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Der Patient eines Berliner Pflegedienstes stirbt an einer Überdosis Insulin. Wie konnte das passieren? Eine Verwechslung der Insuline? Oder war da Absicht im Spiel? Kurz darauf stirbt ein weiterer Patient. Und schon bald ist von serieller Patiententötung die Rede. Kerstin Grusig arbeitet nach fast zwanzig Jahren Pause wieder als Krankenschwester. Von Selbstzweifeln geplagt schlittert sie durch ihren neuen Berufsalltag, verliert Morphiumtabletten, sucht nach sicheren Todeszeichen an leblosen Menschen und berät anarchistische Diabetiker. Da sie zwei der Toten als letzte versorgt hat, gerät sie ins Visier der Polizei. Die Arbeit in der ambulanten Pflege in Kreuzberg und Neukölln eröffnet den Blick auf ein illustres Panoptikum. Dort, wo es gerade tausende Touristen hinzieht, leben nicht nur hippe Jungberliner, sondern auch die alten, pflegebedüftigen Migranten der ersten Stunde, an multibler Sklerose erkrankte Philosophen und halluzinierende Frauen, die Kätzchen und sonstige Tiere in ihrer Wohnung zu sehen glauben.
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Seitenzahl: 497
Veröffentlichungsjahr: 2016
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„Sie waren nicht verwöhnt, diese Polizisten. Weder was den Kaffee, noch was die Räume hier betraf.
Armseliges Berlin.
Kein Wunder, dass Berlins Beamte so schlechte Arbeit machten und mein Hintern schon seit geraumer Zeit auf einen Stuhl gezwungen wurde, auf dem zuvor schon viele verbrecherische Hintern gesessen hatten. Meiner jedoch war unschuldig, aber das wollten die beiden hier nicht verstehen. Anscheinend hatte Berlin gerade keine anständigen Verbrecher zu bieten, denn die Herren von der Kripo hatten sich in die Abrechnungen der letzten Monate reingekniet, als wären sie vom Medizinischen Dienst der Krankenkasse.“
Sabine Drangsal
Tödliche Dosis
Impressum
Texte: © Copyright by Sabine Drangsal Umschlag: © Copyright by Markus Drangsal, drangsal.de Verlag: Sabine Drangsal
Gneisenaustr. 65 10961 [email protected]
Druck: epubli ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
Foto: CanStockPhoto, Esbenklinker
ISBN 978-3---
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
„Herz, Du verlierst sehr viel, wenn Du nichts aushälst“
Florence Nightingale
Für meine tollen Kinder.
Sie zog die Spritze auf. Kein Zittern der Hand. Nichts. Sie war die Ruhe selbst. Gelassen und konzentriert.
Sie wechselte die Nadel, genauso wie sie es immer tat. Um eine Infektion zu vermeiden. Obgleich es ja keine Rolle mehr spielte, denn es würde seine letzte Spritze sein. Und wie schon hunderte Male zuvor in jahrelang eingespielter Routine inspizierte sie die Haut des enormen Bauches, stach zu und injizierte die gesamte Flüssigkeit. Langsam und geduldig. Dass die Dosis dieses Mal eine andere war, spielte keine Rolle. Ein Gefühl der Macht, der nie gekannten Stärke und Souveränität durchströmte sie. Es gab keinen Moment des Zweifels. Sie hatte genau nachgerechnet. Es war ganz sicher genug.
Schade nur, dass sie nicht erleben durfte, wie er sein Leben aushauchte.
Er saß da und schlief. Tief und fest. Irgendwie friedlich. Das war gut. Er sollte nicht leiden. Warum auch? Es gehörte schließlich zu ihren Aufgaben, Menschen zu helfen, ihr Leid zu lindern. Er würde einfach weiter schlafen und unbemerkt in den Tod gleiten.
Dank ihrer Unterstützung.
Ob er wohl irgendwie mitbekam, dass er starb?
War das richtig? Ihn sterben zu lassen, ohne dass er die Möglichkeit hatte, wenigstens einen Moment lang innezuhalten und sich zu verabschieden? Viele wünschten sich, einfach im Schlaf zu sterben. Einschlafen und nicht mehr aufwachen. Weil sie Angst vor dem Tod, vor den Qualen, vor der Angst selbst hatten?
Sie sah in sein Gesicht. Der Kopf war nach vorne gesunken. Nur seine dicken Wangen waren zu sehen und der Schorf auf seiner Kopfhaut. Sein Kinn ruhte auf der Fettfalte seines Halses. Das rote Licht auf der Anzeige seines E-Rollis leuchtete und sie drückte die Out-Taste. Er würde ihn nicht mehr brauchen.
Danach drehte sie die Flamme des Gasofens aus, machte das Fernsehgerät aus, wischte den Küchentisch ab, lehrte die Urinflasche, ging nochmals durch die Wohnung, kontrollierte, ob alles auf seinem Platz lag und schloss dann sachte die Haustür hinter sich ab. Ruhe sanft, dachte sie.
Mit diesen Worten war sie ganz zufrieden, trafen sie doch ihr freundliches und sorgendes Gefühl für ihn. Für alle ihre Patienten.
Auf der Straße atmete sie mehrmals tief ein und aus.
Gegenüber auf dem Parkplatz von Aldi hatten sich ein paar Trinker versammelt und amüsierten sich im Dunst des Alkohols. Warum sie wohl tranken? Gab es immer einen Grund, wenn sich jemand aufgab? Sich gehen ließ? Arme Gestalten, die ihr jämmerliches Glück in Form eines Tetrapacks teilten.
Ein kleiner Junge sauste auf seinem Roller an ihr vorüber. Er strahlte über das ganze Gesicht und rief seiner Mutter etwas zu, das sie nicht verstand. Die Mutter lachte, lief ihm atemlos hinterher.
Eine Gruppe Jugendlicher zog lachend und schwatzend an ihr vorbei. Sie blieb stehen und sah ihnen nach. Wie konnten sie nur so ausgelassen und fröhlich sein? War sie je so ausgelassen gewesen? So leichtherzig?
Aber solche Gedanken führten zu nichts. Bedeuteten nichts. Sie wusste schon lange, dass sie anders war. Immer anders bleiben würde. Sie schwamm nicht mit dem Strom, eiferte nicht jedem modischen Schnickschnack hinterher. Der Preis, den sie dafür zahlte, war die Abgeschlossenheit. Aber das war schon immer so gewesen. Schon seit frühester Kindheit. Mit den Jahren war das Alleinsein zu ihrem vertrautesten Begleiter geworden.
Ein tiefes Gefühl der Befriedigung und Ruhe durchflutete sie, das Herz wurde ihr warm und weit und sie fühlte sich gelöst, wie schon lange nicht mehr. Leicht und stark zugleich. Ja, dachte sie aufatmend, ja, es ist geschafft!
„So, jetzt nur noch die Strumpfhose drüberziehen. Die liegt da drüben.“
Gerda Lange zeigte mit ihrem dicken, schwabbeligen Finger auf den Sessel neben ihr, wo eine hautbraune Feinstrumpfhose lag. Mühsam kam ich aus der Hocke nach oben, kämpfte gegen den kurzen Schwindel an und schwankte zum Sessel. Dieses hautfarbene Ding sollte ich ihr anziehen? Über diese Beine, deren Unterschenkel schon ohne Wickelung ihr barockes Ausmaß zu sprengen drohten?
Das Leben ist voller Herausforderungen.
Ich ging wieder in die Hocke.
„Ihre Knie knacken ja fürchterlich“, bemerkte Gerda Lange teilnahmsvoll. Das Lächeln, das ich ihr zuwarf, geriet etwas verzerrt. Ich war müde. Außerdem war mir flau im Magen. Seit dem Kaffee um fünf Uhr, hatte ich noch nichts gegessen und getrunken. Jetzt war acht Uhr und es bestand keine Aussicht auf eine baldige Auszeit. Es warteten noch drei Insulinpatienten auf mich.
„Jetzt ist sie schon wieder gerissen“, jammerte Gerda Lange, angesichts ihrer zerfetzten Strumpfhosen. Ich legte Bedauern in mein Gesicht.
„Tut mir leid. Es ging nicht besser. Die Strümpfe bleiben spätestens an den Schwiegermüttern hängen.“
Ich zog die zerfetzte Strumpfhose über die Knie, kam mühsam nach oben, half Gerda Lange aufzustehen, wobei sie bedenklich wankte wie ein Schiff auf hoher See. Ich zog die Strumpfhose über die mächtigen Oberschenkel und den noch mächtigeren Hintern.
„Da ist es wieder. Das kleine Kätzchen“, rief Gerda Lange entzückt und zeigte in die rechte Zimmerecke. „Es ist schwarz-weiß und ganz klein.“
Ich suchte mit den Augen den Boden ab, konnte jedoch kein Kätzchen entdecken.
„Ich weiß, Sie können es nicht sehen“, beruhigte mich Gerda Lange, als sie meinen irritierten Blick wahrnahm. „Der Arzt meinte, das gehört zu meiner Krankheit.“
„Solange Sie Kätzchen sehen, ist das doch ganz schön“, gab ich zurück.
„Kürzlich nachts, da war ein Mann hinter dem Sofa. Da habe ich den Notruf gedrückt, weil ich so schnell gar nicht aus dem Bett kam. Die Dame am Telefon gab mir den Rat, mit dem Mann zu reden. Da hab ich ihn gefragt, was er da macht. Er hat mir nicht geantwortet, aber hat mich die ganze Zeit ganz komisch angeschaut. Die Frau am Telefon meinte dann, ich soll feste zurückschauen. Das half tatsächlich. Irgendwann hat er sich weggeduckt, aber ich wusste ja nicht, ob er jetzt ganz weg war oder nicht. Als ich dann endlich aus dem Bett war, war er verschwunden.“
Gerda Lange lächelte treuherzig und ohne jede Arglist. Dann streifte ihr Blick wieder zum Sessel.
