Tödliche Triplette. Ein Fall für Commissaire Julian - Markus Hoffmann - E-Book

Tödliche Triplette. Ein Fall für Commissaire Julian E-Book

Markus Hoffmann

4,9

Beschreibung

Südfrankreich 2010. In Breil-sur-Roya wird die verstümmelte Leiche eines Asiaten angeschwemmt. Bei der Obduktion findet sich in dessen Speiseröhre ein geheimnisvolles Emaille-Schild. Commissaire Paul Julian, Chef der Mordkommission Nizza, ermittelt. Als auch noch ein alter Mann bei einem Boule-Turnier zu Tode kommt, scheint die Aufklärung des Falls in weite Ferne zu rücken. Deutschland 1946. Der junge Peppel und sein Freund Otto müssen aus Hamburg fliehen. Über Lyon und Marseille führt sie ihr abenteuerlicher Weg bis ins koloniale Indochina. Ein spitzfindiges Gespann, mit allen Wassern gewaschen. Doch das Schicksal nimmt seinen Lauf. Paul Julian wird mit den Schrecken der Vergangenheit konfrontiert. Denn Schuld verjährt nie ...

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Das Buch

Ein unendlich blauer Himmel spannt sich über das Meer und sorgt dafür, dass die Côte d´Azur in dem Licht erscheint, dem sie ihren Namen zu verdanken hat.

Doch für einen Moment scheint sich all die strahlende Pracht zu verdunkeln. An der Staumauer des Städtchens Breil-sur-Roya wird eine grauenvoll verstümmelte Leiche angeschwemmt. Hauptkommissar Paul Julian, Chef der Mordkommission Nizza, leitet die Ermittlungen.

Bereits die Obduktion des Mordopfers sorgt für eine Überraschung. Ein kleines emailliertes Blechschildchen in der Speiseröhre des toten Asiaten führt Kommissar Julian über sechzig Jahre in die Vergangenheit zurück.

Der junge Peppel, Kriegsheimkehrer ohne Heimat, wandert ziellos durch die erbarmungslose Kälte des Hungerwinters 1945/46. Ostpreußen gibt es nicht mehr. Von Schleswig-Holstein führt ihn sein abenteuerlicher Weg über Hamburg nach Lyon und Marseille, bis in das französisch koloniale Saigon.

Erst Jahrzehnte später wird – aufgrund der Ermittlungen Kommissar Julians – dieser Weg ein Ende finden.

Frankreich, Deutschland und ein längst vergessenes Indochina verschmelzen zu einer Bühne der Zeit, auf der sich die Vernetzung der Schicksale in einem blutigen Konflikt zu entwirren droht.

Der Autor

Markus Hoffmann wurde 1968 in Ellwangen an der Jagst geboren und war lange Zeit in Aalen/Baden-Württemberg wohnhaft. Hoffmann studierte Lehramt an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd und an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit 2013 lebt und arbeitet er in Wiesbaden. Neben seiner Freude an der mediterranen Küche, ist er ein begeisterter Boule-Spieler. Tödliche Triplette ist sein Debütroman.

Markus Hoffmann

Tödliche Triplette

Ein Fall für Commissaire Julian

Krimi

eISBN 978-3-946413-61-5

Copyright © 2017 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Covergestaltung und Bildrechte: Lukas Hüttner

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher:

www.mainbook.de

Bei diesem Buch handelt es sich um einen Roman und nicht um ein Werk der Geschichtsschreibung. Wo immer historische Fakten meine Phantasie einschränkten, habe ich sie, in vollem Wissen und mit bestem Gewissen, so umgestaltet, dass sie meinen Absichten entsprachen. Bei aller Anlehnung an den historischen Hintergrund und die Originalquellen, die Charaktere, Dialoge und Vorfälle sind zwangsläufig frei erfunden.

Für Inge und Werner,in Hoffnung auf ein Wiedersehen

Inhalt

Das Buch

Der Autor

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

eins

Unbemerkt trieb der leblose Körper den Flusslauf hinab. Die Leiche prallte an die zahlreichen Felsen, blieb hängen, wurde erneut von der Strömung ergriffen und wieder losgerissen. Wie ein Ball, versehentlich ins Wasser geworfen, zog er über die breiten und ruhigeren Passagen des Flusses hinweg. An der Staumauer des Städtchens Breil-sur-Roya fand der unbeobachtete Leichentransport sein Ende.

Ein Sportfischer entdeckte den vermeintlich Ertrinkenden und sprang sofort ins Wasser, um ihn ans Ufer zu ziehen. Er zerrte an den vollgesogenen Kleidern des Mannes, versuchte den schweren Körper umzudrehen. Der Moment, als ihm dies gelang, ließ ihm das Blut in den Adern stocken. Nie wieder sollte sich dieser Anblick aus seinem Gedächtnis löschen lassen.

Die Leiche hatte kein Gesicht mehr.

Noch bevor die Police Municipale am Fundort erschienen war, hatte sich eine Vielzahl von Schaulustigen am Ufer des Sees eingefunden. Eventuell bestehende Spuren waren innerhalb kurzer Zeit zunichte gemacht worden. Keiner der Anwesenden dachte auch nur im Geringsten an ein mögliches Verbrechen. Schließlich hatte es hier immer wieder Unfälle gegeben, bei denen unvorsichtige Wanderer von den hoch über dem Tal verlaufenden Wegen gestürzt waren. Die Schlucht war gefährlich! Diesmal hatte es eben einen von ihnen das Leben gekostet. Das entstellte Gesicht, das Resultat des ungeschützten Aufpralls. Der im Ort ansässige Arzt war informiert worden. Auch er teilte die Meinung der Umherstehenden. Doch dann entdeckte er die Finger des Toten. Jede einzelne Fingerkuppe war sauber abgetrennt worden. Umgehend wurde die Mordkommission informiert. Bis die Spurensicherung vor Ort erschien, hatte man das Gelände mit Trassierband abgesperrt. Kurz darauf wurde der Leichnam in die Pathologie nach Nizza überführt.

Nachdem Eric die ersten Formalitäten erledigt hatte, wollte er schnellstmöglich seinen Chef informieren. Trotzig hatte dieser das Klingeln des Telefons ignoriert. Eric wusste jedoch mit ziemlicher Sicherheit, dass Paul zu Hause war. Der Markt von Saint-Antoine-de-la-Mer stand an und es galt letzte Vorbereitungen zu treffen. Eric setzte sich in den Wagen und fuhr los. Während der wenigen Kilometer, die ihn durch das Hinterland in die Berge führten, überlegte er schmunzelnd, was ihn wohl erwarten würde.

Überall auf der Terrasse lagen Blechkanister herum. Und auch die Wiese, das gesamte Areal, bis hinunter zum Geräteschuppen, lag voll mit bunten Kanistern. Frische, kräftige Farben leuchteten in allen Ecken. Helles Blau, Zitronengelb und intensives Grün. Darauf, die stellenweise pittoresk verschnörkelten Schriftzüge der jeweiligen Hersteller.

Ölkanister, leere Olivenölkanister, die Kommissar Paul Julian in den vergangenen Jahren akribisch zusammengetragen hatte. Außerhalb seines Dienstes ging Paul einem doch etwas seltsam anmutenden Zeitvertreib nach. Er sammelte die alten Behälter, entfernte mit wenigen Handgriffen die Deckel und bereitete sie damit für eine völlig neue Aufgabe vor. Wunderschön anzusehende Übertöpfe für seine Olivenstecklinge.

Nach zwei, drei Jahren unter seiner fachmännischen Aufsicht war es soweit gewesen. Paul belud seinen Kleintransporter mit den Olivenbäumchen und machte sich auf den Weg, um sie auf dem großen Floh-, Trödel- und Antikmarkt von Saint-Antoine unter die Leute zu bringen.

Die Touristen, die in Schwärmen über den jährlich nur einmal stattfindenden Markt herfielen, waren ganz versessen auf die bunten Kanister mit den silbergrau schimmernden Pflanzen, die regelmäßig mit Ende der Ferien in den nördlichen Departements verschwanden.

Paul Julian, Hauptkommissar der Mordkommission von Nizza, Hobbygärtner, Blechbüchsensammler, Marktverkäufer, sechsundfünfzig Jahre alt und glücklich geschieden.

