in der Mitte, wo es die Seitenteile der Pappe zusammenhielt. Man konnte ja nie wissen, was sich in so einer Sendung befand. Möglicherweise etwas Empfindliches. Manchmal schickten auch Unternehmen nette Kleinigkeiten an die Redaktion. Bestechung gewissermaßen, grinste Maud jetzt, aber das gab sowieso niemand zu. Bei ihr blieb in der Regel kaum etwas hängen, höchstens mal ein Schokostückchen aus einer Pralinenkiste. Meist eine Sorte, die sonst keiner mochte … Beim Schneiden quoll ein wenig Noppenfolie aus dem Inneren der Verpackung.
Als das Telefon klingelte, schob Maud ihren Drehstuhl ein Stück weiter nach links, legte ihre Brille kurz ab und griff zum Hörer. Sie stellte sich vor, öffnete aber zugleich mit der ausgestreckten Rechten das Päckchen. Im selben Augenblick knallte es heftig. Funken stoben durch die Gegend und anschließende Rauchwölkchen drangen aus der Verpackung, deren Fetzen beim Aufplatzen in alle Richtungen schossen.
Vor Schreck und mit einem Aufschrei war die Redaktionsassistentin von ihrem Sitz gerutscht, kauerte nun auf dem Boden und drückte sich die Hand ans Gesicht, das aschfahl geworden war. Blut sickerte zwischen ihren Fingern hervor. Sie schluchzte.
Der Knall hatte Kollegen aus anderen Abteilungen aufgeschreckt, die sofort zu ihr geeilt waren. Der Sportredakteur Ansgar steckte sein Handy in die Hosentasche und kniete sich neben Maud hin. Er strich ihr beruhigend über den Oberarm und redete auf sie ein.
„Es wird alles gut. Wir sind bei dir. Bleib ganz ruhig, tief ein- und ausatmen. Gleich kommt ein Arzt, den habe ich soeben verständigt.“
Bei seinem Handballverein war er häufig als Sanitäter im Einsatz, wenn sie zu Spielen unterwegs waren. Er kannte sich mit dem Prozedere aus.
Maud nickte nur und zitterte am ganzen Leib. Ihre beigefarbene Bluse war über und über mit kleinen Brandspuren versehen.
„Hat nicht jemand mal eine Decke?“, forderte Ansgar energisch.
Zwei der Redakteure begaben sich auf die Suche danach. Einer kehrte umgehend wieder zurück und hatte ein schönes Patchworkteil über dem Arm, das er im Zimmer der Chefin vom Sofa geholt hatte: Ton in Ton von unterschiedlichstem Blau, mit winzigen Blüten, kleinsten Karos, getupften Punkten, Vögelchen und Schiffchen, Leuchttürmen und Muscheln, Steuerrädern und Seepferdchen.
Ansgar musterte die Decke keines Blickes, zog sie nur mit einem kräftigen Griff an sich und hüllte Maud behutsam damit ein. Sie befand sich immer noch auf dem Fußboden. Inzwischen allerdings sitzend und mit schreckgeweiteten Augen.
„Was ist denn bloß passiert?“, wollte Ansgar wissen.
Maud wies auf die Reste des explodierten Päckchens und hauchte: „Ich wollte es nur öffnen … und dabei hatte ich gleich so ein ungutes Gefühl … Oh Gott, wenn ich nicht in dem Moment zum Telefon gegriffen hätte … Ob der Anrufer noch dran ist … Ich muss doch …“
Der Sportredakteur zog die Stirn kraus. Immer gewissenhaft, seine Kollegin, selbst in so einer Situation! Einerseits bewundernswert, andererseits auch ziemlich blöd. Das dankte einem sowieso niemand.
„Hat einer von euch die Polizei verständigt? Das ist doch offensichtlich kein Silvesterknaller, den Maud hier mal eben gezündet hat. Nichts mit Jux und Dallerei“, schaute er in die Runde der Neugierigen. Allgemeines Kopfschütteln war die Antwort.
„Mann, muss man immer alles allein machen?“, brauste Ansgar auf, zog sein Handy erneut und wählte die Nummer. Die anderen beobachteten lediglich.
