Tödliche Wahrheit - Marcus Johanus - E-Book

Tödliche Wahrheit E-Book

Marcus Johanus

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Beschreibung

Patricia Bloch will nur eines: Ein ganz normales Leben führen. Doch als ein Teenager mit übernatürlichen Kräften ist das alles andere als einfach. Patricia muss sich nämlich nicht nur mit ihrem Gefühlschaos auseinandersetzen, sondern so ganz nebenbei auch noch die Welt retten. Und das obwohl sie gerade erst lernt, ihre Kräfte zu nutzen und unter Kontrolle zu bringen. Als plötzlich Iwan Ostermann wieder auftaucht, der Mann, der einst ihren Vater und viele andere Menschen tötete, geraten Patricia und ihre Freunde in große Gefahr. Der Gegner scheint übermächtig und die Jugendlichen merken bald, dass sie niemandem mehr trauen können. Vielleicht nicht mal sich selbst … Von Marcus Johanus sind bei Midnight erschienen: Tödliche Gedanken Tödliche Wahrheit

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Der AutorMarcus Johanus, Jahrgang 1972, ist Vater, Ehemann und Lehrer für Psychologie, Deutsch und Politikwissenschaft in Berlin. Seit seiner Kindheit hat ihn die Leidenschaft fürs Lesen und Schreiben spannender Geschichten gepackt. Am liebsten sind ihm Autoren wie Stephen King, Sebastian Fitzek oder Wulf Dorn, da ihre Storys gleichermaßen fesselnd wie auch psychologisch fundiert sind. Wann immer er kann, schreibt er selbst Thriller. Auf seinem Blog www.marcus-johanus.de veröffentlicht er immer samstags neue Artikel über das Schreiben. Zusammen mit dem Thriller-Autor Axel Hollmann (bekannt durch seine Julia-Wagner-Romane) moderiert er jede Woche eine neue Folge des Podcasts und Vlogs Die SchreibDilettanten. Man kann Marcus auf Facebook, Lovelybooks, Goodreads und auf Twitter folgen. Oder auch auf Google+ und tumblr.

Das BuchPatricia Bloch will nur eines: Ein ganz normales Leben führen. Doch als ein Teenager mit übernatürlichen Kräften ist das alles andere als einfach. Patricia muss sich nämlich nicht nur mit ihrem Gefühlschaos auseinandersetzen, sondern so ganz nebenbei auch noch die Welt retten. Und das obwohl sie gerade erst lernt, ihre Kräfte zu nutzen und unter Kontrolle zu bringen. Als plötzlich Iwan Ostermann wieder auftaucht, der Mann, der einst ihren Vater und viele andere Menschen tötete, geraten Patricia und ihre Freunde in große Gefahr. Der Gegner scheint übermächtig und die Jugendlichen merken bald, dass sie niemandem mehr trauen können. Vielleicht nicht mal sich selbst …   Von Marcus Johanus sind bei Midnight erschienen:  Tödliche Gedanken Tödliche Wahrheit

Marcus Johanus

Tödliche Wahrheit

Die Vergangenheit holt dich ein. Kannst du sie ertragen?

Thriller

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.   Originalausgabe bei Midnight. Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juli 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © Thore Wetzel ISBN 978-3-95819-062-7  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

1.

Ich spürte, dass ich nicht alleine war.

Es war ein Gefühl. Ich wusste nicht, ob es meinen überreizten Nerven geschuldet war oder ob ich tatsächlich beobachtet wurde.

In meinem Rücken befand sich die geöffnete Tür der Baracke. Hinter mir konnte niemand sein.

Vor mir erstreckte sich die große Wiese, auf der noch zwei Dutzend weitere verlassene und verfallene Hütten standen. Hier gab es genug Möglichkeiten, sich zu verstecken.

Von dem hohen Gras und dem Wald, der sich wenige Meter entfernt auf der anderen Seite des hohen Sicherheitszauns befand, ganz zu schweigen.

Es war ein Albtraum. Überall konnte jemand sich verbergen und mich beobachten.

Was sollte ich tun? Ein anderes Mal wiederkommen?

Ich warf einen Blick über die Schulter. Der Geruch machte mir mehr als deutlich, dass die Sache keinen Aufschub duldete. Ich hatte mich schon viel zu lange vor dieser Aufgabe gedrückt.

Erneut suchte ich mit den Augen die Umgebung ab.

Du drehst durch, Patty, sprach ich mir innerlich Mut zu. Niemand ist hier. Das kann gar nicht sein. Keiner weiß von dieser Barackensiedlung und der Forschungseinrichtung, die sich darunter verbirgt. Beides ist seit vierzig Jahren geheim. Wieso sollte plötzlich jemand hier aufkreuzen. Ausgerechnet jetzt?

Ich gab mir einen Ruck, packte den Zipfel der Decke, in die ich die Leiche eingewickelt hatte, und begann zu zerren.

Leider kam ich nur im Schneckentempo voran.

Mit dem gebrochenen Arm war es echt eine Herausforderung, einen Toten zu transportieren. Ich sandte Stoßseufzer in den Himmel und warf mich immer wieder nach vorn, um mit einem Ruck das tonnenschwere Paket einen kleinen Schritt weiter in Richtung Tor zu zerren.

Etwa auf der Hälfte der Strecke musste ich verschnaufen. Trotz der Kälte lief mir der Schweiß in Strömen herunter.

Gut, dass ich meinen toten Vater in ein Laken gewickelt und sorgfältig verschnürt hatte. Zumal ihm der Kopf fehlte.

Ein Schauer lief mir zusammen mit dem Schweiß den kalten Rücken hinunter.

Nein, ich durfte jetzt nicht darüber nachdenken. Bisher war es mir ganz gut gelungen, zu verdrängen, was ich hier eigentlich tat.

Wenn ich nun heulend zusammenbrach, würde ich mich wahrscheinlich nie mehr aufraffen können.

Also versuchte ich einfach an gar nichts zu denken und setzte mich wieder in Bewegung.

Endlich ließ ich die Barackensiedlung mit dem hohen Gras hinter mir und schaffte es durch das kaputte Tor in den angrenzenden Wald.

Einmal zerrte ich noch an Johanns Leiche. Dann sah ich mich um. Der Platz hier war gut geeignet. Weit genug von der Barackensiedlung entfernt. Hier im Wald ließ sich ein Grab besser verbergen als auf der Wiese. Zwischen den schattigen Bäumen würde ein kleiner Erdhügel kaum auffallen. Mit dem ganzen Laub konnte ich alles verstecken.

Ich sah mich wieder um. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war leider nicht verschwunden. Aber ich hatte mich die ganze Zeit aufmerksam umgesehen.

Nirgendwo ein Anzeichen, dass ich nicht alleine war.

Es musste Einbildung sein. So gut konnte sich niemand verstecken.

Oder doch?

Jetzt war es ohnehin zu spät. Für jemanden, der mir zusah, dürfte es wohl keinen Zweifel mehr geben, was ich hier vorhatte. Dann konnte ich es auch einfach durchziehen.

Ich schleppte mich zurück zu den Baracken, griff mir den Spaten, den ich neben die Eingangstür gelehnt hatte, und schlurfte zu Johann zurück. Mit einem Hieb versuchte ich den Boden zu durchstoßen. Ich kam keinen Zentimeter weit.

Mist!

Noch ein paarmal drückte, stach und stieß ich, so gut ich konnte.

Es geschah praktisch nichts. Der Boden war viel, viel härter, als ich es für möglich gehalten hatte.

Mit einem Schrei sprang ich auf das Spatenblatt, balancierte darauf herum, hüpfte wilder und wilder. Dann verlor ich das Gleichgewicht und knallte mit dem Rücken ins faulige Laub.

So würde ich nicht einmal eine Kuhle zum Murmelspielen ausheben, geschweige denn ein Grab. Was hatte ich mir nur eingebildet?

Ich biss die Zähne zusammen.

Du schaffst das. Schluss mit dem Selbstmitleid.

Ich rollte mich auf meine rechte Seite - da dort der Arm nicht gebrochen war - und rappelte mich ungelenk auf.

Ich kniete mich hin, wischte mir zum x-ten Mal das Gesicht trocken. Sah mich um. Entdeckte niemanden. Starrte auf das ausgebeulte Bettlaken.

Grimmig schloss ich die Augen und malte mir im Geist intensiv das Stück Boden aus, vor dem ich kniete. Nachdem ich es vor meinem inneren Auge sah, beschrieb ich darauf in Gedanken ein Rechteck, ungefähr zwei mal ein Meter. Ich stellte mir vor, wie sich die Erde in die Luft hob und sich ein paar Zentimeter weiter zu einem Haufen türmte.

Jetzt kam der schwierige Teil.

Ich atmete tief ein. Hielt den Atem an. Visualisierte immer und immer wieder, wie das Grab ausgehoben wurde.

Ein leichtes Vibrieren unter meinen Knien.

Es wurde immer stärker.

Ich öffnete die Augen.

Das Erdreich vor mir zitterte. Es gab ein leises Schmatzen … Rascheln … irgendwas. Ein komisches Geräusch halt. Wie sich nun einmal Erdreich anhört, das langsam von einer unsichtbaren Schaufel aus dem Boden gehoben wird.

Dann gestattete ich mir, erneut die Augen zu öffnen. Vor mir schwebte ein in etwa sarggroßer, ziemlich rechteckiger Klumpen aus schwarzem Matsch, losen Wurzeln und Blättern, die zusammen mit Brocken aus dunkler Erde an den Rändern hinabrieselten.

