Tödliche Codes - Maria Stich - E-Book

Tödliche Codes E-Book

Maria Stich

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Beschreibung

Nach dem Überfall auf einen Geldtransporter bei Tübingen werden die drei Täter zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Beute des Überfalls liegt auf den Caymaninseln. Jeder von ihnen besitzt nur einen Teil des Codes, der zur Beute führt. Als Kjell, ihr Anführer, im Gefängnis tödlich erkrankt, gibt er seinen Code nicht an seinen Bruder Yngvi weiter, der verzweifelt nach den restlichen Teilen des Codes sucht. Er hinterlässt dabei tödliche Spuren. Eva Witten, die exzentrische Tagblatt-Journalistin, wird ungewollt in die Jagd nach dem zerstückelten Code verwickelt. Im Alleingang und gelegentlich auch mit der Unterstützung der Tübinger Kriminalpolizei hofft sie dabei auf die große Story, während sich die Wege von Yngvi und ihr über Rottweil, Stuttgart und auf die Schwäbische Alb, immer mehr annähern. In einem rasanten Finale gibt es überraschende Gewinner. Der erste Fall der Reporterin Eva Witten bietet Spannung und Lesevergnügen pur.

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Maria A. Stich

Maria A. Stich wurde 1954 als Maria Anna Grund in Nürnberg geboren. Nach ihrem Studium an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät unterrichtete sie als Grund- und Hauptschullehrerin. Sie lebt jetzt in der Nähe des Bodensees in Markdorf.

Sie ist als ehrenamtliche Vorleserin im Vorlesenetzwerk der Kinderstiftung Bodensee tätig. Teilnahme an Schreibwettbewerben der Literaturtage in Isny und der Literarischen Vereinigung Signatur e.V. Seit 2015 schreibt sie kleine Buchbände mit Schmunzelgeschichten und Kindergeschichten über Abenteuer der tierischen Super Gang. Tübingen, der Wohnort ihrer beiden Töchter, inspirierte sie zu humorvollen und spannenden Regionalkrimis.

Wolfgang Grund

Wolfgang Grund wurde 1957 in Neumarkt i. d. Opf. geboren. Nach dem Studium der Elektrotechnik machte er sich selbstständig und gründete ein Software Haus in Fürth. Anfang der 2000er-Jahre verkaufte er es. Jetzt lebt er in Langenzenn in der Nähe von Nürnberg.

Seine Passionen sind Kino und Motorradfahren in fremden Ländern. Viele Erfahrungen daraus verarbeitete er in seinem mehrbändigen Romanwerk baenkle.de und in der Romanreihe mit dem Schriftsteller Wolfgang Prakl.

Gemeinsam verfassen die beiden Geschwister Lokalkrimis mit den Protagonisten Wotan Wilde und Eva Witten.

Maria A. StichWolfgang Grund

Tödliche Codes

Ein Schwabenkrimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2021

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehaltenTitelbild: Markus Niethammer

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Storz

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-110-7

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

1

Angespannte Stille herrschte zwischen Kjell und Yngvi Jónsson. An diesem 11. April 2007 saßen die Brüder in einem gestohlenen weißen Golf, perfekt getarnt hinter einem Gebüsch auf einem Landwirtschaftsweg in der Nähe von Tübingen.

Der Weg ging von der Kusterdinger Straße ab, die zur B 27 führte. Nur die Motorengeräusche der vorbeifahrenden Autos waren leise im Hintergrund zu hören. Rechts lag die Bahnhaltestelle Lustnau. Sie war verwaist bis auf zwei Halbwüchsige, die stumm auf ihre Handys starrten.

»Du treibst mich noch in den Wahnsinn mit deiner Überpünktlichkeit!«, moserte Yngvi aus heiterem Himmel und schnipste sich einen Pfefferminzdrops in den Mund. »Wir sitzen hier schon ewig rum.« Seit er auf Kjells Druck mit dem Kiffen und dem Rauchen aufgehört hatte, war sein Bedarf an Lutschbonbons immens.

»Schnauze! Hier geht’s um einiges, und da bin ich eben lieber ein paar Minuten zu früh als zu spät dran«, antwortete Kjell gereizt.

Sie verfielen wieder in Schweigen. Die Brüder warteten nun schon eineinviertel Stunden auf den Geldtransporter der Firma Money Secure mit den Tageseinnahmen ihrer Kunden. Jeden Mittwoch zwischen 18 und 20 Uhr waren zwei Fahrer von der Firmenzentrale in Lustnau zur Bank in Stuttgart unterwegs und kamen hier vorbei.

Kjell hatte die Idee zum Überfall gehabt. Woher die Informationen stammten, wusste nur er. Der Charmebolzen hatte wahrscheinlich eine Bürokraft der Firma flachgelegt. Er hatte ein Händchen für Frauen, wie er glaubte, und das richtige Aussehen, um sie von sich zu überzeugen. Und das nutzte er schamlos aus.

Der 1,90 Meter große Hüne optimierte seine durchtrainierte Figur regelmäßig im Fitnessstudio. Modisch geschnittene, blonde Haare umrahmten sein markantes Gesicht, dessen Gesichtszüge er von seinem Vater geerbt hatte. Der Isländer behauptete, ein direkter Nachfahre der Wikinger zu sein.

Auch sein jüngerer Bruder Yngvi hatte dessen Körpergröße und nordisches Aussehen geerbt. Für regelmäßiges Training im Studio war er aber zu faul. Den beginnenden Bauchansatz kaschierte er einfach mit weit geschnittenen T-Shirts.

Um sich auf den Überfall körperlich optimal vorzubereiten, hatten sich die Brüder mittags im Lustnauer Imbiss mit Linsen, Spätzle und Saitenwürsten gestärkt. Kjell hatte die Kohlenhydrate, also die Spätzle, weggelassen.

Der Dritte im Bunde der potenziellen Räuber war der gemeinsame Freund der Brüder, Adrian Dobenbichler. Er hielt sich mit allen möglichen Gelegenheitsjobs über Wasser. Meist war er als Kurierfahrer, legal und illegal, unterwegs.

Sie hatten sich vor Jahren in ihrer Stammkneipe Schlampazius in Stuttgart kennengelernt und schon manch krummes Ding zusammen gedreht.

