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Die kanarische Insel Lanzarote ist über weite Strecken eine trockene, dürre Landschaft, welche zusätzlich durch verheerende Vulkan-Eruptionen verwüstet wurde. Es ist deshalb kaum zu verwundern, dass die Landwirtschaft um jeden Tropfen Wasser zu kämpfen hat. Der Geologe Bennett ist überzeugt, dass die Insel kurz vor einer Katastrophe steht, denn alles deutet auf ein Versiegen der letzten noch bestehenden Quellen hin. Die Meerwasserentsalzung kann das Problem kaum mehr bewältigen, denn es werden immer mehr ahnungslose Touristen, welche das kostbare Nass hemmungslos vergeuden, angelockt. Die Journalistin Elenora Lopez recherchiert um die fragwürdigen Vorgänge und kommt in Gefahr. Auch der pensionierte Comisario Fernando kann ihr nicht helfen.
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Seitenzahl: 432
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die kanarische Insel Lanzarote ist über weite Strecken eine trockene, dürre Landschaft, welche zusätzlich durch verheerende Vulkan-Eruptionen verwüstet wurde. Es ist deshalb kaum zu verwundern, dass die Landwirtschaft um jeden Tropfen Wasser zu kämpfen hat.
Der Geologe Bennett ist überzeugt, dass die Insel kurz vor einer Katastrophe steht, denn alles deutet auf ein Versiegen der letzten noch bestehenden Quellen hin. Die Meerwasserentsalzung kann das Problem kaum mehr bewältigen, denn es werden immer mehr ahnungslose Touristen, welche das kostbare Nass hemmungslos vergeuden, angelockt.
Die Journalistin Elenora Lopez recherchiert um die fragwürdigen Vorgänge und kommt in Gefahr. Auch der pensionierte Comisario Fernando kann ihr nicht helfen.
Für Peter Greminger war Reisen immer eine besondere Herausforderung. Er verbrachte einen großen Teil seines Lebens im südostasiatischen Raum, wo er lange beruflich tätig war. Schon damals hielt er seine Erlebnisse oft in Reiseberichten und Kurzgeschichten fest.
Nach Abschluss seiner beruflichen Tätigkeit verbrachte der Autor zwei Jahre in Neuseeland, wo vier Romane über das Land der Kiwis entstanden. Nun lebt er, zusammen mit seiner Frau, in der Ostschweiz. Seit mehreren Jahren entfliehen die Beiden der Kälte des Winters nach Lanzarote. Dort, auf der bizarren kanarischen Insel, sind der Phantasie des Autors keine Grenzen gesetzt.
Peter Greminger
Weitere Romane des Autors:
9 783 752 820 836 „Pakeha“ (Fremde in Neuseeland)
9 783 752 806 380 „Tangiwai“ (Weinendes Wasser, Neuseeland)
9 783 752 805 604 „Kahurangi“ (Grüner Stein, Neuseeland)
9 783 752 820 393 „Paua“ (Meerohrschnecken, Neuseeland)
9 783 741 205 477 „Sunda“ (Indonesien)
9 783 752 877 663 „Fuego“ (Lanzarote Utopie)
9 783 753 463 551 „Schwarze Masken“ (Lanzarote-Krimi 1)
9 783 754 374 658 „Die Anmutige“ (Lanzarote-Krimi 2)
9 783 759 702 562 „Salz der Insel“ (Lanzarote- Krimi 3)
Tausende haben ohne Liebe gelebt, nicht einer ohne Wasser.
(W. H. Auden)
ROMAN
Die Wasserversorgung auf Lanzarote steht kurz vor dem Zusammenbruch. Profitgierige Unbekannte nützen die Situation skrupellos aus und schrecken auch vor Mord nicht zurück.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Am östlichen Abhang des Riscos, der höchsten Erhebung von Lanzarote, liegt der riesige Barranco Chafarís, weiter unten auch als Valle de Temisa bekannt. Der Anblick, hinunter in diese Schlucht, ist gewaltig und für viele furchteinflößend. Er kann aber auch Bewunderung auslösen, denn die steilen Flanken sind mit einfachen Mäuerchen zu tausenden schmalen Terrassen geformt. Sie bilden den Anschein eines riesigen Stadions für eine gigantische himmlische Aufführung. Diese Stufen dienten aber eher der Vermeidung der Erosion und dem Erhalt des kargen Erdreichs zur Bepflanzung. Was da einmal gedeihen sollte, ist kaum mehr vorstellbar, und die Terrassen waren jetzt ausschließlich mit Gestrüpp und Unkraut überwachsen.
Obwohl er die Aussicht fast täglich vor sich hatte, war William immer wieder fasziniert. Er hatte, dort oben auf dem höchsten Punkt der Insel, einen Logenplatz und blickte den Barranco hinunter, bis zur Küste und hinaus auf das herrlich glänzende Meer. Weit unten, hinter dem rechten Abhang und halb verdeckt, befand sich das kleine Dorf Tabayesco. An dessen Rand, etwas außerhalb und eigentlich aus dieser Ferne nur zu erahnen, lag seine ‘Finca‘. Es hatte diesen Namen eines spanischen Landhauses natürlich kaum verdient, denn es war eher ein bescheidenes Häuschen inmitten eines leicht verwilderten Gartens. Dennoch freuten sie sich spitzbübisch an dem wohlklingenden Namen ‘Finca Querida‘. Seine Frau Olivia meinte glücklich, sie hätten den idealen Zufluchtsort gefunden und lebten im Paradies.
William Bennett, der deutsche Geologe mit irischen Wurzeln, hatte erreicht, was er immer angestrebt hatte und war angekommen. Er hatte seine beruflichen Träume verwirklicht und war jetzt Teil einer weltweiten Studie um den Einfluss des Klimawandels allgemein und dessen Auswirkung auf die zukünftige Wasserversorgung der Menschen. Immer wenn er über seine Laufbahn nachdachte, musste er ein Grinsen unterdrücken. Wie kam es, dass ein promovierter Geologe auf der höchsten Erhebung dieser unscheinbaren Insel saß, wo doch jedes Kind wusste, dass hier oben keine weltumfassenden Veränderungen stattfinden würden. Auch die Anlage, ein paar Meter weiter oben, mit den großen Kuppeln, war für die Überwachung des Luftraumes und für die Flugsicherung zuständig und nicht für den Klimaschutz. Man hatte ihm aber, in Ermangelung einer anderen geeigneten Lokalität, hier einen Raum überlassen. Die Lage war ungewöhnlich, aber dennoch optimal, denn er hatte ungestörten Funkkontakt zu seinen Messstellen, wie auch zum Zentrum für Umweltforschung UFZ in Leipzig.
Er klappte seinen Laptop zu und warf einen prüfenden Blick auf die Anzeigen der Geräte. Alles war im normalen Bereich, so dass er zufrieden seine Sachen zusammen packte und hinaus in die kühle Luft trat. Der übliche Passatwind fuhr durch seine dunkelblonden Haare und zerzauste diese. Er war mit hundertneunzig Zentimeter groß gewachsen und von kräftiger Statur. Seine blauen Augen blickten nochmals prüfend den Barranco hinunter zum Meer, bevor er sich seinem Auto zuwandte. Seine Frau würde ihn sicher schon erwarten, denn es war bereits nach vier Uhr.
Der kleine Parkplatz war wie leergefegt. Sein Toyota Crossover stand als einziger da. Er warf die Tasche auf den Rücksitz, sprang hinein und fuhr rückwärts auf den Fahrweg. Plötzlich ertönte lautes zorniges Hupen. Erschrocken trat er auf die Bremse und brachte den Wagen mit einem abrupten Ruck zum Stillstand. Um Haaresbreite hätte er das Fahrzeug eines dämlichen Idioten gerammt, der sich keinen dümmeren Ort aussuchen konnte, um anzuhalten. Da war weit und breit Platz in Fülle, aber ausgerechnet da, hinter ihm!
Wütend sprang er aus dem Wagen und nahm den blöden Fahrer ins Visier. Es war eine Frau. Auch das noch, brummte er innerlich, verbat sich aber die aufkommenden Vorurteile sofort, denn er sah, dass die Dame verzweifelt mit den Gängen kämpfte.