Nur mit seiner grünen Latzhose bekleidet, stand er zwischen seinen Blechkanistern herum und zog an seiner Zigarre. Obwohl ihm der Schweiß die Stirn herablief, lachte er zufrieden auf und rieb sich die Hände. Übermorgen würde es endlich soweit sein. Mit der Vorfreude eines kleinen Jungen wartete er schon gespannt auf das bunte Treiben, das der quirlige Markt jedes Jahr mit sich brachte. Das Highlight von Saint-Antoine-de-la-Mer.

Er bückte sich und legte seinen Zigarrenstummel in einen leeren Blumentopf. Genau in diesem Moment bog Eric um die Ecke und stieß versehentlich mit den Füßen gegen einen Turm von Blechkanistern. Scheppernd fiel das Gebilde in sich zusammen. Erschreckt griff sich Paul einen Besen und hob ihn drohend in die Luft. Wie angewurzelt blieb Eric auf der Stelle stehen. Erleichtert atmete Paul auf, als er sah, wem er den Überfall zu verdanken hatte. Doch trotz aller Erleichterung, seine Missfallensäußerungen waren deutlich: „Vollidiot! Ich hätte dich erschlagen können! Eric Leroc, du Esel!“

„Pardon, tut mir leid, aber …“

Paul schnitt ihm das Wort ab: „Jaja, ist ja schon gut. Auch ich entschuldige mich. Pardon, pardon! Komm setz dich!“

Er nahm auf der wackeligen Bank neben der Eingangstür Platz und forderte Eric mit einem Wink dazu auf, sich neben ihn zu setzen. Dann wandte er seinen Blick wieder den Olivenkanistern zu.

„Sieh dir das an! Sind sie nicht traumhaft schön?“

Der Kommissar klatschte in die Hände. Sein vorletzter Urlaubstag, und alles war vorbereitet. Zufrieden mit sich und durchaus gespannt darauf, was Eric zu berichten hatte, forderte er ihn auf zu erzählen. Dabei beugte er sich langsam über die Armlehne, fischte mit zwei Fingern den Stumpen aus dem Blumentopf, zündete ihn nochmals an und blies entspannt den blauen Dunst in die Luft.

„Na, ich höre?“

Eric setzte seinen Chef über die bis dahin bekannten Details in Kenntnis.

Der Fund einer Leiche in Breil-sur-Roya, die ersten Schritte vor Ort und die daraufhin folgenden Untersuchungen, die den Umständen entsprechend nicht besonders viel hergeben würden. Die Leiche befände sich mittlerweile in der Pathologie.

„Und Gott sei Dank konntest du dich gerade noch bremsen, sonst würde ich in Kürze wahrscheinlich auch in der Pathologie landen.“

Aufmerksam hatte sich Paul den Bericht des Kollegen angehört. Jetzt saßen die beiden Polizisten auf der wackeligen Bank und schwiegen. Ein schon fast skurriles Bild. Der Chef in grünen Latzhosen, die Hände voll verkrusteter Erde, nachdenklich die Stirn in Falten gelegt und daneben der junge Kollege in Designer-Jeans und Lackschuhen. Alles vor einer Kulisse, die sich irgendwo zwischen mediterraner Schönheit und dem Chaos eines Schrottplatzes einordnen ließ.

Eric beendete die Pause: „Bevor ich losgefahren bin, habe ich nochmals in der Pathologie angerufen. Absolute Priorität! Bis wir in Nizza sind, müsste der Gerichtsmediziner ausreichend Zeit gehabt haben, um uns erste Informationen liefern zu können. Ich denke, wir sollten uns jetzt aber endlich auf den Weg machen.“ Er stand eilig auf, zog den Wagenschlüssel aus der Hosentasche und ließ die Sonnenbrille ins Gesicht gleiten.

Paul seufzte nur und meinte: „Jaja, sicherlich! Wenn´s recht ist, würde ich mir eben noch eine neue Uniform anziehen. Ich bin in fünf Minuten bereit.“ Kopfschüttelnd verschwand er im Haus.

Der schwarze Alfa GT schoss die Serpentinen hinab, um sich kurz darauf in das übliche Stopp-and-Go der Innenstadt von Nizza einzufügen.

Die Männer nahmen den Aufzug. Die Pathologie lag im Untergeschoss der Klinik. Abgesehen von der unangenehmen aber unausweichlichen Sichtung des Leichnams, waren die beiden äußerst gespannt darauf, was ihnen der Kriminalpathologe zu bieten hatte.

Jacques Lecomte empfing sie mit einem freundlichen aber knappen Bonjour, drehte sich um und schritt schlurfenden Schrittes, keinen weiteren Ton von sich gebend, den Gang entlang. Nur scheinbar gelassen bat er die beiden Männer in den Obduktionsraum, öffnete ihnen die Tür, trat als letzter hinein und streifte sich dabei die Latexhandschuhe über. Ohne groß darüber nachdenken zu müssen, spürte Paul, dass etwas nicht stimmte. Was war los mit Jacques? Wieso diese trockene Zurückhaltung? Paul Julian arbeitete nun schon mindestens fünfundzwanzig Jahre mit Jacques zusammen, kannte dessen Eigenheiten, Familienverhältnisse und seine besonders ausgeprägte Vorliebe für die Weine der Côte und des Luberon. Manches Glas hatte man in fröhlicher Runde oder auch in melancholischer Zweisamkeit miteinander geleert und war sich im Laufe der Jahre freundschaftlich immer näher gekommen. Wieso nun dieses distanzierte Verhalten? Sollte die folgende Viertelstunde tatsächlich so hochgradig brisant werden, dass es Jacques die Sprache verschlagen hatte?

„Meine Herren, ich möchte euch im Vorfeld darauf hinweisen, was ich in der Regel eher selten mache, der Anblick des Leichnams ist mehr als unschön. Der Schädel des Mannes ist im gesamten Bereich des Gesichtsfeldes nicht mehr vorhanden.“ Er zog das Tuch von der Leiche und begann seine Untersuchungsergebnisse zu erläutern. Paul hielt sich den Handrücken vor Mund und Nase und wandte seinen Blick ab. Eric versuchte möglichst unbeeindruckt zu wirken. Doch auch ihm stieg die Blässe ins Gesicht und seine Augen begannen nervös zwischen der Leiche und Lecomte hin und her zu wandern. Es dauerte einen Moment, bis sie sich gefangen hatten und nun gespannt zuhörten.

„Bei der männlichen Leiche handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um einen Asiaten, genauer gesagt um einen Südostasiaten. Das gesamte Erscheinungsbild, Größe und Körperbau, ließ darauf schließen. Um sicher zu gehen, habe ich eine Untersuchung des Haar-Querschnitts durchgeführt, womit sich meine Vermutung bewiesen hat. Alter zwischen 30 und 40 Jahre. Der Schädel wurde unter brachialer Gewaltanwendung ab der Stirn, das Jochbein entlang, bis über den Unterkiefer eingeschlagen. Eine Identifikation lässt sich weder über eine zahntechnische Diagnose, noch, und das weist auf ein sehr sorgfältiges Vorgehen des Mörders hin, über die Fingerabdrücke durchführen.“

Lecomte blickte auf und sah den beiden Männern abwechselnd in die Augen. „Kommt immer wieder mal vor …“, dann schwieg er einen Moment, holte kurz Luft und setzte seine Ausführungen fort, „… dem Opfer wurden sämtliche Fingerkuppen abgetrennt. Die Schnitte sind glatt und sauber ausgeführt. Ein sehr scharfes Messer, vielleicht ein Jagdmesser, eventuell sogar ein Skalpell.“

Lecomte deckte den Leichnam zu. Schweigen. Pauls Blick wanderte von Eric zu Jacques und auch wenn es überhaupt nichts mit dem zu tun hatte, weswegen sie jetzt hier standen, so fiel ihm auf, wie grau Jacques war. Ein fahles, ungesundes Grau.

