Das Mädchen, das den Weihnachtsmann umbrachte - Val McDermid - E-Book
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Das Mädchen, das den Weihnachtsmann umbrachte E-Book

Val McDermid

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Beschreibung

Ihre allererste Weihnachtsanthologie: winterlich, festlich, tödlich!  Val McDermid zeigt sich als Meisterin der kurzen Form. Von St. Petersburg über Sarajevo bis zu den schottischen Highlands – von vergangenen Jahrhunderten bis heute – jede Geschichte ist anders als die vorherige. Von einem verantwortungslosen Baron, dessen Leiche neben einer Sandbirke gefunden wird, zu einem Autor, der vom bösen Geist eines neidischen Co-Autors verfolgt wird: die Charaktere, die Val McDermid heraufbeschwört, sind rätselhaft und gefährlich. Und es sind alte Bekannte dabei: Tony Hill und Carol Jordan sind einem grausamen Mörder auf der Spur, und kein Geringerer als Sherlock Holmes soll am Weihnachtsabend den wahren König Schottlands finden. - Prachtvolle Sammlung von Thrillern und Ermittler-Krimis - aus 30 Jahren ihres Schaffens - 12 auserlesene Storys mit Ermittlern wie Tony Hill, Carol Jordan - und Sherlock Holmes - Das ideale Geschenk für alle Krimi-Begeisterten und Fans der schottischen Autorin Val McDermids aufrüttelnde, atmosphärische Kurz-Krimis erschüttern und begeistern zugleich. Dieses Büchlein ist perfekt, um es zu verschenken oder es sich damit gemütlich zu machen, während der eisige Winter hereinbricht und jede Nacht dunkler wird als die vorherige.

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Seitenzahl: 283

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Val McDermid

Das Mädchen,das denWeihnachtsmannumbrachte

Storys

Aus dem Englischen von Kirsten Reimers, Doris Styron und Franz Leipold

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Winterlich, festlich, tödlich!

Ein Mädchen ermordet den Weihnachtsmann. Ein Autor wird vom Geist eines neidischen Co-Autors verfolgt. Eine Witwe rächt den Tod ihres geliebten Mannes – und keine Geringeren als Tony Hill, Carol Jordan und Sherlock Holmes ermitteln. Die Queen of Crime zeigt sich als Meisterin der kurzen Form und erweckt rätselhafte und düstere Charaktere zum Leben und Töten. Diese zwölf atmosphärischen Kurzgeschichten erschüttern und begeistern zugleich.

Inhaltsübersicht

Zur Erinnerung an Marilyn [...]

Schöne Bescherung

Wen es trifft

Weihnachten nach alter Väter Sitte

Lange schwarze Schleier

Das Mädchen, das den Weihnachtsmann umbrachte

Weihnachten mit Holmes

Archaisch und modern

Der Schluck des Teufels

Ghostwriter

Weiße Nächte, schwarze Magie

Brennende Herzen

Vier zwitschernde Amseln

Zur Erinnerung an Marilyn Imrie (1947–2020),

deren Scharfsinn, Großzügigkeit, Kenntnisreichtum und Intelligenz aus mir (und unzähligen anderen) eine bessere Schriftstellerin gemacht haben.

Schöne Bescherung

 

 

 

 

 

1

Der Himmel war ein einziges Farbenmeer. »Oooh«, entfuhr es dem Mann; aus seinen blauen Augen schienen Funken zu sprühen.

»Aaah«, sagte die Frau. Obwohl sie nur diese eine Silbe ausstieß, war der ironische Unterton nicht zu überhören. Ihre wuscheligen blonden Haare erstrahlten in den Farben der Raketen und ließen sie wie eine Punklady aussehen – im krassen Gegensatz zum traditionellen Schnitt ihrer Jacke und ihrer Hose.