„Da ist es wieder, das Kätzchen!“, rief sie erfreut. „Schade, dass Sie es nicht sehen können.“
Das fand ich nicht. Ich mag keine Katzen oder präziser ausgedrückt, ich mag überhaupt keine Haustiere. Und ich mag sie schon gar nicht in Berlin und ganz und gar nicht bei meinen Patienten. Sie stinken, kratzen, pinkeln in Ecken, betteln um Aufmerksamkeit, bellen oder manche wollen sogar von mir gestreichelt werden.
In Gerda Langes Akte stand, neben diversen anderen Diagnosen, halluzinatorische Wahrnehmungen, die sich anscheinend in Form von Kätzchen oder stummen Männerbesuchen äußerten.
In der Küche wusch ich meine Hände und gab anschließend dieser gutmütigen und freundlichen Frau ihre Medikamente. Insgesamt neun Stück zum Frühstück. Für jede Diagnose eine Pille. Dann verabschiedete ich mich, reichte ihr die Hand und winkte im Hinausgehen dem imaginären Kätzchen zu.
Gerda Lange wohnte in einem dieser hässlichen seelenlosen Wohnsilos aus den siebziger Jahren in Gropiusstadt. Nachdem Walter Gropius und Willy Brandt, der damals Berlin regierte, den Grundstein dafür gelegt hatten, waren hier innerhalb weniger Jahre siebzehntausend Wohnungen in fünfundsechzig Wohnkomplexen gebaut worden.
In jedem Stockwerk von Gerda Langes Zehngeschosser befanden sich zwölf Einzimmerwohnungen mit Balkon, in denen vorwiegend ältere Menschen wohnten. In den langen, dämmrigen Fluren waberte die vergraute Luft der letzten vierzig Jahre. Unten im Erdgeschoss gab es einen Seniorentreff, der unter chronischen Kohlgeruchsausdünstungen litt. Dienstags morgens, so las ich auf dem von Hand gemalten Plakat, wurde für die Bewohner Sitzgymnastik angeboten, zu der jeder willkommen sei.
Nur die Anwesenheit von Haustieren – auch von Katzen - sei nicht erwünscht.
Stunden später, nach etlichen Kilometern durch das verstopfte Neukölln - seit Wochen war die Karl Marx Straße wegen Sanierungsarbeiten nur einspurig befahrbar und in der Sonnenallee stand man sowieso immer ab zehn Uhr im Stau - saß ich mit meinen Kolleginnen im Sitzungsraum zur wöchentlichen Teambesprechung. Unser großspurig benannter Sitzungsraum war die ehemalige Abstellkammer einer Erdgeschosswohnung in der Baerwaldstraße am Südstern. Das schmale, zwanzig Zentimeter breite Fenster ließ so wenig Licht in den Raum, dass zu jeder Tageszeit eine ärmliche Sechs-Watt-Energiesparlampe leuchtete.
Nach sieben Stunden Tour war ich müde. Mir schwirrte der Kopf und ich betrachtete das Ölbild an der gegenüberliegenden Wand. Ein großes Fenster in einem ansonsten dunklen Raum öffnete den Blick auf das flirrende Blau des Meeres. Nicht zum ersten Mal wanderte mein Blick sehnsuchtsvoll dessen Schaumkronen am gleißenden Horizont ab.
„Wo ist eigentlich Alev?“, rief mich Isabell in die profane Gegenwart zurück. Sie schaute mit blitzenden Augen in die Runde.
„Vielleicht krank?“, fragte Johanna Junge, die neben mir saß und die ich insgeheim die rote Johanna nannte, da ihr Haar kupferrot leuchtete.
Isabell hatte ebenfalls kurzes lockiges Haar, eine laute Stimme, war resolut und dafür bekannt, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm. Sie arbeitete schon seit einigen Jahren bei der Ambulanten Pflege Kreuzberg Neukölln und war eine erfahrene Krankenschwester, die hohe Ansprüche sowohl an sich selbst, als auch an ihre Kolleginnen stellte. Das war der Grund, warum sie nicht gut auf Alev zu sprechen war.
„Alev? Die ist bestimmt nicht krank. Die ist wie immer zu spät!“, schnarrte Isabell wegwerfend.
„Ganz ruhig“, beschwichtigte Eva Reinig, unsere Pflegedienstleitung, die sich schon oft Isabells Beschwerden über Alev hatte anhören müssen. Sie schaute auf die Uhr. „Hat sie heute nicht Frühdienst?“
„Doch, doch“, sagte Johanna an meiner Seite. „Die Tour ist eigentlich nicht so lange. Alev müsste schon längst hier sein.“
„Sag ich doch“, bekräftigte Isabell, verschränkte die Arme und sah triumphierend zur Reinig.
Eva Reinig hatte erst seit ein paar Wochen den Posten der Pflegedienstleitung inne und suchte noch die richtige Haltung der Vorgesetzten. Sie hatte zeitgleich mit mir in der Firma begonnen. In den ersten Wochen hatte ich gedacht, dass sich ihre Unsicherheit mit der Zeit legen würde. Aber auch nach vier Monaten wirkte sie angestrengt, müde und behandelte die Mitarbeiterinnen eher aus Verlegenheit denn aus Arroganz von oben herab. Jetzt huschten ihre Augen ängstlich zwischen Johanna und Isabell hin und her. Ihr schmales, spitz zulaufendes Gesicht war leicht gerötet. Insgeheim nannte ich sie Frau Maus.
Eine müde Frau Maus mit steiler Stirnfalte auf blasser Stirn.
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Alev trat ein, das I-Phone zwischen Ohr und Kopftuch geklemmt. Ungeniert sprach sie mit ihrer typisch heiseren Stimme einfach weiter. Alle Blicke wandten sich ihr zu, während sie sich halb stehend auf den Fenstersims schob - es gab keinen Stuhl mehr - und weiter sprach. Beiläufig winkte sie uns zu.
“Entschuldigt bitte“, sagte Alev mit knarzender Stimme, nachdem sie endlich das Telefonat beendet hatte, „mein Sohn wollte nicht zur Nachhilfe gehen. Na, dem hab ich was erzählt.“
Triumphierend schaute sie in die Runde. Isabell hatte schon wieder gefährlich ihre Augenbrauen nach oben gehoben und wollte gerade etwas sagen, als Alev schon weiter sprach:
„Eva“, sie hatte die Angewohnheit jeden zu duzen, egal ob Kollegin oder Vorgesetzte. „Warum sollte ich heute eigentlich nicht zu Herrn Bulig? Der ist doch sonst immer in der Tour.“
„Herr Bulig ist verstorben“, informierte Eva Reinig in neutralem Ton.
Mit einem Schlag war es still im Raum.
„Hülya fand ihn heute Morgen im Bett. Die Todesursache ist noch unbekannt“, fuhr Eva Reinig fort.
„Aber Herr Bulig war doch fit. Na ja, für seine Verhältnisse fit“, rief Alev bestürzt.
„Wir wissen nicht, woran er gestorben ist “, sagte Eva Reinig, deren Stirnfalte sich jetzt noch tiefer in die Haut grub. „Das heißt, es wurde die Polizei eingeschaltet und es wird auf jeden Fall eine Untersuchung geben. Die Dokumentation habe ich schon hier.“
Sie klopfte mit der linken Hand auf die rote Akte. Eine Geste, die ihre Autorität unterstreichen sollte, jedoch aufgesetzt wirkte, so als hätte sie das in einem Managementkurs gelernt. „Ich habe dazu sowieso noch ein paar Fragen. Frau Grusig, Sie fuhren gestern die Spättour und waren bei Herrn Bulig?“
Ich räusperte mich und setzte mich etwas aufrechter.
„Ja“, antwortete ich vorsichtig.
„Fiel Ihnen etwas auf? Irgendwelche Besonderheiten?“
Meine Kolleginnen sahen mich an. Ich überlegte kurz und rief mir den Einsatz vom Vortag bei Rainer Bulig in Erinnerung. „Nein, er war wie immer.“
Ich rieb mir nervös die Hände. Als ich am Vortag bei ihm gewesen war, war er noch putzmunter gewesen. Fröhlich hatte er Eric Claptons Leyla gehört und mir erzählt, dass er ausnahmsweise unter der Woche einen Braten und selbst gemachte Knödel kochen würde.
Ich erinnerte mich noch gut daran, als ich zum ersten Mal bei ihm gewesen war. Er wohnte in einer Erdgeschosswohnung in der Nansenstraße in Neukölln, hatte das Fenster offen und rief fröhlich, dass ich nur reinkommen solle.
Seine Wohnung bestand aus einem geräumigen Schlafzimmer mit einem großen Doppelbett und einem Wohnzimmer mit überdimensioniertem Fernsehgerät. Ihm waren in den letzten drei Jahren beide Beine amputiert worden. Diabetes. Rainer Bulig hatte keine Familie, aber einen funktionierenden Freundeskreis. Sobald es das Wetter zuließ, stand sein Fenster offen und er schwatzte oft mit Leuten, die draußen vorbei liefen. Er kochte gerne und ausgiebig, am liebsten Schweinebraten mit Knödel. Nicht unbedingt das passende Essen für einen Diabetiker, der abnehmen sollte. Aber das wollte er sowieso nicht.