Paul schob die seltsame Momentaufnahme von sich und fragte: „Jacques, die Kleidung des Opfers, was kannst du uns darüber berichten? Der Mann war ja sicherlich nicht nackt und …“

Lecomte fiel ihm ins Wort: „Schwarze Jeans Marke Levis, unter Umständen ein Plagiat aber das Herkunftsland lässt sich feststellen. Dunkelblauer Synthetik-Troyer, Etikett entfernt. Unterwäsche weißes T-Shirt, Boxer-Shorts. Ebenfalls ohne Etikett. Keine Schuhe. Und auch sonst keine weiteren Merkmale oder Auffälligkeiten, die irgendwelche sachdienlichen Hinweise auf die genaue Herkunft zulassen würden. Leichte Arbeit für unsere Kriminaltechniker – aber leider auch ohne nennenswerten Erfolg. Der Mörder hat ganze Arbeit geleistet. Bis jetzt kann ich euch keine weiteren Ergebnisse bieten. Ich melde mich, sobald ich die Obduktion hinter mir habe. Interessant ist immer auch der Magen- und Darminhalt. Paul, Monsieur Leroc, wir hören voneinander. Ich denke bis Montag nähere Informationen liefern zu können.“

Jacques Lecomte streifte die Latexhandschuhe ab und verabschiedete sich. Auch jetzt spürte Paul wieder, dass irgendetwas mit Jacques nicht stimmte. Er strahlte eine Form von Melancholie aus, die er so nicht von ihm kannte. Dem kurzen höflichen Lächeln, das sich einen Augenblick um seine Mundwinkel legte, stand der traurige Blick entgegen. Er schloss die Schwingtür ab und verschwand hinter den geriffelten Milchglasflügeln.

Paul drehte sich um. Ohne Zweifel war es an der Zeit, dieser vernachlässigten Freundschaft etwas Pflege zukommen zu lassen. Dann folgte er Eric, der bereits ein paar Schritte vorangegangen war. Am Ende des dunklen Ganges wartete der Fahrstuhl nach oben. Seltsam, dachte Paul, was war das, was hatte ihn nun mehr getroffen? Der Fund einer grausam entstellten Leiche, die ihm sicherlich noch schlaflose Nächte bereiten würde, oder einen alten Freund vorzufinden, der einen Eindruck auf ihn gemacht hatte, den er nicht einzuschätzen wusste.

Die Sommerhitze empfing die Männer wie eine unsichtbare Mauer, die ihnen den Weg nach draußen versperren wollte. Kein Lüftchen war zu spüren. Der strahlendblaue Morgen war der Schwüle des Nachmittags gewichen und vermischte sich unangenehm mit der Geräuschkulisse, die sie vor der Klinik erwartete. Paul streckte die Zunge raus, gab einen undefinierbaren Ton des Missfallens von sich und stöhnte: „Na, herzlich willkommen. Ekelhaft, klebrig!“

Dann teilte er Eric mit, wie die nächsten Schritte der Ermittlung auszusehen hatten. Schon auf dem Weg durch das Krankenhaus waren ihm die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf geschossen.

„Wende dich bitte umgehend an die Spurensicherung. Die Staumauer von Breil war letztlich nur das Ende der Reise. Klär bitte ab, wie weit flussaufwärts Untersuchungen stattgefunden haben und lass den Flusslauf zwischen Tende und Breil durchkämmen. Ich möchte jeden einzelnen Schuh, jeden noch so unbedeutend erscheinenden Hinweis auf meinem Schreibtisch vorfinden. Der See in Breil wird von Tauchern untersucht. Ebenfalls jeder tiefe Gumpen, der sich auf der Strecke befindet. Ein weiterer Teil des Kommandos macht sich auf den Weg und sucht die Ufer und Böschungen ab. Vielleicht findet sich eines der abgeschnittenen Etiketten oder andere auswertbare Spuren. Die Leiche wurde heute Morgen gefunden. Es ist Donnerstag und ab dem Wochenende ist mit verstärktem Wassersport zu rechnen. Die Ortspolizei sperrt die gesamte Flussstrecke bis kommenden Montag ab. Nathalie informiert die anliegenden Gemeinden sowie die Kajak- und Kanuverleihe. Ich möchte nicht einen einzigen Angler am Wasser erleben und, ach ja, du erreichst mich über das Handy. Melde dich bitte heute Abend bei mir. Noch Fragen? Nein? Also gut, dann au revoir. Ich nehme den Bus.“

Paul Julian drehte sich um, zog sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ohne auf eine Antwort zu warten, lief er die steile Treppe hinab, die ihn über die Rue d´Algérien in die verwinkelten Gassen der Altstadt führte.

Eric schüttelte ungläubig den Kopf. Schade, wie gerne hätte er seinen Chef über die staubigen Serpentinen nach Hause gefahren und erste Spekulationen und Annahmen ausgetauscht. Aber der Auftrag war klar – Anweisungen lückenlos umsetzen! Wenig erfreut dachte er daran, was für ein Zirkus nun auf ihn zukommen würde. Die gesamte Strecke absperren. Scheiße! Tja, … dann erst einmal Nathalie anrufen.

Paul nahm einen herrlich kühlen Pastis zu sich. Das immer noch grelle Licht des Nachmittags erreichte die engen Gassen des Viertels nicht und so hatte er sich in den Schatten gegenüber des Tutu gesetzt. Ein winziges Restaurant, das Yves Walter, ein ehemals erfolgreicher Jazzpianist aus dem Elsass, nach der gleichnamigen Scheibe von Miles Davis benannt hatte. Das Tutu, seit Jahren schon Pauls Lieblingskneipe im Quartier. Nach dem Pastis folgte ein Glas leichter Sauvignon und eine Pissaladière, eine typisch provenzalische Pizza. Der anschließende Espresso erfüllte, was er versprach. Paul streckte die Beine von sich und ließ die voluminös ausgefallenen Köstlichkeiten auf sich wirken. Yves gesellte sich zu ihm und bot ihm eine Filterlose an. Die Männer saßen im Schatten, rauchten und scherzten. Das jährlich sattfindende Altstadtfest stand vor der Tür. Ohrenbetäubender Technopop und überflüssige Beauty & Fashion-shows. Der Zahn der Zeit!

Zwei Stunden später stieg Paul in den Bus ein, der ihn in die nahegelegenen Berge brachte. Er sah aus dem Fenster. Eine ockerfarbene Staubschicht hatte sich über die Scheiben gelegt. Gefiltert zog die Landschaft an ihm vorüber, während er den Tag Revue passieren ließ. Ein Toter, der an der Staumauer vor sich hin dümpelt. Hatte der Mörder sein Opfer gleich in den See oder irgendwo flussaufwärts des Städtchens in das Wasser geworfen? Jedenfalls hätte er sich im Klaren darüber sein müssen, dass die Leiche an der Staumauer angeschwemmt werden würde. Kannte der Täter die örtlichen Gegebenheiten nicht oder war es vielleicht sogar beabsichtigt? Der Tote wurde so sorgfältig verstümmelt, dass man davon ausgehen konnte, dass sowohl eine Identifikation als auch das Auffinden der Leiche verhindert werden sollte.

Der Bus hielt an. Paul stieg aus. Die Haltestelle lag nur ungefähr dreihundert Meter von seinem Häuschen entfernt. Langsam ging er bergauf und begann erneut zu spekulieren. Wenn der Mörder den Fund des Leichnams wirklich hätte verhindern wollen, wieso hatte er ihn dann nicht einfach irgendwo in einem Seitental der Schlucht verscharrt? Jahrelang hätte der Tote dort unentdeckt liegen können. So lange, bis die Natur alle Spuren seiner Existenz ausgelöscht haben würde. Wieso der Fluss?

Paul bog um die Ecke. Zwischen den Bäumen konnte er die obere Etage seines Häuschens entdecken, das er vor einigen Jahren von seinem Onkel geerbt hatte. Einem doch recht eigenwilligen Zeitgenossen. Paul lachte kurz auf. Er musste es sich eingestehen, ein bisschen eigenwillig war er in den letzten Jahren wohl auch geworden. Vielleicht hatte der Onkel dies bereits vorausgeahnt und ihm aus diesem Grund das kleine Anwesen vermacht. Um keinen Preis der Welt würde er das Dasein, das Alleinsein hier oben eintauschen wollen. Er liebte diesen Ort. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Paul betrat den Garten. Olivenstecklinge, Ölkanister, der Markt von Saint-Antoine, eine Leiche im Fluss!

zwei

Der Morgen war nicht mehr ganz jung, als sich Paul aus dem Bett wälzte. Er hatte schon einige Zeit wachgelegen und ließ sich nochmals den gestrigen Nachmittag durch den Kopf gehen. Etwas muffig wackelte er in die Küche, setzte sich eine Kanne Kaffee auf und verbrachte das spärliche Petit-déjeuner auf den kühlen Stufen vor der Eingangstür. Der Kaffee begann zu wirken.