»Ich hatte schon immer eine Schwäche für Feuerwerk.«

»Könnte es sein, dass tief in deinem Inneren ein Pyromane steckt?«

Dr. Tony Hill, klinischer Psychologe und Profiler im Polizeidienst, machte ein reuevolles Gesicht. »Ertappt, Chefin.« Er registrierte ein Lächeln auf ihrem Gesicht. »Aber gib es schon zu. Du stehst doch auch auf die Bonfire Night.« Feuerwerkskörper überzogen den Himmel mit roten und grünen Streifen und hinterließen tanzende Farbpunkte, sobald er seine Augenlider schloss.

Detective Chief Inspector Carol Jordan ließ ein zorniges Schnauben hören. »Überhaupt nicht. Kinder werfen Knallfrösche in die Briefkästen fremder Leute, Betrunkene stecken sich brennende Feuerwerkskörper in den Hintern, Verrückte schmeißen mit Steinen, wenn die Feuerwehr ausrückt und sich um Freudenfeuer kümmert, die außer Kontrolle geraten sind – ich könnte mir keine schönere Nacht vorstellen.«

Tony schüttelte den Kopf; so einfach wollte er sich ihrem Sarkasmus nicht geschlagen geben. »Das ist lange her, dass du dich mit solchem Mist herumärgern musstest. Heutzutage sind es doch die Topverbrecher, die dir das Leben schwermachen.«

Wie auf Kommando schrillte Carols Handy. »Schrecklich«, seufzte sie, drehte sich zur Seite und steckte einen Finger ins andere Ohr. »Was gibt es, Sergeant Devine?«

Tony blendete den Anruf aus und widmete seine ganze Aufmerksamkeit wieder dem Feuerwerk. Plötzlich spürte er Carols Hand auf seinem Arm. »Ich muss los.«

»Soll ich mitkommen? Brauchst du mich?«

»Ich weiß nicht. Es wird schon nicht so schlimm werden.«

Das wäre das erste Mal. Tony folgte Carol zum Wagen, während hinter ihnen der Himmel zischte und brodelte.

 

Es roch nach verbranntem Fleisch – ein süßer, widerlicher, durchdringender Geruch, der sich in Carols Nasenlöchern festsetzte und noch tagelang nachwirken sollte. Angeekelt rümpfte sie die Nase und inspizierte die schreckliche Szene, die sich ihr bot.

Das Feuer war nicht besonders groß, aber es musste eine riesige Stichflamme entwickelt haben. Jemand hatte es am Rand eines brachliegenden Feldes entzündet, direkt neben einem Gatter, sodass es von der Straße aus nicht zu sehen war. Der leichte Abendwind hatte ausgereicht, um Funken in die angrenzende Hecke zu blasen, und die schnell auflodernden Flammen riefen die Feuerwehr auf den Plan. Nachdem der Brand gelöscht war, untersuchten die Feuerwehrleute die nassen, noch dampfenden Überreste. Schnell hatten sie die Quelle für den bestialischen Gestank ausgemacht, der sogar den Geruch des Benzins überdeckte, das als Brandbeschleuniger benutzt worden war.

Tony streifte am Rande des Feldes umher und inspizierte den Ort, der Schauplatz für ein weitaus schlimmeres Verbrechen als Brandstiftung war. Inzwischen befragte Carol den Einsatzleiter der Feuerwehr. »Das Ganze hat nicht lange gedauert«, meinte er. »Dem Geruch nach könnte er eine Mischung aus verschiedenen Brandbeschleunigern wie Petroleum und Aceton verwendet haben. Lauter Zeug, das normalerweise in jeder Garage herumsteht.«

Tony starrte auf die menschlichen Überreste; er runzelte die Stirn. Dann drehte er sich um und rief dem Einsatzleiter zu: »Lag der Körper zu Beginn des Feuers in der Mitte, so wie jetzt?«

»Sie meinen, ob das Holz um ihn herum aufgeschichtet worden ist?«

Tony nickte. »Genau.«

»Nein. Schauen Sie, wie das umliegende Holz in sich zusammengefallen ist. Daraus können Sie erkennen, dass er oben auf dem Holzstoß gelegen haben muss.«