„Wie bitte soll ich denn abnehmen, wenn ich den ganzen Tag im Rollstuhl sitze? Und mich kasteien, das mach ich nicht. Ich hab mein Leben lang gearbeitet, jetzt lass ich es mir gut gehen!“
Aus seiner Sicht war es vielleicht ein durchaus bequemes Leben. Jeden Morgen kam jemand und half ihm beim Waschen. Zweimal täglich kontrollierte eine Schwester den Blutzucker und wechselte den Verband, eine Physiotherapeutin massierte ihn regelmäßig eine halbe Stunde und oft waren seine Kumpel bei ihm, um eine Runde Karten zu spielen.
Rainer Bulig war unternehmungslustig. Er fuhr auch bei jeder Gelegenheit nach draußen: Zum Einkaufen bei Aldi gegenüber, in die Hasenheide, wo ihn jedermann kannte oder zur Currywurstbude am Hermannplatz. Dabei trug er immer eine lustige rote Wollmütze auf dem Kopf, so dass er schon von Weitem zu erkennen war.
Mit der Zeit hatte ich Rainer Bulig richtig ins Herz geschlossen.
„Ich werde bestimmt hundert Jahre alt! Und bis dahin wird kein Trübsal geblasen“, hatte er verkündet, wenn ich ihn dazu ermunterte, vielleicht etwas weniger zu essen, weniger zu rauchen und vielleicht sogar das eine oder andere Kilo abzunehmen.
Insgemein beneidete ich ihn um seine fröhliche Sorglosigkeit.
Jetzt war er tot.
Ein Hedonist weniger auf der Welt.
Schade.
„Er ließ sich gehen und die Konsequenzen waren ihm egal“, stellte Isabell abschätzig fest. „Jetzt hat er dafür die Rechnung gekriegt.“
Ich sah zu Isabell und staunte über ihre Kaltschnäuzigkeit, denn sie hatte ihn ebenfalls gemocht, auch wenn sie sich über seinen unvernünftigen Lebensstil aufgeregt hatte.
„Gut“, sagte Eva Reinig und schloss resolut die vor ihr liegende Akte. „Seine Zuckerwerte waren stabil. Seine Druckgeschwüre waren alle oberflächlich. Wir können also davon ausgehen, dass kein Pflegefehler vorlag.“
Sie richtete ihren Blick auf die vor ihr liegenden Notizen, machte irgendwo einen Haken, dann hob sie den Kopf und fragte: „Übrigens, es fehlt der Schlüssel der Hauspflegerinnen zu Herrn Buligs Wohnung. Hat den eine von Ihnen?“
„Warum sollten wir einen rosa Schlüssel nehmen?“, fragte Isabell sofort kratzbürstig.
Die Schlüssel der Kunden hatten entweder rosa oder grüne Anhänger. Rosa für die Pflegerinnen, grün für die Fachkräfte. Da wir unterschiedliche Touren fuhren, waren wir meist auch zu unterschiedlichen Zeiten bei den Patienten.
„Das kommt ja vor“, sagte Eva Reinig. „Wir brauchen die Schlüssel. Die Polizei hat uns danach gefragt.“
„Also, ich hab ihn nicht. Fragen Sie doch Alev, die vergisst ja gern ihre Schlüssel!“, warf Isabell provokant in die Runde.
Alev sah nur kurz vom Display ihres Handys auf, rollte mit den Augen, schob ihr Kopftuch zurecht und wandte sich erneut ihrem I-Phone zu.
Nach gut neunzig Minuten war die Sitzung beendet und ich schleppte mich mit tonnenschweren, müden Gliedern nach Hause, trank noch ein Glas Wasser und ließ mich auf das Sofa fallen.
Es klingelte und klingelte. Ich lag halb ohnmächtig auf der Couch, mein Körper fühlte sich wie gelähmt an, der Kopf in Watte gepackt, alle höheren Gehirnfunktionen waren ausgeschaltet. Ich wartete mit rasendem Herzen und schweren Augenlidern, dass das Telefon endlich wieder Ruhe gab. Unmöglich jetzt aufzustehen. Es war halb fünf und ich war erst kurz nach vier von der Teamsitzung nach Hause gekommen. Probehalber bewegte ich meine Finger. Dann bollerte es an meiner Tür und jemand rief: „Kerstin! Bist du da? Mach auf!“
Es war gar nicht das Telefon gewesen, das mich geweckt hatte. „Kerstin!“
Die Rufe war markerschütternd. Langsam brachte ich mich in die Vertikale und wischte mir einen Tropfen Speichel aus dem Mundwinkel.
„Hallo!“
Langsam wankte ich zur Tür.
„Da bist du ja. Ich stehe hier bestimmt schon seit zehn Minuten und du rührst dich nicht. Hast du geschlafen? Mitten am Tag? Hab ich dich geweckt?“
Martina, mit ihrer kleinen Tochter auf dem Arm, schob mich resolut zur Seite und kam rein.
„Du siehst ja furchtbar aus. Ich mach dir erst mal einen Kaffee.“
Sie scheuchte mich in die Küche, drückte mich auf einen Stuhl, setzte mir Klein Nele auf den Schoß und machte sich am Herd zu schaffen.
„Ich war gerade in der Gegend. So schönes Wetter. Und es ist zu früh, um nach Hause zu gehen. Außerdem freut sich Nele, dich mal wieder zu sehen. Seit du arbeitest, sehen wir uns überhaupt nicht mehr.“
Ich brummte und grub meine Nase in Neles Haar. Der zarte Duft nach Sonnencreme, Milch und Sand war betörend. Sie quiekte und patschte mir ihr Händchen ins Auge.
„Na, altes Haus. Wie geht es dir?“, fragte Martina, während sie sich am Herd zu schaffen machte.
„Wie es einem eben geht, wenn man immer arbeiten muss“, brummte ich missmutig.
„Ach komm, du bist nur von der Arbeit entwöhnt“, sagte meine beste Freundin mit großem Einfühlungsvermögen.
„Kaffee trinken und Zeitung lesen sind mir auf jeden Fall lieber als dieses Gehetze“, gab ich beleidigt zurück.
„Ja, ja, die schönen alten Zeiten“, sagte Martina.
„Streu nur Salz in meine Wunden.“
„Andrea hat dich ja nicht wegen des Geldes verlassen.“
Ich schwieg. Ich wollte nicht an Andrea denken. Das tat sofort weh. Sie fehlte mir. Noch immer. Wie auch nicht? Nach gut neun Jahren hatte sie mich verlassen, unter Tränen verlassen, aber verlassen! Und das nicht, weil ich mich in den letzten Monaten standhaft geweigert hatte, irgendetwas zu unserem Lebensunterhalt beizutragen. Sie verdiente als Bestatterin genug, um uns beide eine Zeit lang über Wasser zu halten. Obgleich das ihrer schwäbischen Sparsamkeit nicht gerade gefallen hatte.
„Ich weiß, es war nicht wegen des Geldes“, sagte ich trotzig.
Martina hob die Augenbrauen und wechselte das Thema.
„Und, was treibst du sonst so?“
„Ich arbeite.“
„Na, und sonst?“, fragte Martina.
„Ich gucke Krankenhausserien“, ich gähnte ausgiebig und Nele steckte mir ihren Finger in den Mund. Ich biss spielerisch zu und knurrte, woraufhin sie fröhlich jauchzte und an meinen Haaren zog.
„Krankenhausserien?“ Martina warf mir ihren tadelnden Lehrerinnenblick zu. „Du verkommst. Wo ist dein Kaffee?“
Ich zeigte oben auf das Regal.
„Ich verkomme nicht. Ich hole mir Anregungen bei Grey´s Anatomy.“
„Ziemlich dämlich, wenn du mich fragst“, sagte Martina.
„Stimmt gar nicht. Bailey ist doch super“, widersprach ich.
„Bailey?“
„Die kleine Schwarze mit dem großen Busen. Der Nazi.“
Jetzt schaute mich Martina an, als wäre ich geistesgestört.
„Na, mit deinen Kenntnissen kann es ja nicht weit her sein, wenn du nicht weißt, wer der Nazi ist.“
„Kerstin, das ist…“
„Ja, ja“, brummte ich.
„Und wieso ist dieses Busenwunder ein Nazi, wo sie doch Schwarze ist?“, fragte Martina.
Ich verdrehe meine Augen.
Nele quäkte lustig: „Naschi, Naschi“ und grapschte nach den traurigen Resten einer vertrockneten Basilikumpflanze, die auf dem Tisch stand. Sie war mit ihren knapp zwei Jahren nicht gerade ein Sprechwunder.
Aber ich nahm es mit meinen Tantenpflichten sehr genau.
„Naa Zii, Nele, sag schön Naa Zii.“
„Naaa Schi. Nele schön sagt“, wiederholte sie und stopfte sich vertrocknete Basilikumblätter in den Mund.
„Nur die Blätter naschen, nicht die Blumenerde!“
Ich nahm ihr das Händchen aus dem Mund und wischte sie sauber.
„Naschi naschen!“, jubelte das Kind.
„Deine Milch ist sauer“, sagte Martina und guckte entnervt in den Topf. „Hast du noch Frische?“
„Nö.“
„Wie sieht es hier überhaupt aus? Keine Milch da“, und mit einem Blick auf den Berg schmutzigen Geschirrs in meiner Spüle, fuhr sie fort: „Alles dreckig. Und chaotisch.“
Ich schnipste verschämt ein paar Krümel vom Küchentisch.
„Ich hab die letzten acht Tage Dienst gehabt“, knurrte ich mürrisch.
„Andere arbeiten auch und bei denen sieht es nicht so aus“, konstatierte Martina.