Hatte Eric die Ermittlungen in seinem Sinne in Gang gebracht, hatte alles funktioniert? Es ratterte regelrecht los in ihm. Und er, immer noch im leichten Schlafgewand! Er klatschte sich auf die Schenkel, stand auf und beschloss zur Tagesordnung überzugehen.

Kurz darauf fuhr er den alten Daimler, einen Mercedes /8 aus der Garage und begab sich ins Büro. Paul versuchte das Maximum an Freundlichkeit an den Tag zu legen, als er das Präsidium betrat. Eric, Nathalie und Chouchou waren bereits an der Arbeit. Nathalie telefonierte und warf ihrem Chef ein Lächeln zu. Eric und Chouchou hatten sich über den Bildschirm des Rechners gebeugt und eine Karte der Gorgue de la Roya aufgemacht. Das Team hatte seine Anweisungen erledigt. Schon heute Morgen waren die Kollegen der Spurensicherung die Schlucht entlanggefahren und hatten die totale Sperrung veranlasst. Dann begann man damit, die Uferbereiche zu durchkämmen. Auch Spürhunde waren im Einsatz.

Wenig später machten sich Paul und sein Team ebenfalls auf den Weg nach Breil-sur-Roya. Im südwestlichsten Zipfel der Republik gelegen, gehörte der Ort noch vor 150 Jahren zu Italien. Um dorthin zu gelangen, galt es die Staatsgrenze zu passieren und über Ventimiglia, in Richtung Colle de Tende, wieder auf französischen Boden zu gelangen. An der Grenze zwischen Menton und Ventimiglia warf der Kollege vom italienischen Zoll einen kurzen Blick auf ihre Dienstausweise. Wortlos salutierend, die Hand an den Schirm der Mütze gelegt, winkte er den Dienstwagen hindurch.

Gegen Mittag rollte das Fahrzeug über die langgezogene Linkskurve in das Örtchen ein. Via Funk hatte man Kontakt mit dem Einsatzkommando aufgenommen, parkte am Seeufer und suchte das Bereitschaftszelt der Spurensicherung auf.

Pauls Handy klingelte. Die Truppe blieb stehen und sah amüsiert zu, wie er verärgert sein Jackett nach dem Telefon abtastete. Wortlos gab er ihnen zu verstehen, dass sie ihren Weg in Richtung Zelt wieder aufnehmen sollten.

Es war Jacques. Jacques Lecomte, der sicherlich nicht ohne triftigen Grund anrief.

„Paul, wenn du Zeit hast, komm doch bitte heute nochmal bei mir vorbei. Wir sind, ich sage mal, in gewisser Weise fündig geworden. Ich denke, das wird dich sehr interessieren.“

„Im Moment sind wir in Breil angekommen. Die Untersuchungen der Spurensicherung laufen auf Hochtouren und ich wollte gerade mit meinen Leuten … also gut natürlich! Ich mach mich sofort auf den Weg. Aber bitte, vielleicht kannst du mir vorher ein paar Informationen geben, um was es sich handelt.“

Was er zu hören bekam, ließ ihn die Stirn in Falten legen und auch auf die Ferne war zu erkennen, dass das gerade stattfindende Telefonat einiges an Überraschungen zu bieten hatte. Jaques Lecomte begann zu berichten: „Also gut, dann eben erst einmal am Telefon. Bei der Obduktion haben wir in der Speiseröhre des Toten einen 5 cm langen und 3,5 cm breiten Gegenstand aus emailliertem Blech gefunden. Aller Wahrscheinlichkeit nach ein Wappen, Fläche schwarz, weiße Umrandung. An der linken Seite oben eine konkave Aussparung und in der Mitte eine Darstellung, die an die Tatze eines Bären, Tigers oder Ähnlichem erinnert. Das Ding dürfte dem Toten in den letzten Minuten seines Daseins noch erhebliche Schwierigkeiten beim Schlucken bereitet haben. Interessant, nicht?“

„Ich nehme den Dienstwagen. Es wird eine gute Stunde dauern. Au revoir, bis gleich!“ Paul legte auf, steckte das Handy wahllos in irgendeine seiner Taschen, zog das Jackett aus und wischte sich wieder mal den Schweiß von der Stirn. Es war heiß und jetzt noch viel heißer geworden.

Nachdem er Eric über die neuesten Informationen in Kenntnis gesetzt hatte, überließ er ihm die weiteren Ermittlungen vor Ort. Erics Gesichtsausdruck sprach Bände. Wie gerne wäre er mitgekommen. Bis jetzt hatte man hier nichts Interessanteres zu Tage getragen, als eine Sammlung Schuhe, Sandalen und einen einzelnen Watstiefel. Die drei verrosteten Fahrräder und das Motobicyclette, dem der Schlamm aus dem Auspuff tropfte, waren wohl auch nicht das, was man einen erfolgversprechenden Fang nennen konnte.

Paul fuhr viel zu schnell die kurvenreiche Straße hinab. Die hervorstehenden Felswände kamen dem Fahrzeug mehr als nur einmal gefährlich nahe. In Ventimiglia wechselte er auf die Autobahn und war nach vierzig Minuten Fahrt in Nizza.

Jacques saß hinter seinem Schreibtisch, als Paul eintrat. Freudestrahlend stand er auf und begrüßte ihn mit einem kräftigen Händedruck. Ein vollkommen anderer Jacques als gestern. Sofort begann er zu berichten.

„Da haben wir einen besonders außergewöhnlichen Toten auf dem Obduktionstisch liegen.“ Er schürzte die Lippen und pfiff leise vor sich hin, während er eine Schublade seines Schreibtisches öffnete und ein kleines Plastiktütchen auf den Tisch legte.

„Bitte, bedien dich! Mal sehen, ob du mit dem Blechding etwas anfangen kannst.“

Jacques lehnte sich zurück und beobachtete den Kommissar beim Auspacken des kleinen blechernen Gegenstandes. Lecomte hatte das Wappen am Telefon perfekt beschrieben. An einigen Stellen, auf der Rückseite des Emblems, dort, wo sich ehemals ein Sicherheitsverschluss befunden hatte, war das Emaille abgesplittert. Die Vorderseite, mit der stilisierten Tierpranke, war an der oberen konkaven Ausbuchtung ein wenig zerkratzt.

Paul legte es wieder vor sich auf den Tisch. Ohne den Blick davon abzuwenden, hob er fragend die Schultern an.

„Schach matt! Da müssen wohl andere Leute ran. Ich denke, unsere Spezialisten werden uns in Kürze Aufschluss darüber verschaffen. Aber sag mal, das Ding herunterzubekommen bedurfte sicherlich einiges an Kraft und Überwindung.“

„Hingegen der Luftröhre, ist unsere Speiseröhre mit einer Peristaltik ausgestattet, die es uns ermöglicht, dass die Nahrung in Kontraktionswellen in den Magen befördert wird. Soweit hatte es unser Findling jedoch nicht geschafft und es wäre dem Asiaten sicherlich nicht ohne Flüssigkeit gelungen, das Blechding in den Magen zu bekommen. Ich glaube, die äußere Gewalteinwirkung hat dieses Problem gar nicht erst aufkommen lassen. Der Mann war durch den Schmerz bestimmt nicht in der Lage dazu gewesen, sich gegen äußeren Einflüsse zur Wehr zur setzen. Von meiner Warte aus betrachtet, natürlich nur rein spekulativ, denke ich, dass der Mörder diese wenigen Sekunden ausgenützt haben wird, um seine Tat zu vollenden. Die folgende, grauenvolle Verstümmelung hingegen diente aller Wahrscheinlichkeit nach nur einem Ziel, eine Identifizierung unmöglich zu machen. Die Tötung selber hat damit nichts zu tun.“

„Hm, … das Schildchen blieb dem Opfer also wortwörtlich im Halse stecken und erleichterte es dem Täter sein Vorhaben zu vollenden.“

Jacques nickte bejahend und fügte hinzu: „So hätte es sich zutragen können. Bitte gib mir Bescheid, wenn ihr rausbekommen habt, um was genau es sich bei dem Schildchen handelt.“ Der Pathologe stand auf.