»Wie ein Opfertier.« Das war keine Frage. Die Antwort des Einsatzleiters hatte nur bestätigt, was Tony die ganze Zeit schon vermutet hatte. Sein Blick traf Carol. »Jetzt brauchst du mich doch.«

 

Tony schmetterte den Ball über das Netz zurück und kam gerade noch an den Return heran, als die Türglocke schellte. Er warf seinen Wii-Controller aufs Sofa und ging zur Tür. »Wir haben die vorläufigen Ergebnisse der Autopsie«, sprudelte Carol heraus und stürmte ins Zimmer, ohne auf seine Aufforderung zu warten. »Ich dachte mir, du würdest gern einen Blick darauf werfen.« Sie reichte ihm die Akte.

»Im Kühlschrank steht eine offene Flasche Wein«, murmelte Tony, während er es sich im Sessel bequem machte, ohne den Blick von den Unterlagen zu wenden. Carol war in der Küche verschwunden und kehrte mit zwei Gläsern zurück. Sie stellte eines auf den Tisch neben Tonys Sessel, nahm ihm gegenüber auf dem Sofa Platz und beobachtete fasziniert das Spiel seiner Gesichtsmuskeln, während er den Bericht studierte.

Das Opfer war männlich, zwischen 25 und 40 Jahre alt und hatte noch gelebt, als es auf den Holzstoß gelegt wurde. Die eigentliche Todesursache war Rauchvergiftung, aber der Mann musste fürchterliche Schmerzen erlitten haben, ehe ihn der Tod erlöste. Seine Hände und Füße waren mit Draht gefesselt, und seinen Mund hatte man mit Klebeband verschlossen. Tony dachte kurz darüber nach, welche Befriedigung der Täter aus den Torturen seines Opfers gezogen hatte. Doch nur für einen Moment. »Kein Ausweis?«, fragte er.

»Wir glauben, dass es sich um Jonathan Meadows handelt. Seine Freundin hatte ihn am Tag zuvor als vermisst gemeldet. Wir warten nur noch auf die Bestätigung durch die zahntechnische Untersuchung.«

»Und was wissen wir über Jonathan Meadows?«

»Er ist 26 Jahre alt, Automechaniker, wohnt mit seiner Freundin in einem Apartment in Moorside –«

»Moorside? Das ist ziemlich weit weg von der Stelle, wo man seine Überreste gefunden hat.«

Carol nickte. »Einmal quer durch die ganze Stadt. Er hat pünktlich seine Arbeit beendet und wollte laut Aussagen seiner Freundin und seiner Arbeitskollegen ins Fitnessstudio, das er drei- oder viermal wöchentlich besuchte. An diesem Abend ist er dort aber nicht aufgetaucht.«

»Also ist er irgendwann zwischen sechs und acht Uhr jemandem begegnet, der ihn überwältigt, gefesselt und geknebelt, auf einen Holzstoß gelegt und verbrannt hat?«

»So muss es sich in etwa abgespielt haben. Fällt dir irgendetwas auf?«

»Es ist keine leichte Sache, so etwas durchzuziehen.« Tony blätterte nochmals in den Unterlagen. Seine Gedanken loteten in Windeseile verschiedene Möglichkeiten aus. Welche Botschaft steckte hinter diesem Verbrechen? Was konnten ihm die Knochenreste erzählen? »Er ist ein Opfer mit einem äußerst niedrigen Risikoprofil«, meinte er schließlich. »Wenn ein junger Mann wie er gewaltsam stirbt, dann für gewöhnlich nicht auf diese Art. Eine Schlägerei im Pub, ein Streit um eine Frau, meinetwegen auch eine Auseinandersetzung unter Drogenhändlern oder Zuhältern – aber doch nicht eine vorsätzlich geplante Tat! Vielleicht ist er nur zufällig als Opfer ausgewählt worden? Aber dann wäre es viel wahrscheinlicher, dass sich der Mörder einen Obdachlosen oder einen Betrunkenen auf dem Heimweg ausgesucht hätte, jemanden, der wehrlos ist. Nicht jemanden mit einem Job, einer Partnerin, einem ausgefüllten Leben.«