Mit meinem gesunden rechten Arm machte ich eine wegwerfende Geste. Der Brocken rauschte ein Stück durch die Luft und klatschte dann auf den Boden.

Die Dunkelheit kroch bereits unter den eng stehenden Baumstämmen hervor. Bald würde ich nicht mehr die Hand vor Augen sehen können. Aber der Gedanke beunruhigte mich nicht mehr. Gleich war ich hier fertig. Nur noch eine Frage von Minuten.

Dank meiner Superkräfte.

Ich hätte sie von Anfang an nutzen sollen. Aber es gab immer noch diesen Teil in mir, der sich weigerte, sie zu akzeptieren.

Mich zu akzeptieren, so wie ich war.

Ich stellte mich so aufrecht hin, wie ich konnte. Mir wurde schwindelig. Ich stützte mich am Baumstamm ab.

Wieder warf ich einen nervösen Blicke über jede Schulter. Irgendwie erwartete ich immer noch, dass plötzlich jemand aus dem Gebüsch springen würde.

Zum Glück wurden meine Erwartungen enttäuscht.

Erneut hob ich die Hand und zeigte mit ihr auf den eingewickelten Körper.

Mit einer sanften, gleitenden Bewegung schwebte er nach oben, als wäre es das Natürlichste der Welt.

Ich führte meine Hand in einer waagerechten Linie durch die Luft, und der Körper folgte der Bewegung.

Für einen Augenblick ließ ich Johann noch über dem Loch schweben. Ich spürte einen Kloß im Hals.

Ich konnte Johann nicht einfach so in einem Loch verschwinden lassen. Der Moment hatte so etwas …

Ich räusperte mich.

»Also …« Meine Stimme verlor sich zwischen den schwarzen Baumstämmen.

Ich schluckte. »Es ist zwar außer mir niemand da, Johann« - hoffte ich zumindest - »aber ich … ich habe trotzdem das Bedürfnis, ein paar Worte zu sagen. Passt irgendwie. Ich meine, wenn ich schon Selbstgespräche in meinem Kopf führe, wieso sich dann nicht auch mit meinem toten Vater unterhalten?«

Ich kicherte.

Schlagartig hörte ich wieder auf.

Nicht witzig.

»Ja, tja. Also, es ist so: Ich bin sauer auf dich. Echt sauer. Was habt ihr euch dabei gedacht? Du und deine tollen Freunde. Klar, ihr habt das nicht gewollt, bla, bla, bla. Aber hier bin ich nun. Ein Monster. Mächtig. Aber ein Monster. Wenn ihr -«

Ich schluckte erneut, um weitersprechen zu können. »Wenn ihr wenigstens noch da wärt, um uns … um uns bei alldem zu helfen. Ich meine, verdammter Mist, es ist schon für normale Achtzehnjährige schwer genug, sich im Leben zurechtzufinden. Und da lässt du mich auch noch mit diesen Kräften und dem ganzen Schrott aus deiner Vergangenheit alleine? Das ist einfach nicht fair.«

Ich atmete durch und starrte auf die eingewickelte Leiche, als würde ich erwarten, dass sie zu mir spräche.

Die Stille war bedrückend.

»Das ist die eine Seite. Die andere … Seit Tagen liege ich abends wach und wünsche mir so sehr, dass da noch etwas von dir ist.«

Ich sah auf den Boden. »Irgendwo da unten. Vielleicht hast du ein Tagebuch. Videos. Irgendwas auf deinen Computern. Diese unterirdische Forschungsstation ist riesig. Ich habe bestimmt bisher noch nicht einmal ein Zehntel -«

KNACK!

Das war nicht zu überhören.

Und es war eindeutig. Das Knacken eines Astes, auf den jemand trat. Nah.

Nur am Rand meines Bewusstseins registrierte ich, dass Johanns Körper in das Grab plumpste.

Ich wirbelte zur Quelle des Geräuschs herum, was nicht ganz einfach war. Der eingegipste Arm behinderte mich. Die Telekinese hatte heftig an meinen Kräften gezehrt. Mir wurde durch die Bewegung wieder schwindelig. Aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen.

Leider gehörte so etwas wie ein Teleskopblick nicht zu meinen Superkräften. Trotzdem kniff ich meine Augen zusammen, um in der Dämmerung noch so viel wie möglich sehen zu können.

Aber da war nichts … Außer ein paar Ästen im Unterholz, keine zehn Meter von mir entfernt, die hin und her wehten und dabei Blätter auf den Boden rieseln ließen.

Moment. Es ist windstill!

Für einen kurzen Augenblick glaubte ich eine schwarze Gestalt zwischen den Ästen zu sehen. Aber es konnte auch einfach nur ein Schatten gewesen sein.

Eindeutig. Da war ein sehr leises Rascheln, das sich von mir entfernte.

Selbst wenn ich jetzt loslief, würde ich, geschwächt und mit Gipsarm, meinen Beobachter nicht mehr einholen können.

Ich schloss die Augen und sammelte mich. Was folgte, ist schwer mit Worten zu beschreiben. Ich sandte meine Gedanken aus, fühlte, suchte nach anderen Gedanken.

Ich befand mich mitten in einem Biosphärenreservat. Im Umkreis mehrerer Kilometer gab es nicht einmal richtige Wege im Wald, nur eine längst überwucherte Straße, die zu den Baracken führte.

Mit anderen Worten: Weit und breit dürfte es kein nennenswert intelligentes Gehirn geben - außer dem meines Beobachters. Das musste ich telepathisch irgendwie aufspüren können.

An das kurze grelle Licht, das durch meinen Kopf zuckte, wenn ich Telepathie verwendete, hatte ich mich bereits gewöhnt.

Es wurde begleitet von einem dumpfen Geräusch, das wie das Entzünden des Blitzlichtpulvers alter Fotoapparate klang, die man aus Schwarz-Weiß-Filmen kennt.

FUMP!

Es ist ein bisschen so, als wenn ich versuchte, einen Schmetterling zu fangen. Nicht schnell. Aber immer dann, wenn ich glaube, ihn packen zu können, rutscht er zwischen meinen Fingern durch.

FUMP!

Sehr seltsam. Ich fühlte genau, dass da etwas - jemand - war. Ich spürte sogar, dass er - oder sie oder es - sich entfernte. Aber ich konnte die Gedanken einfach nicht lesen.

Aber der Versuch, mich zu fokussieren, bewirkte etwas anderes. Nun hörte ich auch ganz deutlich, wie sich jemand von mir entfernte.

Und so weit weg, wie ich erst dachte, war er gar nicht. Oder so schnell.

Ich rannte los.

Zwar merkte ich, dass sich der Abstand zu meinem Beobachter nicht gerade verringerte. Größer wurde er aber auch nicht. Offensichtlich kam er nicht sehr viel besser durch das dichte Unterholz als ich.

Keinen Schimmer, wie lange die Verfolgungsjagd so ging, wahrscheinlich nur ein, zwei Minuten - wenn überhaupt -, aber mir wurde etwas klar: So würde ich ihn nie einholen. Der Abstand blieb ungefähr gleich. Und ich vermutete stark, dass mir als Erstem die Puste ausgehen würde.

Ich stoppte. Schloss die Augen. Konzentrierte mich auf seine Geräusche.

FUMP!

Seine Füße. Gleiten über den Boden.

Ich stelle mir vor, wie ich sie packe und einfach an ihnen ziehe.

FUMP!

Ein überraschender Aufschrei, ein Rascheln und das Geräusch eines Körpers, der auf dem Waldboden aufprallte.

Sofort eilte ich zu der Stelle, wo mein Spanner gestürzt sein musste.

Viel konnte ich nicht erkennen. Schwarzer Anzug. Schwarze Maske. Schlank. Klein. Nicht so klein wie ich, aber so klein war ja auch sonst niemand.

Mit einem gelenkigen Sprung war die Gestalt wieder auf den Beinen. Beängstigend, wie geschickt diese Bewegung wirkte.

Noch bevor ich es sehen konnte, ahnte ich, dass mein Beobachter eine blitzschnelle Bewegung mit der Hand machen würde. Zwischen seinen Fingern war etwas Metallisches. Es erinnerte entfernt an eine Pistole, war aber spiegelglatt wie aus Chrom und nicht so klobig.

Ein Schuss.

Meine Reflexe übernahmen die Regie. Ich hielt das Geschoss telekinetisch auf.

Ein Pfeil blieb in der Luft stehen.

Echt jetzt? Ist der Typ hier etwa eine Art Ninja?

Ich schüttelte den Kopf, um die Schockstarre loszuwerden. Starrte an dem schwebenden Pfeil vorbei.

Mein Spanner war natürlich weg. Er hatte die Gelegenheit genutzt, um abzuhauen. Nirgends war etwas zu hören. Entweder war die Gestalt schon zu weit weg oder einfach wesentlich vorsichtiger als zuvor.

Mist!

Der Pfeil fiel zu Boden. Ich hörte ein Zischen. Ich sah zu der Stelle, wo er lag, und erkannte gerade noch, wie er sich auflöste. Binnen weniger Herzschläge war keine Spur mehr von ihm übrig.

Wer war das? Was hatte er oder sie gewollt? Woher stammte diese abgefahrene Waffe?

Vor allem: Was wusste die Gestalt jetzt, und drohte mir dadurch Gefahr?