»Adrian, du siehst aus wie der wandelnde Tod. Du musst mehr essen.« Das war mittlerweile die Standardbegrüßung der Brüder. Adrian sah wirklich so aus, als wäre er gerade vom Totenbett auferstanden. Er war überschlank und extrem blass. Er führte das auf eine zu spät diagnostizierte Blutarmut in seiner Kindheit zurück. Die glatten, braunen Haare waren meistens zum Pferdeschwanz gebunden und er trug ausschließlich schwarze Kleidung. Er war wortkarg und fantasielos, aber zuverlässig. Diese Eigenschaften machten ihn zum idealen Partner für die überaktiven und einfallsreichen Brüder Jónsson.

Adrian lauerte am Straßenrand etwa fünfzig Meter straßaufwärts vor dem Versteck der Jónssons. Er hatte die Motorhaube des ebenfalls gestohlenen Ford Fiesta geöffnet und täuschte eine Panne vor. Er sollte seine Kumpane sofort informieren, wenn der Transporter in Sicht kam. Danach würde er den Fiesta auf der Straße querstellen und so den Fluchtweg des Geldtransporters blockieren.

Die drei Männer starrten ungeduldig in die hereinbrechende Dämmerung. In stillem Einvernehmen hatten sie die lästigen Sturmhauben auf die Stirn hochgeschoben. Yngvi lutschte einen letzten Drops. Kjell überprüfte zum wiederholten Mal seine Pistole, indem er das Magazin auswarf und die Munition darin nachzählte. Dann ließ er es wieder unter einem lauten Knacken im Griff verschwinden.

Sie lauschten auf das Rascheln aus dem Walkie-Talkie, das auf dem Armaturenbrett lag. Es stellte die Verbindung zu ihrem Komplizen Adrian dar.

»Achtung, Transporter kommt!«, ertönte plötzlich Adrians Fistelstimme.

Es war 19.35 Uhr. Die waren heute spät dran.

Sie hatten den Ablauf immer und immer wieder durchgekaut. Sturmhaube übers Gesicht ziehen war der erste Punkt auf der Liste. Kjell startete das Auto, rollte ein Stück nach vorne und spähte an den Büschen vorbei auf die Straße. Als der Transporter in Sicht kam, gab er Gas. Der Golf GTI schoss aus dem Versteck und blockierte die Straße.

Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite. Die beiden Securitymänner im Kastenwagen waren total überrumpelt, als in der Dämmerung plötzlich ein Hindernis auftauchte. Sie hatten sich gerade über die letzten Spielergebnisse des TSG Hoffenheim unterhalten und sich auf ein Feierabendbierchen gefreut.

Fahrer Ali Bousaid erkannte die Situation zu spät. Er bremste scharf und legte krachend den Rückwärtsgang ein, um aus dem Gefahrenbereich zu kommen, kapitulierte aber, als er den querstehenden Ford Fiesta im Rückspiegel sah.

Beifahrer Andreas Waibel sprach hektisch in sein Headset. Er verständigte die Zentrale über den sich anbahnenden Überfall.

Dem Trio blieb nur ein knappes Zeitfenster. Kjell und Yngvi sprangen fast synchron aus dem Auto. Kjell hielt seine Pistole im Anschlag. Yngvi schnappte sich zusätzlich zu seiner Waffe von der Rückbank die Panzerfaust, eine täuschend echt wirkende Attrappe. Im Dämmerlicht nahmen die Angreifer die Männer im Transporter zunächst nur als dunkle Schatten war.

Beim Näherkommen sahen sie blanke Panik in den Gesichtern der Securitymänner. Die Panzerfaust tat ihre Wirkung. Die beiden diskutierten kurz, stiegen dann langsam aus, stellten sich vor den Wagen und hoben die Hände. Sie befolgten jetzt strikt die Verhaltensregeln für einen Überfall, wie sie es in Schulungen gelernt hatten.

»Seitentür auf!«, kommandierte Kjell.

Ali Bousaid zupfte nervös an den abstehenden Ohren und bewegte sich nicht.

»Mach schon!«, fuhr ihn Kjell an, trat vor ihn und drückte ihm den Pistolenlauf in den Bauch.

Ali schnaufte hektisch. Er drehte sich um und machte drei Schritte zur seitlichen Schiebetür. Kjell war hinter ihm. Yngvi hielt inzwischen Waibel in Schach. Die Panzerfaust hatte er lässig gesenkt und bedrohte ihn jetzt mit seiner Pistole.

Umständlich gab Ali eine Zahlenkombination auf dem Tastenfeld neben der Tür ein. Der erste Versuch missglückte. Die falsche Kombination ließ nur ein rotes Licht blinken. Kjell drückte Ali die Pistole in den Rücken, um die Sache zu beschleunigen. Im zweiten Anlauf funktionierte die Eingabe. Ali schob die Tür auf. Kjell erblickte die Alu-Sicherheitskiste, die den ersehnten Reichtum enthielt.

Adrian hielt es nicht mehr hinter dem Steuer des Fiesta. Er musste unbedingt einen Blick in den Innenraum des Transporters werfen. Entgegen aller Absprachen stieg er aus und rannte zu Kjell und Ali. Mit der Waffe in der Hand drängte er Ali weg.

Der strauchelte, fiel hin und blieb auf dem Rücken liegen. Für einen Sekundenbruchteil war Kjell durch Adrian abgelenkt. Diesen Moment nutzte Ali. Blitzschnell zog der Angestellte der Sicherheitsfirma seine Pistole und zielte auf Adrian, der ihm am nächsten stand.

»Hände hoch, Waffen weg!«, brüllte er und versuchte aufzustehen, doch sein Körpergewicht hielt ihn am Boden fest.

Adrian erstarrte, als er die Waffe auf sich gerichtet sah. Kjell, von Adrian halb verdeckt, reagierte abgebrüht. Er riss seine Schusswaffe hoch.

»Waffe fallen lassen!«, rief er.

Der Wachmann ignorierte den Befehl, rappelte sich auf und zielte weiterhin auf die beiden.

Yngvi, der noch Andreas Waibel in Schach hielt, wurde durch Kjells breite Schultern die Sicht auf den Wachmann verdeckt. Panisch überlegte er, was er jetzt tun sollte. So eine Situation hatten sie bei der Ablaufplanung nie durchgespielt.