»Du glaubst also an ein persönliches Motiv?«

»Schwer zu sagen, ehe wir nicht mehr über Jonathan Meadows wissen.« Er deutete auf den Untersuchungsbericht. »Jedenfalls hat die Spurensicherung am Tatort nicht viel ergeben.«

»Die Einfahrt zu diesem Feld ist leider asphaltiert, sodass wir keine brauchbaren Reifenspuren gefunden haben. Es gibt ein paar Fußabdrücke, aber sie sind sehr undeutlich. Laut unserer Spurensicherung hat der Mörder Schuhe mit einer Art Überzug getragen, ähnlich denen, die wir am Tatort benutzen.« Carol verzog das Gesicht, was die Ironie noch betonte. »Keine Zigarettenstummel, Coladosen oder gebrauchten Kondome.«

Tony legte die Akte aus der Hand und trank einen Schluck Wein. »Ich glaube nicht, dass es sich um einen Anfänger handelt. Dafür war die Tat zu gut geplant und ausgeführt. Er hat es schon zuvor getan. Mindestens einmal.«

Carol schüttelte den Kopf. »Ich habe die Datenbank gecheckt: In den letzten fünf Jahren hat es in ganz Großbritannien keinen ähnlichen Fall gegeben.«

Genau deshalb braucht sie mich, dachte Tony. Ihre Gedankengänge waren geradlinig, eine durchaus nützliche Eigenschaft für eine Polizistin, denn genauso – auch wenn sie es sich nicht gern eingestehen – denken die meisten Kriminellen. Dagegen hatten viele Jahre an Training und Erfahrung die Windungen seines Gehirns so glatt geschliffen, bis sein Verstand nichts außer verborgenen Absichten erkennen konnte, die wie die Bilder in einem unendlichen Spiegel mal in die eine, mal in die andere Richtung wiesen.

»Weil du nach einem Brand gesucht hast«, antwortete Tony.

Carol sah ihn an, als ob er völlig von der Rolle sei. »Nun ja«, sagte sie, »immerhin wurde das Opfer verbrannt.«

Tony sprang aus seinem Sessel und begann, auf und ab zu laufen. »Vergiss das Feuer. Das ist nicht relevant. Du musst nach Opfern mit geringem Risikoprofil suchen, die mit Draht gefesselt und mit Klebeband geknebelt wurden. Um das Feuer geht es gar nicht. Das ist nur Dekoration, Carol.«

 

Carol trommelte mit ihrem Kugelschreiber auf den Aktenstapel, der sich auf ihrem Schreibtisch türmte. Manchmal war es schwer, bei Tony nicht an übernatürliche Kräfte zu glauben. Er sagte, es müsse mindestens ein weiteres Opfer geben, und es sah ganz so aus, als würde er recht behalten. Nachdem Carols Computerspezialistin einige Tage lang die Datenbanken anhand neuer Parameter durchsucht hatte, stieß sie schließlich auf einen zweiten Fall, der dasselbe Schema aufwies.

Die Leiche von Tina Chapman, einer 37 Jahre alten Lehrerin aus Leeds, wurde einige Tage vor dem Mord an Jonathan Meadows aus dem Leeds-Liverpool-Kanal gezogen. Bei einer routinemäßigen Reinigung des Kanalbetts hatte sich der Bagger verhakt, und als man genauer nachforschte, stieß man auf den grausigen Fund. Ihre Hände und Füße waren mit Draht gefesselt, und ihren Mund hatte man mit Klebeband verschlossen. Dann wurde sie auf einem Holzstuhl festgebunden, der mit einem Zementblock beschwert war, und in den Kanal geworfen. Sie lebte noch, als sie ins Wasser eintauchte. Todesursache: Ertrinken.

Die alleinerziehende Mutter war von ihrem 13-jährigen Sohn als vermisst gemeldet worden. Ihre Kollegen bestätigten, dass sie zur gewohnten Zeit die Schule verlassen hatte. Ihr Sohn erinnerte sich, dass sie auf dem Heimweg noch im Supermarkt einkaufen wollte, aber weder ihre Kredit- noch ihre Kundenkarte waren benutzt worden.