„Hier ,Weser-Gazette‘, mein Name ist Ansgar Schreiner“, stellte er sich vor und schilderte die Lage. Dann antwortete er auf einige Zwischenfragen.
„Natürlich lassen wir alles so, wie es ist. Nur um unsere Kollegin müssen wir uns kümmern, die hat etwas abbekommen … Aber der Notarzt ist schon informiert, ich hatte zunächst gedacht, es sei nur ein Unfall und der Mediziner würde ausreichen … wenn ich das richtig höre, trifft er gerade ein. Bis gleich also.“
Er beendete das Telefonat, und das Sirenensignal des Krankenwagens war auch nicht mehr zu vernehmen. Die Kollegen standen immer noch im Kreis, mit verschränkten Armen und inzwischen überaus aufgeregt in Gespräche vertieft. Sie übertrumpften sich in gehaltvollen Kommentaren. Ansgar schüttelte den Kopf. Zu nichts zu gebrauchen, diese Bagage, dachte er. Nur dumm rumquatschen können die, allesamt …
„Ist denn die Chefin nicht da?“, erkundigte er sich bei den anderen.
„Nein, gerade beim Verleger zu einem Gespräch“, kam das Echo von einem Volontär, der außerordentlich besorgt dreinschaute.
„Dann sollten mal gleich beide über diese Sache hier informiert werden. Wer übernimmt das? Du, Maik? Wo wenigstens du weißt, was hier abgeht …“
Den letzten Satz hatte Ansgar nur für sich gesprochen und dabei den Kopf immer wieder geschüttelt.
Maik nickte und griff sich das nächstgelegene Telefon, nachdem Maud auf eine Nummer in der Liste gewiesen hatte, die ihr Ansgar reichte. Kurz und äußerst präzise erläuterte Maik die Situation, während Ansgar seinen Worten lauschte. Na, immerhin das funktionierte. Gut gemacht, Junge. Wozu doch so ein vorheriges Studium der Sozialwissenschaften, wenn er sich recht entsann, alles gut war. Soziales Denken und das dann auch noch in geordneten Bahnen!
Eilige Schritte waren zu vernehmen, und die Rettungskräfte trafen jetzt ein.
„Rehner “, stellte sich der Arzt vor, während er das Umfeld musterte. „Wer hat uns informiert und kann uns die Lage kurz zusammenfassend erklären? Sieht ja hier ganz schön abenteuerlich aus.“
Ansgar hob automatisch die Hand.
„Ich. Gestatten: Ansgar Schreiner. Bin hier für den Sport zuständig.“
Die Ergänzung mit der Zuständigkeit rutschte ihm raus, ehe er fortfuhr.
„Es gab einen heftigen Knall, dazu hat Maud hier aufgeschrien, und ich war sofort an ihrer Seite, habe zeitnah bei Ihnen angerufen. Muss wohl was mit dem Päckchen dort zu tun haben, vermute ich jetzt mal“, zeigte Ansgar auf die Reste des Verpackungsmaterials, das Brandspuren aufwies. Außerdem roch es angekokelt im Raum.
„Ich glaube auch“, mischte sich Maud leise ein, ihre Stimme bebte ein wenig.
„Als ich die letzte Sendung öffnen wollte, flog sie mir um die Ohren. Das ging alles so furchtbar schnell. Und meine Bluse ist jetzt auch hin“, stellte sie nach einem Blick auf ihr Oberteil fest.
Dr. Gerwin Rehner nickte dazu.
„Dann will ich mir mal den Schaden besehen. Könnten Sie, Herr Schreiner, jetzt sofort dafür sorgen, dass alle aus diesem Bereich verschwinden? Allerdings sollten Sie und Ihre Kollegen sich für Befragungen durch die Polizei bereithalten… Tut Ihnen etwas weh?“, wandte er sich wieder direkt an die Patientin.
Maud hob unschlüssig die Schultern.
Ansgar hatte sich schon erhoben und schob die neugierige Truppe mit weit ausgebreiteten Armen aus dem Raum.
Der Arzt zückte währenddessen eine Taschenlampe, leuchtete der jungen Frau in die Augen und bat sie, mit den Pupillen der angegebenen Richtung zu folgen. Dabei musterte er gründlich die Spuren in ihrem Gesicht. Ein paar kleinere Kratzer nur, wenig Blut.
