Tödliche Worte - Val McDermid - E-Book

Tödliche Worte E-Book

Val McDermid

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Beschreibung

Für Detective Chief Inspector Carol Jordan und Profiler Tony Hill tun sich erschreckende menschliche Abgründe auf: Im vierten spannenden Krimi der Jordan/Hill-Reihe von Bestsellerautorin Val McDermid jagt das ungewöhnliche Ermittlerduo einen kaltblütigen Prostituierten-Mörder – und muss zusätzlich das Verschwinden eines kleinen Jungen aufdecken, der wohlmöglich an einen Pädophilen geraten ist. Die Polizei im nordenglischen Bradfield ist ratlos: Auf einer blutgetränkten Matratze wird in grotesk verrenkter Haltung die Leiche einer Prostituierten gefunden. Die Szene erinnert bis ins Detail an eine Mordserie, die zwei Jahre zurückliegt. Der Täter Derek Tyler sitzt längst hinter Gittern in einer psychiatrischen Haftanstalt und spricht mit niemandem ein Wort. Profiler Tony Hill ist sich sicher, dass die neue Mordserie mit Tyler zu tun haben muss. Doch Carol Jordan startet mit ihrem Team eine lebensgefährliche Undercover-Aktion – ein ein böses Dejà-vu, wie sie zu spät erkennen muss. Wie kann ein Serienkiller aus dem Gefängnis heraus weiter morden? Dem Profiler Hill gelingt es, dem verschwiegenen Inhaftierten einige Worte zu entlocken – und zählt eins und eins zusammen... Der nervenzerreißend spannende Krimi von Crime-Queen Val McDermid lebt von seinen überraschenden Perspektivwechseln, den brisanten Einblicken in die Profiler-Arbeit und nicht zuletzt von dem psychologisch ausgefeilten Plot. Die subtile Inszenierung des Schreckens ist meisterhaft. The Guardian Wieder mal ein psychologisch fesselnder und unglaublich spannender Krimi von Val McDermid. Lovelybooks.de Leser, die einen spannenden Krimi erwarten, bekommen packende Unterhaltung geboten. Krimi-couch.de Mehr spannende Krimis der Serie um Carol Jordan und Profiler Tony Hill: Bd. 1: Das Lied der Sirenen Bd. 2: Schlussblende Bd. 3: Ein kalter Strom Bd. 4: Tödliche Worte Bd. 5: Schleichendes Gift Bd. 6: Vatermord Bd. 7: Vergeltung Bd. 8: Eiszeit Bd. 9: Schwarzes Netz Bd. 10: Rachgier Bd. 11: Der Knochengarten

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Val McDermid

Tödliche Worte

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Doris Styron

Knaur e-books

Über dieses Buch

Auf einer blut getränkten Matratze liegt eine tote Prostituierte, ihre Schenkel gespreizt, auf ihrem Gesicht eine Parodie aus Ekstase, Panik und Schmerz. Die Szene gleicht bis ins Detail einer Mordserie in Bradfield, die zwei Jahre zurückliegt – Morde, die aufhörten, nachdem mit Hilfe eindeutiger forensischer Beweise Derek Tyler überführt werden konnte.Es besteht keine Möglichkeit, dass Derek Tyler auch diesen Mord begangen haben könnte, denn seit dem Gerichtsverfahren sitzt er in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt für Straftäter und sagt kaum ein Wort. Oder doch? Gibt es einen Trittbrettfahrer, der Tylers Morde kopiert?Seine jahrelange berufliche Erfahrung sagt Profiler Dr. Tony Hill, dass es einfach keinen Trittbrettfahrer geben kann. Aber das würde den Mord an der Prostituierten unmöglich machen. Und Carol Jordan ist absolut nicht seiner Meinung. Während Hill versucht, Tyler zum Reden zu bringen, unternehmen Detective Chief Inspector Carol Jordan und ihr Team eine gewagte Undercover-Operation, um dem Mörder eine Falle zu stellen – eine Entscheidung mit fatalen Folgen …Val McDermid müßte nicht Val McDermid sein, wenn dies der einzige Handlungsfaden wäre, dem der Leser zu folgen hat. In diesem vierten Fall für das Duo Hill/​Jordan legt sie sogar eine ganze Menge »red herrings« aus, um den Leser in Atem zu halten und zum Kombinieren zu bringen. Sie versteht es, die Spannung immer weiter zu steigern – obwohl der Leser das Geschehen auch aus anderer Perspektive verfolgen. Denn »The Voice« ist zwar nicht der Täter, wohl aber der Stichwortgeber und »Flüsterer«. Und das für einen Psychopathen, der – ähnlich wie in Das Lied der Sirenen – durchaus sehr brachial zu Werke geht. Kein Stoff für süße Träume …

Inhaltsübersicht

WidmungMottoErster TeilNur weil du Stimmen [...]In den ersten sechs [...]Zweiter TeilZehn Wochen späterCarol Jordan warf ihre [...]Dritter TeilDrei Wochen späterEs gab einmal eine [...]Das tiefe Brummen des [...]Vierter TeilEs ist eine bekannte [...]Wenn Wissen Macht war, [...]Die Anlagen in Bradfield [...]DanksagungTIPP!Leseprobe »Rachgier«
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Für Leslie, Sandra, Julia, Jane, Maria, Mel, Margaret, Nicky, Jenni, Mary, Julie, Paula, Jai, Diana, Stella, Shelley, Daphne und Bunty Al – meine ganz persönliche gigantische Frauentruppe, die die Verwundete vom Schlachtfeld holte und mich gesund pflegte.In Liebe und Dankbarkeit.

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Aber die Qualen der anderen bleiben bestehn als Erfahrung, Ungemildert, unabgeschliffen durch späteren Verschleiß. Menschen wandeln sich, lächeln – doch die Agonie bleibt bestehen.

 

T. S. EliotThe Dry Salvages, Four Quartets

 

 

 

Lauter Schrecknisse, Verwirrung, Wunder und Erstaunen wohnen hier; möge uns irgendeine himmlische Macht wieder aus diesem fürchterlichen Lande führen!

 

William ShakespeareDer Sturm (Aufzug V, Szene 3)Übersetzung: Chr. M. Wieland

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Erster Teil

   

Nur weil du Stimmen hörst, heißt das doch nicht, dass du verrückt bist. Man braucht nicht besonders schlau zu sein, um das zu wissen. Und obwohl du all die Dinge getan hast, bei denen es den Geschworenen den Magen umdrehte, bist du doch wenigstens schlau genug zu wissen, dass du kein Irrer bist. Es gibt jede Menge Leute, die Stimmen hören, das weiß man ja. Wie beim Fernsehen. Wenn man fernsieht, könnte man zwar meinen, dass das alles wirklich passiert, aber trotzdem weiß man doch, dass es nicht so ist. Und irgendjemand muss sich das alles ja auch ausgedacht haben, ohne hier zu landen, wo du bist. Da besteht ja kein Zweifel dran.

Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Oder jedenfalls keine großen Sorgen. Na gut, sie haben behauptet, dass du verrückt bist. Der Richter hat deinen Namen genannt, Derek Tyler, und hat dir das Etikett »geistesgestört« umgehängt. Aber was für ein cleverer Typ der Richter angeblich auch sein mag, ihm war doch nicht klar, dass er sich genau nach Plan verhielt. Es ist der Dreh, auf den sie immer kommen, um »lebenslänglich« zu vermeiden, wenn einer das getan hat, was du verbrochen hast. Wenn du ihnen einreden kannst, dass du durchgeknallt warst, als du es getan hast, dann hast nicht du die Tat begangen, sondern der Wahnsinn in dir. Und wenn du verrückt, aber nicht bösartig bist, dann ist ja klar, dass du geheilt werden kannst. Und deshalb sperren sie dich in die Klapsmühle statt in den Knast. Da können die Mediziner dann in deinem Kopf herumstochern und probieren, die kaputten Teile wieder in Ordnung zu bringen.

Wenn da natürlich von Anfang an nichts kaputt war, hältst du besser die Klappe. Lässt sie nicht merken, dass du genauso gesund im Kopf bist wie sie selbst. Dann, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, kannst du anfangen zu reden. Stell es so hin, als hätten sie mit ihrer Zauberkraft jemanden aus dir gemacht, den sie wieder auf die Straße hinauslassen können.

Es klang völlig plausibel, wenn die Stimme es erklärte. Du bist ja auch ganz sicher, dass du alles richtig verstanden hast, weil die Stimme es so oft wiederholt hat, dass du die ganzen Sprüche mit geschlossenen Augen auswendig hersagen kannst. »Ich bin die Stimme. Ich bin deine Stimme. Was ich dir befehle, ist das Beste für dich. Ich bin deine Stimme. Das ist der Plan. Hör gut zu.« Das ist der Auslöser. Es braucht nicht mehr als diese ersten paar Worte, um das ganze Band in deinem Kopf ablaufen zu lassen. Die Botschaft ist noch da, tief in dein Gehirn eingegraben. Und sie macht immer noch Sinn. Oder zumindest glaubst du das.

Nur ist es jetzt schon so lange her. Und das Schweigen durchzuhalten ist nicht leicht – jeden einzelnen Tag, Woche um Woche, Monat um Monat. Aber du bist ganz schön stolz darauf, dass du es geschafft hast, denn all die anderen Dinge vermischen sich mit der Stimme. Therapiesitzungen, bei denen du alles ausblenden musst, was die wirklich Verrückten so labern. Gespräche mit den Ärzten, die dich mit List und Tücke zum Sprechen bringen wollen. Gar nicht zu reden von dem Geschrei und Gebrüll, wenn jemand durchdreht. Und dann die Hintergrundgeräusche im Aufenthaltsraum, der Fernseher und die Musik, die wie Störsender in deinem Kopf rumoren.