Das konnte ich ja zum Glück herausfinden. Wieder schloss ich die Augen und suchte nach dem Bewusstsein.

Aber sosehr ich mich auch anstrengte. Kein FUMP!

Nach einigen Versuchen gab ich erschöpft auf. Ich fand nichts mehr.

Vielleicht war ich endgültig zu geschwächt.

Ich trottete zurück zum Grab.

Etwas bewegte sich in ihm.

Etwas Schwarzes in der Dunkelheit.

Mir stockte der Atem. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass es noch kälter wurde.

Ich schlich näher zum Grab, vorsichtig, als würde ich mich einem hungrigen Wolf nähern, der mich aus grollender Kehle anknurrte.

Wie auf dem Gemälde »Nachtmahr« von Füssli kauerte ein schemenhafter, dürrer Geist aus purer Schwärze in Johanns Grab. Und ich wünschte, das wäre in irgendeiner Weise nur eine Metapher gewesen.

Leider war es buchstäblich so.

»Nein …«, hauchte ich.

Die Gestalt wirbelte herum. Eiskalte blau leuchtende Augen, die wie elektrische Blitze in dem konturlosen Gesicht zuckten, musterten mich. Wieder hatte ich das Gefühl, dem Blick eines hungrigen Wolfs standhalten zu müssen. Nur blickten diese Augen viel, viel intelligenter. Kälter.

Meine Stimme war ein tonloses Wimmern. »Iwan Ostermann.«

Der Mann, der für den Tod meines Vaters verantwortlich war und wahrscheinlich ähnliche, aber viel, viel mächtigere Kräfte besaß als ich.

Die Gestalt legte den Kopf schief.

»Du bist doch nicht etwa überrascht?«, dröhnte die Stimme tief in meinem Schädel und erschütterte mich bis ins Mark. »Es ist nicht vorbei, Patricia. Das wird es nie sein.«

Ich blinzelte.

Und das reichte.

Die Gestalt war wieder verschwunden. Das Einzige, was von ihr blieb, war das Zittern in meinen Knien, das mich beinahe stürzen ließ.

Das war zu viel.

Einfach alles war zu viel.

Ich halluzinierte. Anders konnte ich mir die Erscheinung gerade nicht erklären. Ich sah Gespenster. Obwohl ich die Kräfte nun akzeptieren konnte, überforderten sie offensichtlich mein Gehirn.

Ich musste nach Hause. So schnell ich konnte. Und dann würde ich nie, nie wieder etwas mit diesem ganzen Gruselkram zu tun haben wollen.

Ich wollte mein beschauliches, unauffälliges und etwas bemitleidenswertes Leben wieder zurück. Wie sehr hatte ich es noch vor ein paar Wochen gehasst. Jetzt kam es mir wie das Paradies vor.

Ich trat an den Rand von Johanns Grab und starrte hinein. Keine Spur mehr von einem Geist.

Ein Trugbild meiner überreizten Nerven. Das musste es gewesen sein.

Ganz bestimmt.

Zwei Monate später

2.

Ich ließ das Heft sinken und sah Lias mit einem Blick an, von dem ich hoffte, dass er meine ganze Verachtung transportierte. »So einen Quatsch liest du freiwillig?«

»He, pass auf, was du sagst.« Er griff sich vorsichtig den Comic und glättete ihn. »Wir reden hier vom dunklen Ritter.«

»Batman? Jetzt echt? Eine Geschichte über einen Mann, der es für eine gute Idee hält, sich als Fledermaus zu verkleiden, und mit einem Handwerkergürtel um die Hüften Verbrecher jagt, die sich anziehen wie Spielzeugfiguren von McDonald’s? Ich bitte dich! Letzte Woche waren es Fantastic Four. Leute, die in Taucheranzügen durch das Weltall fliegen und gegen einen silbernen Freak auf einem Surfbrett kämpfen, der damit herumfliegen und im Weltraum atmen kann. Wieso soll ich so einen Mist lesen?«

»Ich hab dir gleich gesagt, dass sie keine Comics mögen wird«, belehrte Marva ihren Zwillingsbruder.

Lias ging nicht auf sie ein und verdrehte die Augen. »Ich hatte ja nur gehofft, das würde für dich einiges klären.«

»Ich wüsste nicht, was man aus diesem Schund auch nur ansatzweise lernen sollte. Mal ehrlich, erwachsene Männer in Strumpfhosen? Es kommen ja kaum Frauen drin vor. Und die, die eine Rolle spielen, sehen aus wie in einem Softporno.«

Lias sah sich Hilfe suchend um.

Schnee rieselte in dicken Flocken an den Fenstern vorbei. Der erste Schnee des Jahres.

»Na prima! Ausgerechnet jetzt, wo wir loswollen«, seufzte Lias.

»Aufbrechen?« Rebecca kam mit einem Tablett ins Wohnzimmer und stellte es auf den Couchtisch.

Es war Rebecca noch deutlich anzusehen, dass sie vor zwei Monaten Ivo, ihren einzigen Sohn, meinen besten Freund, verloren hatte. Die Leute hier in Kelltin glaubten zudem noch, dass Ivo einer der Amokläufer war, die in kurzer Folge unsere Gemeinde in Angst und Schrecken versetzt hatten.

Wir wussten es besser. Viktor hatte Ivo manipuliert. Viktor war ein mächtiger Telepath gewesen. Mächtiger noch als ich. Viel mächtiger. Und er hatte Ivo gezwungen, in eine Menschenmenge, auf mich und zum Schluss auch auf sich selbst zu schießen.

Rebecca musste nicht nur den Verlust ihres Sohnes verarbeiten, sondern auch die öffentliche Verachtung. Zum Glück hatte sich der Staub inzwischen gelegt. Es sah ganz danach aus, als könnten wir alle langsam zur Ruhe kommen und endlich ganz normal weiterleben.

Sie richtete sich wieder auf und strich ihr buntes Kleid glatt. »Wo wollt ihr denn jetzt noch hin?«

»Ich will Lias und Marva endlich die Station zeigen«, erklärte ich.

Dann kuschelte ich mich an Lias und schenkte ihm das strahlendste Lächeln, das ich im Repertoire hatte. »Keine Bange.« Ich schnippte mit der linken Hand. Es tat immer noch ein bisschen weh, obwohl der Gips schon seit über drei Wochen ab war. »Schnips - – und wir sind da! Das Wetter kann uns doch egal sein.«

Lias legte vorsichtig das Comicheft auf die Ablage neben der Couch und schüttelte den Kopf. »Du wirst uns nicht teleportieren, Patty.«

Marva beugte sich vor und nahm sich eine Tasse Kakao. Obwohl Marva und Lias Zwillinge waren, sahen sie sich nicht besonders ähnlich. Mal abgesehen davon, dass sie beide mit rund einem Meter neunzig ganz schön groß waren. Aber wo Lias schlank und beinahe schon grazil wirkte, war Marva ein echtes, drahtiges Muskelpaket.

Sie stopfte sich vom Tablett eine Handvoll Plätzchen in den Mund. »Danke, Rebecca. Du bist zu gut zu uns. Es reicht schon, dass wir bei dir wohnen dürfen. Du musst uns nicht immerzu bewirten.«

Viktor hatte nicht nur Ivo getötet, sondern auch Lias und Marvas Eltern. Rebecca hatte darauf bestanden, dass die beiden bei ihr einzogen. Wir waren alle sehr glücklich darüber. Besonders ich. Alle Menschen, die ich liebte, wohnten jetzt nur noch einen Steinwurf voneinander entfernt.

Rebecca nahm sich auch eine Tasse mit dampfendem Kakao und setzte sich auf den zweiten Sessel. Natürlich passte der weder zu dem ersten Sessel noch zur Couch.

Rebeccas ganzes Haus war nach keinem einheitlichen Stil eingerichtet, sondern wirkte so, als hätte sie einfach ohne Rücksicht auf Verluste stets nur das gekauft, was ihr gerade gefiel.

Ihr gefielen eine Menge unterschiedliche Sachen. Und das wiederum passte hervorragend zu Rebecca.

Sie lächelte über den Rand ihrer Tasse. »Mach dir mal keine Gedanken. Ihr tut mir einen größeren Gefallen als ich euch. Das Haus ist groß genug, dass wir alle hier wohnen können. Ich würde mich hier nur viel zu einsam fühlen, jetzt, da …«

Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Wir wussten alle, was sie sagen wollte.

Jetzt, da Ivo nicht mehr da war. Ich vermisste meinen besten Freund. Für sie musste sein Tod ein noch viel größerer Schmerz sein, den ich nicht einmal ansatzweise erahnen konnte. Nicht vorstellbar, was eine Mutter fühlen musste, die ihren Sohn verloren hat.

Wir schlürften alle stumm Kakao.

»Jedenfalls«, brach Lias das Schweigen, »sollten wir lieber das Auto nehmen.«

Ich richtete mich auf. »Wozu? Das Wetter ist jetzt schon schlecht. Wer weiß, wie es in ein paar Stunden ist! Nachher stecken wir im Schnee fest. Seit wann bist du überhaupt so zaghaft? Du hast mich immer ermutigt, zu meinen Fähigkeiten zu stehen und sie zu nutzen. Jetzt, da ich das tue, ist dir das auch wieder nicht recht.«

Lias seufzte. »Das war, bevor wir erfahren haben, dass die Superkräfte unsere Lebenserwartung drastisch reduzieren.«

»So schlimm wird es schon nicht sein. Ich finde, die Schwächeanfälle halten sich in Grenzen. Und welche Auswirkungen sie genau haben, wissen wir nicht. Nur weil sie bei meinem Johann so gewirkt haben, heißt das nicht, dass sie bei uns die gleichen Nebenwirkungen haben.«

»Ich misch mich ja nur ungern in euer Techtelgemechtel ein …«, murmelte Marva mit vollem Mund.