„Kann ich behilflich sein?“, fragte er mit abflauender Erregung. „Haben Sie Probleme?“
Da die Scheibe noch oben war, hatte sie natürlich nichts verstanden. Das Glas glitt hinunter und wütend sagte die Frau: „Passen Sie doch auf! Sie hätten mich beinahe gerammt. Haben Sie denn keine Augen im Kopf?“
Verblüfft blickte er in blitzende bernsteinfarbene Augen und bemerkte das fein geschnittene Gesicht einer Schönheit. Ihre Haare waren schwarz und lagen etwas wirr über ihren Schultern. Den Rest der erzürnten Person konnte er nur erahnen.
„Bitte entschuldigen Sie“, versuchte er die Wogen zu glätten. „Es tut mir leid. – Wohin wollen Sie denn? Hier ist Endstation, Sie müssen umdrehen.“
„Ich drehe um, wann ich will“, begehrte sie auf und fuhr mit einem unkontrollierten Satz auf das Parkfeld. Offensichtlich kam sie mit dem Auto nur schlecht zurecht. Es handelte sich auch um einen Mietwagen, wie das große Logo auf der Seitentür verriet. Die Fahrerin stieg aus und versuchte das Haar zu bändigen, was aber im kräftigen Wind völlig misslang. Sie war kleiner als er, aber die Gestalt war bemerkenswert. Sie stapfte angriffslustig um das Auto herum und stellte sich vor William hin.
„Ich suche einen Dr. Bennett. Weiß Gott, warum der sich hier oben versteckt.“
Nun grinste er. „Er versteckt sich keineswegs. Sie gestatten, ich bin William Bennett.“
„Sie?“
In ihrer Verwirrung und mit dem zerzausten Haar erschien sie wie eine wilde Raubkatze. Der Wind zerrte an ihrer farbigen Bluse und ließ über die Formen darunter keinen Zweifel aufkommen. Sie war wohlgebaut und ihre weißen Jeans verrieten schlanke Beine.
„Oh Gott, bitte entschuldigen Sie, ich…“
Er unterbrach sie: „Schon gut, es war meine Schuld, beinahe hätte ich sie gerammt. – Aber was führt Sie denn zu mir hinauf?“
„Bitte entschuldigen Sie“, wiederholte sie erneut. „Mein Name ist Elenora Lopez vom ‘Cabildo Insula‘, dem Inselrat von Lanzarote. Wir hätten ein paar Fragen an Sie. – Ich weiß, ich hätte mich anmelden müssen, aber bei diesem herrlichen Wetter dachte ich…“
Wieder unterbrach sie ihren Redefluss.
„Verstehe“, half er ihr. „Da sind Sie aber an der falschen Adresse, Señora Lopez. Ich bin leider nicht befugt, irgendwelche Daten zu verraten. Dafür müssen sie sich an das EMSC wenden.“
Sie lächelte verlegen. „Entschuldigen Sie, ich war wohl etwas voreilig. Ich will auch keine wissenschaftlichen Daten von ihnen. Eigentlich erhofften wir uns nur eine kompetente Meinung, über die Situation der tektonischen Aktivitäten und deren möglichen Einfluss auf das Leben auf Lanzarote, zu bekommen. Nach den Eruptionen auf der Insel ‘La Palma‘ sind wir natürlich etwas besorgt.“
Mit gespielter Ernsthaftigkeit sagte er: „Der Inselrat braucht sich keine Sorgen zu machen, Lanzarote wird uns, im Moment, nicht um die Ohren fliegen, und die Touristen können sich ruhig weiter an den Stränden in der Sonne räkeln.“
Dabei stellte er sich sein Gegenüber im knappen Bikini an der Costa Teguise vor. Der kalte Wind zerstörte aber mit einer kräftigen Böe das Bild sofort wieder und ließ ihn erschauern. Auf dieser Höhe und Anfang Februar, konnte es auch auf den Kanaren ungemütlich kalt werden.
Etwas förmlich und recht unhöflich kam er zu einem Ende: „Ich muss jetzt los. Schön, Sie kennen gelernt zu haben, aber ich kann ihnen leider nicht weiter helfen. Buenas tardes!“
Er stieg ein und schlug die Wagentür zu. Elenora stand da und schaute mit großen Augen ratlos zu. So ein Rüppel, durchfuhr es sie, als er zurückstieß und die Zufahrt hinunter davonbrauste.
Die Begegnung verfolgte ihn aber unfreiwillig, und als er die Kurven hinunter nach Haría etwas gar schnell nahm, brummte er vor sich hin: „Blöde Kuh! Haben die wirklich nichts Besseres zu tun?“
Kurz vor dem Dorf Haría bog er in die steile Straße, hinunter in den Barranco Chafarís, ein. Sie ist so eng, dass er nur hoffen konnte, dass ihm keiner entgegen kam. Zwar gab es Ausweichstellen, aber dennoch war diese kurvige, steile Straße eine Herausforderung und verlangte seine volle Konzentration. Er hatte deshalb, als er Tabayesco erreichte und links zu seinem Haus abbog, die Begegnung mit der jungen Frau praktisch vergessen.
Die ‘Finca‘ lag etwa dreihundert Meter außerhalb und war über eine unbefestigte Piste erreichbar. Der Talboden war hier, am unteren Ende des Barrancos sehr weit und eben. Fruchtbare Ackerflächen lagen links und rechts, bis hinauf zu den Abhängen. Der gigantische Talkessel entpuppte sich als riesiger Wassersammler, was den Bauern sehr zugute kam. Weit oben befand sich auch eine bekannte Quelle mit einem künstlichen Wasserbecken, welches immer gut gefüllt war. Diese für Lanzarote einmalige Bewässerung kam natürlich auch seinem eigenen Garten zugute. Palmen, Agaven und Bougainvilleas empfingen William, als er zu seinem Anwesen einbog und vor der Terrasse neben dem weißen Fiat Panda hielt. Er kletterte aus dem Auto und schlug die Tür aufatmend zu. Olivia, seine Frau, lag in ihrem Liegestuhl und blickte ihm entgegen. Sie schob die dunkle Sonnenbrille in ihr braun glänzendes Haar und lächelte zu ihm hoch.
„Liebling, schön dass du schon da bist“, rief sie. „Möchtest du etwas zu trinken?“
„Hast du Roni schon abgeholt?“, entgegnete er stattdessen.
„Natürlich, er ist drinnen“, bestätigte sie und füllte Limonade aus einer Kanne in ein Glas.
„Daddy! Daddy, schau was ich habe!“, kam es stürmisch aus der Tür.
Der Junge rannte in die Arme seines Vaters und präsentierte stolz einen roten Eimer, gefüllt mit allerlei Steinen. „Ich möchte zum Strand. Da kann ich Sand und Wasser holen…“
William hob den Kleinen hoch und versprach lachend: „Klar, mein Held, wir bauen eine große Burg für viele Ritter und Prinzessinnen.“
„Ja!“, jubelte Roni mit strahlenden Augen.
Sein Sohn war alles für ihn. Er liebte ihn und vergötterte ihn. Das Geschenk dieses Kindes war überwältigend, auch wenn alle meinten, nur eine Mutter könne das so empfinden. Für ihn war es so, egal was andere dachten. Auch Olivia liebte ihren Sohn, ohne Zweifel. Aber sie war die Praktische, organisierte den Haushalt und brachte ihren Sprössling pflichtbewusst zur Schule. William selber fehlte nur zu oft, wenn er seinen vielseitigen Aufgaben nachging und die Messstellen kontrollierte, Daten auswertete und Berichte verfasste. Immer hatte er zu wenig Zeit für seinen Sohn und seine Familie.
„Hast du deine Hausaufgaben fertig?“, fragte die Mutter auch jetzt wieder mahnend.
Der Vater nahm das Glas und leerte es in einem Zug. Durchatmend meinte er gutmütig, als der Bub sich um die Antwort drückte: „Na, dann los mein Sohn. Dumme Leute werden keine Ritter und bekommen auch keine Prinzessin.“
„Ich bin nicht dumm, nicht dumm…“, johlte der Junge und tanzte ins Haus. „Ich werd‘ ein Ritter… Ri.iitter!“
Es wurde Abend und die Sonne verschwand rasch hinter dem Risco. Die Schatten fielen wie ein großer schwerer Mantel in das Tal. Das war das Einzige, was William an der Lage ihres Wohnortes missfiel. Die Dämmerung war kurz, die Nacht überfiel den Barranco rücksichtslos und ließ keine romantische Stimmung in sanftem Abendlicht aufkommen. Olivia versuchte manchmal, mit bunten Lampions, eine angenehme Fröhlichkeit auf die Terrasse zu zaubern, aber die Kühle der Nacht trieb sie meist rasch wieder zurück ins Haus.