Nur mit der Stimme kannst du dich wehren und mit dem Versprechen, dass das Wort fällt, wenn der rechte Zeitpunkt da ist. Und dann wirst du wieder draußen sein und das tun, was du, wie du entdeckt hast, am besten kannst.

Frauen töten.

In den ersten sechs Stunden musst du sie finden, sonst suchst du nur noch nach einer Leiche. In den ersten sechs Stunden musst du sie finden, sonst suchst du nur noch nach einer Leiche. Diese höhnische Zauberformel der verschwundenen Kinder ging Inspector Don Merrick nicht aus dem Sinn. Inzwischen waren es schon sechzehn Stunden, und er war immer noch am Zählen. Und auch die Eltern von Tim Golding zählten jede Minute, die nach dem letzten Blick auf ihren Sohn vergangen war. Er brauchte nicht darüber nachzudenken, wie sie sich wohl fühlten. Er war selbst Vater und kannte die tief sitzende Angst, die alle Eltern befällt, wenn plötzlich und unerklärlich ihr Kind nicht da ist, wo es sein sollte. Meistens ist die Sache innerhalb von Minuten erledigt, wenn das Kind gesund und munter wieder auftaucht und die von Panik ergriffenen Eltern vergnügt anstrahlt. Aber trotzdem hinterlässt der Vorfall eine untilgbare Narbe.

Und manchmal gab es auch kein so versöhnliches Ende. Keinen plötzlichen Wutanfall, um die verheerende Wirkung des undefinierbaren Entsetzens zu verdecken, wenn das Kind gefunden wurde. Manchmal ging es einfach weiter und immer weiter. Und Merrick wusste, dass die Angst in Alastair und Shelley Golding weitertoben würde, bis seine Ermittlergruppe ihren Sohn fand. Tot oder lebendig. Er wusste es, weil er die gleiche Qual im Leben von Gerry und Pam Lefevre miterlebt hatte, deren Sohn Guy jetzt seit etwas mehr als fünfzehn Monaten vermisst wurde. Sie hatten den Kanal abgesucht, die Parks und unbebauten Grundstücke in einem Umkreis von zwei Meilen durchkämmt, aber keine einzige Spur von Guy gefunden.

Merrick war als Kontaktmann an den Ermittlungen im Lefevre-Fall beteiligt gewesen, und hauptsächlich deshalb wurde ihm der Fall Tim Golding zugeteilt. Denn er besaß das Wissen, mit dem sich offensichtliche Parallelen zwischen den beiden Fällen feststellen ließen. Aber davon abgesehen sagte ihm schon sein Instinkt, dass wer immer Guy Lefevre entführt haben mochte, sich jetzt noch ein zweites Opfer geholt hatte.

Er lehnte sich gegen das Dach seines Wagens und folgte mit dem Fernglas der langen gekrümmten Linie des Bahndamms. Jeder irgendwie abkömmliche Polizist durchsuchte da unten das Grasgestrüpp nach einer Spur des Achtjährigen, der seit dem Abend zuvor vermisst wurde. Tim hatte mit zwei Freunden ein kompliziertes Spiel um einen Superhelden gespielt. Merrick konnte sich undeutlich erinnern, dass sich auch seine eigenen Söhne eine Zeit lang für ihn begeistert hatten. Seine Freunde wurden von ihrer Mutter gerufen, und Tim hatte gesagt, er würde den Bahndamm entlanggehen, um den Güterzügen zuzusehen, die auf diesem Nebengleis Schotter vom Steinbruch am Rande der Stadt zur Verladestation brachten.

Zwei Frauen, die zur Bushaltestelle und von da zum Bingospiel unterwegs gewesen waren, meinten, sein grellgelbes Bradfield-Victoria-Hemd hinter der Baumreihe gesehen zu haben, die vom oberen Rand des steilen Abhangs bis zu den Gleisen hinunter verlief. Das war etwa zwanzig vor acht gewesen. Niemand sonst hatte sich gemeldet, der den Jungen gesehen hatte.

Sein Gesicht hatte sich Merrick schon eingeprägt. Das in der Schule aufgenommene Foto sah wie Millionen andere aus, aber Merrick hätte Tims helles Haar, sein offenes Lächeln und die blauen Augen hinter einer Harry-Potter-Brille mit den Fältchen in den Augenwinkeln in jeder Reihe ähnlicher Gesichter sofort erkannt. Und genauso hätte er Guy Lefevre identifizieren können. Welliges dunkelbraunes Haar, braune Augen, Sommersprossen auf Nase und Wangen. Sieben Jahre alt und groß für sein Alter. Zuletzt war er gesehen worden, als er auf eine wuchernde Baumgruppe am Rand des Downton-Parks zuging, etwa drei Meilen von der Stelle entfernt, an der Merrick jetzt stand. Es war gegen sieben Uhr an einem feuchten Frühlingsabend gewesen. Guy hatte seine Mutter gefragt, ob er noch eine halbe Stunde zum Spielen rausgehen dürfe. Er hatte nach Vogelnestern gesucht, die er hingebungsvoll auf einem Plan des schäbigen kleinen Waldstücks eingetragen hatte. Den zerknüllten Plan hatten sie zwei Tage danach am äußersten Rand der Baumgruppe gefunden, zwanzig Meter von der Böschung des nicht mehr befahrenen Kanals entfernt, der früher einmal vom Schienenkopf zu den schon lange stillgelegten Wollfabriken führte. Das war das letzte Mal gewesen, dass irgendjemand etwas sah, das irgendwie mit Guy Lefevre zu tun hatte.

Und jetzt schien wieder ein Junge wie vom Erdboden verschluckt. Merrick seufzte und setzte das Fernrohr ab. Sie hatten warten müssen, bis es hell wurde, um ihre Suche fortzusetzen. Alle hatten sich an die schwache Hoffnung geklammert, Tim sei etwas zugestoßen und er liege irgendwo verletzt und könne sich nicht bemerkbar machen. Diese Hoffnung war nun zerstört. Die frustrierende Einsicht, dass sie keinerlei Anhaltspunkte hatten, quälte ihn. Es war an der Zeit, die üblichen Tatverdächtigen durchzugehen. Merrick wusste aus Erfahrung, wie unwahrscheinlich es war, damit etwas zu erreichen, aber er wollte alle Möglichkeiten ausschöpfen.

Er zog sein Mobiltelefon heraus und rief seinen Sergeant Kevin Matthews an. »Kev? Hier ist Don. Geh schon mal die Kinderschänder durch.«

»Also keine Spur?«

»Überhaupt nichts. Ich hab sogar eine halbe Meile des Tunnels durchsuchen lassen. Ohne Erfolg. Es ist Zeit, mal ein paar Leute zu ärgern.«

»In welchem Umkreis suchen wir?«

Merrick stieß erneut einen Seufzer aus. Das Einzugsgebiet der Polizei von Bradfield erstreckte sich über vierundvierzig Quadratmeilen, wo sie für den Schutz von etwa 900 000 Menschen verantwortlich war. Nach den neuesten offiziellen Schätzungen, die er gelesen hatte, war danach in ihrem Zuständigkeitsbereich mit etwa 3000 aktiven Pädophilen zu rechnen, von denen nicht einmal zehn Prozent als Sexualverbrecher geführt wurden. Das war eher noch weniger als die Spitze des Eisbergs. Aber es war alles, woran sie sich halten konnten. »Fangen wir mal mit einem Zwei-Meilen-Radius an«, sagte er. »Sie operieren ja gern in dem Bereich, in dem sie sich sicher fühlen, nicht wahr?« Aber schon als er dies sagte, war sich Merrick schmerzlich der Tatsache bewusst, dass heutzutage, wo es so viele Pendler gab, die lange Strecken zum Arbeitsplatz zurücklegten, und wo so viele Menschen durch ihre Arbeit weit herumkamen und das Einkaufen am Wohnort zunehmend der Vergangenheit angehörte, für die meisten Menschen der vertraute Wohnbereich viel ausgedehnter war als bei der Generation ihrer Eltern. »Irgendwo müssen wir ja anfangen«, fügte er hinzu, und es war ihm anzuhören, wie pessimistisch er war.

Er legte auf, hob gegen die Helligkeit die Hand vor die Augen und starrte auf das unschuldige Bild des im Sonnenlicht leuchtenden Grases und der Bäume dort unten. Das Licht erleichterte die Suche, das stimmte schon. Aber irgendwie schien ihm das Wetter unangebracht, fast wie eine Beleidigung gegenüber dem Schmerz der Goldings. Seit seiner Beförderung war dies für Merrick der erste große Fall, aber jetzt schon fürchtete er, dass er zu keinem Ergebnis kommen werde, über das sich irgendjemand freuen konnte. Er selbst am wenigsten.

 

Mit einem Aktenstapel auf einem Arm und der Aktentasche in der anderen Hand stieß Dr. Tony Hill die Tür zu seinem Büro in der Universität auf. Vor seinem Seminar hatte er noch Zeit, die Post zu holen und sich um die Dinge zu kümmern, die keinen Aufschub duldeten. Als die Sekretärin des Psychologischen Instituts die Bürotür zufallen hörte, kam sie aus ihrem Zimmer. »Dr. Hill«, sagte sie in einem Ton alberner Selbstzufriedenheit.