Lias verdrehte die Augen. »Techtelmechtel.«

»Ich finde, du solltest auf Lias hören«, vollendete Marva ihren Gedanken, nicht ohne ihrem Bruder einen stechenden Blick zuzuwerfen. »Wir waren uns doch einig, unsere Kräfte nur noch zu benutzen, wenn es unbedingt sein muss.«

Ich zeigte mit der freien Hand auf das Fenster. Der Schnee fiel dichter und dichter. »So ein Unwetter erfordert doch drastische Maßnahmen. Lias weiß selbst, dass es dämlich wäre, jetzt mit dem Auto zu fahren.«

»Wir können die Sache auch einfach verschieben«, wandte Lias ein.

»Hör auf. Das machen wir jetzt schon seit Wochen. Entweder ging es dir nach dem Krankenhausaufenthalt noch nicht gut genug. Oder Marva. Dann mussten eure Angelegenheiten geregelt werden, nachdem eure Eltern tot waren. Der Umzug zu Rebecca hat ewig gedauert …«

Lias schüttelte den Kopf. »Warum bist du so ungeduldig? Es eilt doch nicht. Die Station wird auch morgen noch da sein.«

Ich stellte die Tasse ab. »Also gut, dann nehmen wir halt das Auto. Ihr werdet ja sehen, dass ich recht habe. Teleportieren kann ich uns auch noch, wenn wir feststecken.«

»Du bist so dickköpfig«, fluchte Lias.

»Was denn? Ich sag doch, dass wir mit dem Auto fahren.«

»Patty«, ermahnte mich Marva, »du weißt genau, was Lias meint.«

Ich warf ihr einen Blick zu, von dem ich hoffte, dass er einschüchternd wirkte. Aber es war nicht leicht, jemanden einzuschüchtern, der fast einen halben Meter größer war als man selbst und dessen Bizeps dicker war als der eigene Oberschenkel. »Spiel dich hier nicht als Schiedsrichterin auf, Marva.«

»Ich sag, was ich will. Ich finde auch, wir sollten einfach noch warten. Es hetzt uns doch keiner. Vielleicht ist der Schnee morgen schon weg. Dann ist das alles kein Problem mehr.«

Ich kreuzte die Arme vor der Brust und ließ mich tiefer in die Couchkissen sinken. »Ihr macht hier die Probleme.«

Lias stellte ebenfalls seine Tasse ab, beugte sich vor und legte den Arm um mich. »Wieso ist dir das denn so wichtig? Du bist doch sonst eine Ausgeburt der Vernunft. Warum willst du ausgerechnet jetzt auf Biegen und Brechen los?«

»Ich weiß nicht.« Ich lehnte meinen Kopf an Lias’ Oberarm und spürte, wie ich mich fast augenblicklich entspannte. »Wahrscheinlich will ich die Sache hinter mich bringen. Die Vergangenheit belastet mich. Ich möchte am liebsten alles abhaken und ein normales, ruhiges Leben führen. Wir wären im Herbst beinahe alle draufgegangen. Ivo ist tot. Und alles hängt mit dieser geheimnisvollen Station zusammen. Ich weiß nur nicht, wie. Mich beschäftigt das. Ich denke, ich will unbedingt dorthin, um mit meiner Vergangenheit abschließen zu können, um endlich nach vorn blicken zu können.«

Lias starrte für einen kurzen Moment geradeaus. Dann nickte er. »Also gut. Lass uns gehen. Aber wir nehmen das Auto. Du hast recht. Wenn wir wirklich stecken bleiben sollten, sind wir ja nicht ganz inkompetent darin, uns aus so einer Situation zu befreien.«

Marva starrte uns über ihren Tassenrand an. »Was ist denn jetzt kaputt? Wieso änderst du so schnell deine Meinung? Ich halte das immer noch für eine miese Idee.«

Lias sah seiner Schwester in die Augen. »Patty hat ihren Vater ganz alleine begraben müssen. Sie hat sich ohne unsere Hilfe um Viktors Leiche gekümmert. Ich denke, wir sind es ihr schuldig, Rücksicht auf ihre Bedürfnisse zu nehmen.«

»Moment, ich will dir nicht zu nahe treten, Patty. Aber Lias und ich sind erst seit einer guten Woche aus dem Krankenhaus raus. Uns hatte es ebenfalls erwischt.«

»Du machst dir Sorgen um Lias.«

Marva warf ihrem Bruder einen verstohlenen Blick zu. »Es hat ihn übler erwischt als uns.« Sie tippte sich gegen die Stirn. »Vor allen Dingen hier. Er ist noch nicht ganz fit.«

»Lass das bitte meine Sorge sein«, brummte Lias.

Ich sah zu ihm hoch. »Okay, Marva hat recht. Wenn es dir noch nicht gut genug geht, dann lassen wir es.«

Lias sprang hoch. »Jetzt reicht es mir! Wir ziehen los, bevor ich hier noch zum Krüppel erklärt werde.«

Marva murmelte etwas Unverständliches. Dann trank sie betont langsam aus ihrer Tasse.

»Mir ist auch nicht wohl dabei, wenn ihr bei so einem Unwetter auch noch in den Wald fahrt«, unterbrach Rebecca die unangenehme Stille, die für einen Moment entstanden war.

»Schade! Dabei wollte ich dich gerade um die Autoschlüssel bitten«, sagte Lias.

»Ach, die könnt ihr haben, wenn ihr unbedingt wollt. Du weißt, dass es mir nicht ums Auto geht. Um euch mache ich mir Sorgen.«

Lias streichelte meine Schulter und sah mich an. »Wenn Patty das für richtig hält, dann machen wir das.«

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Meine Güte, wie sehr ich dich liebe.«

Schnell schlug ich mir beide Hände vor den Mund. »Oh, nein, Lias, ich …«

Ich hatte ihm noch nie zuvor gesagt, dass ich ihn liebte. Er mir auch nicht. Wir waren zwar ganz offiziell zusammen, seit er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, aber so weit waren wir noch nicht gegangen.

Eigentlich hatten wir vereinbart, unsere Beziehung ruhig anzugehen, ohne Druck. Denn davon hatten wir in der letzten Zeit schon genug gehabt.

Lias lächelte.

Er küsste mich.

3.

Ich zog mir die mit Fell gefütterte Kapuze meines Parkas über den Kopf. Lias angelte sich bereits die Autoschlüssel aus der Keramikschale von Rebeccas Kommode im Flur.

»Ich finde das immer noch nicht gut«, grummelte Marva.

»Na, dann halt nicht«, entgegnete Lias. »Kommst du mit, ohne es gut zu finden, oder bleibst du hier und schmollst?«

»Spinnst du, natürlich komme ich mit. Ich lass dich doch nicht alleine.«

Ich atmete durch und packte die Klinke der Haustür. »Danke, Marva. Es ist gut, dass du dabei bist.«

Lias’ Hand auf meiner Schulter bremste mich. »Einen Moment noch, Patty.«

Ich drehte mich zu ihm um. »Was ist?«

Er kramte umständlich in seiner gefütterten Lederjacke. »Ich habe noch was für dich.«

»Ein Geschenk?«

»Manche würden es wohl so nennen.«

»Aber ich habe erst nächsten Monat Geburtstag. Und Weihnachten ist auch noch eine Weile hin.«

Lias grinste und streckte mir ein ziemlich stümperhaft eingepacktes Päckchen entgegen. »Schon. Aber heute ist Nikolaus.«

»Auweia! Ich habe gar nicht gedacht, dass wir das noch feiern. Wir sind doch keine zehn mehr.«

»Na ja. Wir haben bei uns zu Hause immer Nikolaus gefeiert. Auch noch in unserem hohen Alter.« Lias lächelte verträumt. Ich konnte sehen, wie die Ränder seiner Augen wässrig wurden.

Mein Herz verkrampfte sich. Lias’ und Marvas Eltern waren zwar Spione von Ostermann gewesen. Trotzdem schienen sie ihm eine glückliche Kindheit bereitet zu haben. Ich hatte auch ohne Telepathie eine gute Ahnung davon, was für ein Gefühlschaos gerade in ihm herrschen musste.

Ich nahm ihn in den Arm.

»Ach, verdammt, daran habe ich nicht gedacht. Entschuldige. Es tut mir so leid.«

Lias schniefte. »Hörst du jetzt bitte damit auf, dich selbst runterzumachen, und öffnest endlich das Geschenk?«

Schnell nahm ich ihm das Paket ab und riss das Papier auf. Zum Vorschein kam ein ziemlich unscheinbarer Karton, in etwa so groß wie ein Buch.

»Oh, Lias …«, hauchte ich.

Ein Buch! Lias kannte mich wirklich gut. Andere wären vielleicht enttäuscht, aber mich machten Bücher glücklicher als Marilyn Monroe Diamanten. Neugierig, welchen Lesestoff er für mich ausgesucht haben mochte, öffnete ich den Karton.

Und fand ein Handy darin.

Ein Smartphone.

Ich war wohl die einzige Frau meines Alters, die Telefonieren verabscheute. Und Handys. Smartphones ganz besonders.