»Waffe weg!«, wiederholte Ali, als er Kjells Pistole sah. Alis Hand zitterte und es schien, als ob er jeden Moment abdrücken wollte.

Kjell reagierte schneller und abgebrühter. Ein Schuss fiel.

Ali sackte zusammen und blieb reglos am Boden liegen. Sein Beifahrer warf sich in Panik auf den Boden und hielt die Hände schützend über seinen Kopf.

Kjell stand mit versteinertem Gesicht da, während Adrian den leblosen Körper zu seinen Füßen fassungslos anstarrte. Aus einer Wunde im Brustbereich sickerte unaufhörlich Blut auf den Asphalt.

Yngvi hielt sich eisern an den ursprünglichen Plan. Er wandte sich von der surrealen Szene ab, lief zum Golf und öffnete die Heckklappe.

»Die Kiste muss rüber in den Golf!«, rief Kjell, der sich wieder gefasst und seine Pistole in den Hosenbund gesteckt hatte. Er beugte sich in den Innenraum des Transporters und zerrte an dem schweren Alukoffer. Adrian löste sich aus seiner Starre und packte den Griff am anderen Ende der Kiste.

»Du hast ihn umgebracht!«, flüsterte er entsetzt.

»Selber schuld, der Wichser!«, meinte Kjell emotionslos.

Ohne sich weiter um die Wachmänner zu kümmern, rannten sie mit der Kiste zum Golf. Yngvi trat nervös neben der Heckklappe von einem Fuß auf den anderen. Die beiden Männer wuchteten die Beute in den Kofferraum. Kjell schlug die Heckklappe zu. Er sprang hinters Steuer und Yngvi drückte sich in den Beifahrersitz. Kjell gab Vollgas und raste mit quietschenden Reifen los. Adrian war zum Fiesta gelaufen, hatte ihn gestartet und blieb dicht hinter dem weißen Auto.

Die ganze Aktion hatte kaum mehr als drei Minuten gedauert. Kein weiteres Auto war in dieser Zeit aufgetaucht. Schweigend fuhren Kjell und Yngvi durch die Dämmerung und bogen nach wenigen Hundert Metern auf die B 23 ein. Yngvi suchte vergeblich in seinen Taschen nach einer neuen Packung Drops und kaute dann verzweifelt auf der Unterlippe.

Sie verließen die Schnellstraße und bogen in die Ausfahrt Kirchentellinsfurt ein. Zielsicher nahm Kjell einen geschotterten Weg, der im nahen Wald verschwand. Ein holpriger Waldweg führte zu einer versteckten Lichtung. Dort war ein grauer VW-Transporter abgestellt, den sie am Tag vorher gestohlen und hierhergefahren hatten. Wortlos luden sie die Kiste um.

Sie warfen ihre Sturmhauben in den Fluchtgolf. Adrian goss aus einem Kanister, der im Transporter gelagert war, Benzin ins Innere der beiden Tatautos und warf brennende Streichhölzer hinein. Es gab Stichflammen, dann brannten die beiden Fahrzeuge lichterloh.

»Immer wieder schön, so ein Feuerchen!«, bemerkte Yngvi sarkastisch. Sie betrachteten das Feuer kurz aus gebührendem Abstand und stiegen dann in den VW-Bus. Kjell war wieder der Fahrer. Niemand sprach. Man sah, dass es in Adrian arbeitete. Er war noch bleicher als sonst.

»Fuck, warum hast du geschossen?«, fragte er dann und sah Kjell von der Seite an.

»Notwehr, der Typ wollte uns alle abknallen!«, rechtfertigte sich Kjell.

»Idiot! Der hätte nie geschossen! Jetzt suchen sie uns nicht nur wegen Raub, sondern wegen Mord!«, warf ihm Adrian vor.

Sie holperten über den Feldweg Richtung B 23 zurück. Es war wieder Stille eingekehrt. Kjell schwieg. Nach einer Weile erklärte er mit kalter Stimme:

»Ich setze euch jetzt bei der nächsten Bushaltestelle ab und fahre dann nach Hamburg zu Klaas. Sein Spezialist kann die Kiste öffnen, ohne die Farbpatrone auszulösen. Klaas wird das Geld in seinem Unternehmen unauffällig waschen und die Kohle für uns auf den Caymaninseln parken. Wenn ich zurück bin, saufen wir uns im Schlampazius richtig einen an. Haltet bis dahin den Ball flach und rührt eure Ärsche nicht aus euren Wohnungen!«, beendete er seine Anweisungen.

2

Nach zehn Stunden Fahrzeit erreichte Kjell die Villa von Klaas Petersen in Hamburg. Sie lag in einem parkähnlichen Garten in einem vornehmen Teil Altonas. Petersen konnte sich diesen Luxus leisten. Er betrieb mehrere Bordelle und Tabledance-Bars und hatte Geschäfte mit Glücksspiel und Sportwetten am laufen.

Das Sicherheitstor zur Auffahrt öffnete sich wie von Geisterhand. Anscheinend wurde Kjell erwartet. Er fuhr direkt vor die protzige Eingangstreppe des riesigen Hauses. Es war den amerikanischen Südstaaten-Villen des 19. Jahrhunderts nachempfunden. Kjell achtete nicht darauf. Er war erschöpft und hungrig. Im Autohof Lohfelden bei Kassel hatte er getankt, sich nur einen Kaffee besorgt und gerade mal zwei Stunden auf dem Rastplatz geschlafen.

Klaas kannte er von der Zeit, als er in Hamburg als Türsteher des Club Aldina arbeitete. In einem Hinterzimmer wurde dort um unanständig hohe Beträge gepokert.

Er warnte Klaas damals vor einer Polizeirazzia und lotste ihn in letzter Sekunde durch den Keller in Sicherheit. Er wusste, dass einflussreiche Menschen es schätzten, wenn man ihnen einen Gefallen tat.

Seitdem verband den zwielichtigen Clubbesitzer Klaas und den kleinen Ganoven Kjell so etwas wie eine Freundschaft, falls es das unter Gaunern überhaupt gab. Kjell war sich sicher, dass Klaas ihn ohne Skrupel und ohne Zögern als Kugelfang verwenden würde, wenn es um sein eigenes Leben ging. Doch das war ihm im Moment scheißegal. In dieser speziellen Angelegenheit würde er ihm garantiert helfen und daraus selber noch einen satten Gewinn ziehen.