„Ich glaube, meine Hand ist verletzt“, flüsterte Maud. „Und übel ist mir auch …“
Sie schluckte schwer.
Der Notarzt nahm ihre Hand in die seine. Blut tropfte auf den Boden und auf die Patchworkdecke, exakt in die Position einiger Schiffsmotive. Dr. Rehner schaute sich die Verletzung genau an. Es schien sich nur um eine oberflächliche Fleischwunde zu handeln. Er gab dem Sanitäter an seiner Seite ein paar Anweisungen, der reinigte die nötigen Stellen und legte dann einen Verband an.
„Ich gebe Ihnen mal was zur Beruhigung und damit die Schmerzen gelindert werden“, schlug Dr. Rehner vor, wartete keine Antwort ab, sondern hatte schon eine Spritze vorbereitet.
Maud ließ alles kommentarlos mit sich geschehen. Sie blickte auch nicht auf, als Heike mit ihrer großen Tasche den Raum betrat.
„Hallo, Gerwin“, sagte sie. „Bist du der Erste?“
„Wie man sieht, liebe Frau Rosenbaum!“
Heike errötete und dachte an ihre zeitweiligen Ambitionen in Sachen Dr. Gerwin Rehner. Aber das war schon ein ganzes Weilchen her, und er hatte – zum Glück, wie sie im Nachhinein befand – damals nur Gedanken an seine Arbeit verschwendet. Wobei man natürlich nie wusste, was die Weggabelungen im Leben wirklich brachten. Vielleicht wäre ja auch eine Entscheidung für ihn optimal gewesen … Ein kaum hörbarer Seufzer entrang sich ihr, ehe sie wieder sachlich konterte.
„Nein, Gerwin, wir haben doch beide unsere Namen behalten.“
Und ein Doppelname von Langenkämpfer-Rosenbaum oder in umgekehrter Reihenfolge wäre ohnehin nicht infrage gekommen, wenngleich er einen Superklang gehabt hätte. Der hätte ja in kein Formular gepasst, nirgendwo hätten die Kästchen zum Ausfüllen ausgereicht. Die Gedankengänge in Heike verhedderten sich.
„Aber gratulieren kann ich dir an dieser Stelle doch noch?“, wollte Gerwin wissen. „Wir sind uns ja seitdem nicht wieder begegnet.“
„Finde ich jetzt, ehrlich gesagt, etwas unpassend. Aber wenn du meinst … Danke.“
Das klang fast ein wenig schnippisch. Gar nicht die Art von Heike, die sich über ihre Äußerung ärgerte.
Ansgar zog die Augenbrauen hoch. Er stand jetzt an der Tür, als Wachposten quasi, damit keiner der Kollegen mehr seine Neugierde befriedigen konnte. Was sollte denn diese mehr oder weniger private Unterhaltung? Er wollte sich schon einmischen, da erschienen Bernd Langer und Dagmar Scholz. Endlich die richtige Polizei, dachte Ansgar beim Anblick der Uniform, die Bernd trug.
„Schön, dass du schon da bist, Heike“, grüßte Dagmar, nachdem sie sich dem Redakteur vorgestellt hatte. „Wir übernehmen jetzt das Übliche“, warf sie noch in die Runde und wandte sich Ansgar zu.
„Sie haben das Nötige veranlasst und uns verständigt?“, wollte sie von Ansgar wissen. Der nickte.
„Eigentlich habe ich nur die 112 angerufen, weil mir zunächst ein Arzt wichtig erschien. Ich dachte, es sei lediglich ein Missgeschick passiert. Ehrlich gesagt, war ich auch ziemlich aufgeregt. Da kann man nicht so klar denken, wie man es sonst tut.“
Ansgar fasste die Situation kurz zusammen. Mitten im Satz wurde die Tür hinter ihm aufgerissen, und die Chefredakteurin Theresia Maler stand schlagartig im Raum, mit einer senkrechten Zornesfalte auf der Stirn. Sofort hatte sie entdeckt, dass auf dem Boden ihre edle Decke lag, mit Blut beschmiert. Ihr Andenken an eine ganz besondere Beziehung in London, zu einem Reeder. Welcher Idiot hatte sich angemaßt, ihre privaten Dinge anzufassen?