Sie vergifteten den Geist und waren der Tod aller zwischenmenschlichen Beziehungen. Seit es diese Dinger gab, waren die Leute nur noch Zombies, die unentwegt auf blau glühende Bildschirme starrten und sich Kurznachrichten schrieben, anstatt miteinander zu reden.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …«

»Schon gut, Patty. Ich weiß, du magst keine Handys. Aber du brauchst eins, glaub mir.«

Ich sah zu ihm auf. »Wozu?«

Ich hoffte, dass ich nicht so enttäuscht klang, wie ich mich fühlte.

»Na, um mit mir in Kontakt zu bleiben. Warum sonst?«

»Machst du Witze? Kelltin ist ein Dorf. Es ist eher eine Leistung, nicht miteinander in Kontakt zu bleiben.«

»Wir können auf WhatsApp chatten und uns Fotos schicken.«

»Du wohnst auf der anderen Straßenseite. Wir können das Fenster öffnen und uns unterhalten.«

»Da müssen wir aber ziemlich laut rufen. Außerdem sind wir ja nicht immer beide zu Hause. Bald geht die Schule wieder los.«

»Wir sind im selben Jahrgang. Zur Hölle, wir sitzen in Kursen nebeneinander, wenn wir wollen.«

»In nicht einmal einem halben Jahr haben wir unser Abi. Danach könnte es sein, dass wir in verschiedenen Städten studieren.«

»Dann wäre ja immer noch Zeit -« Ich vollendete den Satz lieber nicht, weil ich sah, wie sich Enttäuschung auf Lias’ Gesicht breitmachte.

Ich drückte das Handy gegen meine Brust. »Weißt du was? Vielleicht gewöhne ich mich ja dran. Wird Zeit, dass ich mal lerne, wie dieses Internet funktioniert.«

Lias war nicht dumm. Er merkte schon, dass ich nicht so schnell meine Meinung änderte, aber er würdigte offensichtlich meine Bemühungen und lächelte.

»Du musst es allerdings regelmäßig aufladen und immer bei dir tragen. Sonst ist ein Handy sinnlos.«

Ich steckte es in meine Jackentasche. »Na, zufrieden?«

»Äh, fast. Wir müssen es noch einschalten. Und einrichten.«

Ich wusste nicht so genau, was einrichten bedeutete, nickte aber.

»Na gut.« Ich drückte die Klinke und zog die Tür auf. »Aber das machen wir später, ja? Jetzt möchte ich endlich -«

Ich prallte wie von einer unsichtbaren Mauer ab.

Vor mir stand ein Mann, zwei Köpfe größer als ich, so um die fünfzig, schwer zu sagen, vielleicht auch etwas älter, aber auf jeden Fall ziemlich fit für sein Alter. Für jedes Alter.

Er hatte kurzes, dichtes dunkelgraues Haar und einen Dreitagebart.

Den Kragen seines Tweedmantels hatte er hochgeschlagen. Schneeflocken schmolzen langsam auf seinen Schultern und in seinem Haar.

»Äh«, machte ich.

»Oh«, machte er.

»Ah«, sagte Diana, meine Adoptivmutter, die hinter ihm gerade die Stufen zu Rebeccas Terrasse hochstieg. »Hallo, Patricia, wir wollten gerade klingeln.«

»Wer zur Hölle ist das?«, fragte ich und ließ den Kerl nicht aus den Augen.

Er lächelte. Mir gefiel das Lächeln nicht. Bestimmt wirkte er auf die meisten Frauen mit diesem George-Clooney-Grinsen sympathisch. Nicht auf mich.

»Mein Name ist Kelvin Zylka, Patricia. Du kannst mich gerne Kelvin nennen. Ich habe schon viel von dir gehört.«

»Und Sie nennen mich am besten gar nichts.« Ich sah an ihm vorbei zu Diana. »Was wird das hier?«

Dianas Miene versteinerte. »Patricia! Wie kannst du so unhöflich sein?«

»Vielleicht, weil ich hier von einem Typen angemacht werde, der mein Opa sein könnte?«

»Kelvin hat dich doch nicht angemacht, er -«

Bei mir fiel der Groschen. Und es hörte sich an, als würde ein Sargdeckel zuschlagen. »Kelvin? Nein, erzähl mir nicht, dass ihr -«

Dianas Miene wurde noch härter. Sie riss ihre Augen so weit auf, dass ich fast fürchtete, sie würden aus ihrem Kopf springen. »Patricia!«

»Was soll dieser Überfall überhaupt? Ich dachte, du wärst bei einem Quacksalber-Kongress in Berlin?«

»Bei einem Kongress für alternative Medizin, verdammt! War ich auch. Dort habe ich Kelvin kennengelernt. Und da er nur noch wenige Tage Urlaub hat, dachten wir, wir lassen den Rest des Kongresses sausen und fahren nach Hause. Ich wollte, dass ihr euch kennenlernt.«

»Wie? Du kennst den Mann seit wenigen Tagen und -«

Ich spürte, wie eine Hand mich von hinten am rechten Arm packte. Lias. »Patty, lass sie doch erst einmal reinkommen.«

Mit einem Ruck befreite ich mich aus seinem Griff. »Nein, kommt nicht infrage. Er betritt nicht mein Haus.«

»Das ist mein Haus«, warf Rebecca von hinten ein.

»Egal. Jetzt ist nicht die Zeit für Haarspaltereien!«

Kelvin Zylka wandte sich Diana zu. »Ich glaube, es ist wohl besser, wenn ich zurück nach Berlin fahre. Ich will keinen Ärger machen.«

»Du machst doch gar keinen Ärger, Kelvin«, keifte Diana, starrte dabei aber mich an. »Was soll das? Du benimmst dich unmöglich! Ich dachte, dieses Verhalten hättest du hinter dir gelassen.«

»Ich benehme mich unmöglich? Du bist diejenige, die hier einfach so irgendwelche wildfremden Typen anschleppt.«

»Von Typen kann gar keine Rede sein«, schrie Diana und biss sich daraufhin sofort auf die Lippen. Sie schluckte trocken. Beherrschter fuhr sie fort: »Du entschuldigst dich jetzt bei Kelvin, und dann gehen wir alle rein und trinken zusammen einen Kaffee.«

»Danke, keinen Durst.«

»Patricia!«

»Frau Bloch«, sagte Lias. »Darf ich vorschlagen, dass Patty, Marva und ich einfach gehen? Ich glaube nicht, dass sich die Situation jetzt auf diese Weise klären lässt. Vielleicht können wir später in Ruhe alle miteinander reden.«

Diana funkelte ihn wild an. Dann entspannte sich ihr Gesichtsausdruck ein wenig. »Ich denke, du hast recht, Lias. Vertagen wir das.«

Sie trat einen Schritt zur Seite, gab damit den Weg frei, packte Kelvin Zylka am Arm und zog ihn mit sich. Er sah betreten zwischen ihr und dem Fußboden hin und her.

»Ich will jetzt aber nicht mehr gehen. Ich will -«

»Doch, Patty, wir wollen gehen!«, unterbrach mich Lias. Er schob mich vor sich her an den beiden vorbei und auf die Terrasse. Marva folgte uns.

»Guten Abend, Frau Bloch, auf Wiedersehen, Frau Bloch, Herr Zylka«, sagte sie schnell und schloss dann zu uns auf. »Meine Güte, war das trübe Luft«, flüsterte sie.

»Dicke Luft«, seufzte Lias.

»Es tut mir wirklich sehr leid«, hörte ich Kelvin Zylka hinter mir zu Diana flüstern. »Ich habe nie gewollt, dass so was passiert. Wir sollten vielleicht doch warten«

»Nein«, zischte Diana. »Patricia wird sich wieder beruhigen. Sie ist meine Tochter, verflucht! Sie hat nicht zu entscheiden, wann ich mit wem was mache oder wen ich wo wie vorstelle.«

»Hallo, Diana«, sagte Rebecca.

»Oh, hallo, Rebecca. Tut mir leid, ich -«

Den Rest hörte ich nicht mehr, weil mich Lias schon auf die Straße und um die Ecke geschoben hatte, wo Rebeccas Skoda Yeti stand.

»Wieso bist du denn so ein Arschloch?«, wetterte er, während er den Wagen aufschloss.

»Ein Arschloch? Ich? Hast du nicht gemerkt, wie herablassend der Typ mich behandelt hat?«

»Nein, habe ich nicht. Sehr viel mehr als guten Abend hast du ihn ja nicht sagen lassen. Und bisher wirkte er doch eigentlich ganz nett.«

»Nett? Er hat mich einfach so geduzt.«

»Ja und? Wir sind achtzehn und nicht achtunddreißig. Wird uns noch häufiger passieren, dass die Leute uns duzen. Damit musst du leben.«

»Ich bin erwachsen. Er soll mich gefälligst siezen und mit Respekt behandeln und nicht wie ein kleines Mädchen. Er ist doch nicht mein neuer Vater.«

»Jetzt übertreibst du aber«, brummte Marva. »Er hat doch echt nur Hallo gesagt. Und du warst voll zickig.«

Ich wirbelte mit erhobenem Zeigefinger zu Marva herum. Bevor ich etwas sagen konnte, schnitt mir Lias das Wort ab.

»Freu dich doch lieber für Diana. Sie scheint jemanden gefunden zu haben. Das ist in ihrem Alter nicht so leicht. Sie war so lange allein.«

»Aber deswegen muss sie sich doch nicht mit dem erstbesten Stecher zufriedengeben, der ihr über den Weg läuft.«

Lias setzte sich hinters Lenkrad.