Ein finster blickender Bodyguard im schwarzen Anzug erwartete Kjell auf dem obersten Treppenabsatz. Er versperrte ihm drohend den Weg und ließ ihn erst nach kurzem Gespräch über ein Funkgerät ins Haus. Entschlossen folgte Kjell dem Leibwächter. In der riesigen Empfangshalle mit einem monströsen Kristalllüster, abstrakten Gemälden in schreienden Farben und einer Bronzebüste von Klaas hallten ihre Schritte auf dem Marmorboden.

Der Leibwächter deutete auf eine geöffnete Glastür. Kjell versuchte unerschrocken zu wirken, obwohl ihm jetzt doch das Herz bis zum Hals schlug. Das Frühstückszimmer war spartanisch, aber mit Designermöbeln eingerichtet.

Klaas thronte allein an der Kopfseite eines ovalen Marmortisches und las im Börsenblatt. Er trug einen grün-seidenen Kimono mit roten Drachenköpfen, goldene Birkenstocks und einen gelangweilten Ausdruck im Gesicht.

»Guten Morgen, Klaas! Wie geht’s?«, begrüßte ihn Kjell betont freundschaftlich.

Mit einem kurzen Kopfnicken schickte Klaas den Muskelberg im schwarzen Anzug, der Kjell begleitet hatte, aus dem Zimmer.

»Hallo Kjell! War eure Aktion erfolgreich? Willst du mit frühstücken?«, fragte der Glatzkopf gelassen.

»Ja, und gern«, sagte Kjell. Er lächelte und ließ sich auf einen unbequem aussehenden Designerstuhl neben Klaas gleiten. Eine junge Frau in einer Dienstmädchenuniform mit extrem kurzem Plisseeröckchen erschien aus dem Nichts und legte sofort ein weiteres Gedeck auf. Die Rothaarige wirkte eher wie eine Pornodarstellerin als eine Angestellte. Aber vielleicht war sie ja beides. Kjell traute Klaas da viel zu. Die Darstellerin schenkte ihm Kaffee ein und stellte einen Korb mit Croissants und frischem Baguette auf die blank polierte Tischplatte.

»Rührei, Spiegelei oder gekocht?«, fragte sie lächelnd und blickte ihn an, als ob sie nach seinen bevorzugten Sexstellungen gefragt hätte.

»Rührei!«, orderte Kjell. Er sah der äußerst leckeren Bedienung hinterher.

»Ist die im Frühstück inbegriffen?«, scherzte er.

»Ich kann da sicher was arrangieren!«, sagte Klaas trocken und hüstelte. Er war schon immer humorlos gewesen. »Gib doch deinen Autoschlüssel Jasper. Der lädt die Kiste aus, die Jungs machen sie auf und zählen das Geld.« Er winkte einen dunkelhäutigen Mann zu sich, der im Hintergrund gewartet hatte.

Kjell gab ihm den Autoschlüssel. Jasper verließ genauso unauffällig den Raum, wie er erschienen war.

»Das mit dem Konto auf den Caymans geht klar?«, fragte Kjell. Er biss genüsslich von dem buttrigen Croissant ab. »Lecker, die Teile!« Er wischte die Krümel vom Tisch auf den pastellfarbenen Teppich aus Ghom Seide.

»Das Konto habe ich eingerichtet. Wie abgemacht erhält jeder von euch drei nur einen Teil der Kontonummer und des Passwortes. Ihr bekommt alle jeweils eine SMS mit den Daten. Zugreifen auf das Konto könnt ihr dann nur zu dritt.« Klaas trank einen Schluck aus der Goldrandtasse. Er nahm sein iPhone vom Tisch und wischte darauf herum. Dann zeigte er Kjell kurz eine Liste.

Kjell:

119672346

TRANSP

Yngvi:

46284432

ORTERF

Adrian:

325988

ORAY01

Der sah nur unverständliche Buchstaben und Zahlen hinter den Namen des Räubertrios.

Bevor er etwas fragen konnte, schloss Klaas das Fenster auf dem Handy wieder.

»Mein Anteil an der gewaschenen Beute ist wie ausgemacht 20 Prozent. Freundschaftspreis! Normalerweise müsstest du für diesen Full Service viel mehr abdrücken.« Klaas setzte ein schiefes Lächeln auf, das freundlich wirken sollte. Es zeigte aber nur ein strahlend weißes Gebiss in einem emotionslosen Gesicht.

Inzwischen trug die Pornoqueen auf einem silbernen Tablett das Rührei herein. Die Portion war mit reichlich Kaviar garniert und roch herrlich nach frischen Kräutern. Kjell nutzte die Gelegenheit, um der Darstellerin kurz den Prachtarsch zu tätscheln und griff dann mit Appetit bei den Eiern zu.

In diesem Augenblick trat, nein, schwebte eine Erscheinung in weißem Tennisdress durch die Tür. Aynur Petersen war eine Schönheit aus Ägypten. Sie wirkte wie eine exotische Königin aus Tausendundeiner Nacht. Obwohl sie nur einfache Sportkleidung trug, wäre jeder Mann bereit gewesen, vor ihr niederzuknien und ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Ihr pechschwarzes Haar wallte über die schmalen Schultern und umspielte perfekt ihr ebenmäßiges Gesicht. Bei jeder anderen Frau hätte man die Nase als zu groß empfunden, zu Aynur passte sie perfekt.

Kjell musterte sie und versank kurz im Anblick ihrer schier endlos langen Beine.

»Hallo Aynur, lange nicht gesehen. Du siehst umwerfend aus!«, stammelte er und fing sich einen vorwurfsvollen Blick von Klaas ein.

»Hallo Kjell! Hast du trainiert?«, fragte Aynur und hauchte dabei ihrem Mann einen zarten Kuss auf die Glatze. Sie nahm sich eine Weintraube von der Käseplatte und setzte sich gegenüber von Klaas an den Tisch. Als die Rothaarige ihr Kaffee eingoss, konnte Kjell sehen, wie Aynurs Hand unter dem Rock der Angestellten verschwand.