Ich hab auch keinen Grund mehr aufzuräumen, dachte ich voll Selbstmitleid. Andrea war nicht mehr da. Für sie habe ich mich jahrelang im Haushalt abgemüht, habe gekocht, gewaschen, geputzt. Mein Liebchen sollte sich wohlfühlen, wenn sie nach einem anstrengenden Bestattungstag nach Hause kam. Aber dann hatte sie sich nicht mehr mit mir wohlfühlen wollen. Tränen stahlen sich in meine Augen. Ich wischte sie schnell ab, aber es kamen gleich neue.
„Kestin weint.“ Nele streichelte zärtlich mein Gesicht. „Aua macht?“
„Ja“, schniefte ich. „Großes Aua.“
Sie pustete mir ihren warmen Kinderatem ins Gesicht. „Eia Kestin.“
Martina stellte mir eine Tasse schwarzen Kaffee vor die Nase und streichelte Klein Nele.
Dann legte sie mir sanft die Hand auf die Schulter.
„Na, altes Haus. Wird schon wieder.“
Ich schüttelte den Kopf. Es würde nie wieder werden. Mein Leben war trostlos und leer. Keine Andrea. Keine Zeitung mehr. Dafür ein Job, der mich frustrierte und erschöpfte. Bis zum Ende meines Lebens würde ich Krankenhausserien schauen und mich kraftlos von Tag zu Tag schleppen.
„Hast du schon was gegessen?“
„Ja, ja.“
„Komm, wir gehen zum Thailänder. Wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag solltest du zu dir nehmen.“
„Du redest schon genauso wie ich, wenn ich meinen Patienten dämliche Ratschläge gebe. Aber die machen auch nie, was ich ihnen sage.“
„Ja, aber die sind schon altersstarrsinnig und krank. Du nicht“, stellte Martina fest.
„Ich hab aber keinen Hunger“, gab ich trotzig zurück und würgte einen Schluck Espresso runter. „Übrigens. Heute ist ein Patient gestorben. Der Dicke, von dem ich dir schon mal erzählt habe.“
„Und an was ist er gestorben?“
„Keine Ahnung. Die Polizei wurde eingeschaltet, weil die Todesursache ungeklärt ist.“
In diesem Augenblick klingelte mein Diensthandy.
„Willst du nicht dran gehen?“
„Nein“, murrte ich. „Ich hab morgen frei.“
Das Handy klingelte mittlerweile nicht mehr. Ich nahm den letzten Schluck Espresso, der zu stark war und bitter schmeckte.
Nele quietschte vergnügt auf meinem Schoß und griff erneut nach dem Basilikum. Der Topf war gekippt und die Blumenerde verteilte sich auf meinem schmutzigen Tisch. Nele schien das, im Gegensatz zu ihrer Mutter, nicht zu stören. Dann klingelte erneut das Handy. Martina sah mich streng an, stand auf, holte es aus dem Wohnzimmer und hielt es mir unter die Nase.
„Los jetzt“, zischte sie, „keine Vogel Strauß Politik.“
Widerstrebend nahm ich das hässliche alte Ding.
Und verfluchte kurz darauf Martina.
„Charly, komm hierher Charly, lass das schön sein. Sei nicht so ungezogen!“
Die Stimme überschlug sich und war mindestens drei Oktaven zu hoch. Resa Schulze saß auf ihrer Couch und versuchte ihren kleinen Mischlingshund vom Wohnzimmertisch wegzulocken, wo er auf ihrer Tablettenbox herum biss. Dann warf sie ein Stück Würfelzucker in die andere Ecke des Raumes und der Hund sprang beherzt quer über den Tisch dem Würfelzucker hinterher. Es knirschte, als er den Zucker zerbiss. Währenddessen kniete ich vor Resa Schulzes Elefantenbeinen, säuberte ihre Wunden. Im Radio lief eine Sinfonie von Beethoven, es roch nach altem Müll, Hund und noch vielem anderen, dessen Ursprung ich lieber nicht wissen wollte.
„Die Beine, dat tut mir so weh. Die werden immer schlimmer“, stellte Resa Schulze fest.
„Sie müssen die Beine hochlegen, damit das Blut zurückfließen kann“, erklärte ich.
„Dat geht doch nicht“, schrie Frau Schulze, „mir wird doch immer schwindelig. Sowie ich meine Beine hochlege geht dat los.“
In diesem Moment kam Charly angesprungen und setzte sich neben mich auf den Boden, schob seinen Kopf zwischen meine Hand und den Unterschenkel und leckte die Wunde. Ich würgte.
„Bitte Frau Schulze. Der Hund muss weg.“
Immer wenn ich ihn beiseiteschob, drückte er seinen Kopf nur noch fordernder an meine Hand und versuchte erneut zu lecken. Resa Schulze schrie noch durchdringender:
„Charly, sei ein braver Hund. Die Tante tut dir doch nichts. Komm, sei schön lieb, Charly. Schön lieb sein!“
Ich säuberte die Wunde, während ich mit dem rechten Arm den widerspenstigen Hund auf Abstand hielt. Beethoven und die keifende Stimme im Ohr. Der Hund guckte freundlich. Dann legte ich mit einer Hand die ehemals sterilen Kompressen auf die Wunde, schnappte mir die elastische Binde und begann gegen den Widerstand des Hundes das schwere Bein zu wickeln.
„Komm, Charly. Na gut, da haste noch was. Dann gibst du aber Ruhe. Du böser, böser Hund.“
Resa Schulze warf ein Stück Wurst in die Zimmerecke, dem Charly aber nur mit mäßigem Interesse hinterher sah. Er zog wohl Würfelzucker oder meine Nähe vor, jedenfalls rückte er mir nicht von der Seite.
„Sie müssen zum Arzt. Der muss der Ursache ihres Schwindels auf den Grund gehen, damit Sie endlich die Beine hochlegen können. Wie schlafen Sie eigentlich? Doch nicht etwa auch im Sitzen?“
„Es bleibt mir ja nichts anderes übrig“, klagte Resa Schulze lautstark. „Immer dieser Schwindel. Dat ist ganz schrecklich. Ich kann noch nicht mal fernsehen. Dat verkrafte ich nicht.“
Beethovens Violinen legten sich über ihre hohe Stimme.
Charly versuchte erneut, sich ein paar Streicheleinheiten von mir einzufangen. Angeekelt zog ich die Hand zurück und stand schnell auf. „Komm, wir gehen Hunde vergiften im Park“, sang es bösartig in meinem Hinterkopf. Das war doch kein Leben für dieses Tier. Es würde bald an Verfettung und Schwerhörigkeit leiden. Und Karies.
„Wer geht eigentlich mit ihrem Charly Gassi?“
„Die Frau Schmidt, die Nachbarin, die kommt manchmal, die geht dann mit ihm. Nicht Charly, bald kommt die Sieglinde und dann gehste schön raus“, kreischte sie dem kleinen braunen Tier zu.
„Wie oft denn?“
Frau Schulze nickte beherzt. „Zweimal, das reicht dem Charly. Der ist doch am liebsten hier, bei mir. Nicht wahr, Charly, mein kleiner Racker?“
Charly wedelte mit dem Schwanz und sah sein Frauchen erwartungsvoll an.
Hunde sind schlicht, dachte ich hoffnungslos. Egal, was ihnen angetan wurde, sie lieben ihre Folterer und essen demütig den Zucker, der ihnen zugeworfen wird. Kurz überkam mich Mitleid mit dem braunen, kurzhaarigen Vieh. In mir keimte die Idee, das arme Tier von seiner jämmerlichen Existenz zu erlösen. Schnell und schmerzlos. Das musste doch möglich sein. Charly schaute mich irgendwie komisch an, kam dann zu mir und rieb sein Hinterteil an meiner Wade.
Ich versprach ihm, dass er nichts spüren würde. Einfach einschlafen, lieber, kleiner ekliger Charly. Und als hätte die Göttin mir gelauscht, erklangen in diesem Moment die ersten Töne von Brahms Requiem in b moll Denn alles Fleisch, es ist wie Gras.
Der Telefonanruf vom Vortag hatte mir den Spätdienst von Alev eingebracht, die krank geworden war. Resa Schulze war die erste Patientin dieser Tour gewesen. Das Leben kennt kein Mitleid. Immerhin aber war die Tour nicht so voll und Resa Schulze war geschafft. Doch die Tür hinter dem bellenden Charly war noch nicht ins Schloss gefallen, da klingelte mein Diensthandy.
„Frau Grusig“, schepperte es in mein Ohr. Der Ton war zu laut eingestellt. Ich musste zuerst die Lautstärke regulieren, wodurch mir die folgenden Worte Eva Reinigs entgingen. “... Sie kommen also in einer halben Stunde ins Büro.“
„Warum soll ich kommen?“, versuchte ich noch zu fragen, doch meine Pflegedienstleitung hatte die Verbindung schon unterbrochen. Das hatte sie bestimmt auch in ihren Managementkursen gelernt: Kurze, knappe Anweisungen geben und keine Diskussionen führen.
Danach fuhr ich stop-and-go die Herrmannstraße entlang, über den verstopften Herrmannplatz, die Hasenheide entlang über den Südstern zurück zum Büro. Eva Reinig warf mir nur einen kurzen, sehr geschäftigen Blick zu, als ich meinen Kopf in ihrer Tür blicken ließ.
„Sie werden schon im Besprechungsraum erwartet“, sagte sie kurz angebunden und drückte ihr Kreuz durch.
„Wer erwartet mich?“
„Das habe ich Ihnen doch schon am Telefon gesagt.“
In diesem Augenblick klingelte ihr Handy. Sie drehte mir ihre linke Schulter zu und klemmte sich das Telefon unter das Kinn.