Ich umrundete den Wagen, öffnete die Beifahrertür, ließ mich auf den Sitz fallen und schmiss mit aller Kraft die Tür wieder zu.

Lias legte unvermittelt seine Hand auf meine Schulter. »Patty, komm runter. Wir sind alle emotional noch nicht wieder so richtig ausgeglichen. Vielleicht überstürzt Diana die Sache ja. Aber der Typ ist ihr erster Mann seit fünfzehn Jahren oder so. Gönn ihr das doch jetzt einfach.

Ich finde, sie sah glücklich aus, bevor du ausgerastet bist. Was ist so schlimm daran, wenn sie einfach ein bisschen Spaß hat?«

Ich wollte etwas antworten. Aber mir fiel nichts ein. Die Argumente gingen mir aus. Ich hasste Lias dafür, dass er so vernünftig war. Und ich hasste mich dafür, dass ich nichts mehr erwidern konnte.

Insgeheim hasste ich mich auch dafür, wie ich mich aufführte. Aber ich konnte nicht anders.

Bevor ich Blödsinn redete, schnallte ich mich an, kreuzte die Arme vor der Brust und blies mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Fein«, sagte Marva von der Rückbank aus. »Jetzt, da die Therapiestunde vorbei ist, fahren wir dann endlich? Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich will auch irgendwann mal ins Bett. Ist schon spät.«

Lias ließ den Motor an.

4.

»Eindrucksvoll«, sagte Marva und sah sich gespielt interessiert um.

Zu dritt drängten wir uns in einer Duschtasse, die langsam nach unten glitt. Sie bildete die Kabine eines geheimen Fahrstuhls und befand sich in einer der Baracken, die zur Tarnung über der geheimen Forschungsstation tief unter der Erde errichtet worden waren. Durch das Ziehen am Duschkopf hatte ich zuvor den Mechanismus ausgelöst, der uns nach unten gleiten ließ.

Ich seufzte. »Ja, die hatten damals offensichtlich einen eigenwilligen Sinn für Humor.«

»Ich komme mir vor wie in einer schlechten Folge von Doctor Who«, witzelte Lias.

»Ach, Doctor Who hat auch gute Folgen?«, konterte Marva.

Lias schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wenn das stimmt, was du sagst, Patty, dann haben hier auch Militärs in der Station gearbeitet. Haufenweise Menschen jedenfalls. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die jeden Morgen den Geheimgang durch die Dusche genommen haben.«

»Haben sie bestimmt auch nicht«, räumte ich ein. »Aber das ist der einzige Zugang, den Diana und ich gefunden haben. Es muss noch andere geben. Vor allem Lastenaufzüge. Wir könnten jetzt lange danach suchen. Aber ich wüsste nicht, was das bringen soll. Klappt doch.«

Mit einem Ruck hielt der Aufzug an. Eine metallene Tür schob sich vor uns auf. Neonröhren flackerten und entrissen einen langen Gang der Dunkelheit. Es gab offensichtlich so was wie einen Bewegungsmelder, der die Beleuchtung steuerte.

Für einige Sekunden standen wir schweigend da und starrten in den Gang vor uns.

Lias betrachtete intensiv den Boden.

»Was ist?«, fragte ich und folgte seinem Blick.

»Hattest du nicht gesagt, dass du Johanns Leiche nach oben gezerrt und im Wald vergraben hast?«

Ich konnte mir ein Seufzen nicht verkneifen. Allein die Erinnerung daran reichte aus, und mir krochen Kälte und Erschöpfung in die Knochen. »Habe ich. Wieso?«

»Hast du danach sauber gemacht?«

»Nein. Er war schon eine Weile tot. Ich habe ihn in eine Decke eingewickelt. Da war kein Blut mehr oder so, wenn du das meinst.«

»Es tut mir so leid, dass du das alles alleine machen musstest. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie furchtbar das für dich gewesen sein muss.«

In mir regte sich ein seltsames Gefühl. Ich war erleichtert, das endlich mal zu hören. Irgendwie machte mich das aber auch wütend. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich wandte mich schnell dem Gang zu, damit die anderen das nicht sehen konnten

Ich deutete den Gang hinab zu einer der vielen Türen, die von ihm abgingen. »Schon gut. Aber die Tür da hinten sollten wir zulassen.«

»Warum?«, fragte Marva.

»Weil Johann dahinter erschossen wurde«, seufzte ich.

Hoffentlich war mir meine Ungeduld nicht zu deutlich anzumerken. Ich wollte mich hier nicht länger aufhalten als unbedingt notwendig. Dieses Stockwerk kannte ich ja.

»Da sieht es ziemlich eklig drin aus.« Das Zittern in meiner Stimme konnte ich nicht unterdrücken. »Viktor hat Johann offensichtlich mit einer Schrotflinte oder so aus nächster Nähe genau ins Gesicht geschossen und ihm damit den Kopf abgetrennt. Ich habe es nicht geschafft, das wegzumachen. Zum Glück scheinen die Türen hier auch ziemlich luftdicht zu sein. Da drinnen müsste es inzwischen trotz der niedrigen Temperaturen hier unten ziemlich übel stinken.«

Marva sah zur Decke, wo es Lüftungsschächte gab. »Die Ventilation scheint noch zu funktionieren. Spannend. Hier gibt’s Licht, eine Klimaanlage - das muss doch alles haufenweise Strom kosten. Wer bezahlt das? Und wieso merkt das keiner?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Um ebensolche Fragen zu klären, sind wir hier.«

»Die Anlage muss wohl einen eigenen Generator besitzen. Das wäre für so eine Einrichtung bestimmt nicht unüblich. Immerhin muss sie gegen Stromausfälle des zentralen Netzes gefeit sein«, vermutete Lias.

»Auf geht’s, Leute«, versuchte ich ein wenig Aufbruchsstimmung zu verbreiten, bevor sich die beiden weiter festquatschten.

»Sollten wir nicht damit anfangen, die Spuren von Johanns Leiche zu beseitigen?«, fragte Lias.

Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Warum bist du denn so scharf darauf?«

»Bin ich nicht. Aber ich denke, wir sollten hier alles entfernen, was irgendwie auf den Zweck der Einrichtung und auf uns hindeutet.«

»Warum?«, fragte ich.

»Warum? Weshalb hast du uns denn hergebracht, wenn nicht dafür?«

»Damit ihr wisst, was ich weiß. Weil ich hoffe, noch etwas über Johann zu erfahren. Er war mein Vater. Ich habe ihn nur kurz kennengelernt. Vielleicht gibt es irgendwo hier unten noch was von ihm.«

Lias ging durch die Tür. »Ich finde es wichtiger, dass wir Hinweise auf uns beseitigen. Wir müssen uns außer Gefahr bringen.«

»Alle Hinweise auf uns zu vernichten wird wahrscheinlich schwierig«, gab ich zu bedenken. »Ich wüsste auch nicht, wozu das gut sein sollte. Wenn Ostermann so ein Interesse an uns hätte, wäre er hier bestimmt schon längst aufgekreuzt.«

Lias wirbelte zu mir herum. »Was? Das sagst du mir jetzt?«

»Ich dachte, das wäre dir auch klar.«

»Wenn das stimmt, dann müssen wir sofort aus Kelltin verschwinden.«

»Du redest wie mein Vater.«

»Dann war er ein kluger Mann.«

»Er war eher ein verzweifelter Alkoholiker.«

»Mit Superkräften, oder?«, warf Marva ein.

»Ja, mit Superkräften«, bestätigte ich. »Wieso betonst du das?«

»Na ja, weil es mir komisch vorkommt, dass Viktor ihn einfach so erschießen konnte. Mit den Kräften hätte er sich doch eigentlich ganz gut gegen so einen Angriff wehren können.«

»Er war gleichzeitig auch schwach. Vorzeitig gealtert. Er meinte, die Kräfte hätten an ihm gezehrt. Sein Leben lang hat er sie benutzt, um uns zu beschützen.«

Lias wurde hellhörig. »Wie das?«

»So genau weiß ich das auch nicht. Ich vermute, er hat Hinweise auf uns verwischt, Erinnerungen an uns telepathisch aus den Gedächtnissen von Menschen gelöscht. Jedenfalls sah er wirklich so aus, als hätte er seine Fähigkeiten sehr exzessiv genutzt.« Ich ließ den Kopf hängen. »Kurz bevor er ermordet wurde, hatte ich auch noch von ihm verlangt, mich zu teleportieren. Wahrscheinlich war er davon so geschwächt, dass er für Viktor ein leichtes Opfer war.«

Marva sah mich betreten an. »Du hast Schuldgefühle?«

Ich schniefte.

»Du konntest das alles nicht ahnen«, versuchte Marva mich zu trösten. »Viktor ist schuld am Tod deines Vaters. Niemand sonst.«

Lias sah sich in alle Richtungen um und wischte sich mit einer fahrigen Geste über die Nase. »Diese vorzeitige Alterung droht uns auch, wenn wir nicht aufpassen. Wir sollten unsere Fähigkeiten nicht mehr benutzen.«

So ernst hatte ich ihn noch nie erlebt. Er wirkte um Jahre reifer. »Es darf auch niemand erfahren, dass wir Superkräfte besitzen. Wenn es diesen Ostermann noch gibt und wir ihm in die Hände fallen, dann wird er bestimmt mit uns experimentieren. Das geht nicht gut aus. Wir müssen uns bedeckt halten und sollten wirklich so schnell wie möglich aus Kelltin verschwinden.«

»Wo sollen wir denn hin?«, fragte ich.