»Diese Nutte!«, dachte Kjell und musste grinsen.

Den Rest der Frühstückszeit lasen die Männer schweigend in der Zeitung. Aynur hatte ihr Smartphone neben ihren Teller gelegt und wischte darauf herum. Sie trank einen giftgrünen Smoothie und verspeiste anmutig einige Erdbeeren.

Dann erschien Jasper wieder, gab Kjell den Autoschlüssel und Klaas einen Zettel. Der starrte kurz darauf und sagte dann:

»1.550.350 Euro! Nicht schlecht für so wenig Arbeit!«

»Ja! Das kann man sagen!«, nickte Kjell zufrieden und grinste breit. Für drei Minuten Stress beim Überfall war die Beute kein schlechter Schnitt. Die Sache mit dem Toten hatte er schon fast vergessen. Zufrieden holte er sein Handy heraus und schickte je eine SMS an Yngvi und Adrian. Es stand nur eine Zahl darin. Die würde sie aufheitern, diese Memmen.

Er verabschiedete sich von Klaas und Aynur und warf einen bedauernden Blick auf die sexy Bedienung, die ihn aber keines Blicks würdigte. Das hätte ein Spaß werden können, dachte er mit Wehmut, während er zum Airport Hamburg fuhr. Dort stellte er den VW-Bus auf den Parkplatz, wischte sorgfältig mögliche Spuren ab und mietete sich bei Sixt einen BMW. Zurück in Stuttgart musste er sich erst mal etwas entspannen. Er hätte sich im Fitnesstempel puls fit & wellness club zu gerne mehrere Saunagänge und eine Hot Stone Massage bei der anmutigen Samira gegönnt, beließ es jedoch bei einem Schwitzgang im Dampfbad, einer eiskalten Dusche und einem Power Nap.

So gestärkt freute er sich auf den ersten Whisky im Schlampazius. Er war in absoluter Hochstimmung.

3

Kurz nach acht traf Kjell seine Kumpane Yngvi und Adrian im Schlampazius. Die saßen in der urigen Musikkneipe an ihrem »Stammtisch«. Adrian und Yngvi lümmelten auf den abgesessenen, rot-gold gestreiften Polstern des Doppelsitzer-Sofas. Kjell rutschte auf den schwarzen Kunstledersessel ihnen gegenüber. Die Band des Abends machte einen ersten Soundcheck.

Sie waren mit die ersten Gäste und konnten sich so ungeniert unterhalten.

»Ej Leute, wir haben’s geschafft!«, begrüßte er die beiden. Sie gaben sich High fives. Adrian und Yngvi sahen ihn bereits aus glasigen Augen an, da sie schon mit Wodka vorgeglüht hatten. Sie zeigten sich ihre SMS mit den gestückelten Zugangsdaten zu dem Konto auf den Caymans.

Kjell schrieb eine Zahl auf den Rand eines Bierfilzes, die ihm Klaas zugeschickt hatte: 413.426,70 Euro.

»Das bekommt jeder von der erbeuteten Kohle!«, verkündete er. Er blickte in gerötete und hocherfreute Gesichter.

Sie steckten ihre Handys weg und bestellten sich bei Jenny an der Bar drei doppelte Whiskys.

Dann erhob Yngvi sein Glas und lallte mit schwerer Zunge:

»Das war doch mal ein genialer Coup!«

Adrian wackelte zustimmend mit seinem Kopf und grinste schief.

»Und eine geniale Idee mit den Caymaninseln!«, ergänzte Kjell stolz und kippte seinen Whisky mit einem Schluck.

Es folgten noch mehrere Kurze von Rudi’s Wacholderschnaps aus Mergelstetten.

So ging es bis nach Mitternacht weiter. Sie zischten ein Bierchen nach dem anderen und die Stimmung stieg stetig. Gerade als sie eine zweite Lokalrunde ausgeben wollten, erschienen vier Polizisten in der Kneipe, die ihnen Handschellen anlegten und sie festnahmen. Die drei waren inzwischen so abgefüllt, dass sie das auch noch witzig fanden.

»Schreibs auf den Deckel, Jenny! Komme morgen wieder und bezahle!«, lallte Kjell und stolperte aus der Tür.

Die drei Helden schliefen im Streifenwagen ein, mussten vor dem Präsidium wachgerüttelt werden und ließen sich vom Alkohol umnebelt ohne Widerstand in je eine Ausnüchterungszelle bugsieren. Dass diese bis zur Decke gefliest, mit Edelstahltoilette ohne Deckel und Klobrille und einem runden Edelstahlwaschbecken ausgestattet waren, bemerkten sie erst am nächsten Morgen. Auch das grelle Licht der Neonröhre, die die ganze Nacht brannte, hatte sie nicht gestört.

Der nächste Morgen war bitter. Keiner konnte sich erklären, wie er in die Zelle gekommen war.

»Filmriss!«, kommentierte Adrian seine vergeblichen Überlegungen, die Geschehnisse des Abends und der Nacht zu rekonstruieren. Er saß mit hängenden Schultern auf seiner Liege und grübelte stumm.

»Scheiße, Scheiße, was war da eigentlich los?«, dachte Yngvi in seiner Zelle und hielt sich den dröhnenden Schädel.

Dann wurden sie nacheinander zur Vernehmung geholt.

Als Kjell im Vernehmungsraum des Polizeipräsidiums in Tübingen saß und nach einer Kopfschmerztablette fragte, wurde ihm siedend heiß bewusst, dass hier irgendetwas oberfaul war.

Der Hüne saß wie ein Häufchen Elend in dem grau gestrichenen Raum. Um den einfachen Holztisch standen drei weitere Stühle. Die Neonröhre über dem Tisch beleuchtete die triste Szenerie. Die Stirnwand bestand aus einem sogenannten Venezianischen Spiegel, der es den Beamten im Nebenraum ermöglichte, in den Vernehmungsraum zu sehen, ohne dass es dem Verdächtigen bewusst war. Ein älterer Mann in schwarzem Hemd und Jeans und eine schlanke Frau in einem grauen Hosenanzug betraten den Raum und setzten sich gegenüber von Kjell an den Tisch.