„Natürlich, ich melde mich bei dir. Apropos! Wie sieht es denn mit einem Gläschen Wein aus? Vielleicht am Dienstag? Einen dezenten Happen dazu? Ich kenne da ein Rezept – Rotbarben auf Fenchel mit Orangen und Zitronenscheiben belegt. Ich sage nur Yves Walter. So schmeckt das Meer!“

Paul strahlte über beide Wangen und Jacques nahm, nicht ohne für den Wein sorgen zu wollen, die Einladung begeistert an. Kommenden Dienstag, 19.30 Uhr zum Aperitif und dem darauf folgenden Gaumenschmaus im Hause Julian. Den Sonnenuntergang inklusive und gratis. Die Männer verabschiedeten sich herzlich voneinander. Paul verließ, das Emaille-Wappen in der Tasche, die Büroräume der Pathologie.

Vor der Klinik angekommen, fiel sein Blick auf eine junge Dame in dunkelblauer Uniform, die ihm ein Stück Papier unter den Scheibenwischer seines Dienstwagens schob.

„Äh, pardon Mademoiselle! Sie irren sich, ich …“

Dem Verteidigungsversuch folgte ein deutlicher und unmissverständlicher Blick der attraktiven Livrierten. Zielstrebig setzte sie ihren Weg über den überfüllten Parkplatz des Krankenhauses fort.

Paul steckte das Knöllchen in die Innentasche seines Jacketts und fingerte das Handy heraus. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass die Kollegen in Breil die Ergebnisse der Spurensicherung bereits entgegengenommen haben mussten. Das folgende Telefonat mit Eric bestätigte seine Annahmen. Keine befriedigenden Resultate, keine sachdienlichen Hinweise. Das Einsatzkommando vor Ort sollte am morgigen Samstag auf ein Viertel der Truppe reduziert werden, womit sich auch die Erfolgsaussichten auf mögliche Funde entsprechend verringern würden. Um eine effektive Befragung der Einwohner durchführen zu können, hatte Eric im Bürgermeisteramt des Ortes einen Raum zur Verfügung gestellt bekommen. Die Bevölkerung der Tausendfünfhundert-Seelen-Gemeinde zeigte den gesamten Freitag über sehr reges Interesse am Geschehen und so mancher Einsiedler wurde hinter seinem Ofen hervor gelockt, um die Arbeit der Polizei zu verfolgen. Nathalie hatte in der Gendarmerie von Tende einen Handzettel verfasst, in entsprechend großer Anzahl kopiert, den Neugierigen am Seeufer in die Hände gedrückt und einen ganzen Schwarm Jugendlicher aktiviert, die mit großem Eifer an den Haustüren klingelten, klopften und den Bewohnern den Aufruf der Polizei übergaben. Sachdienliche Hinweise wurden gesucht, die unter den angegebenen Telefonnummern durchgegeben werden konnten. Auch würde am nächsten Morgen im Rathaus die Möglichkeit bestehen, eventuelle Beobachtungen persönlich mitzuteilen.

In erster Linie suchten sie nach Aussagen, die den Aufenthaltsort von einer oder auch mehreren asiatisch aussehenden Personen betrafen. Der Aktionsspielraum wurde von der französisch–italienischen Grenze, wenige Kilometer südlich von Breil, bis hinauf an den Colle de Tende festgelegt. Kein einfaches Unterfangen, da die schmale Schlucht der Roya eine viel befahrene Verkehrsader zwischen den Touristenorten an der Riviera und den im Norden gelegenen italienischen Städten darstellt. Nach den unbefriedigenden Ermittlungsergebnissen setzte Eric seine verbleibenden Hoffnungen auf den Samstag.

Der Samstag! Paul Julian drehte sich innerlich im Kreise. Die Diskrepanz zwischen Pflichterfüllung und Vergnügen hatte ihm bereits den ganzen Morgen Magenschmerzen bereitet. Wenn am Samstagabend keine Ergebnisse vorlägen, hieß es den Sonntag anzuhängen. Der Markt von Saint-Antoine, quasi Weihnachten und Geburtstag an einem Tag! Womöglich ohne ihn? Der Wagen war zum Beladen bereit, der Verkaufsplatz seit Monaten reserviert.

„Merde!“ Paul fluchte laut vor sich hin und zog damit die Blicke einiger vorbeigehender Passanten auf sich. Er öffnete die Wagentür, warf das Jackett auf den Rücksitz, startete das Fahrzeug und machte sich auf den Weg in Richtung Staatsanwaltschaft. Nachdem ihn Gerard Belfourt, der zuständige Staatsanwalt, telefonisch nicht hatte erreichen können, war die Anweisung zum Gesprächstermin via SMS eingetroffen. Der verärgerte Unterton, der zwischen den Zeilen zu lesen war, war ihm nicht verborgen geblieben. Um sofortiges Erscheinen wurde gebeten. Der Stand der Ermittlungen und das weitere Vorgehen sollten besprochen und fixiert werden. Der Fund der Leiche hatte bereits Einzug in die Presse gehalten. Schnellstmögliche Ermittlungserfolge waren angesagt. Immer derselbe Ärger mit den Journalisten. Und was hatte das letztendlich zum Ziel? Der Polizei Inkompetenz zu unterstellen und reißerisch über das maßlose Versagen der zuständigen Behörden zu berichten! Nur allzu häufig wurden die Ermittlungen aufgrund des unqualifizierten Sensationsrummels ins falsche Licht gerückt oder behinderten auf indirektem Wege die Arbeit. Und jetzt auch noch Staatsanwalt Belfourt. Paul schimpfte verärgert vor sich hin.

Er bog auf den Parkplatz der Staatsanwaltschaft ein, hielt an der Schranke und versuchte seinen Parkausweis in den Schlitz der Säule einzuführen, was ihm jedoch gründlich misslang. Er hatte nur wenige Zentimeter zu weit rechts angehalten und hangelte gerade den linken Arm aus dem Fenster, als auch noch das Handy zu klingeln begann. Vor Schreck ließ er die Karte fallen. Den Anruf entgegennehmend, stieg er aus dem Fahrzeug aus, bückte sich und fand den Plastikausweis unter dem Auto liegend.

„Jaaah, hier Paul Julian!“

„Hallo Chef, bei dir alles in Ordnung? Du hörst dich so komisch an.“

Mittlerweile lag er auf dem Boden und stöhnte. Dabei streckte er den Arm soweit es nur ging von sich und spreizte die Finger in alle Richtungen, um an die Karte heranzukommen. „Eric, bitte sag mir, um was es sich dreht, ich habe einen Termin bei Belfourt.“

„Natürlich! Wollte nur mitteilen, dass Chouchou und ich eine Ausweitung der Befragung auf den Sonntag übernehmen werden. Wir brauchen dich nicht unbedingt in Breil. Der Rest der Spurensicherung wird von Ribberie geleitet. Wie ich aus sicheren Quellen erfahren habe, bist du am Sonntag in Saint-Antoine und hast dort einen Termin mit einem Spezialisten im Bereich Wappen und Kennzeichen. Stimmt doch, nicht wahr?“

In diesem Moment konnte der Kommissar die Karte greifen. Vor Freude begann er zu strahlen. „Eric, du hast was gut bei mir! Und zwar richtig gut!“ Die beiden beendeten das Gespräch.

Das ungeduldige Hupen der Fahrzeuge hinter ihm nahm Paul mit freundlichem Lächeln und einem kaum hörbaren Leckt mich doch! entgegen. Er steckte die Karte in die Säule, fuhr los und bog in die nächste freie Parklücke ein.

Belfourt wartete bereits ungeduldig auf seine Ankunft. Doch Paul reagierte gelassen. Er freute sich schon fast über die Übellaunigkeit seines Vorgesetzten. Jedoch nur aus einem einzigen Grund. Er wusste, dass bei aller Verstimmtheit des Staatsanwalts, die folgende Unterredung nur von kurzer Dauer sein würde. Freitagnachmittag war für Belfourt nur eines wichtig – der Golfplatz.