„Was ist hier passiert? Warum wurde ich nicht eher informiert? Wer hat das zu verantworten?“
In den abgehackten Äußerungen steckte ein drohender Unterton.
„Wir stellen hier die Fragen, und Sie sind später dran“, sagte Bernd lakonisch.
Theresia zuckte zusammen. Da wagte es einer, sie so zurechtzuweisen. Sie wollte schon etwas erwidern, verkniff sich dann aber eine Bemerkung, die vielleicht zu spitz gewirkt hätte. Zumal die anderen, die sich hinter ihr in der offenen Tür aufgebaut hatten, sehr interessiert ihr Verhalten registrierten.
„Außerdem muss der Tatort abgesperrt werden“, ergänzte Heike. Zusätzliches Getrampel auf ihren Spuren ertrug sie nun wahrhaftig nicht. Sie hätte sich jetzt schon die Haare raufen können, so viele Fremdspuren mussten sich hier bereits tummeln. Das würde wieder ein zeitraubendes Puzzlespiel werden.
„Schon gut. Aber wir sprechen uns noch“, ließ die Chefin fallen, drehte sich um und rauschte davon. Ihr edles Leinenkostüm zeigte deutlich die unschönen Knitterfalten vom Sitzen.
„Ansgar, zu mir“, warf sie noch einen Satzbrocken über ihre Schulter zurück.
Zu Befehl, Chefin, dachte der Sportredakteur und schlenderte, mit den Händen in den Hosentaschen seiner Jeans, gemächlich hinter ihr her, an den anderen vorbei. Die Mitarbeiter hatten zwar den Raum verlassen, standen aber in der Gruppe direkt hinter der Tür, um nichts zu verpassen. Sie verkniffen sich ein Grinsen bei diesem Auf- beziehungsweise Abtritt. Dann zerstreuten sie sich vorerst und begaben sich wieder an ihre Arbeitsplätze.
Theresia umrundete den Schreibtisch in ihrem sonnendurchfluteten Büro. Es war sparsam eingerichtet. Der riesige Designerschreibtisch dominierte. An der Wand ein großes Gemälde einer stadtbekannten Malerin, abstrakt, in kräftigen, ausdrucksstarken Farbtönen, in einem äußerst hochwertigen goldenen Rahmen. Ansgar folgte mit einigem Abstand.
Als sie sich setzte, bemerkte sie ihren leicht verschwitzten Geruch. Wie peinlich. Hatte sie sich bei dem Gespräch vorhin doch zu sehr aufgeregt, auch wenn sie sich nichts hatte anmerken lassen? Sie griff sich ihre Handtasche, öffnete sie, zückte ein Parfümfläschchen, nahm den Verschluss ab, setzte rechts und links in Höhe der Achseln an und drückte kraftvoll auf den Zerstäuber. Dann ließ sie den edlen Duft wieder verschwinden, tauschte ihn gegen ihren Lippenstift ein und zog sich die Lippen nach. Von der Ankunft ihres Mitarbeiters, der lautlos hinter sich die Tür schloss, ließ sie sich nicht stören.
„Setz dich“, wies sie auf einen Sessel vor ihrem Tisch.
Ansgar schluckte. Das roch ja widerlich. Lief das eigentlich schon unter übler Körperverletzung, die man anzeigen konnte?, kam ein Gedanke in ihm hoch. Müsste er mal mit dem Betriebsrat klären, wäre ein spannendes Thema … Und die knallrote Farbe auf den Lippen passte bei diesem alten Geschoss auch nicht mehr. Das sah ja schon fast nuttig aus. Genau wie dieses zerknitterte Leinenkostüm, das den Eindruck machte, es käme aus dem Altkleidercontainer. Gab es denn keine Bügeleisen mehr? Aber das war ja wohl modern und bestimmt sauteuer gewesen, dachte der Sportredakteur.