»Ich bin Hauptkommissar Heinrich Blumstein und das ist Oberkommissarin Daphne Stephanidis. Guten Morgen, Herr Jónsson! Lassen Sie uns über vorgestern Abend reden. Wo waren Sie da zwischen 18 und 19 Uhr?«, fragte Blumstein ohne weitere Einleitung.

»Blumstein, das ist doch dieser Hosenträger-Kommissar?«, dachte Kjell. Sein Gehirn fühlte sich an wie durch den Fleischwolf gedreht.

Von dem Hosenträger-Cop hatte er schon einiges gehört. Der sollte eine abgefahrene Hosenträgersammlung besitzen und die schrägen Dinger sogar im Dienst tragen. Tatsächlich hatte er heute blaue Hosenträger mit grauem Pistolenmuster an. Das fand Kjell zum Kotzen. Tatsächlich spürte er sauren Mageninhalt aufsteigen. Er blickte sich verzweifelt um und entdeckte einen Papierkorb im Eck. Unvermittelt sprang er auf, schnappte sich den Metallzylinder und kotzte in hohem Bogen hinein. Er würgte noch ein wenig nach.

Die Kommissare und der anwesende Polizist schauten angeekelt weg. Die Oberkommissarin schob sich mehrmals die Ponyfransen aus der hohen Stirn und beschäftigte sich geistesabwesend mit Notizen auf ihrem Block.

Dann setzte sich Kjell wieder und wischte mit dem Pulloverärmel über den Mund.

»Sorry!«, sagte er, »zu viel gefeiert gestern.«

»Was war denn der Anlass?«, hakte Blumstein nach.

»Darf man nicht einfach mal feiern?«, motzte Kjell.

»Schon, aber nicht, wenn es um einen Überfall geht. Ihr Kollege hat da bei der Vernehmung etwas erwähnt«, Blumstein grinste triumphierend.

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« Diesem Hosenträger-Fuzzi fühlte er sich haushoch überlegen.

»Na, dann wollen wir mal in das Gespräch mit Ihrem Kollegen reinhören. Daphne, Ton ab!«, sagte Blumstein.

Die Kollegin schob zuerst die kupferroten Fransen zur Seite und drückte dann auf einen im Tisch eingelassenen Knopf neben dem Mikrofon. Sofort schallte aus versteckten Lautsprechern die Fistelstimme von Adrian durch den Raum.

»Na gut, Sie Arschloch, vielleicht habe ich da was zu der Barfrau gesagt! Die Jenny ist aber auch zu geil! Und mit Bargeld zu winken ist nie falsch. Das mögen die Weiber, hab ich die Erfahrung gemacht!«, gab Adrian großspurig von sich.

»Woher willst du das Geld nehmen? Du bist doch pleite«, hörte man die einfühlsame Stimme von Daphne Stephanidis.

»Meine Sache! Hatte da noch ein paar Rechnungen offen!«, prahlte Adrian.

»Überfall auf einen Geldtransporter vorgestern? Klingelt da etwas?«, versuchte es Blumstein.

»Welcher Überfall?«, fragte Adrian.

»Ihre Kollegen waren da viel gesprächiger, schließlich geht es um Mord!«, schob Blumstein nach.

Blumstein drückte die Stopptaste und wandte sich Kjell zu.

»Ihr Freund Yngvi hat uns weitere Details erzählt. Auch, dass Sie den Wachmann erschossen haben. Wer zuerst redet, ist meist im Vorteil«, pokerte Blumstein.

Das war ein Versuchsballon, den Blumstein da gestartet hatte. Dessen war sich Kjell bewusst. Hoffentlich hatte Adrian den Schachzug durchschaut. Er saß wie auf glühenden Kohlen und rutschte beinahe unter den Tisch. Allerdings vermutete Kjell, dass Adrian zu blöd gewesen war und sich hatte linken lassen.

Blumstein startete wieder die Aufzeichnung der Vernehmung.

»Den Mord lasse ich mir nicht anhängen. Kjell hat geschossen! Ich würde das nicht können, das müssen Sie mir glauben!«.

Kjell hörte Adrians flehende Stimme. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein, der Überfall, die Fahrt nach Hamburg, das Saufgelage. Adrian, du Arsch! Das wars! Sie hatten ihn an den Eiern.

»Sie geben also zu, an dem Überfall beteiligt gewesen zu sein!«, hörte man Daphne auf dem Band resümieren. Ihre Stimme klang zuckersüß durch den Raum.

»Miststück! Ihr habt mich reingelegt! Hat Yngvi überhaupt etwas erzählt? Wenn ja, ich bring ihn um, ich schwör’s!«, brüllte Adrian plötzlich. Man hörte, wie ein Stuhl umfiel. Offensichtlich war er aufgesprungen.

»Ich dachte, Sie können keinen umbringen. Vielleicht waren doch Sie das mit dem Wachmann!«, Blumsteins Stimme klang herausfordernd.

»Schalte das Band aus, Daphne!«, sagte Blumstein jetzt wieder in Echtzeit, »Herr Jónsson und ich unterhalten uns jetzt auf dieser Basis!«

Kjell hob den Kopf und setzte sich aufrecht hin. Er würde kämpfen und sich nicht von seinen schwachsinnigen Kumpanen reinreiten lassen.

»Ich sage jetzt nichts mehr, ich will einen Anwalt!«, forderte er.

»Das ist ihr gutes Recht. Aber Sie bleiben erst mal unser Gast.« Blumstein wandte sich dem Polizisten zu, der neben der Tür stand, »Lassen Sie ihn telefonieren und dann ab in eine Zelle!«

Der Beamte fasste Kjell am Arm und zog ihn hoch. Dann verließ er mit ihm den Raum.

»Sapperlot! War ein guter Anfang, den Rest bekommen wir auch noch heraus. Jetzt erst mal Mittagessen. Sollen wir uns heute mal Rote vom Grill holen? Wird Zeit, dass die Kantine wieder aufmacht. Die renovieren ja schon ewig.« Blumstein erhob sich ächzend und zog seine Hosenträger gerade.

»Nein danke! Ich hab nen Salat dabei. Die Linie, du weißt! Geile Hosenträger übrigens!«, kommentierte Daphne. Sie zwinkerte ihm zu und schob die Ponyfransen beiseite.