Nachdem er die bis dahin bekannten Einzelheiten geschildert hatte, leitete er seinen Bericht auf die kommenden Maßnahmen und blickte währenddessen immer wieder auf seine Armbanduhr. Dies blieb dem Staatsanwalt nicht verborgen. Belfourt registrierte Pauls wiederholten Blick und schloss sich dem Kommissar an. Hastig schob er den Hemdsärmel von seiner Rolex und blickte nervös auf die Standuhr im hinteren Teil des Büros. Pauls Taktieren zeigte Wirkung. Belfourt reagierte zusehends unentspannter und brach wenige Minuten später das Gespräch ab.

„Also gut, alles wunderbar! Julian, ich verlasse mich auf Sie und bitte, spätestens am Montagmittag liegt mir der schriftliche Bericht vor.“

Alles war gesagt worden. Er stand auf und streckte Paul die Hand entgegen. Die ganze Unterredung hatte knapp fünfzehn Minuten gedauert und war zu Paul Julians voller Zufriedenheit ausgefallen.

Er verließ das Gebäude und fuhr anschließend nochmals ins Präsidium. Sofort war er in Gedanken wieder bei dem kleinen Emaille-Anstecker. Sicher wie in Abrahams Schoß hatte er es in seiner Jackettasche aufbewahrt. Oder doch nicht? Nervös griff er hinein. Das Plastiktütchen hatte sich im kaputten Futter der Außentasche verirrt. Erleichtert atmete er auf.

Im Präsidium angekommen, stellte er den Wagen ab und sah sich die paar verstreut geparkten Fahrzeuge an. Unter den Autos befand sich auch der rote Renault von Émile Claudel. Paul hoffte darauf, dass er den Kollegen noch antreffen würde. Émile war genau der Richtige. Spezialist auf dem Gebiet Waffen und Militaria. Sollte das Schildchen irgendwie in dieser Richtung einzuordnen sein, konnte ihm Émile sicher weiterhelfen.

„Tja, mein lieber Paul, … das sieht gut aus.“ Émile ließ das schwarzweiße Stück emaillierten Blechs durch seine Finger gleiten, hielt es ins Licht und funkelte Paul vielversprechend mit seinen grünen Augen an. Bevor er jedoch eine Antwort gab, fragte er neugierig: „Wo hast du das Ding eigentlich her? Zuletzt hat man solch eine Abbildung vor ungefähr fünfundsechzig Jahren auf französischem Boden gesehen.“ Gespannt sah er sich den Kollegen an.

Paul stutzte. Schnell rechnete er im Kopf fünfundsechzig Jahre zurück. 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs. Sprachlos saß er da und überlegte.

Émile löste das Rätselraten auf. „Es ist ein Truppenkennzeichen. Ein Divisionskennzeichen der Waffen-SS, der Sturmstaffel Adolf Hitlers!“

Émile besaß ein profundes Wissen. Zwar kündigte er an, in aller Kürze zu erläutern, was es mit der Truppenkennzeichnung der damaligen deutschen Besatzungsmacht auf sich hatte, doch war die Vielzahl der Informationen so komplex, dass es mehr Zeit in Anspruch nahm, als Paul erwartet hatte. Unterschiedliche Divisionen, Aufgaben und Einsatzorte, blinder Gehorsam und Verbrechen im Namen von Führer und Volk – und nicht nur des deutschen Volks, wie Émile sarkastisch anmerkte. Eine längst vergangene, böse und mittlerweile fast schon unvorstellbare Zeit eröffnete sich Paul sehr präsent vor Augen. Längst vergangen und doch so wichtig, um verstehen zu können.

Das Truppenkennzeichen einer SS-Division, das in der Speiseröhre eines brutal ermordeten und verstümmelten Ostasiaten auftaucht. Im äußersten südöstlichen Zipfel der Republik aus dem Wasser gefischt! Paul schilderte Émile das wenige Dürftige, über das er bisher berichten konnte.

Die Männer spekulierten. Was steckte hinter dem Mord? Ein rechtsradikales, faschistisches Verbrechen? Das Aufkeimen nationalsozialistischen Gedankenguts? Warum gerade hier, weit ab von den Trabantenstädten der großen französischen Städte, in deren Außenbezirken die Arbeitslosigkeit um sich griff und die verschiedenen Nationalitäten zu verhassten Gegnern machte. Was in Gottes Namen hatte dieses Emailleschildchen zu bedeuten? Wieso hatten der oder die Täter eine solch deutliche Spur hinterlassen aber gleichzeitig alle erdenklichen Möglichkeiten einer Identifizierung sorgsam aus dem Wege geräumt?

Es war genug. Paul spürte, wie er müde wurde. Er hatte seinen persönlichen Zenit überschritten. Er übergab Émile das Kennzeichen zur weiteren Recherche. Umgehend wollte dieser die Truppenzugehörigkeit herausfinden und Paul über mögliche Erfolge seiner Nachforschungen in Kenntnis setzen. Die Pranke eines Tiers, sinnbildliche Darstellung ursprünglicher Kraft und Überlegenheit. Paul verabschiedete sich. Es war an der Zeit, die Gedanken auf erholsamere Gleise zu führen.

Als er zu Hause angekommen war, traf er auf seinen Nachbarn Francois, der das Unkraut zwischen den Salatköpfen akkurat jätete. Den ganzen Tag über hatte der Alte auf die Abendsonne gelauert. Jetzt, nachdem die größte Hitze des Tages ein Ende gefunden hatte, stand er mit seinen einundachtzig Jahren im Garten und schwang die Hacke. Paul freute sich, Francois draußen anzutreffen. Umso schneller würde er ihm seinen Vorschlag unterbreiten können. Bereits während der Fahrt war ihm eine Idee gekommen. Wenn er Francois dazu überreden könnte, ihn am Sonntag auf den Markt zu begleiten, würde das nicht nur aus reiner Freundschaft geschehen, zusätzlich hätte er mit Francois auch noch die hundertprozentige Absicherung parat. Wäre seine Anwesenheit in Breil von Nöten, könnte er dem Alten die Verantwortung für den Stand überlassen. Eisern ausharrend würde Francois auf seine Rückkehr warten.

„Hallo Francois! Macht dir die Hitze nicht zu schaffen?“

„Naja, man muss schon aufpassen in meinem Alter. Bin ja kein ganz junger Hüpfer mehr. Man hat´s nicht leicht, aber leicht hat´s einen!“ Er lachte, während er mühevoll seinen Rücken durchbog.

„Sag mal, hast du am Sonntag schon etwas vor? Der Markt von Saint-Antoine, du verstehst? Ich könnte noch etwas Hilfe gebrauchen. Hast du Lust mitzukommen? Aber nur, wenn´s dir nicht zu heiß wird!“ Lange musste Paul nicht auf eine Antwort warten.

„Aber selbstverständlich, natürlich! Wo ist denn da das Problem? Schließlich habe ich in Algerien gekämpft. Francois, der Held von Constantin. Wüstensöhne scheuen die Hitze nicht!“ Selbstbewusst tippte er sich mit dem Daumen auf die Brust.

Paul hatte der doch etwas skurrilen Aussage nichts entgegenzusetzen. Er freute sich, war dankbar um die Zusage des Alten und würde an alles Machbare denken. Eine Markise an der Wand des Transporters, eine Kühlbox für kalte Getränke und auch die Liegestühle würde er noch einladen. Hätte man Wind vom Meer, so könnte man den Ausflug quasi als Erholung bezeichnen. Erholung für Francois, 81 Jahre auf dem Buckel, im Algerienkampf erprobt und scheinbar auch der beste Freund der Sahara.

Die Befragung am Samstag hatte keinen Erfolg gebracht. Eine Ausweitung auf den Sonntag war somit unumgänglich gewesen. Wie ausgemacht, wollten Eric und Nathalie übernehmen. Paul war sehr früh aufgestanden und hatte Francois geweckt.

Jetzt saß er im Mercedes und fuhr voraus. Francois folgte ihm mit dem beladenen Transporter. Es war noch dunkel und die Landstraße in Richtung Saint-Antoine war um diese Uhrzeit nahezu unbefahren.

Etwas außerhalb des Ortes stellten sie den Mercedes ab und Paul stieg in den Transporter um. Nach wenigen Minuten erreichten sie ihr Ziel. Auch andere Marktbestücker waren bereits am Werk. Paul hatte seinen alten Platz aus dem vergangenen Jahr reserviert und lenkte den Peugeot behände durch das rege Treiben. Dann platzierten die beiden ihre Ware vor dem Fahrzeug, fuhren die Markise aus, klappten die Liegestühle auf und gönnten sich erst einmal einen Milchkaffe, den Paul in der Bar gegenüber besorgt hatte.