»Morgen, Mrs. Stirrat«, murmelte Tony und stellte Akten und Tasche unsanft auf den Boden, während er die Post aus seinem Fach nahm. Wie passend der Name dieser Frau doch war, dachte er und fragte sich, ob sie ihren Mann deshalb geheiratet hatte.

»Der Institutsdirektor ist unzufrieden mit Ihnen«, sagte sie und verschränkte die Arme vor ihrem üppigen Busen.

»Aha? Warum das?«, fragte Tony.

»Die Cocktailparty für SJP gestern Abend – Sie hätten da sein sollen.«

Mit dem Rücken zu ihr verdrehte Tony die Augen. »Ich war in meine Arbeit vertieft und habe kaum bemerkt, wie die Zeit verging.«

»Es geht ja um eine wichtige Quelle von Mitteln für unser Projekt zur Verhaltensforschung«, schalt ihn Mrs. Stirrat. »Die Gäste hätten Sie gerne kennengelernt.«

Tony griff nach dem ungeordneten Stapel Postsendungen und stopfte ihn ins vordere Fach seiner Aktentasche. »Sicher haben sie sich auch ohne mich prächtig amüsiert«, sagte er, hob seinen Aktenstoß hoch und ging rückwärts auf die Tür zu.

»Der Institutsdirektor erwartet, dass sich alle Mitglieder des Lehrkörpers für das Beschaffen von Geldmitteln einsetzen, Dr. Hill. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass Sie einmal zwei Stunden Ihrer Zeit dafür …«

»Um die lüsterne Neugier der Manager eines Pharmakonzerns zu befriedigen?«, schnauzte Tony. »Ehrlich gesagt, Mrs. Stirrat, ich würde lieber meine Haare in Brand stecken und das Feuer mit einem Hammer löschen.« Mit dem Ellbogen gelang es ihm, den Türgriff herunterzudrücken und in den Korridor zu entkommen, ohne auf die beleidigte Miene zu warten, die, wie er genau wusste, jetzt auf ihrem Gesicht erschienen war.

Vorübergehend konnte er sich im ruhigen Hafen seines neuen Büros sicher fühlen und warf sich auf den Stuhl vor seinem Computer. Was machte er hier überhaupt, verdammt noch mal? Er hatte seine Unzufriedenheit mit dem akademischen Betrieb lange genug verdrängt, um die Stelle als Dozent an der Uni von St. Andrews anzunehmen, aber seit seinem kurzen, traumatischen Ausflug in die praktische Arbeit in Deutschland hatte er nicht mehr zur Ruhe kommen können. Auch die immer klarer werdende Einsicht, dass er diese Position an der Universität hauptsächlich bekommen hatte, weil sich sein Name im Vorlesungsverzeichnis gut ausnahm, war nicht gerade hilfreich. Viele Studenten schrieben sich ein, weil sie den Mann kennenlernen wollten, der einige der bekanntesten Serienmörder des Landes überführt hatte. Und Sponsoren waren auf den voyeuristischen Kitzel seiner Jagdgeschichten aus, die sie ihm auf Umwegen zu entlocken versuchten. Wenn er auch in seiner Zeit an der Universität nicht viel gelernt hatte, so doch wenigstens eins, nämlich dass er kein Talent für Auftritte vor einem Publikum besaß. Über welche anderen Gaben er auch verfügen mochte, Diplomatie ohne tieferen Sinn hatte nie dazugehört.

Die Begegnung mit Janine Stirrat von heute früh gab ihm das Gefühl, jetzt sei das Fass am Überlaufen. Tony zog die Tastatur zu sich heran und fing an, einen Brief aufzusetzen.

Drei Stunden später rang er nach Luft. Jetzt zahlte er den Preis dafür, dass er den Aufstieg zu schnell gemacht hatte. Als er in die Hocke ging, spürte er das struppige Gras unter seinen Füßen und fand es trocken genug, um sich hinzusetzen. Er ließ sich auf den Boden sinken und lag so lange mit ausgestreckten Armen und Beinen da, bis das Klopfen in seiner Brust nachließ. Dann setzte er sich auf und genoss die Aussicht. Vom Gipfel des Largo Law aus sah er unten den Meeresarm des Firth of Forth im späten Licht der Frühjahrssonne glitzern. Gegenüber konnte er bis zum Berwick Law sehen, dem Gegenstück zu seinem eigenen Standort aus prähistorischer Zeit, von dessen Vulkanspitze ihn jetzt eine meilenweite, petrolgrüne Wasserfläche trennte. Er blickte sich nach den anderen Orientierungspunkten um: Bass Rock, ein stumpfer, dicker Daumen, May Island, die wie ein in der Sonne liegender Buckelwal dalag, und als undeutlicher Schatten weit in der Ferne Edinburgh. In dieser Gegend von Fife gab es einen Spruch: »Wenn man May Island sieht, wird es bald regnen. Wenn man May Island nicht sieht, dann regnet es schon.« Heute sah es nicht nach Regen aus. Nur hier und da unterbrachen leichte Wolkenschleier die Bläue wie zarte luftige Teigstücke, die man aus einem Frühstücksbrötchen herausgerissen hat. Dies alles würde ihm fehlen, wenn er weiterzog.

Aber die schöne Aussicht war schließlich kein Grund, sein eigentliches Talent zu vernachlässigen. Für den akademischen Betrieb war er nicht geboren. In erster Linie war er klinischer Psychologe und dann Profiler. Ende des Semesters wurde seine Kündigung wirksam, es blieben ihm also noch zwei Monate, in denen er überlegen konnte, was er dann machen wollte.

An Angeboten fehlte es ihm nicht. Obwohl er sich mit seinen früheren Unternehmungen nicht immer lieb Kind beim Innenministerium gemacht hatte, war es ihm dank des Falls, den er kürzlich in Deutschland und Holland bearbeitet hatte, gelungen, die britische Bürokratie einfach zu übergehen. Jetzt wollten ihn die Deutschen, Niederländer und Österreicher als Berater haben. Nicht nur für Serienmorde, sondern auch für andere Delikte, für die internationale Grenzen so gut wie gar nicht zu existieren schienen. Es war ein verlockendes Angebot, das ihm zumindest ein Einkommen garantieren würde, von dem er leben konnte. Und es würde ihm die Möglichkeit bieten, zur klinischen Praxis zurückzukehren, auch wenn es nur eine Teilzeitstelle wäre.

Außerdem musste er bei seinen Plänen Carol Jordan berücksichtigen. Wie immer, wenn er an sie dachte, scheute er vor einer direkten Konfrontation zurück. Irgendwie musste er eine Möglichkeit finden, das wieder gutzumachen, was mit ihr geschehen war, ohne dass sie die Absicht erkannte, die dahinterstand.

Und bis jetzt hatte er keine Ahnung, wie er das erreichen könnte.

 

Tag zwei, und immer noch keine Spur von Tim Golding. Schweren Herzens gestand sich Merrick ein, dass sie bereits kein lebendes Kind mehr suchten. Morgens hatte er Alastair und Shelley Golding besucht, und der Hoffnungsschimmer in ihren Augen, als er ihr schmuckes viktorianisches Reihenhaus betrat, traf ihn ins Herz. Sobald sie begriffen, dass er ihnen nichts zu sagen hatte, wurde ihr Blick stumpf. Die Angst hatte sie ausgehöhlt, bis in ihrem Inneren nichts mehr als eine karge Hoffnung blieb.

Als Merrick das Haus verließ, fühlte er sich trostlos und leer. Er warf einen Blick die Straße entlang und dachte, welche Ironie darin lag, dass Tim Golding sozusagen der Verschönerung des heruntergekommenen Wohnviertels zum Opfer gefallen war. Harriestown, wo die Goldings wohnten, war früher ein Arbeiterviertel gewesen. Dann fingen junge, unternehmungslustige Paare auf der Suche nach erschwinglichem Wohnraum an, die verfallenden Häuser aufzukaufen und zu renovieren, und schufen so einen schicken neuen Vorort. Allerdings ging dabei das Gemeinschaftsgefühl verloren. Die leidenschaftlichen Anhänger von Tapetenwechsel und Wohnen nach Wunsch interessierten sich nur für ihr eigenes Leben, nicht für das ihrer Nachbarn. Noch vor zehn Jahre hätte Tim Golding die meisten Leute, die in seiner Straße wohnten, gekannt und sie ihn. An einem solchen Sommerabend wären alle Leute im Freien gewesen, unterwegs zu ihren Schrebergärten oder auf dem Rückweg vom Pub, hätten vor den Türen gestanden und sich unterhalten, während sie die letzten Sonnenstrahlen genossen. Schon allein ihre Gegenwart hätte den Jungen geschützt. Und sie hätten einen Fremden bemerkt und sich erinnert, wann er vorbeigekommen war, und darauf geachtet, wohin er ging. Aber heutzutage waren alle Einwohner von Harriestown, die nicht gerade in ihren eleganten Designerküchen exotische Gerichte eines Fernsehkochs nachkochten, damit beschäftigt, in ihren durch hohe Mauern von den Nachbarn getrennten Gärten hinter dem Haus südländische Innenhöfe anzulegen oder griechische Tonkrüge für ihre frischen Kräuter aufzustellen. Merrick hatte missmutig auf die geschlossenen Türen und Fenster in der Straße geblickt und sich nach einfacheren Zeiten zurückgesehnt. Dann war er unruhig und erschöpft zum Einsatzzentrum zurückgekehrt.