Schnell überlegte ich, ob mir ein Fehler unterlaufen war, über den eine Kollegin mit mir sprechen wollte. Aber dann hätte die Reinig bestimmt dabei sein wollen, beruhigte ich mich. Ich trat also einigermaßen neugierig in den dunklen, schmalen Raum und sah zwei fremde Männer am Tisch sitzen.
„Sie warten auf mich?“, fragte ich.
„Wenn Sie Kerstin Grusig sind“, sagte der Ältere von beiden und lächelte freundlich.
Ich setzte mich den beiden gegenüber und war froh, dass an der Wand hinter ihnen das Bild mit dem Meeresblick hing.
„Sie wissen, warum wir Sie sprechen wollen?“, fragte der Grauhaarige, der ein gestreiftes blaues, etwas knittriges Hemd trug mit einer dunkelblauen Krawatte, auf der kleine rote Herzchen aufgedruckt waren. Er war ungefähr sechzig und blickte mich väterlich wohlwollend über den Rand seiner Lesebrille an.
„Nein“, sagte ich plötzlich misstrauisch.
Der Grauhaarige schaute zu dem etwas Jüngeren an seiner Seite und nickte ihm zu.
„Mein Name ist Herbert Grone und das ist Justus Kleinhart“, sagte der Jüngere kurz angebunden. „Wir sind von der Mordkommission und ermitteln im Fall Bulig.“
Er sprach es Mordgommission aus.
„Mordkommission?“, fragte ich. In meinem rechten Ohr erklang ein eigenartiges Geräusch. Ich fühlte mich sofort schuldig. Nervös kratzte ich mich am Ohr und schaute unsicher von einem zum anderen. Der Jüngere hatte schmale, unsympathische Lippen und den strengen Gesichtsausdruck eines Stasimitarbeiters, der sowieso schon wusste, dass man schuldig war. Der Grauhaarige lächelte irgendwie gütig. Leider überließ dieser das Wort dem schmallippigen Sachsen.
„So wie es aussieht, waren Sie die Letzte, die Herrn Bulig lebend gesehen hat. Sie hatten am Montag, den sechsten Mai, Dienst und waren laut der Unterlagen um achtzehn Uhr zweiunddreißig bei Rainer Bulig?“
Ich wurde rot. „Da lebte er aber noch.“
Herbert Grone schaute mich unbeeindruckt an und blätterte in seinen Unterlagen, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Ich starrte wie hypnotisiert auf ein großes Muttermal, das über seine rechte Oberlippe spross und aus dem drei lange braune Haare wuchsen. Ob er regelmäßig zum Hautscreening ging? Ich wagte es nicht, ihn danach zu fragen.
„Ist Ihnen an diesem Abend etwas an Herrn Bulig aufgefallen? War er anders als sonst?“, fragte Grone.
Ich versuchte mich zu erinnern. Nach dem Klingeln hatte ich seine Haustür mit dem Schlüssel geöffnet und schon im Flur war mir der Bratenduft in die Nase gestiegen. Rainer Bulig war mit seinem Rollstuhl in der Küche, hatte die Hände mit dem Kloßteig verklebt, die er sich erst abwaschen musste, damit ich ihm in den Finger pieken konnte.
„Also, soweit ich das überhaupt einschätzen kann, war er wie immer.“
„Und wie war er immer?“
„Gut gelaunt, vergnügt. Er kochte gerade und erwartete wohl wieder einen seiner Freunde zum Essen. Wenn es ums Essen ging, war Herr Bulig immer guter Dinge.“
„Wissen Sie, wen er erwartete?“, fragte Grone aufmerksam.
„Nein. Das hat er mir nicht gesagt. Ich habe auch nicht gefragt“, stellte ich schuldbewusst fest.
„Aber Sie sind sicher, dass er noch jemanden erwartete?“
War ich mir sicher? Er hatte es doch erwähnt oder hatte ich mir das nur ausgedacht? Ich kratzte mich am Hals, rieb meine Hände auf den Oberschenkeln, schlug mein rechtes Bein über das linke und sagte schließlich:
„Also, wenn Sie mich so fragen, beschwören kann ich es nicht.“
Grone schaute schon wieder skeptisch und streng. Ich schaute auf die Uhr und wischte erneut meine feuchten Hände an der Hose ab. Meine Patienten warteten auf mich und der Bulig war tot. Und ich war die Letzte, die ihn lebend gesehen hatte. Und ich war mir nicht sicher, was er gesagt hatte. Und ... das war alles schrecklich.
Ich räusperte mich:
„Wissen Sie, woran er gestorben ist? Ich meine, er war ja nicht akut krank oder gefährdet. Weswegen ermitteln Sie überhaupt?“
Meine Frage richtete ich mit Absicht an den netten Grauhaarigen, doch der strich nur seine Herzchenkrawatte glatt und lächelte begütigend. Grone richtete sich auf und durchbohrte mich mit seinen braunen Augen.
„Er ist an einer Überdosis Insulin gestorben.“
Ich wurde blass.
„Also, laut Aussage von Eva Reinig und der Akten, haben Sie Rainer Bulig zwei unterschiedliche Insuline gespritzt. Können Sie uns medizinischen Laien das etwas näher erläutern?“
Das bin ich auch, rief meine innere Stimme, aber das durfte natürlich niemand wissen. Schließlich arbeitete ich hier als Krankenschwester dank eines Examens, das ich vor rund zwanzig Jahren abgelegt hatte. Ich riss mich zusammen.
„Abends spritzt man oft zwei unterschiedliche Insuline. Ein kurz wirksames, das dem aktuellen Blutzuckerwert angepasst ist und ein lange wirkendes, das kontinuierlich dem Körper Insulin in kleinen Dosen zur Verfügung stellt.“
In meinem Kopf flitzten Fragen wie Geschosse hin und her. Hatte ich dem Bulig versehentlich zu viel gespritzt? Ich weiß, wenn irgendwo rapid steht, dann wirkt das Zeug ziemlich schnell und Lantus erinnert an langsam, also wirkte es langsam. Damit erschöpften sich meine Kenntnisse bezüglich der Wirkung unterschiedlicher Insuline.
„Wäre es möglich, dass Sie die Insuline verwechselt haben?“, riss mich der Kommissar aus meinen Gedanken.
Meine Hände wurden noch feuchter. Fieberhaft versuchte ich mich zu erinnern, wie viele Einheiten er gespritzt bekam. Aber in meinem Kopf war Leere. Ich wusste nur, dass abends von dem schnell wirksamen Insulin weniger gespritzt wurde und von dem langsam wirkenden viel. Grone lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ mich nicht aus den Augen. Er erinnerte mich an jemanden, dieser Blick, diese schmalen Lippen, sein leichter sächsischer Akzent.
„Ich habe das Insulin nicht verwechselt“, behauptete ich mit schwacher Stimme. Ich hätte auch gleich sagen können: Ja, ich war es, ich habe Rainer Bulig auf dem Gewissen! Mir wurde schlecht. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Warum ließ mich Eva Reinig hier alleine sitzen? Sie war meine direkte Vorgesetzte und sollte mir zur Seite stehen. Schließlich war auch sie für den Bulig verantwortlich.
„Sehen die Spritzen nicht gleich aus?“, stieß Grone nach.
„Das sind heute keine Spritzen mehr, sondern Pens. Die haben meist unterschiedliche Farben, je nach der Insulinart. Außerdem sind sie oft beschriftet.“
„Oft? Also nicht immer?“
„Nein, es gibt viele unterschiedliche Pens. Aber die meisten sehen aus wie lange dicke Stifte, farblich gekennzeichnet, so dass man sie unterscheiden kann.“
„Das heißt also, dass jeder Patient unterschiedliche Pens hat und Sie bei jedem genau darauf achten müssen, welches Insulin Sie gerade verabreichen?“
„Ja“, hauchte ich und kam einfach nicht gegen meine Selbstzweifel an. Das war schon immer so. Im Zweifelsfall gegen die Angeklagte.
„Frau Grusig, seit wann arbeiten Sie hier?“, fragte Grone übergangslos.
„Seit vier Monaten.“ Ich wurde schon wieder rot.
„Und davor? Haben Sie da auch schon als Krankenschwester gearbeitet?“
„Nein.“
„Wann haben Sie denn das letzte Mal als Krankenschwester gearbeitet?“, fragte er neutral und sah mich durchdringend an.
„Na ja, vielleicht vor achtzehn oder zwanzig Jahren.“
Ich steckte meine flatternden Hände unter meine Oberschenkel und versuchte möglichst ehrlich und vertrauenswürdig zu schauen.
„Sie sind also nicht routiniert. Könnte man das so sagen?“, stellte er in seinem sächsischen Akzent fest. Der war wie der schmallippige Honecker, einer dieser kleingeistigen, von sich überzeugten, bösartigen Spießer, die in stalinistischer Manier unschuldige Leute zum Geständnis zwangen.
„Ich bin vielleicht keine routinierte Krankenschwester“, fuhr ich trotzig auf, „dafür aber eine routinierte Leserin, die zu lesen versteht, welches Insulin in welcher Dosierung zu geben ist. Wenn Sie also keine weiteren Fragen haben, würde ich jetzt gerne meine Tour fortsetzen.“
Endlich beugte sich der freundliche grauhaarige Justus Kleinhardt nach vorn und entließ mich. Hastig sprang ich auf und stolperte, ohne mich zu verabschieden, aus der Tür. Eva Reinigs Büro lag direkt auf dem Weg nach draußen.