Francois strahlte. Der Wind wehte mild vom Meer und man hörte das Rauschen der Brandung, die sich in einiger Entfernung an den Buhnen brach. Gegenüber der beiden Olivenverkäufer lag der Stadtpark. Die riesigen Palmen würden lange Schatten spenden. Zeitgleich fand heute das Sommer-Boule statt. Ein besonders wichtiges Turnier der provenzalen Boule-Equipe.

Die Olivenbäumchen in den Blechkanistern sorgten wie erwartet für reges Interesse. Auch einige Boule-Spieler, die sich sehr früh zum Turnier melden mussten, waren darunter. Mit dem Versprechen wieder kommen zu wollen, zogen sie jedoch ab, um sich in die Liste einzutragen und ihr Startgeld zu entrichten.

Spannende Spiele waren zu erwarten, die auch die Aufmerksamkeit der Nicht-Bouler auf sich lenken würde. Paul und Francois waren davon keinesfalls auszunehmen. Mit ziemlicher Sicherheit würden sie dem ein- oder anderen Match beiwohnen.

Der Vormittag kam, die Kanister gingen. Um die Mittagszeit wurde es etwas ruhiger. Paul hatte bereits die Hälfte seiner Ware verkauft und lag dösend in seinem Liegestuhl, als Francois ihn leicht an der Schulter anstieß und ihm krächzend mitteilte, dass er sich das kommende Spiel ansehen würde.

„Paul, mon ami! Wenn mich meine halbblinden Augen nicht allzu sehr täuschen, startet da drüben gerade eine außergewöhnlich interessante Partie. Eine Doublette der Generationen, der Nationen! Vive la France!“

Das Alter verfluchend, kämpfte sich der Alte aus dem Liegestuhl und begab sich in Richtung Turnierplatz. Paul schob sich die Sonnenbrille auf die Nasenspitze. Francois hatte recht. Schon rein optisch versprach das nächste Spiel ein Highlight zu werden. Zwei junge Franzosen arabischer Herkunft, der eine klein, schmalbrüstig und hager, der andere ein Hüne von fast zwei Metern, trafen auf ein Pärchen, welches ein Alter von siebzig bis fünfundachtzig Jahren auf dem Buckel hatte. Sicherlich würde die Partie spannend werden, denn, wer es bis jetzt geschafft hatte, gehörte unter Umständen zu den Favoriten.

„Francois! Warte einen Augenblick, ich komme mit!“ Paul wandte sich an den gelangweilten Taschenverkäufer von nebenan und gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er sich das Spiel aus der Nähe betrachten wollte.

Der Wurf der Münze entschied die Platzwahl. Etwas verhalten wünschten sich die ungleichen Paare ein schönes Spiel. Die Araber starteten die erste Aufnahme. Der Hüne warf das Cochonnet und bestimmte in dieser Form die ihm am sichersten erscheinende Länge, damit er, sollte es notwendig werden, die gegnerische Kugel distanzsicher vom Platz fegen konnte. Der Kleine begab sich in den gekratzten Halbkreis und ging in die Hocke. Er las förmlich den Boden, der sich zwischen ihm und der Buchsbaumkugel auftat. Keine Unebenheit entging seinem Blick. Präzise legte er seine erste Kugel nur knapp zwanzig Zentimeter links des Schweinchens ab. Sie lag nicht lange! Der Alte mit dem ausgedünnten Haarkranz und den funkelnden schwarzen Augen trat souverän in den Kreis, räusperte sich einen Moment und schoss die geschätzten 700 Gramm Eisen in Richtung der ersten Legerkugel. Mit einem lauten Knall verabschiedete sich diese an die Bande der Bahn. Der Auftakt war gelungen und der weitere Verlauf des Spiels würde sich sicherlich sehr vielversprechend gestalten. Die Zuschauermenge verfolgte gebannt die Partie.

Doch keine der beiden Parteien schaffte es, auch nur eine Aufnahme lang dem Spielstand eine entscheidende Wendung zu geben. Die Spannung stieg zusehends. Der Tireur, der Schießer der beiden Alten, man nannte ihn Christophe, zog die Sympathien der begeisterten Menge auf sich, als er mit einem unglaublichen Schuss die erst- und zweitplatzierten Kugeln der Gegner außer Kraft setzte.

Wieder einmal hatte der Hagere der beiden Araber präzise eine Boule an das Schweinchen herangeführt. Fast schon elegant war sie in Richtung der kleinen eingefärbten Buchsbaumkugel gewandert. Beim Loslassen aus der Hand gab er seinem Eisen einen leichten Drall mit, sodass die Kugel scheinbar viel zu weit links vom Ziel aufzuschlagen drohte. Die Drehung bewirkte jedoch, dass die Boule auf dem groben Kies auftraf, leicht nach links lief, um dann, im letzten Moment, einen Schlenker nach rechts zu machen und nur wenige Zentimeter hinter dem Cochonnets zum Liegen kam.

Das Klatschen der begeisterten Menge honorierte er mit einem kaum merklichen Lächeln. Christophe und Jean sahen sich einen kurzen Augenblick an. Die Reihe war an Jean. Mit seinem Magneten, der an einem kniehohen Faden befestigt war, nahm der Leger der Alten seine Kugeln auf. So umging er das anstrengende Bücken und hielt zudem das routinierte Bild aufrecht, das er nach außen hin auch ausstrahlte. Den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, den rechten Arm gestreckt, nahm er innerlich Maß und fixierte den Weg, den seine Spielkugel einnehmen sollte. Gekonnt glitt diese aus der Hand, bewegte sich zielsicher auf das Schweinchen zu und sollte, wie geplant, die Erstplatzierte etwas nach hinten schieben. Es kam anders. Ein Steinchen oder eine Unebenheit lenkte das Eisen ab. Die Boule traf auf eine der gegnerischen Kugeln und schob diese noch etwas weiter nach vorn. Jean hatte dem anderen Team zu einem zweiten Punkt verholfen. Ungläubig schloss er die Augen, senkte den Kopf und trat aus dem Kreis. Ohne ein Wort zu verlieren, übergab er die unumgängliche Aufgabe an Christophe.

Wie wollte dieser nun das scheinbar Unmögliche schaffen? Die Zuschauer waren sich sicher: nicht zu meistern! Die Kugeln der Gegner lagen auf Platz eins und zwei. Die Erstplatzierte nur wenige Zentimeter links hinter dem Cochonnet. Die Zweite ungefähr zwanzig Zentimeter leicht links davor und zusätzlich von der fehlgelaufenen Kugel Jeans geschützt. Christophe konzentrierte sich. Er würde schießen. Mit dem Eisen in der linken Hand stand er da. Beide Arme fest an den Oberkörper gepresst. Nur eine Kugellänge Distanz zwischen Jeans und der vorderen Kugel des Gegners.

Der Platz schwieg. Die Geräuschkulisse des Marktes verlor sich im Hintergrund. Christophe schoss.

Doch sein Ziel war nicht das Schweinchen. Die meisten der versierten Zuschauer hätten dies als letzten Rettungsversuch erachtet. Das Schweinchen treffen, um es aus dem Spiel zu bringen. Würde es an die Bande knallen, wäre der Spielstand der gleiche, wie zu Beginn der Aufnahme. Das Fazit daraus: Wiederholung derer.

Nein, Christophe warf ein kraftvolles Hochporter. Die Boule schoss mindestens vier Meter in die Höhe, durchlief in der Luft den Weg einer Parabel und knallte direkt hinter Jeans Kugel auf die Zweitplatzierte des gegnerischen Legers. In Sekundenbruchteilen stieß diese auf die Erstplatzierte und schob sie aus der Poolposition. Leger- und Schießerkugel der beiden Alten lagen nun auf Platz eins und zwei.

Stürmisches Klatschen und begeisterte Jubelrufe lösten die angespannte Stille auf. Die beiden jungen Araber sprachen den Mitspielern ihr ernstgemeintes Kompliment aus.

Nach einer dreiviertel Stunde höchster Konzentration und einem Stand von zehn zu acht zum Vorteil für das ungleiche Paar, bewegte sich die Partie ihrem spannenden Ende entgegen. Die Aufnahme war an den Punktführern.