Seine Ermittlergruppe hatte die Nacht durchgearbeitet und die in ihrem Revier als pädophil bekannten Personen befragt. Kein einziger Hinweis hatte sich ergeben, der die Ermittlungen hätte voranbringen können. Zwei Personen hatten angerufen und berichtet, sie hätten ungefähr um die Zeit, als Tim verschwand, einen weißen Transporter gesehen, der langsam durch die schmalen Straßen fuhr. Durch Zufall hatte einer den größten Teil der Autonummer im Gedächtnis behalten, so dass es sich lohnte, sie mit der zentralen Datenbank der Polizei abzugleichen. Sie hatten in der näheren Umgebung ein halbes Dutzend in Frage kommende Fahrzeuge ausgemacht, was im Einsatzzentrum neue Energie aufkommen ließ.

Aber diese Spur hatte sich innerhalb weniger Stunden in nichts aufgelöst. Der dritte Transporter auf der Liste gehörte einer Firma, die ihr Biogemüse direkt an Haushalte lieferte. Der Fahrer war so langsam gefahren, weil die Tour neu für ihn war und er die Straßen dieser Gegend nicht kannte. Das allein hätte nicht ausgereicht, ihn unverdächtig zu machen. Doch er hatte seine fünfzehnjährige Tochter dabei, die ihm half, um ihr Taschengeld aufzubessern.

Also wieder von vorne anfangen. Merrick steckte die Hände in die Hosentaschen und starrte das Schwarze Brett im Einsatzzentrum an. Was da hing, war dürftig. Normalerweise kamen in diesem Stadium der Suche nach einem verschwundenen Kind eine Menge Informationen herein. Im Fall Guy Lefevre war es jedenfalls so gewesen, obwohl sich langfristig alles als vergeblich erwiesen hatte. Aber aus irgendeinem Grund blieb es diesmal bei einem kümmerlichen Tröpfeln. Natürlich gab es Leute, die nur ihre Zeit verschwendeten und zum Beispiel anriefen und sagten, sie hätten Tim im Eurostar-Zug mit einer asiatisch aussehenden Frau, in einem McDonald’s in Taunton mit einem grauhaarigen Mann oder in Inverness beim Einkaufen von Computerspielen gesehen. Merrick wusste, dass diese Behauptungen, Tim gesehen zu haben, nichts brachten. Wer immer Tim mitgenommen hatte, würde nicht auf offener Straße herumlaufen, wo jeder ihn sehen konnte.

Merrick seufzte. Die Bilder in seinem Kopf zeigten keinen kleinen Jungen, der mit seinen Freunden spielte. Was er sah, wenn er die Augen schloss, war ein flaches Grab in einem Waldstück. Das Aufleuchten eines gelben Fußballhemds im hohen Gras am Ackerrand. Wirr übereinander liegende Gliedmaßen in einem Entwässerungsgraben. O Gott, wie hilflos er dieser Aufgabe gegenüberstand.

Er zerbrach sich den Kopf über eine andere Ermittlungsstrategie und überlegte, ob und wie seine früheren Chefs die Lage angegangen wären. Popeye Cross wäre bestimmt überzeugt gewesen, dass der Entführer schon aktenkundig war. Er hätte die Kinderschänder entschlossen in die Mangel genommen, um von irgendjemandem ein Geständnis zu bekommen. Merrick war sicher, dass dies schon abgedeckt war, obwohl sein Team sich hüten würde, die Art von Druck auszuüben, für die Popeye bekannt gewesen war. Heutzutage ging man ein Risiko ein, wenn man jemanden zu sehr unter Druck setzte. Die Gerichte duldeten es nicht, dass Polizisten schutzlose Verdächtige drangsalierten.

Er dachte an Carol Jordan und griff nach seinen Zigaretten. Sie hätte bestimmt einen außergewöhnlichen Ansatzpunkt gefunden, das bezweifelte er nicht. Ihre Gedanken verliefen in Bahnen, die er nie hatte begreifen können. Sein Gehirn war einfach anders strukturiert als ihres, und er wäre in einer Million Jahren niemals auf eine ihrer einfallsreichen Betrachtungsweisen gekommen. Aber etwas gab es, das Carol getan hätte und das auch er in die Wege leiten konnte.

Merrick atmete tief durch und nahm den Hörer auf. »Ist der Chef da?«, fragte er die Frau, die abnahm. »Ich hätte gern mit ihm über Tony Hill gesprochen.«

 

John Brandon stieg die Treppe der Barbican Station hinauf. Die schmutzigen gelben Backsteine sahen aus, als schwitzten sie, und sogar der Beton, auf dem er ging, schien heiß und klebrig. Die Luft war stickig und von diversen Ausdünstungen der Menschen erfüllt. Es war nicht gerade die beste Vorbereitung auf ein Gespräch, von dem er befürchtete, dass es schwierig sein würde.

Wie sehr er auch versucht hatte, sich auf das Treffen mit Carol Jordan vorzubereiten, war er trotzdem sicher, dass er im Grunde keine Ahnung hatte, was er vorfinden würde. Sicher wusste er nur zwei Dinge: Er hatte keine Vorstellung davon, wie es ihr in Bezug auf das ging, was ihr geschehen war. Und er wusste, dass Arbeit ihre Rettung sein konnte.

Als er von der missglückten verdeckten Aktion gehört hatte, die mit einem tätlichen Angriff auf Carol geendet hatte, war er entsetzt gewesen. Sein Informant hatte die Bedeutung des mit dieser Operation Erreichten hervorzuheben versucht, als wäre alles, was ihr angetan wurde, damit aufgewogen. Aber Brandon hatte seine Erklärung ungeduldig unterbrochen. Er wusste schließlich Bescheid über die Anforderungen, die Führungskräften abverlangt werden konnten. Er hatte sein Erwachsenenleben dem Polizeidienst gewidmet, hatte sein Karriereziel erreichen und dabei die meisten seiner Prinzipien beibehalten können. Eine seiner Regeln war, dass man einen Polizeibeamten niemals einem unnötigen Risiko aussetzen durfte. Natürlich war Gefahr ein Teil der Arbeit, besonders heutzutage, wo Schusswaffen für manche sozialen Gruppen genau so ein modisches Accessoire waren wie iPods für andere. Aber es gab akzeptable Risiken und solche, die man nicht eingehen durfte. Und aus Brandons Sicht hatte man Carol Jordan in eine Lage gebracht, in der sie einem unannehmbaren, unzumutbaren Risiko ausgesetzt gewesen war. Er glaubte einfach nicht an einen Zweck, der solche Mittel hätte heiligen können.

Aber es brachte nichts, sich darüber aufzuregen, was geschehen war. Die Verantwortlichen waren selbst für einen Polizeipräsidenten zu gut geschützt, als dass er ihnen etwas hätte anhaben können. Das Einzige, was John Brandon jetzt für Carol tun konnte, war, ihr einen Rettungsanker zuzuwerfen, mit dem sie den Weg zurück in ihren geliebten Beruf finden konnte. Sie war wahrscheinlich die beste Kripobeamtin gewesen, die er jemals unter sich gehabt hatte, und sein Instinkt sagte ihm, dass sie unbedingt wieder eingesetzt werden sollte.

Er hatte es mit seiner Frau Maggie besprochen und ihr seine Pläne erklärt. »Was meinst du?«, hatte er gefragt. »Du kennst ja Carol. Meinst du, sie würde das übernehmen wollen?«

Maggie runzelte die Stirn und rührte nachdenklich in ihrem Kaffee. »Du solltest nicht mich fragen, sondern Tony Hill. Schließlich ist er der Psychologe.«

Brandon schüttelte den Kopf. »Tony würde ich zuallerletzt fragen, wenn es um Carol geht. Außerdem ist er ein Mann, er versteht die Auswirkungen von Vergewaltigung nicht so wie eine Frau.«

Maggies Mundwinkel zuckten leicht, sie stimmte ihm zu. »Die Carol Jordan von früher hätte sich darauf gestürzt. Aber es ist schwer, sich vorzustellen, wie sich die Vergewaltigung auf sie ausgewirkt hat. Manche Frauen macht es völlig kaputt. Bei manchen wird es zum bestimmenden Augenblick ihres Lebens. Andere verdrängen es und tun so, als sei nichts geschehen. Die Erinnerung bleibt im Hintergrund wie eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment ihr Leben zerstören kann. Und manche finden eine Möglichkeit, damit fertig zu werden und sich einen neuen Weg zu suchen. Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, Carol wird die Sache entweder verdrängen oder sich durchkämpfen. Wenn sie es verdrängt, wird sie vermutlich mit fliegenden Fahnen zu intensiver Arbeit zurückkehren, um sich selbst und allen anderen zu beweisen, dass sie es geschafft hat. Sollte sie das allerdings versuchen, wird sie ein Risiko sein, und das kannst du für diese Aufgabe nicht brauchen. Aber …«, zögerte sie, »wenn sie sich durchkämpfen will, dann kannst du sie vielleicht überreden.«

»Meinst du, sie kann diese Aufgabe bewältigen?« Brandon blickte besorgt.

»Es ist genauso wie das, was immer über Politiker gesagt wird, oder? Gerade die Leute, die sich nach einer Aufgabe drängen, sind die Letzten, die sie erledigen sollten. Ich weiß nicht, John. Du wirst das entscheiden müssen, wenn sie vor dir steht.«

Kein tröstlicher Gedanke. Aber danach hatte er aus einer überraschenden Richtung Unterstützung bekommen. Am Nachmittag des Vortages hatte DI Merrick ihn in seinem Büro aufgesucht, weil er Tony Hill als Profiler für den Fall des vermissten Tim Golding engagieren und Brandon um sein Einverständnis bitten wollte. Als sie über den Fall sprachen, hatte Merrick fast wehmütig gesagt: »Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir besser dran wären, wenn DCI Jordan noch in unserem Team wäre.«

Brandon zog die Augenbrauen hoch. »Ich hoffe, dass Sie nicht gerade eine Phase der Selbstzweifel durchmachen, Inspector«, sagte er.