„Frau Reinig?“
„Ja, bitte?“ Sie schaute überrascht nach oben. Ausnahmsweise war sie nicht mit dem Telefon beschäftigt. „Das waren eben zwei Polizisten. Wegen Herrn Bulig. Warum waren Sie bei dem Gespräch nicht dabei?“
Die Reinig guckte jetzt schon genauso streng wie der Grone. Mausstreng. Aber ich hatte die Nase gestrichen voll. Mir war schlecht.
„Schließlich sind auch Sie als Pflegdienstleitung für unsere Patienten verantwortlich.“
„Aber Frau Grusig, natürlich“, sagte sie in einem schrecklich gönnerhaften Ton und richtete sich in ihrem Stuhl auf. „Die Herren baten mich darum, alleine mit Ihnen zu sprechen.“
Ich schnappte nach Luft und setzte mich, was die Reinig mit erhobener Augenbraue zur Kenntnis nahm. Aber das war mir egal. Mir war schwindelig.
„Haben Sie die Dokumentation von Bulig da?“
„Nein. Die hat die Polizei für ihre Ermittlungen beschlagnahmt.“
Beschlagnahmt.
Ermittlung.
Oh Göttin.
„Wissen Sie, wieviel Insulin Herr Bulig abends bekam?“
In überheblichem Ton antwortete sie: „Das sollten Sie doch wissen.“
Das sollte ich wissen? Sie sah mich irgendwie belehrend an. Hätte sie ihrem Wesen entsprechend Mäusebarthaare, würden diese jetzt zittern vor Freude, wie beim Anblick eines Stückchen Schokolade.
„Das weiß ich nicht“, sagte ich mit letzter Kraft. „Sie hingegen wissen genau, dass ich als Springerin keine feste Tour fahre. Da kann ich gar nicht von jedem alles im Kopf haben. Dafür gibt es ja die Dokumentation.“
Mir wurde immer schwindliger. Ich kippte meine Füße hoch und runter, damit das Blut wieder in Bewegung kam, atmete tief ein und aus. Schweiß trat mir auf die Stirn.
„Frau Grusig. Möchten Sie mir etwas sagen?“, fragte Eva Reinig scheinheilig.
Nein, das wollte ich nicht, denn im selben Moment kippte ich zur Seite und fiel in ein wohltuend schwarzes Loch.
Ich lag auf der Couch und fühlte mich schwach, wie so oft in letzter Zeit. Den Rest meines Spätdienstes hatte Lars übernommen und mich hatte die Reinig nach Hause geschickt.
Dann hatte ich gut zwei Stunden geschlafen und lag nun schlapp und starr unter meiner Decke. Nach dem Wachwerden kam langsam die Erinnerung. Die kalte Hand der Angst umklammerte mein Herz. Ich würde an erdrücktem, erdrosseltem Herzen sterben, dachte ich kurzatmig. Wären wir jetzt in einem Film, würde der Held zur Schnapsflasche greifen und sich betrinken. Aber das war kein Film und ich kein saufender Held, sondern ein von Selbstzweifeln gequälter jämmerlicher Waschlappen.
Wenn ich die Insuline wirklich verwechselt hatte und Rainer Bulig anstatt des langsam wirkenden sechsundvierzig Einheiten schnell wirkendes Insulin gespritzt hatte, war es dann möglich, dass er ins Koma gerutscht war?
Das Telefon riss mich aus meinen verzweifelten Gedanken.
„Hier ist Lars. Kerstin, ich wollte nur kurz fragen, wie es dir geht?“
„Äh, ganz gut“, sagte ich kläglich.
„Das habe ich mir gedacht“, sagte Lars begütigend. „Hör zu, die Reinig hat da so eine eigenartige Anspielung gemacht, von wegen Herrn Bulig und dass er an einer Überdosis Insulin gestorben ist.“
„Lars, ich war die Letzte, die bei ihm war. Ich habe ihm das Abendinsulin gespritzt“, brach es aus mir hervor.
„Kerstin, du hast alles richtig gemacht. Der Bulig war ein alter Hase, das weißt du ganz genau. Der hätte doch als Erstes bemerkt, wenn du ihm zu viel gespritzt hättest.“
„Ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern, Lars. Mein Kopf ist leer und die Reinig und diese beiden Polizisten heute Nachmittag, die haben mich total durcheinander gebracht. Was ist, wenn ich wirklich ...“
„Kerstin, das hättest du niemals verwechselt. Und Herr Bulig auch nicht. Der achtete da immer genau darauf“, beruhigte mich Lars.
Ich richtete mich auf, wischte mir die Augen.
„Mensch Lars, du meinst also ... ich meine ... Aber wie konnte er dann in den Unterzucker rutschen? Er hatte einen Braten im Ofen und hat bestimmt noch viel gegessen. Hat er überhaupt gegessen?“
„Keine Ahnung. Vielleicht hat er ja zu viel gegessen und hat sich zur Sicherheit einfach noch was nachgespritzt.“ Lars machte eine Denkpause. Ich lauschte angespannt in die Stille meines Telefons. „Nein, der Bulig hat sich nie allein gespritzt. Aber du bist ganz sicher nicht für seinen Tod verantwortlich.“
Am liebsten hätte ich Lars umarmt.
„Mach dir mal keine Sorgen. Das wird sich alles aufklären.“ Ich hörte es Hupen und Lars fluchen, bevor er sagte: „Okay, ich muss weiter. Bis bald und machs gut.“
Erleichtert schälte ich mich aus meiner Decke, räumte das alte Geschirr aus dem Wohnzimmer, wischte meine Schreibtischplatte ab und spülte den Berg Geschirr, der sich in den letzten Tagen angesammelt hatte. Dann zog ich die Bettwäsche ab, stopfte alles in die Waschmaschine, öffnete die Fenster und lüftete die Wohnung.
Ich bin keine Mörderin, hoffte ich beschwingt. Es wurde Zeit, dass ich mich ernsthaft mit meinem Job beschäftigte, sonst konnte jederzeit diese grässliche Mäuse-Reinig oder der noch grässlichere Stasi-Grone mir etwas unterstellen, ohne dass ich dem etwas entgegenzusetzen hatte.
Ich wickelte also mein ungutes Gefühl in eine wohlige Ignoranz, steckte alles ins hintere Wegdrückschubfach meines Hirns, und verbrachte einen entspannten und langen Abend mit Tee und Grey´s Anatomy.
Die Krankenhausserie war seit der Trennung zum beruhigenden Begleiter meines einsamen Lebens geworden. Das wirkte immer. Das ganze Personal war vertraut und nervig, wie die eigene Familie. Ich startete mit der zweiten Folge der ersten Staffel, in der George O´Malley fünf Mal versucht, Patienten nach einem Herzstillstand wiederzubeleben, was ihm jedes Mal misslang.
Oh, ich wusste nur zu gut, wie er sich fühlte!
Zum Trost läuft Meredith Grey die ganze Zeit mit dem abgebissenen Penis eines Vergewaltigers in einer Kühlbox herum. Und der Spruch des Tages kommt von der göttlichen Bailey, die dem Herzchirurgen Burke an den Kopf wirft: „Sie sind arrogant, großspurig, schnöselig und herrisch, sie haben einen Gottkomplex und denken die ganze Zeit nur an sich!“
Ich dachte an Eva Reinig, die ganz und gar nicht an das Format des arroganten Burke heranreichte, der den ganzen Tag an Herzen herum schnippelte und Leben rettete. Die Reinig hingegen war nur eine schwache Karikatur von Arroganz und Herrschsucht und scheiterte kläglich daran, ihren Job angemessen auszufüllen.
Im Gegensatz dazu war meine Wahlfamilie großartig! Diese glatten, geschminkten und hübschen amerikanischen Menschen sahen auch nach achtundvierzig Stunden Dienst immer noch aus, als kämen sie direkt von der Schönheitsfarm.
Irgendwann schlief ich beruhigt in dem traulichen Gefühl der Geborgenheit ein, ohne auch nur zu ahnen, was in nächster Zeit noch auf mich zukommen würde.
„Wir haben alle Touren umgestellt, damit Sie endlich wirtschaftlicher arbeiten können. Durch die kürzeren Wegezeiten sparen wir Zeit. Ab sofort, das heißt ab morgen, gelten die neuen Touren. Bitte setzen Sie sich mit ihren Kollegen in Verbindung, damit Sie etwaige Fragen klären können.“
Emilia Schulte, die Geschäftsführerin, saß am Ende des Tisches im großen Versammlungsraum und strich sich nach ihrer Rede ihr toupiertes Haar zurecht. Sie war aufwendig geschminkt, was den zufriedenen Zug um ihren Mund noch unterstrich. Es war große Teambesprechung und alle Krankenschwestern und Altenpflegerinnen waren anwesend.
Emilia Schulte schnalzte mit ihrer Zunge.
Johanna saß neben mir und spielte mit ihrem Kugelschreiber. Ihre Hände waren schmal, aber kräftig. Ein zarter rotblonder Haarflaum lag auf ihren Unterarmen. Auf dem Tisch lag ihr Tourenbogen, auf dem alle Einsatz- und Fahrtzeiten leserlich und akkurat geschrieben standen. Nichts war verbessert, nichts war gestrichen. Er war perfekt, ganz im Gegensatz zu meinem Tourenbogen.