„Also, was ist nun passiert?“, drängte Theresia und trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. „Ich habe noch andere Dinge zu tun und kann es mir nicht leisten, hier meine kostbare Zeit zu vertrödeln. Erzähl schon, aber kurz und bündig.“
Ansgar schilderte das Geschehen und verwies deutlich darauf, dass er auch sie quasi umgehend informiert hatte.
„Jedenfalls habe ich den Arzt und später die Polizei angerufen. Wobei die sich wohl schon untereinander verständigt hatten. Es gibt ja da solche Automatismen. Und Maik bat ich, dich sofort in Kenntnis zu setzen, was passiert war. Konnte ich letztlich nicht alles allein tun … Ich musste mich schließlich um Maud kümmern. Die war ja völlig durch den Wind beziehungsweise ist es immer noch.“
„Schon klar, schon klar. Ich mach dir da jetzt auch gar keine Vorwürfe. Ich bin einfach nur platt, was geschehen ist. Hier in unserem Haus. Offensichtlich eine Briefbombe. Wer bastelt denn so was und verschickt es – bei uns in der Provinz? Kennt man doch sonst nur aus Hamburg oder München oder von sonst wo!“
Theresia hatte ihren linken Ellbogen auf dem Schreibtisch abgestützt, ihr Kinn ruhte in der Hand, die Finger schlugen im Wechsel an die Wange.
„Wenn du mich fragst, so bin ich echt betroffen“, kommentierte Ansgar. „Das hätte noch viel schlimmer ausgehen können. Maud hatte außerordentliches Glück, hat auch der Notarzt vorhin gemeint! Gerade als sie die Sendung öffnete, klingelte das Telefon, und sie hat sich seitlich weggebeugt, um das Gespräch anzunehmen …“
„Ja, ja“, schüttelte Theresia den Kopf und dachte an ihre wertvolle Decke. Hoffentlich gingen die Blutflecke in der Reinigung wieder raus.
„Wer schreibt denn nun darüber?“, fügte die Chefredakteurin laut denkend nahtlos an. „Wir können das ja nicht kommentarlos im Raum stehen lassen. Man weiß, wie die Leute tratschen. Das macht doch sofort die Runde, wird aufgebauscht, in völlig falsche Zusammenhänge gebracht. Wenn das mal nicht schon geschehen ist, weil irgend so ein Blödmann unbedingt twittern musste …“
Sie sprang auf, lief zur Tür, riss sie auf und rief in ihr Vorzimmer: „Absolute Nachrichtensperre, was die Explosion bei uns im Hause angeht. Jedenfalls für den Augenblick. Meine weiteren Weisungen abwarten.“
Dann schloss sie die Tür wieder und überlegte noch einmal: „Wer sollte das mit dem Text denn am besten übernehmen?“
Ansgar wollte sich schon geschickt verdrücken, aber es war zu spät.
„Genau. Du erledigst das“, wies die Chefredakteurin mit dem rechten Zeigefinger fast bedrohlich auf Ansgar. „Warst ja im Grunde ziemlich direkt ins Geschehen involviert. Mach eine fette Story draus und leg mir den Text in einer Stunde vor. Spätestens. Falls noch kein ordentliches Foto gemacht worden ist, schieß das ebenfalls umgehend. Kannst ja auch eine spannende Situation stellen. Dir fällt schon was ein. Nur sollte man Maud vielleicht nicht direkt erkennen. Oder frag sie doch einfach, was die Persönlichkeitsrechte angeht. Vielleicht hat sie gar nichts dagegen. Kommt sie auch mal in die Zeitung. Darüber freut sich doch jeder.“
Eigentlich wollte sich Ansgar zu dem Auftrag äußern, aber er unterließ es vorsichtshalber. Widerspruch duldete Theresia Maler nicht.
Um die Nachrichtensperre hatten sich in der Zwischenzeit längst Bernd Langer und Dagmar Scholz gekümmert. Vorab keine Details in die Öffentlichkeit tragen, während ihre Ermittlungen anliefen. Auch nicht über irgendwelche sozialen Netzwerke, wie Bernd mit energischem Blick betonte.