Merrick schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Ich weiß, dass wir alles tun, was wir können. Aber DCI Jordan sieht die Dinge aus einer anderen Perspektive als alle anderen Kollegen, mit denen ich je gearbeitet habe. Und in solchen Fällen … na ja, manchmal hat man den Eindruck, es sei nicht genug, einfach nur gewissenhaft sämtliche Möglichkeiten abzudecken.«

Brandon wusste, dass Merrick recht hatte. Umso mehr müsste er alles in seiner Macht Stehende tun, um Carol Jordan wieder in den Ring zurückzuholen. Er straffte die Schultern und ging auf das Betonlabyrinth zu, in dessen Mittelpunkt Carol Jordan ihn erwartete.

 

John Brandon war erschüttert von der Veränderung, die er an Carol Jordan wahrnahm. Die Frau, die an der Tür wartete, als er aus dem Fahrstuhl herauskam, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Bild, das er von ihr im Gedächtnis trug. Er hätte auf der Straße leicht an ihr vorbeigehen können, ohne sie zu erkennen. Ihre Frisur war total anders, an den Seiten ganz kurz geschnitten mit einem dichten, zur Seite gekämmten Pony, der ihre Gesichtsform veränderte. Aber die Veränderung zeigte sich noch entschiedener im Ausdruck: Alles Weiche schien aus ihrem Gesicht gewichen und durch neue Flächen und Mulden ersetzt. An die Stelle der früheren intelligenten Wachheit ihrer Augen war eine mit Argwohn gepaarte Ausdruckslosigkeit getreten. Sie strahlte Anspannung statt des gewohnten Selbstbewusstseins aus. Obwohl es ein warmer Frühsommertag war, trug sie einen formlosen Pullover mit Rollkragen und eine weite Hose statt der knapp geschnittenen Kostüme, in denen Brandon sie früher immer gesehen hatte.

Er blieb einen halben Meter vor ihr stehen. »Carol«, sagte er. »Schön, Sie zu sehen.«

Kein entgegenkommendes Lächeln, nur ein schwaches Zucken der Mundwinkel. »Kommen Sie herein, Sir«, sagte sie und trat zurück, um ihm den Vortritt zu lassen.

»Nur keine Formalitäten«, sagte Brandon und achtete darauf, dass er so viel Abstand wie möglich hielt, als er die Wohnung betrat. »Ich bin ja schon eine ganze Weile nicht mehr Ihr Chef.«

Carol entgegnete nichts und führte ihn zu zwei Sofas, die im rechten Winkel zueinander standen und den Blick durch die deckenhohen Fenster auf die alte Kirche mitten in dem Gebäudekomplex des Barbican freigaben.

Sie wartete, bis er Platz genommen hatte, und fragte dann: »Kaffee oder Tee?«

»Lieber etwas Kaltes. Es ist so warm draußen«, sagte Brandon und knöpfte die Jacke seines anthrazitgrauen Anzugs auf. Als ihm ihr plötzliches Schweigen bewusst wurde, hielt er beim dritten Knopf inne und räusperte sich.

»Sprudel oder Orangensaft?«

»Wasser geht in Ordnung.«

Carol brachte zwei Gläser Mineralwasser, stellte Brandon eins hin und zog sich dann mit ihrem so weit wie möglich von ihm zurück.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Brandon.

Carol zuckte die Schulter. »Schon etwas besser.«

»Ich war schockiert, als ich hörte, was passiert ist. Und auch erschüttert. Maggie und ich … na ja, ich weiß, wie ich mich fühlen würde, wenn sie oder meine Töchter … Carol, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man mit so etwas fertig wird.«

»Es gibt nichts, was dem gleichkommt«, sagte Carol schroff und sah ihm in die Augen. »Ich bin vergewaltigt worden, John. Keine Verletzung kommt dem gleich außer dem Tod, von dem noch niemand zurückgekehrt ist, um davon zu berichten.«

Brandon ließ diesen Verweis standhaft über sich ergehen. »Es hätte niemals passieren dürfen.«

Carol tat einen tiefen Atemzug. »Ich habe auch Fehler gemacht, das stimmt schon. Aber der Hauptschaden ist durch diejenigen entstanden, die die Operation leiteten und mich niemals davon unterrichtet haben, was wirklich los war. Leider haben nicht alle so viele Skrupel wie Sie.« Sie wandte sich ab und schlug ungeduldig die Beine übereinander. »Sie sagten, Sie wollten etwas mit mir besprechen«, fuhr sie fort und wechselte damit endgültig das Thema.

»Das stimmt. Ich weiß nicht, ob Sie über die Veränderungen bei den Polizeikräften im Norden auf dem Laufenden sind.«

Carol schüttelte den Kopf. »Ich hab mich nicht darum gekümmert.«

»Warum sollten Sie auch«, sagte er freundlich. »Aber das Innenministerium hat in seiner Weisheit beschlossen, Ost-Yorkshire sei ein zu kleines Gebiet, und deshalb soll die Polizei dort mit einer anderen Dienststelle zusammengelegt werden. Und da ich die kleinere der beiden Stellen leite, die nun zusammengelegt werden, habe ich meine Position aufgeben müssen.«

Carol schien jetzt etwas angeregter zuzuhören. »Das tut mir leid, John. Sie waren ein guter Polizeipräsident.«

»Danke. Und ich hoffe, das auch in Zukunft zu sein. Ich bin jetzt wieder in meinem alten Revier.«

»In Bradfield?«

Brandon bemerkte, dass Carol sich leicht entspannte. Er glaubte, die äußere harte Schale durchstoßen zu haben. »Ganz recht. Man hat mir die Leitung der Polizei von Bradfield angeboten.« Auf seinem kummervollen Gesicht erschien ein Lächeln. »Und ich habe Ja gesagt.«

»Das freut mich sehr für Sie, John.« Carol trank von ihrem Wasser. »Sie werden dort gute Arbeit leisten.«

Brandon schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht hergekommen, weil ich auf Komplimente aus bin, Carol. Ich bin gekommen, weil ich Sie brauche.«

Carol wandte den Blick von ihm ab auf die graue, geäderte Steinwand der Kirche. »Das glaube ich nicht, John.«

»Hören Sie mir doch zu, bis ich fertig bin. Ich verlange ja nicht, dass Sie bei der Kripo am Schreibtisch sitzen. Ich möchte, dass Sie in Bradfield etwas anderes tun. Ich will eine Organisation für Schwerverbrechen aufziehen wie die, die es bei der Londoner Polizei gibt. Zwei erstklassige Einsatzkommandos in ständiger Bereitschaft, um die übelsten Täter zu fassen. Sie kommen nur in schweren Fällen gegen die richtig bösen Typen zum Einsatz. Und wenn es da mal nicht so viel zu tun gibt, kann die Gruppe alte ungelöste Fälle wieder aufnehmen und bearbeiten.«

Sie wandte sich ihm mit einem aufmerksamen, nachdenklichen Blick zu. »Und Sie glauben, Sie brauchen mich dafür?«

»Ich möchte, dass Sie die Einheit leiten und ein Einsatzkommando direkt zur Verfügung haben. Solche Dinge können Sie doch am besten, Carol. Die Kombination von Klugheit, Instinkt und guter, gediegener Polizeiarbeit.«

Sie rieb sich mit der vom Wasserglas gekühlten Hand den Nacken. »Früher vielleicht«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass ich noch dieselbe bin.«

Brandon schüttelte den Kopf. »So etwas verlernt man nicht. Sie sind die beste Polizeibeamtin, die je für mich gearbeitet hat, selbst wenn es Gelegenheiten gab, bei denen Sie die erlaubten Grenzen fast überschritten haben. Aber immer wenn Sie so weit gingen, hatten Sie recht. Und diese Art von Können und Mut brauche ich bei meinen Leuten.«

Carol starrte auf den leuchtend bunten Gabbeh-Teppich hinunter, als sei dort die Antwort zu finden. »Das glaube ich nicht, John. Ich schleppe dieser Tage einfach zu vieles mit mir herum.«

»Sie wären mir direkt unterstellt, und wir hätten keine pingeligen Bürokraten zwischen uns. Sie würden mit einigen Ihrer alten Kollegen zusammenarbeiten, Carol, die wissen, wer Sie sind und was Sie erreicht haben. Nicht mit Leuten, die sich aufgrund von Gerüchten und Halbwahrheiten ein vorschnelles Bild von Ihnen machen. Sondern mit solchen wie Don Merrick und Kevin Matthews. Männern, die Ihnen Respekt entgegenbringen.« Unausgesprochen blieb dabei, was beiden bewusst war: dass man sie sonst an keiner anderen Stelle auf diese Art und Weise anerkennen würde.