„Liebe Kolleginnen und Kollegen“, Emilia Schultes Stimme bekam jetzt einen predigenden Unterton. „Sie wissen alle, dass wir von der Geschäftsführung bestimmt nicht aus Bosheit die Zeit so knapp halten müssen. Schon seit Jahren stecken wir in der Zwickmühle, gleich bleibend gute Leistungen bringen zu müssen, dafür aber immer weniger Geld zu bekommen. Gerade jetzt werden wieder die Leistungsvereinbarungen mit der AOK Nord geführt, die uns zwanzig Prozent streichen wollen. In Brandenburg haben sie das schon durchgesetzt. Also denken Sie nicht, dass es unser böser Wille ist. Wir müssen einfach alle an einem Strick ziehen, um uns in der derzeit schwierigen ökonomischen Lage über Wasser zu halten. Ihr Bereich ist schon seit Monaten ein Minusgeschäft. Wir müssen einfach sehr überlegt handeln und genau kalkulieren, sonst laufen uns die Kosten völlig aus dem Ruder.“
„Und das auf unserem Rücken“ sagte Isabell hämisch.
„Sie werden sehen, mit den neuen Touren schaffen wir uns Luft. Dann haben Sie morgens auch mehr Zeit ihre Touren vorzubereiten.“
Allgemeines Murren machte sich breit. Hier glaubte niemand mehr den Versprechungen einer Emilia Schulte, während diese zufrieden auf einen dicken Goldring an ihrem linken Ringfinger schaute. Sie war eitel und am meisten liebte sie ihre Hände, die immer manikürt und sehr gepflegt waren. Wenn sie sprach, hörte man noch den leichten fränkischen Zungenschlag, der ihre knallharte Geschäftstüchtigkeit in das bürgerlich zufriedene Auftreten einer Hausfrau hüllte. Ihre betont aufrechte Haltung erinnerte an einen Hahn im Hühnerstall, der aufgeregt und mit stolz geschwellter Brust im Stall auf und ab lief. Genauso wachte Emilia Schulte über ihre Mitarbeiterinnen und ihr Königreich, die Ambulante Pflege Neukölln Kreuzberg oder kurz APNK.
Ich hätte vielleicht doch den Job in Andreas Bestattungsinstitut annehmen sollen, damals, als sie mir angeboten hatte, mit ihrem Chef zu reden. Das hätte zwar auch Schichtdienst bedeutet, weil die Menschen ja zu jeder Tages- und Nachtzeit starben. Immerhin aber waren sie schon tot, so dass man nicht mehr so viel falsch machen konnte. Das hätte mir die Hetze hier erspart, das hätte mir vielleicht sogar die Trennung von Andrea erspart, wenn ich viele schöne Särge verkauft hätte.
Nein, natürlich hätte das nicht funktioniert. Warum nur haben mich meine Eltern damals dazu gezwungen, diese Ausbildung zu machen, wo ich doch viel lieber studiert hätte. Aber nein, ich sollte was Handfestes lernen. Fürs Leben. Das hab ich dann auch. Sofort nach dem Examen war ich aus dem Beruf wieder ausgestiegen und hatte mich als Nachtportier im Hotel, als Schreibhilfe bei einem Rechtsanwalt und mit diversen Jobs in Kneipen durchgeschlagen. Nun saß ich, zwanzig Jahre später mit meinem handfesten Examen in der Hand in diesem bescheuerten Frauenberuf und ließ mich ausbeuten.
Nach der Sitzung standen die Raucherinnen und Nichtraucherinnen auf dem Hof um den Stehtisch und diskutierten aufgeregt. Ich stand etwas abseits und kramte in meiner Tasche auf der Suche nach meinem Fahrradschlüssel, der wie immer in den Tiefen der Tasche verschwunden war.
Neben mir standen Isabell und Eva Reinig und ich belauschte, mehr oder weniger unfreiwillig, ihren Wortwechsel.
„Sie wissen ganz genau, dass das keine SGB 5 Leistung ist. Der andere Pflegedienst erbringt die Elfer Leistungen und bekommt hierfür auch das Geld“, erklärte Eva Reinig.
Isabell schüttelte den Kopf.
„Es ist immer dasselbe bei Frau Demirel. Wenn ich ihr im Frühdienst die Medikamente gebe, muss sie eben auf Toilette, auch wenn der andere Pflegedienst noch nicht da ist. Soll ich sie dann im Bett liegen lassen?“, erklärte Isabell aufgebracht.
„Frau Rummer, ich habe mit dem Pflegedienst Mitte telefoniert. Sie wissen Bescheid, sagen aber, dass sie es nicht vor halb acht zu ihr schaffen. Der Sohn weiß auch um das Problem.“
Eva Reinig sah geschäftig auf ihre Uhr und schob ihre Papiere von einer Hand in die andere.
„Sie wollen also allen Ernstes, dass ich die Frau in ihrem Urin liegen lasse und ihr auf Deutsch, das sie nicht versteht, erkläre, dass sie noch eine Stunde warten muss. Bis dahin soll sie bitte in ihre Windel machen.“ Isabells Stimme war gefährlich ruhig, allerdings hatte sie beide Arme in die Seiten gestemmt und blickte ihre Vorgesetzte mit eisigen Augen an.
„Der Sohn weiß um das Problem. Ich habe es ihm telefonisch mitgeteilt. Er will uns diese Leistung nicht bezahlen und ich kann ihnen beim besten Willen nicht die Zeit, die Sie extra benötigen, um die Kundin auf Toilette zu begleiten, honorieren.“
„Ich habe also die Wahl, die Frau in ihrer Pisse liegen zu lassen oder sie unbezahlt in meiner Freizeit auf Toilette zu bringen?“, stellte Isabell abschätzig fest.
Eva Reinig schüttelte bedauernd den Kopf. „Wir sind hier kein Wohltätigkeitsverein, sondern ein Unternehmen, das sich auf dem freien Markt behaupten muss. Tut mir leid, das ist einfach nicht möglich. Finden Sie sich damit ab.“
Mit diesen Worten drehte sich Eva Reinig um und schritt zielstrebig mit klappernden Absätzen über den Hof in Richtung ihres Büros. Ich hatte endlich meinen Schlüssel gefunden und richtete mich auf. Isabell trat gegen ihre Tasche, die neben ihr auf dem Boden lag. Das Blutdruckgerät und ein paar Pinzetten fielen auf den Boden.
„So weit ist es also. Jetzt bekommen wir schon die Anweisung, unsere Patienten in ihrem Urin liegen zu lassen. Das darf doch nicht wahr sein“, schnaubte sie.
Ich schaute sie betroffen an und sammelte ihre Pinzetten auf. Dann reichte ich ihr das Blutdruckgerät.
„Das hätte es mit Anne nie gegeben. Die stand immer hinter uns.“
„Wer ist denn Anne?“, fragte ich.
„Die kennst du nicht mehr. Sie war die Vorgängerin von Eva Reinig. Anne hat immer zu uns gestanden, hat uns den Rücken freigehalten, hat immer auch die Menschlichkeit gewahrt. Niemals hätte sie so etwas zugelassen oder mir eine solche Anweisung gegeben. Sie hat gekündigt, um die Leitung in einem Pflegeheim zu übernehmen. Anne war eine tolle PDL. Aber die Reinig versteht sich ja prächtig mit der Schulte. Jetzt hörst du nur noch dieses Gerede von Wirtschaftlichkeit, Effektivität, Controlling. Man könnte meinen, die hätten selbst nie in der Pflege gearbeitet.“
Frustriert kickte Isabell erneut gegen ihre Tasche und strich sich eine Locke aus der Stirn.
„Deswegen hat sie ja auch gekündigt. Der ewige Konflikt mit der Geschäftsführung hat Anne mit der Zeit zermürbt. Es ist jammerschade, dass sie weg ist. Und die Schulte, die ist zufrieden. Jetzt hat sie endlich eine Pflegedienstleitung, die mit ihr ins gleiche Horn stößt. Sie steht ja auch nicht morgens bei Frau Demirel am Bett, die mich mit Tränen in den Augen ansieht, wenn ich ihr Bettgitter wieder hoch mache.“
Isabell zündete sich eine Zigarette an und sagte dann zu Johanna, die sich inzwischen zu uns gesellt hatte: „Du bist auch schon zu lange dabei, Johanna. Wir haben einfach den falschen Beruf gewählt.“
Johanna schaute überrascht und schüttelte entschieden den Kopf.
„Nein. Ich wollte schon als Kind Krankenschwester werden. Das war immer mein Traumberuf. Noch heute. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass es mal so weit kommen würde. Aber mit mir nicht. Ich werde Frau Demirel weiter zur Toilette bringen, Frau Robert bekommt ihren Kaffee von mir gekocht und für Herrn Mujic werde ich weiter die Rezepte besorgen, wenn seine Familie das nicht auf die Reihe bekommt.“
Isabell blähte ihre Wangen auf und meinte abschätzig: „Diese Abzocker. Die verlassen sich doch ganz auf dich und sind selbst zu faul, zum Arzt zu gehen.“
„Ja, das stimmt“, gab Johanna zu. "Aber da sind sie ja wahrhaftig nicht die Einzigen, die das System ausnutzen. Und wie bitte, willst du ihn denn versorgen, wenn sein Insulin alle ist?“
„Gar nicht mehr. Ich sag es ihm, der Familie, und wenn er wackelig oder im Koma ist, dann hol ich eben die Feuerwehr“, sagte Isabell und drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus.
Isabell war klein, untersetzt und ihre Locken standen lustig in alle Richtungen. Isabell war mit Johanna eine der längsten Mitarbeiterinnen. Soweit ich das beurteilen konnte, machten die beiden einen richtig guten Job. Täglich übernahmen sie eine große Verantwortung für die Menschen und gingen dabei pragmatisch, schnell und unkompliziert ans Werk.
Isabell rollte den Schlauch um die Manschette ihres Blutdruckgerätes und steckte es in ihre Tasche.