Während sie zusammen in der Küche ein einfaches Abendbrot richteten, erzählte William von seiner Arbeit und über das erstaunliche Interesse der Regierung an seinen Aufzeichnungen.
„Es ist aber verständlich, dass sie sich Sorgen machen“, wandte Olivia ein. „Die Eruptionen auf ‘La Palma‘ erschrecken viele.“
„Wie meinst du das?“, erkundigte sich ihr Mann. „Bei uns ist doch alles ruhig. Außerdem bin ich für Geologie und Hydrologie zuständig.
„Ziert sich der Experte“, foppte Olivia. „Tatsächlich gehen aber im Netz ganz andere Geschichten um. Die reden von einem Pulverfass, auf dem wir hier sitzen sollen.“
William, von der ewigen Gerüchteküche im Internet genervt, entgegnete: „Ich kann nicht glauben, dass du immer noch der Verbreitung von unüberlegten, unbegründeten, ja falschen Meldungen vertraust. Man sollte das verbieten.“
„Aber da sind doch Hunderttausende, ja manchmal sogar Millionen die das tun. Alle können doch nicht falsch sein.“, argumentierte Olivia.
„Meine Liebe, ich bin Wissenschaftler und vertraue auf gesicherte Daten und nicht auf Hörensagen. – Du bist zu viel online, das ist nicht gut.“
Damit hatte er ein heikles Thema angeschnitten. Olivia war tatsächlich sehr oft an ihrem Smartphone, hatte viele Kontakte und freute sich auf Meldungen aus der ganzen Welt. Das hatte sich schon beinahe zu einer Manie entwickelt, einer Sucht, die scheinbar bereits die ganze Gesellschaft erfasst hatte.
William stand aber nicht der Sinn nach einer end- oder aussichtslosen Diskussion. Er öffnete eine Flasche Rotwein, schenkte zwei Gläser ein und hoffte auf einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher.
„Bist du sicher, dass bei uns alles in Ordnung ist?“, nahm Olivia das Thema erneut auf.
„Aber ja, meine Liebe“, versicherte er. „Es ist alles ruhig, und wir sollten uns viel eher um das Naheliegende kümmern. Ich meine die Versorgung dieser Insel. Es wird in naher Zukunft Probleme mit dem Wasser, Abwasser, dem Strom und dem Verkehr geben. Wenn das so weitergeht ist ein möglicher Vulkanausbruch unsere kleinste Sorge und gegenüber dem Kollaps der ganzen Infrastruktur, gleich einem kleinen Rülpser.“
Das war natürlich etwas gar polemisch und William war sich dessen bewusst. Trotzdem fuhr er fort: „Die Tante der Inselregierung, heute Nachmittag, war ein typisches Beispiel der hier herrschenden Ignoranz. Es sollen immer mehr Touristen kommen und keiner bedenkt, was das für die Insel bedeutet. Dafür werden Ängste über Vulkane geschürt, welche sowieso nicht kontrollierbar sind.“
„Ist denn Wasser und Strom kontrollierbar?“, wandte Olivia zweifelnd ein.
„Aber natürlich!“, ereiferte sich William. „Vor allem der Verbrauch und die Verschwendung. Der Touristenstrom müsste eingedämmt und die Infrastruktur in Stand gestellt werden. – Das alles wird aber keiner der Verantwortlichen wollen, denn das heißt weniger Wirtschaftswachstum.“
Olivia überlegte und meinte dann: „Das trifft doch hauptsächlich für die Urlaubsregionen zu. Bei uns hier ist das doch kein Problem.“
„Ha, kein Problem!“, entgegnete der Geologe. „Den Strom können wir notfalls noch selber mit mobilen Generatoren erzeugen, aber das Wasser wird auch uns in Zukunft fehlen. Die Niederschläge werden immer weniger, und die Quellen oben im Barranco versiegen. Du siehst ja selber, wie trocken es bereits geworden ist.“
Tatsächlich musste sie ihre Pflanzen immer öfter gießen, aber glücklicherweise war der tiefe Brunnen hinter dem Haus noch immer voll Wasser. Was, wenn der austrocknen sollte, was dann?
Haría liegt im Tal der tausend Palmen. Der blühende Ort im nördlichen Teil von Lanzarote verdankt seinen Wohlstand seiner geschützten Lage inmitten der Berge. Diese sammeln das benötigte Wasser, worauf es den Weg in die Zisternen des Ortes findet. Genau vor dem Rathaus befindet sich so eine Aljibe.
Fernando Romero, Ex-Comisario der Policía National, saß mit geschlossenen Augen vor dem Café ‘La Plaza‘ und träumte vor sich hin. Der Vormittag war noch ruhig, und nur wenige Fahrzeuge nahmen die scharfe Ecke am Platz der Constitución, um auf die Straße hinauf in Richtung Norden zu gelangen oder geradeaus durch das Dorf zu fahren. Der vor ihm stehende Café Solo war längst ausgetrunken, und Fernando döste zufrieden vor sich hin. Manchmal blinzelte er hinüber zu dem kleinen Platz mit der Zisterne, wo sich die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Häusern hindurch wagten. Es war ein schönes und beruhigendes Bild, die geschwungenen weißen Mauern mit den rot blühenden Bougainvilleas und dahinter das stattliche Rathaus.
Normalerweise traf er hier die Männer, welche wie er, den Vormittag mit Nichtstun und Müßiggang vertrieben. Heute war noch keiner erschienen, aber das war nicht außergewöhnlich, denn den Manuel plagte die Gicht und José hatte vermutlich wieder einmal Streit mit seiner María. – Unmöglich, dass man sich in dem Alter derart das Leben schwer machten konnte. Fernando verstand das nicht und dachte zufrieden an seine Ilona. Sie war manchmal durchaus kratzbürstig, aber ein überaus liebenswürdiger Mensch. Seit sie im letzten Jahr hierher gezogen waren, war Ruhe in ihr beider Leben eingekehrt. Ilonas Zeiten der aufreibenden Geschäftsführung des Lokales “El Rondó“ in Puerto del Carmen lagen definitiv hinter ihnen und hatten einem gemächlichen ländlichen Dasein Platz gemacht. Natürlich hatte sie Recht mit der Feststellung, seine gefährlichen Ermittlungen als Polizist seien nun endgültig vorbei und er könne, ja müsse jetzt seinen Ruhestand voll und ganz genießen. Sie lebten nun bereits über ein Jahr hier in Haría und hatten sich gut eingewöhnt.
Die Wohnung bei Victoria war komfortabel. Sie fühlten sich wohl dort, wenn auch die Eigentümerin, welche über ihnen hauste, manchmal etwas gar aufdringlich war. Die alte Frau hatte viel Gemeinsames mit seiner Tante Amara in Tías. Sie war übereifrig am Wohlergehen ihrer Mieter besorgt, aber ihre liebenswürdige Art war selbstlos und gut gemeint. Was wollte man mehr.
Um die drohende gähnende Leere etwas auszufüllen, hatte sich Ilona bei der Sociedad ‘La Tegala‘, einem Kulturzentrum mit angeschlossenem Restaurant, engagiert. Es lag hier gleich um die Ecke, und auch Fernando war oft dort anzutreffen. Trotzdem, manchmal fehlte ihm die vertraute Umgebung um Puerto del Carmen und Tías. Tante Amara, liebevoll auch Tía Amara genannt, lebte dort allein in ihrem Elternhaus und war immer so etwas wie das Zentrum für alle gewesen.
Fernando seufzte leise vor sich hin und blinzelte träge gegen das aufkommende Sonnenlicht. Die Strahlen hatten inzwischen den Weg über die nahen Dächer gefunden und blendeten ihm jetzt grell entgegen. Plötzlich riss er die Augen auf und spähte über die Straße. Drüben vor dem Rathaus störte eine Gestalt die morgendliche besinnliche Stimmung. Sie schien tatsächlich einen Angriff auf das stolze Gebäude der Kommune zu führen und hämmerte wie wild auf die Pforte ein. Ja, es handelte sich um eine Frau, die mit geballten Fäusten dort Einlass begehrte.