Nach weiteren drei Tagen mit zahlreichen Vernehmungen knickte Kjell ein. Er gab zu, auf den Wachmann geschossen zu haben. Aber er hatte ihn nicht töten wollen, nur davon abhalten, auf ihn zu schießen.

Reine Notwehr!

Da man ihm nichts Gegenteiliges beweisen konnte, wirkte sich das später positiv auf das Strafmaß aus. Er wurde nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags angeklagt.

Yngvi machte von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch und saß stumm wie ein Fisch bei den Vernehmungen. Aber die Beweise waren erdrückend.

Erschwerend kam für das Trio allerdings hinzu, dass keiner damit herausrückte, wo das Geld war. Sie hatten ursprünglich geplant, es nach drei Jahren abzuheben und zu verteilen, aber das war mit den Haftstrafen nun wohl hinfällig.

Yngvi und Adrian wurden zu jeweils fünf, Kjell zu fünfzehn Jahren verurteilt.

4

Kjell kochte vor Wut. Er hätte ihn umbringen können, diesen Deppen von Adrian. Es wäre besser gewesen, wenn er ihn statt des Security-Mannes erschossen hätte. Dieser Schwachkopf hatte sich von diesem Hosenträger-Kommissar bei der Vernehmung austricksen lassen. Wegen seiner Dusseligkeit musste er fünfzehn Jahre in die JVA Stammheim in Stuttgart einfahren. Draußen warteten über 400.000 Euro auf ihn. Er hätte in Saus und Braus leben können. Es bereitete ihm eine diebische Freude und tröstete ihn etwas, dass seine Kumpels ohne seinen Teil des Codes kein Geld vom Konto auf den Caymans abheben konnten.

Nach dem Prozess ließ er ihnen eine eindeutige Zeichnung seines Mittelfingers zukommen mit dem Kommentar Wir sehen uns in 15 Jahren. Sie verfluchten ihn zwar dafür, waren aber machtlos.

Kjell arrangierte sich mit dem Gefängnisleben. Es lief ganz gut. Er hatte sogar die Aussicht, wegen guter Führung etwas früher entlassen zu werden. Einmal musste er einen Angriff im Speisesaal abwehren. Joe, ein fieser Mithäftling, der wegen Erpressung saß, versuchte die Kontoinformationen aus ihm herauszuprügeln. Wahrscheinlich war er von Yngvi oder Adrian angestiftet worden. Aber Steve und Greg aus der Wäscherei, Mitglieder von Kjells Gefängnisgang, kamen ihm zur Hilfe und schlugen den Angreifer hinter einer Mauer aus Körpern nieder.

Es blieb bei diesem einen Versuch.

All seine Zukunftsträume wurden jäh zunichtegemacht, als er die Diagnose Leberkrebs bekam. Der war für eine Therapie schon zu weit fortgeschritten. Die Ärzte gaben ihm nur noch wenige Monate.

Die letzte Zeit, als die Schmerzen unerträglich wurden, verbrachte er im Gefängniskrankenhaus.

Pater Odwin, der Anstaltspfarrer, besuchte ihn fast täglich. Obwohl Kjell nicht gläubig war, führte er doch längere Gespräche mit ihm. Irgendwie tröstete ihn das über seine beschissene Lage hinweg.

Er hatte jetzt viel Zeit zum Nachdenken. An wen sollte er sein Vermögen weitergeben? Anfangs hatte er Pater Odwin auf der Liste, verwarf die Idee aber wieder. Dem Pfaffen traute er eigentlich nicht.

Yngvi und Adrian fielen aus. Die beiden Verräter hatten ihn erst hier reingebracht. Vor allem Adrian, den Idioten, hasste er abgrundtief.

Seine Frau Mathilde hatte sich nach seiner Verurteilung von ihm abgewandt, sich scheiden lassen und wieder ihren Mädchennamen Stecher angenommen. Die entfiel auch, die blöde Schlampe! Seinen Sohn Danny kannte er kaum, Mathilde hatte keinen Kontakt mit ihm zugelassen.

Sein Leben war ein Trümmerhaufen, ein Haufen Scheiße, und er konnte nicht mal jemanden, außer sich selbst, dafür verantwortlich machen.

Er lag auf der Krankenstation und grübelte nächtelang.

Dann erinnerte er sich an den Reporter, der ihn in den ersten Tagen nach seiner Verurteilung besucht und interviewt hatte. Er erzählte ihm von seiner schweren Kindheit, seiner Entwurzelung, seiner Lernschwäche und dem kriminellen Umfeld, in das er gerutscht war. Anders als die üblichen Revolverblätter hatte der Zeitungsfritze ihn nicht als brutales Monster dargestellt.

Nach einer schlaflosen Nacht kam er zu einem Entschluss.

Dem Reporter würde er die Informationen geben und der sollte das Geld verwalten. Vielleicht fand er sogar seinen Sohn. Er vertraute diesem Typ irgendwie. Otto hieß der, wie sein alter Onkel, der immer dicke Zigarren gequalmt und seinen Dackel Alfa mit Gelbwurst gefüttert hatte. Der Familienname von Otto stand bestimmt unter dem Zeitungsartikel, der in einem blauen Ordner in seiner Zelle lag.

Er würde Pater Odwin, der ihm hartnäckig göttlichen Trost spenden wollte, obwohl er Atheist war, bitten, diesen Artikel zu holen.

Nach diesen anstrengenden Überlegungen verschwammen Kjells Gedanken in einer gnädigen Wolke aus Schmerz- und Beruhigungsmitteln. Er war unendlich müde, er musste sich ausruhen.

5

Eva Witten schreckte auf. Sie hatte einen aufwühlenden Traum gehabt. Ihr Erlebnis als Gymnasiastin in der Jugendherberge in Tübingen war wieder mal aus ihrem Unterbewusstsein hochgekocht.

Durch die Ritzen der Rollos fiel das matte Licht der Straßenbeleuchtung in ihr Schlafzimmer. Sie sah auf ihren Wecker: 3:11 Uhr. Schlaftrunken setzte sie sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durchs verschwitzte Haar.

Mist, sie brauchte ihren Schlaf! Morgen musste sie einen wichtigen Artikel fertigmachen, da sollte sie, im wahrsten Sinne des Wortes, ausgeschlafen sein. Sie rutschte wieder aufs Kopfkissen und zog die Zudecke bis unters Kinn.