»Das ist ein großzügiges Angebot, John.« Carol hielt seinem Blick stand, aber in ihren Augen lag eine große Müdigkeit. »Allerdings glaube ich, Sie hätten es verdient, weniger Schwierigkeiten zu bekommen, als meine Anstellung Ihnen bescheren würde.«

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, sagte Brandon, der jetzt statt schonender Rücksichtnahme die ihm eigene Autorität hervorkehrte. »Carol, die Arbeit hatte für Sie schon immer einen hohen Stellenwert. Ich kann verstehen, weshalb Sie nicht in den Nachrichtendienst zurückwollen, an Ihrer Stelle würden mich auch keine zehn Pferde mehr in die Nähe dieser Kerle kriegen. Aber die Polizeiarbeit liegt Ihnen doch im Blut. Verzeihen Sie, wenn ich anmaßend klinge, aber ich glaube nicht, dass Sie über diese Sache hinwegkommen werden, ehe Sie wieder fest im Sattel sitzen.«

Carols Augen weiteten sich. Brandon fragte sich, ob er zu weit gegangen war, und erwartete eine scharfe, ironische Antwort, die er diesmal ohne Rücksicht auf seinen Dienstgrad verdient gehabt hätte.

»Haben Sie mit Tony Hill gesprochen?«, fragte sie.

Brandon gelang es nicht, seine Überraschung zu verbergen. »Tony? Nein, ich habe ihn nicht mehr gesprochen seit … ach, es muss über ein Jahr her sein. Warum fragen Sie?«

»Er ist der gleichen Meinung«, antwortete sie knapp. »Ich dachte, vielleicht hättet ihr euch verbündet.«

»Nein, ich bin selbst auf die Idee gekommen. Aber Sie wissen, Tony ist kein schlechter Ratgeber.«

»Ja, schon. Aber keiner von Ihnen kann sich vorstellen, was es dieser Tage für mich heißt, ich selbst zu sein. Ich bin nicht sicher, ob die alten Regeln noch gelten. John, ich kann in dieser Sache jetzt keine Entscheidung treffen. Ich muss darüber nachdenken.«

Brandon trank sein Glas aus. »Lassen Sie sich Zeit.« Er stand auf. »Rufen Sie mich an, wenn Sie über Einzelheiten sprechen möchten.« Er zog eine Karte aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch. Sie sah sie an, als könne sie plötzlich in Flammen aufgehen. »Lassen Sie mich Ihre Entscheidung wissen.«

Carol nickte matt. »Ja. Aber bauen Sie bei Ihrer Planung noch nicht allzu fest auf mich, John.«

 

Im Bradfield Moor Secure Hospital gibt es keine Stille. Oder jedenfalls nicht da, wo sie dich je hätten hingehen lassen. Nach all den Filmen und Fernsehshows, die man so sieht, sollte man meinen, dass es irgendwo Gummizellen gibt, in die kein Laut dringt, aber man müsste wahrscheinlich total durchknallen, um dort zu landen. Schreien, Schaum vor dem Mund kriegen, jemand vom Personal niederschlagen oder so was. Wenn der Gedanke, an einem stillen Ort zu sein, auch verlockend ist, würde es sich auf deine Entlassungschancen nicht gerade günstig auswirken, eine richtige Irrenattacke abzuziehen, nur um genug Ruhe zu finden, dass du die Stimme richtig hören kannst.

Als du damals in Bradfield Moor angekommen bist, hast du zu schlafen versucht, sobald das Klicken im Schloss dir sagte, dass man dich für die Nacht eingeschlossen hatte. Aber du konntest immer noch gedämpfte Unterhaltungen hören, gelegentlich Schreie und Schluchzen, Füße, die die Korridore entlangtappten. Du hast dir das dünne Kissen über den Kopf gezogen und versucht, alles auszublenden. Aber oft hat es nicht funktioniert. Die anonymen Geräusche haben dir Angst gemacht und dich fürchten lassen, deine Tür könnte plötzlich aufgehen und du könntest welchem Teufel auch immer begegnen. Statt zu schlafen, wurdest du nervös und reizbar. Der Morgen kam, und jedes Mal warst du erschöpft, mit wunden, brennenden Augen und zittrigen Händen wie bei einem völlig fertigen Säufer. Das Schlimmste war in dieser Zeit, dass du dich nicht auf die Stimme einstellen konntest. Du warst zu erregt, eine Methode zu finden, die dir über die Hintergrundgeräusche hinweghalf.

Es dauerte einige Wochen, etliche höllische, grausige Wochen, aber allmählich kapierte dein langsames Hirn, dass es sich lohnen könnte, nicht gegen den Strom zu schwimmen. Wenn jetzt das Licht ausgeht, legst du dich auf den Rücken, atmest tief und sagst dir, die Geräusche da draußen sind belangloses Hintergrundgemurmel, auf das man nicht zu achten braucht. Und früher oder später wird es wie das Rauschen im Radio und lässt dich mit der Stimme allein. Lautlos bewegen sich deine Lippen und geben die Botschaft wieder, und schon bist du woanders. An einem guten Ort.

Es ist eine tolle Sache. Du kannst die langsame Steigerung bis zu deinen größten Taten durchspielen. Alles ist da, vor dir ausgebreitet. Wie du ein Opfer auswählst. Wie du mit der Frau sprichst. Wie du ihr an den Ort folgst, den du durch Blut verwandeln wirst. Ihr dämliches Vertrauen, dass Derek der Döskopf ihr schon nichts tun wird. Und der Blick in ihren Augen, wenn du dich umgedreht und sie – mit dem schlimmsten ihrer Alpträume in der Hand – angesehen hast.

Bei der Wiederholung kommst du nie ganz bis zum Ende. Jedes Mal passiert es bei diesem Blick. Du erlebst den Moment, wenn ihnen alles klar wird, wenn die schreckliche Angst sie milchweiß werden lässt und deine Hand sich fester an deinen Schwanz presst. Dein Rücken wölbt sich, deine Hüften schnellen nach vorn, deine Lippen entblößen die Zähne, wenn du kommst. Und dann hörst du die Stimme, triumphierend und klangvoll, die dich für die Rolle lobt, die du bei dieser Läuterung gespielt hast.

Das ist der beste Augenblick in deiner engen kleinen Welt. Andere Leute mögen das anders sehen, aber du weißt, was für ein Glück du hast. Du musst jetzt einfach nur hier raus, zurück zu der Stimme. Nichts sonst kann dir das ersetzen.

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Zweiter Teil

   

Zehn Wochen später

Er kann sich nicht an das erste Mal erinnern, als er die Stimme hörte. Inzwischen schämt er sich, dass er sie nicht gleich erkannt hat. Wenn er jetzt darüber nachdenkt, findet er es kaum zu glauben, dass er so lange gebraucht hat, um zu verstehen. Weil sie so anders war als die anderen Stimmen, die er jeden Tag hörte. Sie machte keine höhnischen Bemerkungen. Sie verlor nicht die Geduld mit ihm, weil er so langsam war. Sie behandelte ihn nicht wie ein dummes Kind. Die Stimme zollte ihm Respekt. Er hatte das noch nie erlebt, wahrscheinlich hatte er deshalb ihre Botschaft so lange nicht verstanden. Er brauchte eine Weile, bis er begriff, was ihm da geboten wurde.

Jetzt kann er sich gar nicht mehr vorstellen, ohne die Stimme zu leben. Es ist wie Schokolade oder Alkohol oder Hasch. Die Welt würde auch ohne sie weitergehen, aber warum sollte man sich das wünschen? Es gibt Zeiten und Orte, da weiß er, dass er sie hören wird: die Nachrichten auf seinem Handy, die Minidiscs, die einfach so in der Tasche seines Parkas auftauchen, und wenn er spätabends allein ist und im Bett liegt. Aber manchmal kommt sie auch völlig unerwartet. Ein leichter Hauch auf seinem Nacken – und da ist sie, die Stimme. Als das zum ersten Mal passierte, hätte er sich fast in die Hose gemacht. Das wäre fast schief gegangen! Aber seit damals hat er viel dazugelernt. Jetzt weiß er draußen in der Öffentlichkeit, wie er reagieren muss, damit niemand ins Grübeln kommt, was mit ihm los sein könnte.

Die Stimme macht ihm auch Geschenke. Na ja, andere Leute haben ihm in der Vergangenheit auch Sachen geschenkt, aber meistens war das wertloses oder schon gebrauchtes Zeug, das sie nicht mehr haben wollten. Die Stimme ist da ganz anders. Sie schenkt ihm Dinge, die nur für ihn sind. Dinge, die noch in Schachteln oder Tüten verpackt sind und gekauft und bezahlt wurden, nicht geklaut. Der Minidiscplayer zum Beispiel. Die Diesel-Jeans. Das Zippo-Feuerzeug mit dem Totenkopf und den gekreuzten Knochen, das sich so gut anfühlt, wenn er mit dem Daumen daran herunterfährt. Die Videos, die ihn auf Gedanken bringen, was er gern mit den Straßenmädchen machen würde, die er jeden Tag sieht.

Als er fragte, warum, sagte die Stimme, weil er würdig sei. Das verstand er nicht. Und eigentlich versteht er es immer noch nicht. Die Stimme sagte, er würde sich die Geschenke verdienen, verriet aber nicht, auf welche Art und Weise, sehr lange nicht. Das war wahrscheinlich seine eigene Schuld. Er schaltet nicht so schnell. Er braucht eine Weile, bis er den Durchblick hat.

Aber er freut sich, wenn er gefallen kann. Er erinnert sich, dass er das als eines der ersten Dinge gelernt hat. Die Leute zum Lächeln bringen, ihnen geben, was sie möchten, und schon hat man eine bessere Chance, nicht geschlagen zu werden. Also hat er gut aufgepasst, als die Stimme anfing, ihn zu unterrichten, weil er wusste, dass sie eher bei ihm bleiben würde, wenn sie zufrieden war. Und er will, dass sie bleibt, weil sie ihn froh macht. Es gibt nicht viele Dinge, die ihn jemals froh gemacht hätten.