Fernando erhob sich, erst zögernd und kopfschüttelnd, eilte dann aber über die Straße und winkte abwehrend mit den Armen.
„Señora!“, rief er. „Es ist noch geschlossen!“
¡Por Dios, aufmachen!“, schrie die Frau und hämmerte weiter an die Tür.
„Bitte, beruhigen Sie sich!“, sagte Fernando und stellte sich der Angreiferin entgegen. „Das ist zwecklos, hier ist erst ab zehn Uhr geöffnet. Kann ich ihnen helfen?“
Endlich ließ sie von der Tür ab und drehte sich um. Große Augen starrten ihm angstvoll entgegen. Die schwarzen Haare standen wirr in alle Richtungen um ihr rotes, verschwitztes Gesicht. Sie war jung, vermutlich um die zwanzig Jahre. Ihre Erscheinung war sportlich, aber die weißen Jeans waren bis an die Knie verschmutzt und die Bluse verschwitzt und zerknittert. Sie war völlig aufgelöst und keuchte heftig.
„Polizei!“, stammelte sie jetzt „Ich brauche die Polizei. Es wurde auf mich geschossen.“
„Bitte, bleiben Sie ganz ruhig“, entgegnete Fernando. „Offensichtlich sind Sie unverletzt. Die Polizei ist aber nicht hier. Das hier ist das Rathaus. Das Revier befindet sich etwas außerhalb, an der Straße in Richtung Arrieta. Soll ich sie hinbringen?“
„Ja, bitte…“
Er führte sie um die Ecke, wo etwas weiter vorne sein alter Skoda stand. In wenigen Minuten hatten sie, vorbei am Friedhof, etwas oberhalb der Hauptstraße San Juan, die Polizeiwache erreicht. Das offensichtlich neue Gebäude stand völlig allein, wie eine Burg auf der Anhöhe und wirkte dementsprechend protzig. Vergitterte Fenster verstärkten den Eindruck einer Festung zusätzlich.
„Keine Angst“, beruhigte Fernando seine Begleiterin, während sie zum Eingang gingen. „Ich kenne mich hier aus. Der Leiter des Reviers ist ein Freund von mir.“
Der Empfangsraum war schlicht und roch nach Mörtel und frischer Farbe. Ein wuchtiger Tresen versperrte den weiteren Zugang.
„Comisario!“, rief der anwesende Polizist erfreut und sprang auf. „Schön, Dich zu sehen. – Aber was haben wir denn?“
„Javier, alter Knabe! Wie fühlst du dich in deinem neuen Reich?“, entgegnete Fernando.
„Sie sind Polizist?“, entfuhr es der jungen Frau.
Fernando grinste. „Na ja, es wird Zeit, dass wir uns vorstellen. Ich bin Comisario Romero, im Ruhestand. – Das ist Javier Sánchez, Inspector der Policía Nacional, neu hier im Amt. – Und wer sind Sie verehrte Dame?“
„Mein Name ist Elenora Lopez. Auf mich wurde dort unten geschossen.“
Javier zückte Bleistift und Notizblock und wiederholte: „Señora Elenora Lopez… aus?“
„Arrecife, Calle Tinache 6“, antwortete sie genervt.
„Auf Sie wurde geschossen. Offensichtlich ist ihnen aber nichts passiert. Sie sind wohlauf.“
„Ja, aber der Kerl muss verrückt sein. Ich habe doch nichts getan.“
Javier brummte zustimmend. „Aber jetzt mal alles schön der Reihe nach. Wo war das?“
„An der Straße des Barrancos del Chafarís, in der Kurve gleich unterhalb der gleichnamigen Fuente.“
Elenora hatte sich tatsächlich wieder gefangen und erzählte jetzt etwas tonlos: „Ich fuhr von oben den Barranco hinunter und hielt in der Kurve. Die Quelle war mir bekannt, und ich wollte sie besuchen. Der steile Fußweg führt etwa zweihundert Meter bergauf zu dem Wasserbecken, aber gleich unterhalt kam mir ein Mann mit einem Gewehr entgegen. Er rief etwas Unverständliches und schoss...“
„Er zielte auf Sie?“, unterbrach sie Fernando.
„Ich weiß es nicht. Ich war so erschrocken, dass ich kehrt machte und zurück rannte. Beinahe wäre ich gestürzt, aber ich erreichte mein Auto und raste hinauf nach Haría.“
„Wie sah der Mann denn aus?“, fragte Javier.
Elenora stockte. „Schwarz, groß… gefährlich. Er trug einen Hut. – Was weiß ich? Ich habe ihn nur kurz gesehen.“
„Verständlich“, meinte Javier. „Sie sind ja auch weggerannt. Es könnte durchaus ein Jäger gewesen sein. In dieser Gegend wird oft auf Kaninchen oder Rebhühner Jagd gemacht.“
„Der Schuss galt aber mir“, sagte Elenora schwach, denn sie merkte, dass man ihr nicht so recht glaubte. „Es war ja niemand sonst in der Nähe. Unten stand auch kein anderes Auto.“
„Na ja, was heißt, dass es tatsächlich jemand aus der Gegend war, der sich vermutlich beim Wildern ertappt glaubte. Wir werden der Sache nachgehen, aber erhoffen Sie sich nicht allzu viel.“
Damit war die Sache erledigt, und Javier klappte den Notizblock demonstrativ zu. Na ja, hysterische Ausflügler kamen nicht selten mit den unglaublichsten Geschichten an. Er blinzelte seinem Freund vertraulich zu und verabschiedete damit die Beiden.
„Wärst du so gut und würdest die Dame zurück ins Dorf fahren?“, beauftragte er Fernando abschließend.
„Natürlich“, bestätigte Fernando. „¡Hasta luego! Wir sprechen uns noch.“
In Auto saß die Frau stocksteif und starrte geradeaus. „Der glaubt mir nicht“, brummte sie.
„Doch doch“, erwiderte Fernando. „Der Inspector ist ein alter Freund von mir und sehr zuverlässig. Allerdings ist er erst neu hierher versetzt worden und muss sein Revier erst kennenlernen. Er wird der Sache nachgehen, aber wie gesagt, viel kann man nicht erwarten. Sie sind ja glücklich mit dem Schrecken davongekommen.“
„Toll, ich lebe ja noch!“, kam die zynische Antwort.
„So habe ich das nicht gemeint“, verteidigte sich Fernando. „Was wollten Sie eigentlich dort bei der Fuente Chafarís?“
„Mir war eine Geschichte über Wassermangel zu Ohren gekommen…“
„Ach, deshalb wollten Sie zu der Quelle, um zu sehen ob sie am versiegen ist. Sind Sie vielleicht Journalistin?“
„Erraten“, sagte sie mit einem kurzen Lächeln. „Sie können mich jetzt hier absetzen. Mein Auto steht dort drüben.“
Sie murmelte ein Danke, stieg aus und steuerte zielbewusst auf einen Kleinwagen der Autovermietung “Carrent“ zu. Das Logo war deutlich sichtbar. Sie stieg ein und brauste davon. Fernando saß eine Weile nachdenklich da und schüttelte den Kopf. Die Frau war ein Rätsel, einerseits machte sie den Eindruck einer schreckhaften, hilflosen Göre, aber andererseits war sie selbstsicher unterwegs und wusste genau, was sie wollte. Eine Journalistin? Was war hier echt und was gespielt? So eine war doch nicht so hilflos und würde bestimmt nicht wegen einer Kleinigkeit gleich zur Polizei rennen. Er nahm sich vor, später den Namen Elenora Lopez zu googeln.
Im Moment blieb wohl nichts anderes übrig, als nach Hause zu fahren und die Sache zu vergessen. Als er aber bei der Ecke vor dem Rathaus ankam, schwenkte er nicht in die Calle la Tegala zu seiner Wohnung ein, sondern nahm, einer plötzlichen Eingebung folgend, die Straße um die Ecke Richtung Süden. Er hatte alle Zeit, denn es war erst kurz vor Mittag, und das Essen kam sowieso erst gegen zwei Uhr auf den Tisch. Es konnte nichts schaden, wenn er die Stelle des angeblichen Zwischenfalles kurz selber in Augenschein nahm.