„Also, ich hab manchmal die Schnauze voll. Immer hetzen, nie hat man die Zeit in Ruhe mit jemandem zu reden oder auf jemanden einzugehen. Und man sieht ja, was dabei heraus kommt. Ein toter Patient. Und ich sag Euch, das war nicht der Erste und das wird auch nicht der Letzte gewesen sein.“
Sprachs, wandte sich um und ging mit resoluten Schritten zur Torausfahrt.
Johanna und ich schauten ihr nach.
„Nicht der Erste?“, wandte ich mich an Johanna. „Gab es noch andere Tote?“
Johanna zog die Augenbraue nach oben und der Blick ihrer eisblauen Augen streifte mich kurz. Schulterzucken. Traurig war ihr Blick, traurig und irgendwie auch hungrig.
Die anderen verabschiedeten sich nach und nach. Adina winkte uns, Lars machte sich an seinem Fahrrad zu schaffen, weil er zum Spätdienst musste.
„Ich muss jetzt auch los. Mein Hund wartet schon“, sagte Johanna schließlich.
„Du hast einen Hund?“
Ich konnte mein Entsetzen nur schwer verbergen, aber Johanna schien das nicht zu bemerken. Ein liebevolles Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen.
„Er heißt Bernie. Der beste Hund, den man sich wünschen kann.“
Sie winkte mir zu und ging beschwingt Richtung U-Bahn.
Mein Fahrrad stand verdeckt hinter den Sträuchern und vor den großen Fenstern des Besprechungsraumes. Die Fahrradständer waren mit Absicht dort angebracht worden, um die Räder vor potenziellen Dieben versteckt zu halten. Andererseits boten die Büsche einen guten Sichtschutz, wenn sich hier jemand mit einem Bolzenschneider ans Werk machte. Rund siebzig Räder werden täglich in Berlin geklaut. Mein altes Klapperrad allerdings war im Vergleich zu den vielen modernen Hightechtretern hoffentlich unattraktiv. Während ich in die Hocke ging, um mein Fahrradschloss zu öffnen, drang Alevs knarzende Stimme durch das Fenster.
„Ich habe mir gedacht, dass, na ja, weil ich doch am Tag davor, da war er wieder so unverschämt gewesen und hat mich anatolische Dingsda genannt und dass ich keine Ahnung hätte, da hab ich ihm gesagt, dass er gefälligst seine Klappe halten soll, dann hat er herum geschrien, das Übliche eben mit ihm, und dann bin ich wieder gegangen, aber ich war so sauer, dass ich das nicht in die Doku geschrieben hab und auch nicht ins Übergabebuch, und dann hab ich heute gedacht, dass ich ihm doch wenigstens seine Schilddrüsen- und Herztabletten von gestern zusätzlich geben sollte, schließlich ... , das reichert sich doch im Körper an, also wirkt es nicht gleich, damit er genug hat. Für die Schilddrüse. Und fürs Herz.“
Ich hörte auf, an meinem Schloss herumzufingern, und lauschte bewegungslos.
„Sie haben nachträglich für den gestrigen Tag den Leistungsnachweis unterschrieben?“
Das war Eva Reinig. Sie klang fassungslos.
„Ja, weil..., na, ich hab ihm doch heute dann die beiden Tabletten gegeben, und weil ich doch so oft umsonst bei dem bin..., wir kriegen ja nichts von der Krankenkasse, wenn wir den Kunden anfahren, aber keine Leistung erbringen, das ist doch nicht richtig, finde ich, also hab ich mir gedacht, dann soll die Firma wenigstens keinen Schaden haben. Schließlich ist es seine Schuld, wenn ich da zwei Mal pro Woche umsonst hinfahren muss. Ist ja trotzdem Arbeitszeit und Fahrtkosten und alles. Es hat ihm ja auch nicht geschadet. Oder? Es geht ihm ja gut.“
Mehrere Ameisen wuselten um meine Füße und begannen, an meiner Wade nach oben zu klettern. Hastig versuchte ich die Vierbeiner wegzuwischen. Ein schweres Räuspern war zu hören, dann wieder die Stimme der Reinig.
„Frau Gürer, Sie dürfen niemals eigenmächtig die Dosierung eines Medikaments ändern. So etwas macht immer der Arzt. Und nur der Arzt. Wenn Sie den Eindruck haben, dass ein Patient nicht richtig eingestellt ist, dann müssen Sie den Arzt informieren, aber niemals eigenmächtig eine Dosierung ändern.“
„Ja, ja, das weiß ich doch. Das bei dem Rauch war doch nur eine Ausnahme, weil ich mich so geärgert habe und wegen dem Geld für die Firma.“
„Frau Gürer, das ist Dokumentenfälschung, wenn Sie einen Leistungsnachweis unterschreiben, die Leistung jedoch nicht erbringen. Das ist eine Straftat. Wenn Herr Rauch das anzeigt….“
„Aber, ich hab das doch nur einmal gemacht und es weiß doch niemand. Und dann steht doch Aussage gegen Aussage, wenn Sie nichts sagen. Das kann doch gar niemand nachweisen. Und ich mache das auch nicht mehr. Ich wollte doch nur das Beste, für den Rauch und für die Firma.“
Seufzen. „Gut. Ich werde das mit Frau Schulte besprechen. Sie können jetzt gehen.“
Als Alev auf den Hof kam, blieb ich geduckt hinter dem Gebüsch sitzen. Sie hatte schon wieder ihr Handy am Ohr und redete wie ein Wasserfall, leider türkisch, so dass ich nichts verstand.
Alev kam in Teufels Küche, wenn sie eigenmächtig die Dosierung der Medikamente erhöhte. Zwar verweigerte Rauch bestimmt zwei Mal pro Woche seine Pillen, aber das lag dann in seiner Verantwortung. Wir dokumentierten das in der Akte und fertig. Ihm aber einfach am nächsten Tag die doppelte Dosis zu geben, das war ziemlich dämlich.
Ernst Rauch war einer unserer schwierigsten Patienten. Ein bösartiger alter Mann, der schmatzend sein loses Gebiss hin und her schob, während er die Pflegerinnen als seine persönlichen Dienstboten behandelte, denen er einem Generalmajor gleich, den ganzen Tag Befehle zubellte. Für die Firma war er ein Ärgernis, da wir ihn immer wieder anfuhren, dann aber unverrichteter Dinge wieder abfuhren. In diesem Falle bekamen wir weder die Anfahrt noch die Leistung von der Krankenkasse bezahlt. Schon häufig hatte Eva Reinig versucht Herrn Rauch zu kündigen, da aber hatte sie bei Emilia Schulte auf Granit gebissen.
Schließlich war er ein Kunde, der trotz allem viel Geld einbrachte. Drei Pflegeeinsätze pro Tag plus zwei Mal täglich eine Medikamentengabe. Hinzu kam, dass er sehr günstig wohnte, so dass er sowohl in die Touren der Fachkräfte als auch in die der Pflegerinnen gut passte.
Auch ich hatte schon meine eigenen leidvollen Erfahrungen mit Rauch gemacht und hätte nichts dagegen gehabt, wenn er mir künftig mit seinem schmatzenden Gebiss erspart bliebe.
Endlich öffnete ich mein Schloss und schob vorsichtig mein Fahrrad zwischen den Ameisen auf den Hof. Auf dem Weg nach Hause, wünschte ich, es wäre jemand zu Hause, mit dem ich über alles hätte sprechen können. Dann stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn ein Hund auf mich warten würde. Schwanzwedelnd würde er mir um die Beine springen, die pure Freude, endlich wieder sein Frauchen zu sehen.
Andrea hatte sich immer einen Hund gewünscht. Das aber hätte nur funktioniert, wenn ich sie dabei unterstützt hätte, da sie oft zu lange im Büro war. Aber für mich war das unvorstellbar. Ein Tier in der Wohnung, noch dazu ein bellendes Tier, dessen Haare überall in der Wohnung klebten, ein Tier, das stinkt, dessen Kacke mit einer Plastiktüte aufzusammeln war, das ständig Aufmerksamkeit, Zuwendung und Fürsorge forderte. Ein Tier, das nicht mit auf den Campingplatz durfte, weil im Naturschutzgebiet – Göttin sei Dank - Hunde verboten waren. Ein Tier, das krank werden konnte, vielleicht Durchfall hatte und das jeden Abend noch mal runter musste.
Ich hätte vielleicht doch zustimmen sollen. Besser ab und zu eklige Kacke aufsammeln und eine glückliche Andrea bei mir, als jetzt ohne Hund und ohne Andrea. Aber im Grunde meines Herzens wusste ich: Sie hätte mich trotzdem verlassen.
Und den Hund hätte sie dann auch mitgenommen.
Bei gutem Wetter war das Café in der Eisenbahnstraße am Lausitzerplatz immer gut besucht. Belegte Bagels, ein großes, heutzutage natürlich auch veganes Eisangebot und die Sonnenlage machten es zum Publikumsliebling. Ich hatte einen Platz im Halbschatten ergattert und beobachtete das Treiben um mich herum. Spatzen, die frech auf den Tisch hüpften und versuchten, mir den Keks von der Untertasse zu klauen, Frauen mit Kindern, die ungefähr drei Stunden brauchten bis endlich klar war, welche Sorte Eis es sein sollte, ein junger Mann, der seit bestimmt zehn Minuten auf sein Smartphone eintippte, ein spanisches Pärchen am Nebentisch. Überhaupt hörte man mitunter mehr Englisch und Spanisch als Deutsch in dieser Ecke Kreuzbergs. Berlin schien das neue Mekka eines verarmenden Südeuropas zu sein.
Martina hatte mich dazu überredet, mit ihr und Nele noch ein paar Sonnenstrahlen zu genießen. Außerdem wolle sie mit mir reden, hatte sie geheimnisvoll angedeutet. Ich wartete neugierig.