»Ist doch egal. Weg.«

»Ich glaube nicht, dass wir in Gefahr sind«, betonte ich. »Uns geht es doch jetzt gut. Seit dem Herbst ist alles ruhig.«

»Das ist bestimmt nur die Ruhe vor dem Sturm. Johann hat uns seit unserer Geburt beschützt, wie du sagst. Er hat unsere Spuren verwischt. Aber durch die Amokläufe haben wir ganz schön für Wirbel gesorgt. Johann ist nicht mehr da. Jetzt muss nur jemand auf uns aufmerksam werden und die richtigen Fragen stellen, dann sind wir geliefert. Ein Wunder, dass das bis jetzt gut gegangen ist. Ostermann ist ja nicht der Einzige, der uns was antun könnte. Es gibt die Polizei, militärische Geheimdienste …«

»Was willst du damit sagen?«

»Wir sind doch die perfekten Spione und Soldaten. Mächtiger als jeder andere. Wir stellen für die Menschen ein Risiko dar. Wenn wir wollten, könnten wir uns zu Herrschern aufschwingen. Wer sollte uns denn aufhalten? Wenn bekannt wird, was wir können, wer wir sind, können uns die Mächtigen dieser Welt gar nicht in Ruhe lassen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Denk doch mal nach, Lias. Wenn Ostermann was von uns wollte - oder sonst irgendjemand -, dann wären wir gar nicht mehr hier.«

»Vielleicht auch nicht. Ostermann ist Wissenschaftler, sagtest du?«

»Das meinte zumindest Johann, ja.«

»Dann beobachtet er uns vielleicht nur. Wie Laborratten. Immerhin sind unsere Fähigkeiten die Ergebnisse seiner Experimente.«

»Nein, die Ergebnisse der Experimente unserer Eltern. Und so einfach ist das alles nicht.«

»Jetzt bin ich etwas verwirrt.«

»Die Experimente haben eigentlich gar nicht funktioniert. Johann wusste selbst nicht, woher die Fähigkeiten eigentlich kamen. Sie hatten diese Maschine gebaut, die irgendwas mit elektromagnetischer Strahlung zu tun hatte. Aber was die genau gemacht hat, weiß ich nicht. Und Johann wusste es auch nicht. Die Kräfte sind ein Nebeneffekt, den sie nicht vorausgesehen haben und den Johann auch im Nachhinein nicht erklären konnte.«

»Oder sie haben die Grenze zu einer anderen Dimension durchlässig gemacht und sich mit interdimensionaler Strahlung verseucht«, sagte Marva.

»Sei nicht albern«, blaffte ich.

»Sie könnten auch mit Alien-DNA experimentiert haben«, fuhr Marva unbeirrt fort.

»Marva!«, ermahnte ich sie.

»Was denn? Das Zeug, das du quatschst, klingt genauso bescheuert.«

»Tut es nicht.«

»Egal«, würgte Lias den Streit ab. »Worauf willst du denn hinaus, Patty?«

»Das ganze Projekt hier ist von Ostermann als Fehlschlag verbucht worden, wenn ich Johann richtig verstanden habe.«

»Offensichtlich ist es aber kein Fehlschlag gewesen, wie man an uns klar erkennen kann.«

»Ja, aber Ostermann weiß das nicht«, sagte ich.

Lias wurde sichtlich ungeduldig. »Wieso bist du dir da so sicher?«

»Weil er sonst schon längst hier gewesen wäre.«

»So wird das nichts, wir drehen uns im Kreis.« Lias machte ein nachdenkliches Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust.

Plötzlich zog er die Augenbrauen hoch. Sein Gesichtsausdruck gefiel mir nicht. »Mein Gott, wieso ist mir das nicht früher eingefallen?«

»Was?«, fragten Marva und ich fast gleichzeitig.

»Denk doch mal nach, Patty. Was du erzählst, kann einfach nicht stimmen!«

»Wieso? Was meinst du?«

»Nadine.«

Oje! Ich hatte befürchtet, dass er damit kommen würde. Mein Freund war einfach zu schlau.

»Hä?« Seine Schwester hingegen …

»Marva«, seufzte Lias. »Nadine konnte doch Pyrokinese.«

»Pyroki-was?«

»Pyrokinese. Sie konnte mit ihren Gedanken Feuer kontrollieren. Und sie kam nicht aus Kelltin. Sie kam aus Berlin. Wo Iwan Ostermann sich auch aufhalten soll, oder?«

Er sah mich auffordernd an.

»Ja, schon«, räumte ich ein. »Aber -«

»Dann muss er einen Weg gefunden haben, Menschen gezielt Superkräfte zu verleihen.«

Ich schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Du ziehst voreilige Schlüsse. Wir wissen doch gar nichts über Nadine. Vielleicht kam sie ja ursprünglich auch aus Kelltin.«

»Warum bist du dir da so sicher?«

»Bin ich gar nicht. Aber du kannst dir genauso wenig sicher sein.«

»Ihr dreht euch schon wieder im Kreis«, bemerkte Marva.

»Danke.« Ich nickte.

Lias zögerte eine Weile. Dann verzog er das Gesicht. »Na gut, vertagen wir die Diskussion. Hier und jetzt müssen wir auch keine Entscheidung treffen. Aber wir können das Thema nicht ewig auf die lange Bank schieben.«

»Okay«, stimmte ich ihm zu.

»Ich werde auf jeden Fall nach einem Weg suchen, hier alle Spuren zu vernichten. Ich fang damit an, diesen Raum da vorne sauber zu machen.«

»Bist du sicher?«, fragte ich. »Ist furchtbar eklig.«

Lias nickte entschlossen.

»Ich soll dir wirklich nicht helfen?«, fragte Marva.

»Musst du nicht, wenn du nicht willst. Ich schaff das schon«, versicherte Lias. »Geh lieber mit Patty mit und pass auf, dass ihr nichts passiert.«

»Wie bitte?« Ich versuchte mich zu beherrschen, um nicht richtig laut zu werden. »Wieso muss denn Marva mich beschützen? Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen!«

Marva sah mich mit einer Mischung aus Hoffnung und schlechtem Gewissen an. »Wirklich?«

»Ich will dir auf jeden Fall nicht als Ausrede dienen, dich davor zu drücken, deinen Macho-Bruder zu unterstützen.«

»Schade eigentlich«, grinste Marva.

»Patty, ich hab das doch nicht böse gemeint. Ich will doch nur -«

»Lass uns das jetzt nicht vertiefen, Lias!«

»Komm!« Marva schob Lias tiefer in den Gang hinein. »Wir suchen mal den Schrubber.«

Lias machte sich los, stürmte zu mir zurück und schloss mich in seine Arme. »Pass auf dich auf.«

»Machst du Witze?«, grinste Marva. »Deine Freundin hat von uns allen die größten Superkräfte. Was auch immer hier in der Station lauern könnte, sollte lieber Angst vor ihr haben.«

Marva und ich mussten kichern.

Lias fand das wohl nicht komisch.

Ich küsste ihn. »Danke. Solange ich die Lichtschalter finde, kann mir hier wohl nichts passieren.«

Ganz so sicher, wie ich tat, war ich mir allerdings nicht.

5.

Der Gang vor mir war der Zwillingsbruder des Ganges, in dem ich erst vor einigen Sekunden Lias und Marva zurückgelassen hatte.

Zumindest, soweit ich das beurteilen konnte.

Denn dieser hier war dunkel. Nein, er war nicht nur dunkel.

Hier war es schwarz.

Keine Neonröhren flackerten auf, nachdem sich die Fahrstuhltüren öffneten. Entweder gab es auf diesem Stockwerk keine Bewegungsmelder, oder sie waren kaputt.

Die Beleuchtung des Fahrstuhls fiel vor mir in den Gang. Jenseits des kalten Neonlichts verlor er sich in absoluter Schwärze, als würde er ins Nichts führen.

»Na toll«, flüsterte ich. »Keine Ahnung, wo der Lichtschalter ist und keine Taschenlampe dabei.«

Die muffige Luft verriet mir, dass die Ventilation nicht eingeschaltet war.

Unschlüssig blieb ich zwischen den geöffneten Fahrstuhltüren stehen. Wenn ich den Gang betrat, würden sie sich kurz darauf schließen. Dann würde es hier zappenduster werden.

Natürlich könnte ich den Fahrstuhl telekinetisch offen halten. Aber das schlauchte ganz schön. Lange würde ich das nicht durchhalten. Nicht lange genug jedenfalls, um mich hier gründlich umsehen zu können.

Ich suchte nach etwas, womit ich die Fahrstuhltüren blockieren könnte.

So weit die Fahrstuhlbeleuchtung reichte, konnte ich jedoch nur glatte Wände erkennen. Und Türen, die in regelmäßigen Abständen vom Gang abgingen. So weit war das -

Halt!

Ich kniff die Augen zusammen. Ziemlich weit im Gang, genau dort, wo das Licht endgültig in absolute Schwärze überging, sah ich etwas an der Wand hängen. Es glänzte ein wenig.

Jetzt erkannte ich es. Ein Feuerlöscher. Das musste es sein. Ich hatte ihn nicht gleich erkannt, weil er nicht rot war, sondern grau. Als ich noch genauer hinsah, stellte ich fest, dass er doch rot war. Das sterbende Licht saugte nur die Farbe aus allem.