Wenige Minuten später bog er in die schmale Straße zum Barranco del Chafarís hinunter. Er fuhr langsam, denn die Fahrbahn, in die große Schlucht hinab, war recht gefährlich. Immer wieder kam es vor, dass Felsen oder Erdrutsche den Weg versperrten, und ein Ausweichmanöver war meist eine Millimeterarbeit. Normalerweise mied Fernando diese Strecke, gab es doch weiter nördlich eine gut ausgebaute Landstraße, die genauso schnell und viel sicherer zum Meer hinunter führte.
Er erreichte die Stelle problemlos und stellte das Auto auf dem kleinen Platz bei der Kurve ab. Von dort führt der Weg hinauf zu der Quelle. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sein Schuhwerk völlig ungeeignet war, denn der Pfad war rau und steinig. Es nützte alles nichts, er musste die paar hundert Meter hoch, wenn er die Fuente de Chafarís sehen wollte. Weit und breit war keine Menschenseele. Das schroffe Gelände lag grell in der Sonne, nichts bewegte sich, wie wenn sich jedes erdenkliche Lebewesen in den rauen Felsen und dem kargen Gebüsch verkrochen hätte. Ein paar magere Feigenkakteen kämpften um ihr Dasein. Direkt über dem trostlosen Hang erhob sich das obere Ende des Barrancos, wie eine unüberwindbare Wand. Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich treppenartige Terrassen bis hoch hinauf und bewiesen, dass hier vor langer Zeit emsige Hände am Werk gewesen waren und die karge Landschaft zu zähmen versucht hatten.
Fernando stolperte schwitzend den Pfad hinauf und verfluchte seine Dummheit, sich auf so etwas eingelassen zu haben. Was zum Teufel dachte er sich dabei? Was sollte das bringen, was suchte er hier eigentlich? Mehrmals blieb er stehen und blickte um sich. Wenn hier jemand geschossen hatte, so musste das aus reiner Unlust ob dieser gottlosen Einöde gewesen sein. Selbst Rebhühner oder Hasen mussten hier längst das Weite gesucht haben, und ein Jäger hatte wohl in seiner Frustration einfach in die Luft geschossen. So hatte das ja auch Javier gesehen, und damit wohl recht gehabt. Er sollte umkehren.
Fernando wäre aber nicht Comisario Fernando gewesen, wenn er so leicht aufgegeben hätte. Er kämpfte sich also weiter hoch und erreichte kurz darauf keuchend den Rand des Beckens. Es war ein einfaches, viereckiges Gemäuer aus groben Steinen zum Auffangen des Bergwassers gedacht.
Er brauchte einige Zeit, um zu Atem zu kommen und das Ausmaß von dem, was er sah zu begreifen. Wenn er sich richtig erinnerte, war dieses Becken normalerweise voll von träge vor sich hin gurgelndem dunklem Wasser. Jetzt war da nichts. Ein nasser grünschwarzer Schlammrest verriet, dass der Teich erst vor kurzem entleert worden war. Das machte keinen Sinn. Die paar wenigen hinunterführenden Leitungen konnten unmöglich das ganze Wasser verschwendet haben, denn die Bauern waren gewissenhaft um die Verteilung des kostbaren Nasses bedacht. Natürlich gab es öfter mal Uneinigkeiten, sogar Streit, aber es war keiner so blöd, alles Wasser abzulassen, um dann Tage später seine Felder vertrocknen zu sehen. Die Verteilung war so etwas wie ein ungeschriebenes heiliges Gesetz seit vielen Generationen.
Fernando stand auf dem breiten Rand und blickte auf den schlammigen Boden und das darin liegende verstreute Geröll, als er plötzlich das große Loch entdeckte. Die Mauer des Beckens war unmittelbar neben der linken Ecke eingebrochen und hatte eine große Bresche gebildet. Jetzt war auch sichtbar, dass sich darunter am Abhang das Wasser seine Bahn gepflügt hatte und nutzlos ins Tal versickert war.
Fernando näherte sich der Lücke und schüttelte den Kopf. Konnte es sein, dass ein Steinschlag den Schaden verursacht hatte und es bis jetzt noch niemand entdeckt hatte? Er blickte nach oben, konnte aber nirgends eine Abbruchstelle oder einen Felsniedergang entdecken. Auch die viereckige Öffnung der Galería, etwas oberhalb, schien unversehrt und war hinter Gestrüpp gerade noch zu sehen. Dieser alte Tunnel, komischerweise ‘Galería‘ genannt, führte mehrere Hundert Meter in den Berg hinein, um das Wasser zu sammeln. Aber das wenige Wasser, welches von dort heruntersickerte, war kaum der Rede wert und floss jetzt ungehindert nutzlos durch das zerstörte Becken.
Der Hang über dem Becken sah völlig normal und unbeschädigt aus. Das Gestrüpp und die Grasbüschel standen unversehrt da, und nichts deutete darauf hin, dass dort Gestein niedergegangen wäre. Zudem müssten Teile des Rutsches doch auch im Becken selber zu liegen gekommen sein. Der Schaden in der Mauer sah irgendwie seltsam aus. Hätte sie dem Druck nicht mehr standgehalten, wären wahrscheinlich Risse entstanden und das Wasser wäre mit der Zeit langsam ausgelaufen. Dieses hier sah nach einer mutwilligen Zerstörung aus, vielleicht sogar wie eine Sprengung.
Bevor er sich jetzt aber in verrückte Mutmaßungen verstrickte, beschloss Fernando, dass die Situation erst einmal gemeldet werden sollte. Wahrscheinlich hatten die Bauern dort unten bis jetzt noch nichts bemerkt. Diese hätten aber wohl alles Interesse daran, den Schaden so schnell wie möglich zu beheben.
Noch etwas blieb aber hartnäckig in seinen Gedanken stecken. Er war doch eigentlich wegen der Frau, auf welche angeblich geschossen worden war, hier und nicht wegen der Wasserversorgung des Tales. Es war nicht auszuschließen, dass die Señora tatsächlich den Verursacher der Sabotage am Wasserbecken gestört hatte und dieser sie mit einem Schuss in die Flucht jagte. Wer aber sollte so etwas Verrücktes tun, und warum?
Die Sonnenschirme standen wie Wächter zwischen den Liegestühlen und warteten darauf geöffnet zu werden, um Schutz gegen die gleißende Sonne zu bieten. Noch waren aber die meisten Plätze unbesetzt, wenn man von ein paar Liegen absah, welche demonstrativ mit bunten Badetüchern drapiert waren. Übereifrige Gäste hatten da vorsorglich in aller Frühe die besten Plätze in Besitz genommen.
Paula übersah die anmaßenden Aktionen dieser Touristen, welche vermutlich mit einem Billigst-Angebot angekommen waren und jetzt das Frühstücks-Büffet plünderten. Sie selber war in aller Frühe aus dem Zimmer geflohen und hatte ein paar Runden im großen Pool gedreht. Obwohl das Becken beheizt wurde, war das Wasser doch recht kalt, und ein Frösteln ging über ihre helle Haut. Lanzarote konnte tatsächlich nachts recht kühl werden, umso mehr freute sie sich auf die jetzt immer höher kletternde Sonne.
Das ‘AguaCave‘, ein Viersternehotel, befand sich an der Südostküste von Lanzarote und war nur ein paar Kilometer von der Hauptstadt Arrecife und dem Flughafen entfernt. Sie liebte diesen Ort mit dem herrlichen, weitläufigen Garten und den beiden blauen Pools vom ersten Augenblick an. Die Liegen lagen verstreut zwischen Palmen, Yuccas und Agaven. Am Gitter der nahen Bar kletterte eine rot blühende Bougainvillea hoch und leuchtete wie ein loderndes Feuer. Mit halb geschlossenen Lidern blinzelte sie in dieses herrliche Bild. Paula war eine sportliche Erscheinung, und der schlichte einteilige Badeanzug brachte ihre Figur anmutig zur Geltung. Sie war keine Freundin von knappen Bikinis und aufreizenden Tangas, aber genau diese Einstellung machte sie zu etwas ganz Besonderem. Ihr ebenmäßiges Gesicht war umrandet von langem braunem Haar und ihre Augen, wenn sie diese dann öffnete, glänzten in einem blaugrünen Ton, wie kostbare Smaragde. Paula war eine schöne Frau und zog immer wieder bewundernde Blicke auf sich.