Deshalb hört er zu und versucht zu verstehen. Er weiß jetzt Bescheid über das Gift, das die Mädchen auf die Straße tragen. Er weiß, dass selbst die, die nett zu ihm sind, nur darauf aus sind, möglichst viel zu kriegen. Das macht Sinn, denn er erinnert sich, wie oft sie schon versucht haben, sich bei ihm einzuschmeicheln, damit er ihnen mehr gibt, und wie böse sie werden, wenn er sich daran hält, ihnen für ihre verkrumpelten Geldscheine nur das zu geben, was er ihnen dafür liefern soll. Er weiß, wie diese Schlampen geläutert werden müssen und dass er ein Teil dieser Läuterung sein wird.

Es wird nicht mehr lange dauern. Jeden Abend, wenn er das Licht ausschaltet, flüstert die Stimme ihm in der Stille etwas zu und schildert ihm, wie es sein wird. Zuerst machte es ihm große Angst. Er war nicht sicher, ertragen zu können, dass die Wände mit ihm zu reden schienen. Und er glaubte nicht, dass er das tun könnte, was sie von ihm verlangten. Aber wenn er jetzt in dieser Schattenwelt zwischen Wachen und Schlafen zuhört, glaubt er, es vielleicht doch zu können. Ein Schritt nach dem anderen, so kommt man ans Ziel. Das sagt die Stimme. Und wenn er sich einen Schritt nach dem anderen ansieht, ist es tatsächlich nicht schwer. Außer dem Ende.

Er hat so etwas noch nie getan. Aber er hat sich immer wieder die Videos angesehen. Er weiß, wie gut es ihm tut, dabei zuzugucken. Und die Stimme sagt ihm, es wird eine Million Mal so schön sein, es wirklich selbst zu tun. Und auch das macht Sinn, denn alles, was die Stimme ihm bisher sagte, hat gestimmt. Und jetzt ist die Zeit reif. Heute Nacht.

Er kann es kaum erwarten.

Carol Jordan warf ihre Aktentasche auf den Beifahrersitz und stieg in den silberfarbenen Mittelklassewagen, den sie gerade deshalb ausgewählt hatte, weil er so unauffällig war. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, konnte sich aber nicht überwinden, den Motor anzulassen. Mein Gott, was sollte das werden? Ihre Hände waren feucht, die Muskeln in der Brust vor Beklemmung angespannt. Wie sollte sie bloß in den Einsatzraum treten und ihre Leute motivieren, wenn ihr Mund so trocken war, dass ihr die Zunge an den Zähnen klebte?

Sie starrte hoch zu den kleinen Fenstern oben an den Wänden der Tiefgarage. Füße eilten dort auf dem Weg zur Arbeit vorbei. Glänzende Mokassins, abgetretene Schuhe, zierliche Slipper mit kleinen Absätzen und Pumps. Beine in Anzughosen, Jeans, blickdichten schwarzen Strumpfhosen und hauchdünnen Nylons. Spaziergänger im Herzen der Stadt, die den Morgen spielend bewältigten. Warum konnte sie das nicht auch?

»Nimm dich zusammen, Jordan«, murmelte sie leise, drehte den Schlüssel im Schloss und gab Gas. Schließlich würde sie keinen Raum voll von Fremden betreten. Ihre Gruppe war klein und handverlesen, von ihr und Brandon ausgesucht. Die meisten hatten schon früher mit ihr zusammengearbeitet, und sie wusste, dass sie sie schätzten. Zumindest hatten sie das damals getan. Sie hoffte, dass ihr Respekt noch stark genug war, dass sie der Versuchung, sie zu bemitleiden, widerstehen konnten.

Carol fuhr den Wagen vorsichtig aus der Garage auf die Straße hinaus. Alles war so vertraut und doch ganz anders. Als sie früher in Bradfield gewohnt und gearbeitet hatte, war ihr Zuhause die Dachwohnung eines umgebauten Lagerhauses gewesen, das einen ganzen Block einnahm, ein hoch über den Dächern gelegener Horst, in dem sie sich als Teil der von ihr überwachten Stadt, aber zugleich auch davon abgetrennt fühlen konnte. Als sie nach London gezogen war, hatte sie die Wohnung an ihren Bruder und dessen Freundin verkauft. Jetzt wohnte sie wieder in diesen vier Wänden, aber wie ein Kuckuck wider Willen in einem Nest, das Michael und Lucy sich eingerichtet hatten. Sie hatten fast alles an der Wohnung verändert, was Carol noch mehr das Gefühl gab, fehl am Platz zu sein. Früher hätte sie das mit einem Achselzucken abgetan, stark und sicher in der Gewissheit, einen Arbeitsplatz zu haben, an dem sie zu Hause war. Jetzt aber fürchtete sie, sich auf der Polizeiwache genauso als Außenseiterin zu fühlen wie draußen.

Sogar Bradfield selbst wirkte auf sie einesteils vertraut, aber doch auch sehr fremd. Als sie hier lebte und arbeitete, hatte sie sich bewusst bemüht, die Stadt kennenzulernen. Sie war in das städtische Museum gegangen und hatte versucht, die Einflüsse zu verstehen, die Bradfield im Lauf der Jahrhunderte geformt und aus einem kleinen Dorf von Schäfern und Webern zu einem vitalen Handelszentrum gemacht hatten, das im viktorianischen Empire mit Manchester um die Stellung der nördlichen Hauptstadt wetteiferte. Sie hatte vom Niedergang in der Nachkriegszeit und von der Wiederbelebung durch verschiedene Einwandererschübe am Ende des letzten Jahrhunderts erfahren. Sie hatte sich mit der Architektur der Stadt befasst und die Einflüsse des italienischen Baustils auf die älteren Gebäude nachzuvollziehen versucht. Und sie verfolgte das natürliche Wachstum der Stadt und machte sich klar, was in den sechziger Jahren von den scheußlichen Betonblocks der Bürogebäude verdrängt worden war. Sie hatte den Plan der ganzen Stadt im Kopf, an ihren freien Tagen machte sie Spaziergänge und fuhr in den verschiedenen Stadtteilen umher, bis sie sich bei jeder Tatortadresse sofort ein Bild von der Umgebung machen konnte, die sie dort vorfinden würde.

Aber an diesem Morgen schienen Carol ihre früheren Ortskenntnisse völlig nutzlos zu sein. In ihrer Abwesenheit waren jede Menge neuer Verkehrsführungen und Einbahnstraßen entstanden, die sie zwangen, sich viel intensiver auf den Weg zu konzentrieren, als sie erwartet hatte. Sie hätte die Polizeidirektion automatisch finden müssen. Aber sie brauchte doppelt so lange, wie sie gedacht hatte, und war sehr erleichtert, als sie endlich in den Parkplatz einbog. Carol fuhr langsam auf die mit Namen markierten Parkplätze zu und freute sich, dass dort zumindest eine von John Brandons Zusagen eingetroffen war. Einer der wenigen leeren Plätze war auf einem neuen Schild mit »DCI JORDAN« gekennzeichnet.

Als sie das Gebäude betrat, überkam sie kurz ein Gefühl alter Vertrautheit. Hier wenigstens schien sich nichts verändert zu haben. Im Korridor des Hintereingangs roch es immer noch leicht nach Zigarettenrauch und altem Fett von der Kantine im Stockwerk darunter. Welche kosmetischen Veränderungen man auch immer in den Räumen für den Publikumsverkehr vorgenommen haben mochte, man hatte jedenfalls keine Maler beauftragt, diesen Eingang einladender zu gestalten. Die Wände hatten immer noch die gleiche nüchterne graue Farbe, das Schwarze Brett war womöglich noch mit den gleichen gelben Rundschreiben bestückt, die sie vor Jahren schon hier gesehen hatte. Carol ging zum Schalter und grüßte den Kollegen hinter dem Tisch mit einem Kopfnicken. »DCI Jordan meldet sich zur Arbeit in der Sondereinsatzzentrale.«

Der Mann mittleren Alters strich sich mit der Hand über seinen grau melierten Bürstenschnitt und lächelte. »Willkommen an Bord«, sagte er. »Nehmen Sie den Aufzug in den dritten Stock am Ende des Korridors. Ihr Zimmer ist Nummer 316.«

»Danke.« Carol schaffte ein schwaches Lächeln, drehte sich zur Tür um und drückte sie beim Summen des Türöffners auf. Ohne sich dessen bewusst zu sein, straffte sie die Schultern, hob das Kinn, ging dann energisch den Korridor entlang und ignorierte die gelegentlichen neugierigen Blicke der uniformierten Beamten, an denen sie vorbeikam.

Im dritten Stock hatte man seit ihrer Zeit eine Renovierung vorgenommen. Die Wände waren bis auf Hüfthöhe hellblau und weiter oben in einem leicht getönten Weiß gestrichen. Die alten Holztüren hatte man durch Stahltüren mit dickem Glas, im mittleren Teil aus Milchglas, ersetzt, so dass wer immer zufällig den Gang entlangging, wenig von dem mitbekam, was in den Büros ablief. Ihr kam es eher wie eine Werbeagentur als wie eine Polizeiwache vor, als sie bei der Tür mit der Nummer 316 anlangte.

Carol holte tief Luft und stieß die Tür auf. Ein paar neugierige Gesichter blickten auf und sahen sie dann mit einem herzlichen Lächeln an. Don Merrick, der vor kurzem erst Inspector geworden war, stand zuerst auf. Er war bei ihrer ersten Ermittlung zu einem Serienmörder ihr Kontaktmann gewesen. Der Fall hatte den mit diesen Dingen Betrauten bewiesen, dass sie das Zeug hatte, es bis an die Spitze zu schaffen. Der gewissenhafte, zuverlässige Don, dachte sie dankbar, als er mit ausgestreckter Hand auf sie zukam.