»Eva, du musst jetzt weiterschlafen. Emilia Ruckmüller ist momentan egal!«, murmelte sie. Sie drehte sich auf den Bauch, umarmte ihr Kopfkissen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Vor ihrem geistigen Auge erschien eine Packung Russisch Brot, ihre Lieblingsknabberei. Ob die Espadrilles bei Zalando noch im Angebot waren? Ihr Kontostand war momentan nicht berauschend. Vielleicht sollte sie mehr in Secondhandläden shoppen? Sie drehte sich wieder auf den Rücken und strampelte die lästige Zudecke ab. Es war unerträglich schwül im Schlafzimmer, obwohl das Fenster sperrangelweit aufstand. Der sonnengelbe Schlafanzug mit dem lila Lavendelblüten-Muster klebte an ihrem Rücken.

Diese Emilia Ruckmüller, die durch ihren Traum gegeistert war, verursachte einen weiteren Schweißausbruch. Emilia hatte sie damals, nach ihrem Gewinn der Auszeichnung für die beste Schülerzeitung, tief in ihrer Ehre als Redaktionsleiterin ihrer Schülerzeitung gekränkt. Das Pummelchen mit der speckig glänzenden Nase hatte sie bei ihrem ersten Treffen gleich als Chefredakteurin ausgestochen.

So war es Jahre später ein Schock gewesen, sie wiederzusehen. Sie liefen sich nach einer Veranstaltung mit der Autorin Isabella Zirngiebel in der Buchhandlung Osiander über den Weg. Die Lesung aus ihrem Buch Im Zeichen des Adlers, einem Historiendrama, hatte sie tierisch gelangweilt und außerdem suchte sie dringend eine Toilette.

Sie erkannte ihre Rivalin sofort wieder. Emilia Ruckmüller war immer noch füllig und ihre Nase glänzte. Aber der schwarze Hosenanzug gab ihr ein seriöses Aussehen und die ehemals straßenköterbraunen Haare waren in einem warmen Kastanienrot getönt. Das grüne Brillengestell gab ihrer Erscheinung Pfiff und Schwung. Alles nur Tarnung, dachte Eva verbittert und wollte sich an ihr vorbeidrängen.

Aber Emilia reagierte so geistesgegenwärtig wie damals. Sie erkannte Eva sofort und sprach sie an. Es gab kein Entkommen. Ungefragt erzählte sie, dass sie jetzt als Lektorin beim Silberburg-Verlag in Tübingen arbeitete und gab ihr gleich ihre Karte.

»Vielleicht könnten wir uns mal treffen, liebe Eva«, flötetet sie, »ich muss leider sofort los, mein Bus fährt gleich.«

Warum dieses Treffen der Auslöser eines Albtraums gewesen war, konnte sie sich auch nicht erklären. Inzwischen war aus ihrer Feindschaft eine innige Freundschaft geworden. Sie hatten sich ausgesprochen und gemeinsame Vorlieben wie Saunabesuche und Shopping-Nachmittage entdeckt.

Eva wälzte sich noch eine halbe Stunde hin und her. Dann gab sie auf. Jetzt war sie endgültig wach. Sie stand auf und zog das Rollo halb hoch. Durch das offene Fenster hörte sie die ersten Vögel lärmen. Sie tapste auf nackten Füßen durch ihre Wohnung und trank in der Küche ein Glas Leitungswasser.

In einem Karton im Flurschrank mussten noch alte Schülerzeitungen aus der damaligen Zeit liegen. Sie wanderte zu dem Schrank und ließ sich auf dem Boden nieder.

Der Umzugskarton, den sie suchte, stand seit ihrem Einzug unangetastet hinter der Kiste mit dem Schuhputzzeug. Sie zog den Karton heraus.

Unterlagen stand in Großbuchstaben mit rotem Edding darauf. Sie öffnete den Deckel.

»Da bin ich mal gespannt!«, meinte sie neugierig. Sie war sich sicher, dass sie finden würde, was sie suchte.

Ganz oben lag ein roter Papierordner, säuberlich beschriftet von der Hand einer Achtjährigen mit Meine Artikel. Die ersten zwei Blätter waren ihr Erstlingswerk Mord in Wuppertal, das sie als Neunjährige geschrieben hatte. Das waren ihre ersten Schritte in ihr Autorenleben gewesen.

Nach dem sehr mäßigen Erfolg dieses Krimi-Erstlingswerks schwenkte sie auf investigativen Journalismus um. Sie berichtete von den Demonstrationen gegen die Zechenschließungen. Ihr Vater, ein Bergmann, nahm sie auf die Kundgebungen mit. Ganz forsch schickte sie den Artikel an den Chefredakteur Marko Hummerer bei der Westdeutschen Zeitung. Er war begeistert von ihrem Schreibstil und sie durfte ab und an Beiträge für die Kinderseite der Zeitung beisteuern.

Sie wühlte sich durch die vergilbten Zeitungsausschnitte. Beim Lesen des Artikels über den jungen Elefanten Bongi im Wuppertaler Zoo kamen ihr fast die Tränen. Der Artikel war rührend naiv, aber schon mit viel Charisma geschrieben.

Darunter lagen die Heftchen der Schülerzeitungen ihres Gymnasiums, des St.-Anna-Gymnasiums in Wuppertal, von den Schülern liebevoll Stanna genannt.

Die zu oberst liegende Ausgabe war diejenige, mit der ihr kometenhafter Aufstieg bei der Redaktion der Grandma Jesu begann. Die Zeitung hatte diesen seltsamen Namen in Anlehnung daran, dass die heilige Anna angeblich die Großmutter Jesu gewesen war.

In kürzester Zeit arbeitete sich Eva zur Chefredakteurin hoch.

Der große Durchbruch war die Sonderausgabe Rechte Scheiße, mit der sie Infiltrationsversuche von rechten Gruppen in ihrer Schule aufdeckte. Dafür wurde die Schülerzeitung als die Beste in Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet.

Sie überflog die Zeilen. Naja, so würde sie das heute nicht mehr formulieren. Die Sätze kamen etwas holprig daher, aber man spürte ihre Leidenschaft und ein großes Sendungsbewusstsein.