Es dauerte nicht lange, und dann war der Frieden vorbei. Mit lautem Gegröle fegten zwei Kinder heran und stritten sich um die nahe Liege. Der Mann, vermutlich der Herr Papa, folgte grinsend und schnappte sich den Sonnenschirm.
„Langsam ihr Wilden!“, rief er lachend. „Wir haben alle Zeit der Welt.“
Paula verfolgte das Treiben aufgeschreckt. „He da! Das ist meiner!“, rief sie verärgert.
Erschrocken ließ er den Schirm los. Es rumpelte, und um ein Haar wäre er umgekippt. „Entschuldigung!“, krächzte er ertappt.
„Lassen Sie den schön da stehen. Ich brauche ihn.“
„Ja, natürlich. Es gibt ja noch mehr.“
„Und sorgen Sie für etwas mehr Ruhe!“, konnte sich Paula nicht verkneifen. „Wir sind hier nicht auf einem Jahrmarkt.“
Nun war seine grinsende Stimmung weggeblasen. „Pardon, die Dame will nicht gestört werden. – Die Kinder… Sie haben selber wohl keine?“
„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, entgegnete sie schnippisch und griff nach ihrem Buch, welches auf den Boden gefallen war.
Der friedliche Moment von vorhin war verflogen. Sie versuchte den Faden der Lektüre wieder aufzunehmen, merkte aber bald, dass sie immer am gleichen Satz hing. Der Kerl, er war mit seiner Bande weiter drüben auf Abstand gegangen, beschäftigte sie ungebeten. Eigentlich bereute sie ihre schroffe Zurechtweisung, denn Kinder waren nun einmal so, stürmisch und lebhaft. Und, es sprach für den Vater, dass er sich um sie kümmerte und damit der Mutter etwas Erholung schenkte. – Eigentlich sah der Mann nicht schlecht aus. Er war groß, athletisch gebaut und machte in der Badehose eine gute Figur. – Himmel, jetzt war sie auch schon so weit und bewunderte fremde Männer! Nein, der Kerl war unhöflich und selbstherrlich. Solche Männer waren ihr ein Gräuel.
Erleichtert atmete sie auf, als Andreas endlich auf sie zusteuerte. Wohlwollend bemerkte sie, dass auch er eine gute Figur machte, und sein Körper nichts zu wünschen übrig ließ. Seine blonden Haare leuchteten in der Sonne und verrieten seine nordische Herkunft deutlich. Er war braun gebrannt, was sie immer wieder erstaunte. Er nahm die Bräune in nur wenigen Tagen einfach so an, während sie selber mit Cremes und Sonnenschirm kämpfte, um dann schlussendlich doch rot wie ein Krebs zu enden.
„Liebling! Da bist du ja“, rief er und warf das Badetuch auf die unweite Liege. „Kommst du eine Runde Schwimmen?“
„Guten Morgen, Faulpelz!“, entgegnete sie. „Ich hab‘ mein Pensum längst erfüllt. Geh‘ du ruhig!“
Sie beobachtete, wie er zum Pool schlenderte, zuerst mit dem Fuß die Temperatur prüfte und dann kopfüber hinein sprang. Sollte man eigentlich nicht machen, fuhr es ihr durch den Kopf. Aber Andi ließ es sich nicht nehmen, diese sportliche Show aufzuführen. Männer!
Mittlerweile waren sie ein paar Monate zusammen. Sie ergänzten sich hervorragend, und er war eine äußerst liebenswürdige Person. Sie hatten sich an einem Messebesuch in Hannover kennengelernt und hatten sich, nach ein paar stürmischen Tagen, in ihrer Wohnung im Stadtteil Waldheim wiedergefunden. Er stammte aus Schweden, war aber für seine eigene Firma an die Messe nach Hannover gekommen. Zusammen mit seinem Studienfreund Torsten, vertrieben sie neuartige Systeme zur Wasseraufbereitung und waren damit in der heutigen Zeit ein viel diskutiertes Unternehmen.
Die Sonne hatte nun auch ihre Liege erreicht. Es fühlte sich warm und wie eine sanfte Liebkosung an. Paula verfolgte träge wie Andreas seine Bahnen zog und dachte an die vielen schönen Stunden, die sie zusammen verbracht hatten. Sie müsste lügen, wenn sie nicht von seinem athletischen Körper angezogen würde, auch wenn sie sich manchmal wünschte, er wäre etwas weniger direkt. Seine typisch nordische Art, ganz unbedenklich nackt herumzulaufen, störte sie manchmal schon, aber auf ihre Proteste reagierte er lachend und nannte sie prüde und altmodisch. Tatsächlich hielt sie nichts von einer solchen Freizügigkeit und konnte nicht verstehen, dass man ja damit doch den letzten Funken an privatem Geheimnis preisgab. War es nicht viel schöner, sich einer aufreizenden Phantasie hinzugeben, als alles gleich auf dem Präsentierteller offen zu bekommen. Auch Frauen sollten sich dabei bewusst sein, dass ein knapper Bikini viel betörender wirkte, als Obenohne. – Aber, was phantasierte sie da, das Verhalten vieler der Gäste hier war völlig gedankenlos, und es kümmerte sich kaum jemand um derartige Belanglosigkeiten. Man war im Urlaub und kannte keine Grenzen. Ob Brüste, Bauch oder Po, es war egal wie scheußlich das manchmal aussah.
Eigentlich waren sie aber nicht im Urlaub und nur zum Vergnügen hier. Andreas hatte am Nachmittag einen Termin bei einer wichtigen Regierungsstelle. Genaueres wusste sie nicht, aber er hatte erwähnt, dass es für die ‘Vattec GmbH‘ von großer Bedeutung wäre. Es ging dabei irgendwie um die Wasserversorgung. Natürlich war auch ihr bewusst, dass die globale Situation um das notwendige Trinkwasser, bei der herrschenden Klimaerwärmung, besorgniserregend war, aber warum gerade hier auf Lanzarote, das war völlig unklar.
In der kurzen Zeit ihres Zusammenseins hatte sie erkannt, dass Andreas ganze Leidenschaft dem lebensnotwendigen Element galt. Er war Ingenieur und hatte Maschinenbau und Hydrologie an der Humboldt Universität in Berlin studiert. Nach dem erfolgreichen Abschluss hatten sich die beiden Freunde zusammengetan und gründeten ihre eigene Firma. Torsten, der Mitinhaber, kam aus einer angesehenen deutschen Familie, war gleichzeitig Geldgeber und Finanzverwalter. Ihre Firma wuchs mit einer Geschwindigkeit, die wohl dem allgemeinen Trend der Umwelthysterie geschuldet war. Sie stellten erfolgreich Trinkwasser-Aufbereitungsanlagen her, vor allem zur Entsalzung von Meerwasser. Aber was interessierten sie all die Fachbegriffe, wie Umkehrosmose-Verfahren oder Entspannungsverdampfung? Und wenn die Geschäfte sie an so einen schönen Ort führte, wollte sie sich nicht beschweren.
Paulas Gedanken wanderten träge weiter. Wie wäre es, wenn sie ihre Freundin einladen würde? Sie könnten einiges unternehmen, Ausflüge machen, shoppen, flanieren, in einem Café einen Mojito trinken, tanzen, schwimmen und sonnen. – Ja, Clara war genau die Richtige, sie war immer gut aufgestellt, lustig und zu jedem Unsinn bereit. Plötzlich saß sie aufrecht und blickte suchend um sich. Sie musste unbedingt Andreas fragen. Was sollte sie sonst hier ganz alleine, wenn er geschäftlich unterwegs war. Sie blickte suchend um sich, konnte ihn aber nirgends entdecken. War er noch irgendwo im Wasser, oder vielleicht bereits zurück ins Zimmer? – Egal, sie konnte schon einmal die Freundin anrufen. Nach kurzem Klingeln meldete sich diese.