Zum ersten Mal zeigte der Kleine Schwächen. Das Eisen kam mindestens 40 Zentimeter hinter dem Cochonnet zum Liegen. Ein Leichtes für Jean. Bei freier Bahn legte er seine Kugel direkt an das Schweinchen an. Ein Raunen ging durch die Menge. Es gab nur noch eine Chance für die gegnerische Mannschaft. Der Hüne musste schießen. Ein Carreau war fast unmöglich. Doch konnte er mit ein wenig Glück die Holzkugel in Richtung der hinteren Boule seines Partners bewegen. Er platzierte sich im Kreis und fixierte das Bild, das sich vor ihm auftat.

Jean hatte sich in Richtung der abgelegten Kugeln begeben und verfolgte den Verlauf aus direkter Nähe. Der Riese streckte den rechten Arm in die Höhe und peilte die Kugel an. Präzise sog er die Distanz in sich auf und ließ alle Kraft, die für den folgenden Schuss von Nöten war, in Arm und Hand fließen. Christophe stand ungefähr einen Meter hinter ihm. Der Schießer holte aus. Um dem Schuss die notwendige Geschwindigkeit zu verleihen, schwang er den Arm mit ganzer Kraft nach hinten. In diesem Moment bückte sich Christophe. Der Schnürsenkel seines Schuhs hatte sich gelöst.

Mit gewaltiger Wucht traf ihn die Kugel am Kopf. Das Eisen schlug ihm gegen die rechte Schläfe. Der Alte sackte augenblicklich in sich zusammen und fiel auf den Boden. Blut strömte ihm über das Gesicht. Reglos und gekrümmt lag der Körper auf dem Kies.

Die Zeit schien still zu stehen. Fassungslosigkeit lähmte die Menge. Den Bruchteil einer Sekunde blickte der Riese auf die blutverschmierte Kugel in seiner Hand. Er ließ sie auf den Boden fallen, ging in die Knie und schlug sich die Hände vors Gesicht. Der alte Jean konnte nicht fassen, was sich gerade vor seinen Augen abgespielt hatte. Der Schock war ihm durch alle Glieder gefahren. Er zitterte am ganzen Leib. Geistesgegenwärtig war Paul ihm zu Hilfe geeilt, stützte ihn und half ihm, sich auf die nächstgelegene Bank zu setzen. Dann wandte er sich dem am Boden liegenden Spieler zu, der kein Lebenszeichen von sich gab. Paul ergriff den Unterarm und versuchte den Puls des Mannes zu ertasten. Nichts war zu spüren. Blut lief ihm aus der Nase.

Lautes Entsetzen folgte. Einige Zuschauer brachen in Tränen aus. Andere schüttelten ungläubig die Köpfe. Das konnte nicht wahr sein, war nicht zu begreifen!

Die Polizisten, die bis dahin den Verkehr geregelt hatten, waren sofort vor Ort und versuchten, die Situation in den Griff zu bekommen. Schnell wurde ein Notarzt informiert und heraneilende Schaulustige vom Unfallort ferngehalten.

Es dauerte nicht lange und man konnte die Sirene des Krankenwagens hören. Schrill hallte sie durch die Hitze des Mittags.

Paul kümmerte sich wieder um den alten Jean und gab sich den Kollegen der Verkehrspolizei zu erkennen. Der kleine hagere Freund des Riesen und andere Beherzte aus der Reihe des Publikums, wandten sich dem völlig verstörten Schießer zu. Währenddessen hatte es der Notarztwagen geschafft, sich durch die engen Gassen der Marktbestücker hindurch zu kämpfen.

Die Blicke des Arztes sprachen Bände, als er den am Boden liegenden Mann vor sich sah, um dessen Kopf sich mittlerweile eine große Blutlache gebildet hatte. Schon nach wenigen Untersuchungen war klar, jede Hilfe kam hier zu spät. Der Schlag mit der Kugel war tödlich gewesen.

Während die Sanitäter Jean auf eine Trage legten, spürte Paul sein Handy vibrieren und griff in die Hosentasche seiner Shorts. Ein Blick auf das Display. Erics Nummer. Er nahm den Anruf entgegen. Freudig begann Eric zu berichten: „Chef, gute Nachrichten! Wir haben hier gerade mit einem älteren Einwohner gesprochen, der uns mitteilte, dass ein Freund am Dienstagabend den Asiaten in Breil gesehen hätte. Dieser Freund ist momentan nicht im Ort, da er irgendwo eine unglaublich wichtige Partie Boule spielen muss.“

Eric erwartete eine Antwort. Diese blieb jedoch aus. Auch er stockte einen Moment, spürte, dass irgendetwas nicht stimmte.

„Paul? Bist du noch dran?“

Der Kommissar starrte auf den Boden. Der helle Kies verschwamm vor seinen Augen. Er antwortete zögernd: „Jaja, natürlich, ich bin noch da … Erzähl bitte weiter.“

Irritiert nahm Eric seinen Bericht wieder auf.

„Ein Christophe Pepitan hat das Opfer gesehen. Er stand scheinbar nur in kurzer Distanz von dem Asiaten entfernt, während dieser das abendliche Boule-Spiel in Breil beobachtete. Der Zeuge, dieser Pepitan, der kommt heute noch nach Breil zurück. Soll ich auf ihn warten?“

„Christophe Pepitan.“ Paul murmelte den Namen vor sich hin und begab sich an den Notarztwagen.

drei

Bei jedem Schritt drückte es ihm das Wasser aus den völlig durchweichten Schnürstiefeln. Er konnte die Bläschen zwischen Sohle und Naht hervortreten und platzen sehen, während er seinen Weg durch die eintönige Landschaft beschritt. Der kalte Ostwind nahm stetig zu. Von Stunde zu Stunde wurde es eisiger.

Welchen Weg eigentlich? Wohin in Gottes Namen sollten ihn seine Füße tragen? Es wurde dunkel. Langsam legte sich die Nacht über die Landschaft. Die alten Kopfweiden, die die Landstraße säumten, lösten sich in der Dunkelheit auf. Peppel bekam es mit der Angst zu tun. Die Kälte kroch ihm den abgewetzten und viel zu großen Filzmantel hinauf, den sie ihm in der Kleiderkammer ausgehändigt hatten.

Im Gegensatz zu den fünf Wochen Wanderschaft, die ihn immer weiter in den Norden geführt hatte, war das halbe Jahr im Lager ein reines Vergnügen gewesen. Liebend gerne hätte er nochmals sechs, sieben oder acht Monate Entnazifizierung in Kauf genommen. Sommer wäre es dann gewesen. Sommer 1946 – wahrscheinlich genauso perspektivlos, aber immerhin warm. Und jetzt? Im Straßengraben verrecken?

Die letzte dünne Stulle, die ihm die Tante in die Hand gedrückt hatte, hatte er heute Mittag gierig verschlungen. Peppel hatte Hunger. Er griff in die Manteltasche. Zwei Äpfel und eine alte Karotte.

Alte vertrocknete Karotte. Alte vertrocknete Tante. Froh war sie gewesen. Froh den Fresser los zu sein. Doch wie herzlich hatte er Abschied von Otto genommen. Würde er ihn jemals wiedersehen? Fast schon wehmütig dachte er an die gemeinsame Zeit zurück. Eine beschissene Zeit!

Nach der Gefangennahme in Kaiserslautern waren sie in eine verlassene Wehrmachtskaserne in der Nähe von Heilbronn transportiert worden. Kriegsgefangenschaft! Und doch besser als jede Nacht davor. An der Flak hatten sie gestanden und verzweifelt versucht, die im Scheinwerferlicht auftauchenden Bomber der Alliierten vom Himmel zu holen. Nacht für Nacht das Dröhnen der Flugzeuge über ihnen. Dann, der unabwendbare Bombenhagel. Sie mussten aufgeben. Er, Otto und die anderen Burschen, die sich, ohne ein Wort zu wechseln, die aussichtslose Lage vor Augen, in den nächstbesten Keller eines der Häuser geflüchtet hatten. Sie waren den Bomben, dem Phosphor, dem sicheren Tode entkommen. Dann das Warten. Das angsterfüllte Lauern darauf, was der kommende Morgen mit sich bringen würde. Stunde um Stunde, während derer sich der Staub der Zerstörung durch die Kellertüren drückte und langsam das Atmen zu ersticken schien.