„Ich hoffe, wir verstehen uns da“, beendete er seine Anordnung den Redakteuren gegenüber, etwas im Zweifel, ob das an diesem Ort auch bei allen angekommen war. Aber er hatte seine Pflicht und Schuldigkeit getan und zwar vor Zeugen, also konnte ihm keiner im Nachhinein etwas vorwerfen. Dann widmete er sich ebenso wie Dagmar den ersten Befragungen.
„Genäht werden muss da nichts“, versicherte Dr. Rehner auf die ängstliche Nachfrage von Maud. „Das verheilt bestimmt wieder richtig gut, wird man später überhaupt nicht erkennen. Sie haben großes Glück gehabt …“
Er entdeckte die Brille von Maud neben dem Telefon.
„…vor allem auch, weil Sie Ihre Brille nicht auf der Nase hatten. Möglicherweise wäre bei der Explosion das Glas entzweigegangen. Am besten lassen Sie sich morgen von Ihrem Hausarzt krankschreiben. Sie sollten so einen Schock nicht unterschätzen. Und Ihre Hand sollten Sie unbedingt ein paar Tage schonen und nicht überanstrengen. Das dürfte ja hier …“
Der Notarzt blickte sich um.
„… eher unmöglich sein.“
Ansgar öffnete die Tür und schaute auf Maud.
„Ich soll ein Foto von dem hier machen. Wäre dir das recht? Auftrag von der Chefin.“
Haben Sie noch alle Tassen im Schrank?, lag Dr. Rehner auf der Zunge. Stattdessen äußerte er ein energisches, kein Gegenwort duldendes „Nein!“.
Ansgar zog sich achselzuckend wieder zurück. Dieser Arzt würde ja nicht ewig bleiben, vielleicht kam er doch noch zu seinem Bild. Inzwischen konnte er sich schon Gedanken zum Text machen.
Maud liefen jetzt ein paar Tränen die Wangen hinunter.
„Kann Sie jemand nach Hause bringen?“, wollte Gerwin noch wissen.
„Ich rufe meine Schwester an, die arbeitet hier gleich um die Ecke“, meinte Maud zerstreut.
„Gute Idee. Tun Sie das. Ich würde Sie übrigens gern übermorgen noch einmal im Klinikum sehen wollen. Dann schaue ich mir die Wunde an. Wenn aber in der Zwischenzeit irgendwas ist, Beschwerden auftreten, kommen Sie selbstredend eher zu uns. Sie können auch jederzeit anrufen. Klar?“
Maud nickte, schluckte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Schminke hatte schwarze Spuren rund um die Augen hinterlassen. Die Bluse sah aus, als hätte sie sie aus dem Theaterfundus geklaubt, als Verkleidung für eine Bettlerin in der Fußgängerzone, und auch an ihrer Stoffhose gab es Spuren.
„Jetzt nicht“, sagte Gerwin zu Dagmar, die sich gerade vor der jungen Frau aufgestellt hatte, um ihrem Job nachzugehen. „Eben habe ich schon den neugierigen Journalisten abgewimmelt. Meine Patientin braucht definitiv erst einmal etwas Ruhe. Und die daheim! Kannst ja später deine Fragen loswerden.“
„Wir könnten Sie auch nach Hause fahren“, bot Dagmar freundlich an. „Das Nötigste ist hier erst einmal erledigt, die Personalien sind erfasst. Für die letztlichen Protokolle müssen ohnehin alle in die Dienststelle kommen. Die Kollegin wird nachher Ihr Büro versiegeln, wenn sie alle Spuren vorerst gesichert hat.“
„Dann muss mich meine Schwester nicht von der Arbeit abholen. War vielleicht auch keine so gute Idee. Sie macht gerade eine zusätzliche Ausbildung bei porta Möbel im Bürobereich. Bislang hat sie als Friseurin und Kosmetikerin gearbeitet, aber das wollte sie nicht ihr Leben lang tun. Immer schlecht bezahlt, Sonnabendarbeit …“
Dagmar verdrehte die Augen, was Maud aber nicht sehen konnte. Wen interessierte denn das. Aber gut. Sollte sie erzählen. Die junge Frau war offensichtlich auch ziemlich durcheinander.
Dagmar bot ihr einen Arm an.