„Clara Heider. – Paula, du! Wo bist du denn?“
Sie hatte natürlich auf dem Handy erkannt, wer die Anruferin war. „Hola Clara!“, versuchte es Paula mit ihrem bescheidenen Spanisch angebend. „Ich bin auf Lanzarote und liege in der Sonne am Pool.“
„Du Glückliche!“, kam sofort die Antwort. „Was glaubst du, was hier los ist. Wir haben Eis und Schnee, eine Saukälte und kalte Füße.“
„Komm doch einfach her!“, lockte Paula. „Es ist wunderbar warm hier, und wir könnten herrlich die Promenade entlang flanieren und shoppen. Mir fehlt eine Freundin, du fehlst mir.“
Clara lachte und spottete: „Du Bedauerliche, du hast deinen Götterprinzen bei dir und langweilst dich? Ich wäre doch nur im Weg.“
„Ach wo. Andreas ist geschäftlich unterwegs, und ich brauche jemanden, mit dem ich quatschen kann. Also kommst du?“
„Nur wenn da auch genügend junge Spanier sind“, witzelte Clara vergnügt weiter.
„Hör auf mit dem Quatsch!“, entgegnete Paula. „Komm einfach her! Wir machen uns ein paar schöne Tage.“
„Also gut, ich komme.“
Sie vereinbarten die Reisemöglichkeiten. Das könnte natürlich ein bis zwei Tage dauern. Die Flugdaten und Ankunftszeit würde Clara ihr per Whatsapp mitteilen, so dass sie Paula am Airport treffen könnte.
Zufrieden mit den Plänen, erhob sich Paula, hüllte sich in das farbige Strandkleid, ergriff ihr Buch und machte sich auf den Weg zur Reception. Eine vorsorgliche Zimmerreservation konnte nicht schaden.
„Guten Tag“, sagte sie zu der lächelnden Dame. „Ich möchte eine Reservation für ein Einzelzimmer, voraussichtlich ab Samstag.“
Es dauerte, aber nach eifrigem Tippen kam die Antwort. „Ja, am Samstag haben wir viele Abreisen. Wie war doch ihr Name?“
„Paula Wagner“, antwortete sie prompt. „Ach so, die Reservation ist für Clara Heider, meine Freundin.“
„Wie lange wird Frau Heider bleiben?“, kam automatisch die Frage.
Paula zögerte. „Ich weiß nicht genau. Eine Woche vielleicht.“
Wieder lächelte die Dame höflich und bestätigte: „Eine Woche. Bitte lassen Sie uns umgehend wissen, wenn sich ihre Pläne ändern sollten. Herzlichen Dank!“
„Ich danke Ihnen.“ Paula zögerte. „Ach, haben sie vielleicht meinen Mann gesehen. Er scheint nicht auf dem Zimmer zu sein. Wir haben die Nummer 310.“
Die Frau warf einen Blick auf ihren Bildschirm und antwortete: „Tut mir leid, Herr Forsberg ist wahrscheinlich nicht im Haus.“
„Vielen Dank!“ Paula drehte sich weg und schmunzelte. Es war wohl heutzutage nichts Ungewöhnliches mehr, dass Paare mit verschiedenen Namen im Doppelzimmer nächtigten. Noch nicht lange her, war das anders und hätte mindestens ein Stirnrunzeln ausgelöst. Na ja, die Zeiten änderten sich. – Aber wo war er denn geblieben, ihr Andi?
Sie nahm den Lift in den dritten Stock und ging den langen Gang entlang bis zu ihrem Zimmer. Das Verschwinden ihres Partners beschäftigte sie nicht sonderlich. Ihre Beziehung hatte immer Spielraum für beide gelassen, er würde schon wieder auftauchen. Das Zimmer lag verlassen und leer da. Noch immer war das Bett ungemacht. Der Service ließ sich Zeit. Etwas ratlos stand sie in der Mitte des Raumes und überlegte, was sie nun sollte. Sie entschloss sich für einen Spaziergang den großen Strand entlang. Bis danach würde er sicherlich wieder auftauchen
Als Paula zwei Stunden später zurückkam, war das Zimmer aufgeräumt, das Bett gemacht und im Bad hingen frische Tücher. Von Andi fehlte nach wie vor jede Spur. Wo war er? Eigentlich wollten sie doch zusammen einen kleinen Lunch an der Poolbar nehmen. Später, während der Hitze des Tages planten sie meistens eine Siesta im kühlen Zimmer.
Sie griff nach ihrem Smartphone und drückte die vertraute Taste. – ‘Diese Nummer ist nicht erreichbar‘, kam die einsilbige Absage. Hatte er das blöde Ding ausgeschaltet? Langsam stieg Ärger in ihr hoch. Was sollte das? Warum war er plötzlich so rücksichtslos? Na warte…!
Trotzdem nagten leise Sorgen und Zweifel an ihr. Er war doch sonst nicht so. Sie kannte ihn als einen äußerst höflichen, rücksichtsvollen Menschen. Er würde doch niemals einfach so verschwinden, ohne ihr Bescheid zu sagen. Außerdem hatte er doch nachmittags einen wichtigen Termin. Hatte er nicht erwähnt, dass er um vier Uhr in Arrecife erwartet würde? Hatte er das vergessen? Nochmals überprüfte sie ihr Handy auf eine Nachricht. Nichts. Erneut wählte sie seine Nummer. Wieder nur die blöde Ansage. Genervt warf die das Ding auf das Bett. – Na warte! Sie konnte durchaus auch alleine zurechtkommen.
Sie verließ das Zimmer und schlenderte erhobenen Hauptes zur Bar. Lächelnd bestellte sie beim jungen Barmann einen eisgekühlten Mojito und später einen Krabbencocktail mit Toast und Butter. Mittlerweile war um den Pool emsiges Treiben, und auch an der Bar wurde bestellt und gelacht. Paula kam sich vor wie ein liegen gebliebener Ball, unbeachtet und zurückgelassen. Sie überflog die fröhlichen Badegäste, Mütter mit Kindern, oder Männer welche mit Freunden ein Bier tranken, alle unbeschwert und laut. Von Andi fehlte jede Spur.
Auf dem Rückweg stoppte sie erneut an der Rezeption und fragte nach dem Verbleib ihres Mannes und ob vielleicht eine Nachricht für sie im Fach wäre.
„Tut mir leid, da ist nichts“, sagte die Dame lächelnd. „Vielleicht ist er auf dem Zimmer.“
„Danke!“
Genervt schüttelte Paula den Kopf und machte sich auf den Weg zum Lift. Plötzlich brummte ihr Handy. Eine Nachricht von Clara, las sie da. ‘Ankunft Freitag 13:30, freue mich, Clara‘. Typisch für ihre Freundin, knapp und klar. Eine Welle der Erleichterung durchfuhr Paula. Sie freute sich sehr auf das Wiedersehen mit ihrer Freundin.
Oben angekommen, schob sie die Schlüsselkarte in den Schlitz, stieß die Türe auf und fuhr zurück. Sie konnte sich nicht erklären, was es war, aber etwas stimmte nicht. Das Licht im schmalen Durchgang war an, und auch durch die offene Tür des Bades leuchtete es hell. Dann entdeckte sie die Unordnung vor dem kleinen Tisch. Der Stuhl war umgekippt, die Schublade stand offen, und die Hotelprospekte lagen verstreut auf dem Boden. Als sie weiterging, unterdrückte sie einen Schrei. Ihr Koffer lag aufgebrochen auf dem Bett, der Inhalt verstreut und das Futter aufgerissen. Auch aus Andis Gepäck quoll alles heraus und war überall verstreut. Aus dem eingebauten Schrank waren Kleider und Hemden wahllos heruntergerissen, der eingebaute kleine Safe fehlte. Da hatte jemand ganze Arbeit geleistet und alles durchwühlt.
Das Telefon funktionierte noch, und Paula rief mit zitternder Stimme um Hilfe. Der Hoteldetektiv, ein Polizist, das Zimmermädchen, alle waren schockiert und versuchten sie zu beruhigen. Ein Einbruch! Was für eine schlechte Publicity für das Hotel.