Dummerweise war der Feuerlöscher ziemlich weit weg. Hinrennen, Feuerlöscher abnehmen und wieder zurückrennen würde ich wahrscheinlich nicht schaffen, bevor sich die Fahrstuhltüren schlossen.

Und? Dann stehst du halt für ein paar Sekunden im Dunkeln, Patty. Mach dir nicht in die Hosen!

Sollte ich doch versuchen, die Tür telekinetisch offen zu halten? Oder den Feuerlöscher telekinetisch zu mir bewegen? So viel Kraft konnte das doch nicht kosten. Ich war ziemlich ausgeruht, und es musste ja nicht lange sein.

Lias würde das nicht gut finden. Wer konnte schon sagen, ob ich meine Lebenserwartung damit um mehrere Tage verkürzte? Und das nur, weil ich Angst im Dunkeln hatte? Kein gutes Geschäft.

Ich würde das auch so schaffen.

Mit einem Ruck trat ich aus dem Fahrstuhl. Ich bemühte mich darum, in ganz normalem Tempo auf den Feuerlöscher zuzugehen. Aber ich bemerkte, wie sich meine Schritte unweigerlich beschleunigten.

Genauso wie mein Atem.

Jetzt nur nicht hyperventilieren.

Wozu den Schein wahren? Es war ohnehin niemand hier, der mich sehen konnte.

Warum fühle ich mich dann nur so beobachtet?

Ich hatte das gleiche miese Gefühl wie vor zwei Monaten im Wald. Aber das konnte einfach nicht sein. Wie sollte diese mysteriöse Gestalt, die mich beim Schaufeln von Johanns Grab beobachtet und auf mich geschossen hatte, jetzt hier sein?

Hinter mir grollten die Fahrstuhltüren wie Gewitterdonner.

Mit einem dumpfen

KLACK!

schlossen sie sich.

Ich wirbelte herum. Mein Herz pochte wild in meinem Hals. Ich hatte ja gewusst, dass das passieren würde. Trotzdem erschrak ich.

Alles schwarz. Ich sah gar nichts mehr.

Vorsichtig tastete ich mich bis zur Wand. Sie war kühl und rau. Ich schritt an ihr entlang. Mein eigener Atem schwoll in meinen Ohren immer lauter an.

Verdammt, Patty, beruhige dich! Das ist doch lächerlich. Hier ist niemand. Nichts kann dir gefährlich werden.

Ja, genau, wahrscheinlich hat das Johann auch gedacht - kurz bevor er erschossen wurde.

Ich fuhr mir mit der freien Hand über das Gesicht.

Jetzt keine Panik. Es können nur noch wenige Schritte sein, bis ich -

Meine Finger berührten den Feuerlöscher.

Halleluja!

Ich packte ihn mit beiden Händen und zog daran. Aber nichts tat sich.

Das darf doch nicht wahr sein! Wer sichert denn einen Feuerlöscher so, dass man ihn nicht schnell aus der Halterung nehmen kann?

Bestimmt war er gar nicht so gut gesichert. Wahrscheinlich steckte er in einer Halterung, die man kinderleicht öffnen konnte, wenn man nur etwas sah. Dummerweise sah ich aber nichts.

Ich tastete den Feuerlöscher von oben bis unten ab. Meine Finger waren schweißnass und flutschten über das kühle Metall.

Es gab zwei Riemen aus einem rauen, porösen Material mit Plastikverschlüssen, die den Feuerlöscher am oberen und unteren Ende an der Wand fixierten. Diese Verschlüsse fühlten sich an wie die Schnallen eines Rucksacks.

Eigentlich war es kein großes Problem, solche Schnallen zu öffnen. Mit einem Klick auf die äußeren Ränder drückte man sie auf. Doch ich brauchte mehrere Anläufe, weil ich immer wieder mit meinen feuchten Händen an ihnen abrutschte.

Ich suchte nach einer Möglichkeit, den Feuerlöscher zu packen, aber meine nassen Finger glitten an ihm ab. Ich versuchte ihn noch aufzufangen.

Er war einfach zu schwer.

Mit einem lauten KLONK!fiel das verfluchte Ding auf den Boden und rollte mit einem knirschenden, metallischen Laut von mir weg. Natürlich in die falsche Richtung.

Mist!

»Ahhhh!«

Es dauerte zwei, drei Schrecksekunden, bis ich registrierte, dass ich geschrien hatte.

Ich wirbelte herum. Ich hatte etwas gespürt.

Da war ein Lufthauch in meinem Nacken gewesen.

Ich riss meine Augen weit auf, sah aber natürlich genauso wenig wie zuvor. Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse. Taumelte ein paar Schritte.

»Autsch!«

Mein Fuß war gegen etwas Hartes gestoßen. Das vertraute metallische Knirschen verriet mir, dass es der Feuerlöscher gewesen war. Dummerweise rollte er dadurch noch weiter von mir weg. Weiter vom Fahrstuhl weg. Mein Tritt hatte ihm Schwung verliehen.

Was war hier los? Irgendjemand - oder etwas? - bewegte sich um mich herum.

Jetzt nur keine Panik.

Vorsichtig schlich ich ein paar Schritte rückwärts, bis ich mit dem Rücken gegen eine Wand stieß.

Gut. Jetzt konnte mir wenigstens nichts und niemand mehr in den Rücken fallen.

Ich versuchte meinen Atem, so gut es ging, zu beruhigen.

Es gab ein Geräusch, das vorher noch nicht da gewesen war. Ein Summen. Oder eher ein Brummen. Sehr dumpf. Sonst konnte ich nichts hören.

Der kalte Lufthauch blieb.

Wie konnte ich nur so dumm sein? Das Lüftungssystem war angegangen. Das war alles.

Puh! Lias und Marva mussten es irgendwie eingeschaltet haben. Bestimmt befanden sich die Kontrollen dafür oben in Johanns Raum. Meine Nerven. Ich musste unbedingt ruhiger werden. So würde ich früher oder später noch an einem Herzinfarkt krepieren.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen in die Richtung, in der ich den Feuerlöscher vermutete. Ich hatte keine Lust, mir erneut den Fuß zu stoßen.

Ich bekam ihn zu packen und rollte ihn vorsichtig in Richtung der Fahrstuhltüren.

Danach tastete ich am Türrahmen entlang, bis ich den Knopf gefunden hatte. Der Fahrstuhl war noch auf dem Stockwerk. Deswegen öffneten sich sofort die Türen, und ich hatte endlich wieder Licht.

Ich wirbelte herum. Der Gang verlor sich in unendlicher Schwärze. Es hatte sich nichts verändert. Nichts und niemand war hier.

Nur ich.

»BIST DU SICHER?«

Die Stimme fuhr mir durch das Rückenmark und brachte meinen ganzen Körper zum Vibrieren. Es haute mich einfach um. Ich knallte mit dem Hinterkopf auf den Feuerlöscher. Er rollte in den Fahrstuhl und die Türen schlossen sich dicht über meinem Haaransatz.

Ich weiß nicht, ob ich für eine Weile bewusstlos war oder nicht. Es war ja immer noch dunkel, und es machte keinen Unterschied, ob ich die Augen geöffnet oder geschlossen hatte.

Ich hechelte vor Aufregung.

»Bist … bist du wirklich da?«, flüsterte ich. Keine Ahnung, wieso.

Die Stimme dröhnte mit beißendem Spott hinter meinem Schädel. »Was glaubst du?«

»Du … du bist Iwan Ostermann.«

Keine Antwort.

»Was ist? Spukst du als Geist hier in der Gegend rum?«

Ich kannte die Antwort. Iwan Ostermann war nicht tot. Er war derjenige, der für das ganze Projekt hier verantwortlich war. Er besaß Superkräfte, so wie wir. Nur war er viel, viel älter. Und mächtiger. Wahrscheinlich.

Eigentlich wusste ich gar nichts über Iwan Ostermann, nur das, was mir Johann im Herbst erzählt hatte. Doch das hatte gereicht, um mir einen gehörigen Respekt vor ihm einzuflößen. Und viele Fragen aufzuwerfen. Ich hatte keine Ahnung, was dieser mysteriöse Typ wollte, wo er war - und warum er es ausgerechnet auf mich und auf Kelltin abgesehen hatte.

»Verdammt, warum zeigst du dich nicht einfach? Wieso versteckst du dich hinter einer schattenhaften Projektion?«

»Wer sagt denn, dass ich das nicht bin?«

Irrte ich mich? Hatte diese Gestalt vielleicht gar nichts mit Iwan Ostermann zu tun?

»Was? Du … du bist wirklich ein Geist? Der Geist von Johann?« Ich schluckte und fügte leise hinzu: »Oder von Viktor?«

»Vielleicht.«

Meine Stimme wurde fester. »Wieso treibst du diese Spielchen? Warum lügst du?«

»Alles zu seiner Zeit, Patricia. Es gehen größere Dinge vor sich, als du dir vorstellen kannst. Und ich bin mir noch nicht sicher, welche Rolle du spielen wirst. Oder ob du überhaupt einer Rolle würdig bist. Du scheinst mächtiger und klüger zu sein, als ich es für möglich gehalten habe. Aber wie mächtig und klug du wirklich bist, das wird sich noch herausstellen.«

»Warum nimmst du ausgerechnet jetzt mit mir Kontakt auf?«