„Wollen Sie sich bei mir unterhaken?“
„Ja, aber muss ich denn hier nicht noch aufräumen? Den Computer runterfahren … Ich habe mir nicht mal eine Notiz zu dem Anrufer von vorhin gemacht … Was soll der denn von mir denken …?“
„Das hat sich heute alles von allein für Sie erledigt“, tauchte Heike mit ihrem Kopf unter dem Schreibtisch hervor. „Ich muss alles sichten und erfassen. Das dauert. So schnell geben wir dieses Areal nicht frei. Da können Sie sicher sein. Außerdem sind Sie definitiv erst einmal krank. So ein Schock sitzt tiefer, als man zunächst ahnt. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.“
„Aha“, bestätigte Maud und fasste sich mit der Linken an den Kopf, der extrem schmerzte. Sie setzte ihre Brille wieder auf, griff nach ihrer Handtasche und hakte sich bei Dagmar unter. Dann verließen sie den Ort des Geschehens, liefen die Treppen hinunter und ins Freie. Das Dienstfahrzeug stand direkt vor der Tür.
Die beiden Frauen nahmen im Polizeiauto auf der Rückbank Platz. Bernd schaute prüfend in den Rückspiegel, startete und gab Gas.
„Sind Sie denn alleinstehend?“, erkundigte sich Dagmar mit Blick auf den breiten Goldring, der anderes bezeugte.
„Ich meine nur, weil Sie Ihre Schwester benachrichtigen wollten!“
Maud schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin verheiratet. Aber Christian ist Baustellenleiter, und ich störe ihn nur ungern bei der Arbeit. Er hat da immer so viel zu tun und braucht volle Konzentration. Wobei … die Kinder müssen ja abgeholt werden … Ich glaube, das schaffe ich heute nicht!“
Jetzt war sie wieder den Tränen nahe.
„Dann rufen Sie einfach Ihren Mann an, erzählen was relativ Neutrales, erfinden eine kleine Notlüge. Vielleicht, dass Sie einen Migräneanfall hatten und schon eher nach Hause geschickt wurden. Er kann doch dann die Kleinen abholen“, riet Dagmar mütterlich.
„Ja, so machen wir das. Mein Kopf tut mir tatsächlich höllisch weh. Das wäre überhaupt keine Notlüge. Ich lüge nämlich eigentlich nie und erziehe auch meine Kinder in diesem Sinne“, sagte Maud irgendwie erleichtert und ließ sich in den Sitz zurücksinken.
„Sobald ich zu Hause bin, rufe ich ihn an. Oder besser noch meine Mama. Wieso bin ich denn nicht eher darauf gekommen. Ich kann überhaupt nicht mehr klar denken …“
Maud schloss die Augen und sah die Schrift auf dem explosiven Päckchen vor sich. So ähnlich schrieb auch Thorben, ihr früherer Freund. Sie musste daheim noch einmal auf die Post von ihm schauen, die sie nicht weggeworfen, sondern in den Untiefen ihres Schreibtisches versteckt hatte. Eine ganze Weile nach ihrer Trennung hatte er sie gestalkt, wo er nur konnte. Das wurde so schlimm, dass sie sogar Anzeige erstattete. Als sie ihren jetzigen Mann kennenlernte, hatten sie bald geheiratet und waren dann umgezogen. Die Belästigungen ebbten ab. Vielleicht nur zeitweilig?
Der Wagen hielt vor der Haustür. Bernd und Dagmar wechselten kurze Blicke. Ihrer besagte, dass sie das schon machen würde. Dann stiegen die Frauen aus dem Fahrzeug und Dagmar begleitete Maud bis an die Tür, wartete ab, bis sie aufgeschlossen hatte und ging mit hinein.
„Kann ich Ihnen was anbieten?“, erkundigte sich Maud höflich, während beide verloren im Flur standen. „Ich koche Ihnen gern einen Kaffee.“
„Nein danke. Wir müssten dann auch wieder los. Und Sie sollten sich lieber etwas hinlegen.“
Dagmar merkte, dass sie hier offensichtlich überflüssig war.
„Brauchen Sie mich noch?“, erkundigte sie sich bei Maud.
Die junge Frau schüttelte den Kopf und bedankte sich für die Fürsorge.
„Bin ich sonst eher nicht gewohnt.“