Der nächste Tag, ein Freitag, war trüb und drückend. Über dem Meer hing ein graubrauner Dunststreifen, das Wasser schwappte träge auf den Strand und sah aus wie flüssiges Blei. Diese eigenartige Stimmung kannte Paula noch nicht, sie ist aber typisch für Lanzarote. Man nennt diese Wetterphänomen ‘Calima‘. Ein warmer Ostwind trägt feinen Staub, direkt aus der Sahara kommend, zu den kanarischen Inseln und hinterlässt ihn als braune Deckschicht und in jeder Ritze. Am besten, man blieb zu Hause und schloss Türen und Fenster. Paula nahm sich trotzdem kurz nach Mittag ein Taxi zum Airport. Ihre Fragen nach dem Verbleib von Andreas blieben alle erfolglos, aber sie hatte der Polizei das Verschwinden ihres Mannes bereits erklärt. Noch war es zu früh für eine Vermisstmeldung, aber im Zusammenhang mit dem gestrigen Einbruch, hatte der Beamte versprochen, ein Auge darauf zu haben. An der Reception, im Restaurant oder an der Bar, niemand hatte Andi gesehen. Er war spurlos verschwunden, und die einsame Nacht war zu schlaflosen, marternden Stunden geworden. Die Durchsuchung ihres Zimmers quälte sie andauernd. Außer dem Safe fehlte eigentlich nichts. Die kleine schwarze Kiste konnte man aber auch kaum einen sicheren Aufbewahrungsort nennen. Die beiden Schrauben, mit denen das Ding im Inneren des Schrankes befestigt war, waren mühelos herausgerissen worden, und das Öffnen des einfachen Schlosses würde wohl jedem einigermaßen handwerklich begabten Täter kaum Mühe bereiten. Diese Hotelsafes waren tatsächlich keine sicheren Tresore, meinte auch der Polizeibeamte ironisch, und Paula musste ihm zustimmen. Dummerweise hatten sie dennoch ihre Reisedokumente, etwas Bargeld und den wenigen Schmuck darin verwahrt. Jetzt war alles weg. Was wollte der Einbrecher damit? Suchte er etwas ganz bestimmtes? Für Paula war der Verlust des Ringes ihrer Mutter erschütternd. Es war ein altes Erbstück, vermutlich nicht einmal ein großer Wertgegenstand, aber ein Schmuckstück, das die alte Dame ihr kurz vor ihrem Tod mit den Worten übergab: „Er soll dir alles Glück auf Erden bringen.“ – Nun hatte sie ihn verloren und mit ihm vielleicht auch gleich ihr Glück und sogar ihren Liebsten.
Als Clara, nach langem Warten, endlich durch den Ausgang des Aeropuerto César Manrique trat, sich suchend umschaute, um dann strahlend auf sie zu zueilen, war Paulas Selbstbeherrschung vorbei. Während sie sich in die Arme fielen, schluchzte sie auf, und Tränen rannen ihr unaufhaltbar über die Wangen.
„Clara“, stammelte sie, nur das einzige Wort, mit würgender Kehle.
Ihre Freundin verharrte kurz in der Umarmung, bis sie sich sanft löste und Paula prüfend betrachtete. „Paula, was ist?“
„Alles…“, stammelte sie. „Alles ist aus.“
Während Paula nach einem Taschentuch suchte, zog Clara ihren Reisekoffer mit sich und führte ihre Freundin weg von den gaffenden Zuschauern. Erst als sie im Taxi saßen fragte sie: „Jetzt aber heraus mit der Sprache! Was ist geschehen?“
Zusammengesunken saß Paula im durchgesessenen Polter und stotterte: „Er hat mich verlassen…“
Dann brach es aus ihr heraus: „Andi ist weg… unsere Habseligkeiten sind weg, mein Ring ist weg…“
„Fernando!“, klang es müde aus dem Smartphone. „Ich brauche deine Hilfe.“
„Was ist denn jetzt schon wieder“, antwortete Fernando, nicht gerade begeistert. „Wir haben doch gestern alles besprochen, und die Landwirte im Tal wissen jetzt über das unerwartete Wasserproblem Bescheid. – Javier, ich bin gerade beim Mittagessen, kann das nicht warten?“
„Ja ja, lass dich nicht stören“, brummte Javier. „Aber wir haben eine Leiche unten bei Mala. Ich kann doch nicht überall gleichzeitig sein. Bitte hilf mir.“
„Eine Leiche?“, rief Fernando und merkte im gleichen Moment, dass das ein Fehler war. Ilona saß plötzlich aufrecht gegenüber und blickte strafend.
„Entschuldige, aber ich rufe gleich zurück. Ich will nur die Mahlzeit beenden.“
„Eine Leiche“, wiederholte Ilona gefährlich leise. „Du wirst dich doch nicht wieder in so etwas einlassen. Du weißt, was du mir versprochen hast.“
„Meine Liebe, ich mache nichts, überhaupt nichts“, versicherte Fernando.
„Er will dich aber wieder in irgendetwas hineinziehen. Ich spüre das.“
„Bitte Ilona, ich verspreche dir, dass ich nichts Voreiliges mache, aber wenn ein Freund Hilfe braucht, sollte man mindestens zuhören. Vielleicht ist er wirklich in Not.“
Ilona schüttelte den Kopf. „Er ist Polizist. Er ist doch der Helfer in der Not, und nicht du…“
Fernando suchte den Kontakt zu ihren Augen. Die dunklen Pupillen glänzten wie tiefe Teiche. Besorgnis, aber auch Unsicherheit lagen darin, und in seinem Innersten wusste er ganz genau, dass ihre Proteste nur aus lauter Liebe entstanden. Was für eine Frau! Am Ende würde sie ohne Zögern zu ihm stehen, was immer da auch kommen mochte.
„Ilona, ich werde niemals etwas tun, was dich verletzen würde. Du bist mir viel zu wichtig, als dass ich unsere Liebe aufs Spiel setzten wollte. Bitte vertrau mir.“
Ilona senkte den Blick und sagte: „Du weißt ja noch nicht einmal was er von dir wollte. – Ich werde heute in der Sociedad sein. Die haben eine Veranstaltung und brauchen jede Hand. Es könnte spät werden. – Bitte sei du vernünftig und vorsichtig.“
Fernando kannte diese Art, wie sie mit Bedenken umging. Sie flüchtete in Arbeit und schloss ihn damit vermeintlich aus. Das war schon früher so, als sie in Puerto del Carmen das ‘El Rondó‘ führte. Die anspruchsvolle Arbeit war wie ein Ventil für sie, aber schlussendlich war sie ihm immer treu zur Seite gestanden und hatte manchmal sogar den entscheidenden Schritt veranlasst. Sie hatte sich mehr als einmal in Ermittlungen eingemischt, so dass er sich fürchterlich um sie sorgte – und nicht umgekehrt.
Er erhob sich und küsste sie auf die Stirn. „Bleib du nur sitzen“, sagte er. „Ich werde jetzt mit Javier telefonieren und hoffe, dass alles nicht so weltbewegend ist. Vielleicht komme ich später dann auch noch zum ‘La Tegala‘. Was ist denn dort für eine Versammlung?“
„Keine Ahnung!“, rief sie ihm hinterher.
Fernando trat vor die Tür. Der kurze Plattenweg führte direkt auf die Calle La Tegala. Der Name der Straße war identisch mit demjenigen des vorhin erwähnten Lokals. Das war Fernando gleich aufgefallen, aber der alte Manuel hatte ihn aufgeklärt. ‘La Tegala‘ war ein alter Begriff der Ureinwohner, der Guanchen, und bedeutete eine Steinmauer oder ein Unterstand auf dem Feld, zum Schutze gegen das Wetter. Solche Begriffe waren auf Lanzarote häufig zu finden und deuteten darauf hin, dass auf der Insel einmal eine andere Kultur herrschte, im Gegensatz zu den heutigen Touristen, die meist nicht einmal ein klein wenig Spanisch beherrschten.
Fernando stand jetzt in der prallen Sonne und fischte sein Handy aus der Tasche.
Javier war sofort dran. „Fernando, endlich!“
„Was ist denn?“ Seine Antwort klang unwillig. Ilonas Worte schwirrten noch durch seinen Kopf. ‘Lass dich nicht wieder in irgendetwas hineinziehen‘! Recht hatte sie – trotzdem…
„Ein Toter liegt unten in Mala in einem Kakteengarten“, sagte Javier. „Komm her, dann erklär ich dir alles!“