»Prima, Sie wieder hier zu sehen, Ma’am«, sagte er und berührte mit der freien Hand ihren Ellbogen, als sie sich die Hand gaben. Obwohl er viel größer war als sie, war Carol angenehm überrascht, dass seine Körpergröße in keiner Weise beunruhigend auf sie wirkte. »Ich freue mich wirklich darauf, wieder mit Ihnen zu arbeiten.«

Sergeant Kevin Matthews stand direkt hinter Merrick. Kevin hatte sich nach einer bodenlosen Dummheit, die ihn fast seine Karriere gekostet hätte, wieder aufgerappelt. Obwohl Carol diejenige gewesen war, die seine Untreue aufgedeckt hatte, war sie froh zu sehen, dass er offenbar rehabilitiert war. Er war ein zu guter Kripobeamter gewesen, als dass seine Talente mit der hirnlosen Routinearbeit der uniformierten Bürokraten verschlissen werden durften. Sie hoffte, dass es ihm nicht allzu viel ausmachen würde, dass sie einst den gleichen Dienstgrad gehabt hatten. »Kevin«, begrüßte sie ihn. »Gut, Sie zu sehen.«

Seine blasse, mit Sommersprossen übersäte Haut wurde rot. »Willkommen in Bradfield«, sagte er.

Die anderen drängelten sich jetzt um ihn herum. »Gut, Sie zu sehen, Chefin«, sagte eine weibliche Stimme hinter ihr. Carol drehte sich halb um und sah, wie die schmächtige DC Paula McIntyre zu ihr herauflächelte. Paula hatte am Rande der Ermittlergruppe mitgearbeitet, die den Psychopathen dingfest gemacht hatte, von dem vier junge Männer in der Stadt abgeschlachtet worden waren. Sie war damals nur als Helferin vorübergehend zur Kripo versetzt worden, aber Carol hatte ihren genauen Blick für Einzelheiten und ihre Einfühlsamkeit im Umgang mit Zeugen erkannt. Seit damals hatte sie sich, wie Brandon sagte, einen Namen als eine der besten Verhörspezialistinnen der Kripo in dieser Stadt gemacht. Carol wusste genau, wie wichtig das bei Ermittlungen zu einem Mordfall sein konnte, wo alles unter Zeitdruck ablief. Wenn jemand die Leute dazu bringen konnte, sich an alles zu erinnern, was sie wussten, half das Zeit in einer Phase zu sparen, in der dies Leben retten konnte.

Paula schob einen dunkelhäutigen Mann nach vorn, der neben ihr stand. »Das ist DC Evans«, sagte sie. »Sam, DCI Jordan.«

Carol streckte ihm die Hand entgegen. Evans schien zu zögern und schaute ihr nicht in die Augen, als er ihr die Hand schüttelte. Carol sah ihn kurz prüfend an. Er war kaum größer als sie, musste also gerade eben die vorgeschriebene Körpergröße haben. Sein kraus gelocktes Haar war kurz geschnitten, und seine Züge glichen eher denen eines Weißen als dem Gesicht eines Afrikaners. Seine Haut war wie brauner Zucker, und ein struppiges Spitzbärtchen verlieh ihm ein reiferes Aussehen, das nicht zu seinem faltenlosen jungen Gesicht passte. Sie rief sich Brandons Beschreibung des jungen Kollegen ins Gedächtnis. »Ein ganz Stiller. Aber er hat keine Angst, sich zu Wort zu melden, wenn er etwas zu sagen hat. Er ist klug und hat die tolle Gabe, zahllose Informationen zu sammeln und daraus vernünftige Schlüsse ziehen zu können. Er will ganz hoch hinaus, obwohl er das gut verbirgt. Aber das heißt, er wird bei der Arbeit für Sie aufs Ganze gehen.« Es sah so aus, als würde sie sich auf Brandons Worte verlassen müssen.

Eine Person, DC Stacey Chen, stand mit einem schwachen Lächeln auf dem unbewegten Gesicht am Rand der Gruppe. Sie war die unbekannte Größe. Heutzutage brauchte man bei jeder wichtigeren Ermittlung einen Beamten, der sich mit den Datensystemen auskannte und die anfallende Informationsflut bewältigen konnte. Carol hatte Brandon gebeten, ihr jemanden dafür zu empfehlen, und innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte er Stacey genannt. »Sie hat einen Magister in Informatik, kennt die Systeme in- und auswendig und ist ein Arbeitstier. Sie ist eher eine Einzelgängerin, weiß aber trotzdem, wie wichtig die Arbeit im Team ist«, sagte er. »Und sie ist ehrgeizig.«

Carol wusste noch gut, wie man sich dabei fühlte. In Berlin war ihr Ehrgeiz zusammen mit ihrer Selbstachtung zwar auf der Strecke geblieben, aber sie erinnerte sich noch, wie brennend sie sich gewünscht hatte, einen Schritt weiter auf der Leiter nach oben zu tun. Carol ging an Evans vorbei und gab Stacey die Hand. »Hi. Sie müssen Stacey sein. Ich freue mich, Sie im Team zu haben.«

Staceys braune Augen hielten Carols Blick stand. »Ich bin dankbar für die Chance«, sagte sie mit starkem Londoner Akzent.

Carol ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Einer fehlt noch«, sagte sie.

»Ach ja«, sagte Merrick. »DS Chris Devine. Wir haben gestern eine Nachricht bekommen. Bei ihrer Mutter ist gerade Krebs im Endstadium festgestellt worden. Sie hat gebeten, bis auf weiteres bei der Metropolitan Police in London bleiben zu dürfen. Der Chef hat seine Zustimmung gegeben.«

Carol schüttelte leicht genervt den Kopf. »Prima. Wir sind schon unterbesetzt, bevor wir anfangen.« Sie sah sich um und betrachtete zum ersten Mal den Raum. Ein halbes Dutzend Schreibtische, jeder mit einem Computer ausgestattet. Tafeln und Schwarze Bretter an einer Wand, daneben ein Overheadprojektor. Eine Karte von Bradfield in großem Maßstab nahm fast den ganzen Platz neben der Tür ein. Die Stabjalousien vor der Fensterfront auf der gegenüberliegenden Seite gaben keinen Blick auf die Stadt frei, der nur abgelenkt hätte. Der Raum war von vernünftiger Größe, nicht zu beengt, aber auch nicht so groß, dass sie sich von der Außenwelt abgeschnitten fühlten. Sie fand ihn gut geeignet. »Don, wo ist mein Büro?«

Merrick wies auf das Ende des Raums, wo zwei Türen in die angrenzenden Büros führten. »Suchen Sie sich eins aus. Sie stehen beide leer.«

Und beide boten kaum eine Möglichkeit, sich zurückzuziehen, dachte sie. Sie wählte das mit den Fenstern nach draußen und wandte sich an Merrick, der ihr gefolgt war. »Rufen Sie jemanden an, der hier für das Gebäude zuständig ist. Ich möchte Rollos für das Innenfenster haben.«

Merrick grinste. »Sie wollen wohl nicht, dass wir mitkriegen, wenn Sie Patience spielen, was?«

»Eigentlich mag ich FreeCell lieber. Ich richte mich hier kurz ein. In einer halben Stunde haben wir eine Besprechung.«

»Alles klar.« Er verschwand und ließ sie allein. Für sie war es eine Erleichterung. Sie schaltete den Computer an. Schon Sekunden danach sah sie Evans mit Akten beladen näher kommen. Sie sprang auf, um die Tür zu öffnen.

»Was ist das denn?«, fragte sie.

»Ungelöste Fälle – die neuesten. Sie wurden gestern Nachmittag in der Pause angeliefert. Daran sollen wir arbeiten, während wir auf den nächsten großen Fall warten.«

Carol spürte, wie etwas in ihr in Gang kam. Endlich konnte sie sich auf etwas Konkretes konzentrieren. Etwas, das vielleicht die Dämonen vertreiben oder sie wenigstens eine Weile zur Ruhe bringen würde.

 

Aidan Hart betrachtete den ihm gegenübersitzenden Mann mit einem gewissen Argwohn. Er wusste, dass viele seiner Kollegen meinten, er, Hart, sei mit siebenunddreißig Jahren zu jung für die Position des medizinischen Leiters des Bradfield Moor Secure Hospital, aber er hatte so viel Vertrauen in sein eigenes Können, dass er ihre Bedenken damit abtun konnte, sie beruhten nur auf Enttäuschung und Neid. Er wusste, dass in beruflicher Hinsicht keiner von ihnen mit ihm konkurrieren konnte.

Aber mit dieser letzten Stellenbesetzung war es etwas anderes. Dr. Tony Hill war für seine ausgezeichneten Leistungen bekannt – aber auch für seine schwierige Art. Die einzigen Vorschriften, die er beachtete, waren solche, die ihm wichtig erschienen. Er war keiner, der gern im Team arbeitete, es sei denn, er hätte sich selbst das Team ausgesucht. Zu gleichen Teilen brachten ihm frühere Kollegen treue Ergebenheit oder Wut entgegen. Als Tony Hill sich für die halbe Stelle an seiner Klinik beworben hatte, war Aidan Harts erste Reaktion gewesen, dies abzulehnen. Am Bradfield Moor gab es nur Platz für einen Star – ihn selbst.