Carol hatte mit dem Leiter des Ermittlungsteams gesprochen. Er musste zugeben, dass sie nur mühsam vorankamen. »Wir haben lediglich einige Tage später ihr Auto gefunden. Es stand auf dem Parkplatz eines Hotels, ungefähr eine halbe Meile vom Supermarkt entfernt, in dem sie laut Aussage ihres Sohnes einkaufen wollte. Der Wagen war am äußersten Ende abgestellt, in einer dunklen Ecke, die leider nicht mehr im Bereich der Überwachungskameras liegt. Ich habe keinen blassen Schimmer, was sie da wollte. Und bis jetzt gibt es auch keine brauchbaren Ergebnisse von der Spurensicherung.«

»Irgendeinen Verdacht?«

Sein müdes Seufzen erinnerte Carol an eigene Fälle, mit denen sie sich im Laufe der Jahre abgemüht hatte. »Um ehrlich zu sein, es sieht nicht gut aus. Sie hatte einen Freund, aber sie haben sich vor etwa sechs Monaten getrennt, anscheinend in gutem Einvernehmen. Einen anderen oder eine andere gab es nicht, ihre Beziehung hatte sich wohl einfach überlebt. Der Freund nimmt den Jungen nach wir vor zum Rugby mit. Nicht der Hauch eines Motivs.«

»Und das ist alles?« Carol war fast schon so frustriert wie ihr Kollege. »Was ist mit dem Vater des Jungen?«

»Nun ja, er ist nicht gerade das, was man einen verantwortungsvollen Vater nennen würde. Er hat sich aus dem Staub gemacht, als der Junge ein paar Monate alt war.«

Carol war noch nicht bereit, den Strohhalm loszulassen, an den sie sich klammerte. »Vielleicht hatte er plötzlich Lust, seinen Sohn zu sehen?«

»Wohl kaum. Er starb bei der Tsunami-Katastrophe am 26. Dezember 2004. Damit sind wir wieder am Nullpunkt angelangt, und ich habe nicht die geringste Idee, wo wir ansetzen könnten.«

Carol wollte noch nicht so einfach aufgeben. »Was ist mit ihren Kollegen? Gab es irgendwelche Probleme an der Schule?«

Fast konnte sie sein Schulterzucken hören. »Wenn ja, dann ist keiner damit rausgerückt. Niemand hat etwas Schlechtes über Tina gesagt, und ich glaube nicht, dass sie über Tote generell nur Gutes sagen. Sie hat über vier Jahre an dieser Schule gearbeitet, und in der ganzen Zeit gab es anscheinend keinen Zoff mit Kollegen, anderen Angestellten oder Eltern. Ich bin nicht Ihrer Ansicht, dass dieser Fall irgendetwas mit Ihrer Leiche zu tun haben könnte, aber eines verspreche ich Ihnen: Sollten Sie mir irgendeinen Hinweis liefern, der einen Zusammenhang wahrscheinlich macht, spendiere ich Ihnen einen extragroßen Drink.«

 

Zusammenhänge finden, Dinge verstehen – genau dafür wurde Tony von der Bradfield Police bezahlt. Manchmal war es einfach, doch dieser Fall zählte nicht dazu. Carol hatte die Akten über Jonathan Meadows und Tina Chapman im Bradfield Moor Secure Hospital abgegeben. In dieser abgelegenen Klinik verbrachte Tony Hill seine Zeit mit kriminellen Geisteskranken, einer Kundschaft, deren persönliche Veranlagungen ihm manchmal gar nicht so verschieden von denen der »normalen« Bevölkerung erschienen.

Zwei Opfer, keine Gemeinsamkeiten. Es gab keinen Hinweis, dass sich ihre Wege jemals gekreuzt hätten. Sie lebten 30 Meilen voneinander entfernt. Carols Team hatte schnell herausgefunden, dass Tina Chapman mit ihrem Wagen niemals die Werkstatt aufgesucht hatte, in der Jonathan Meadows arbeitete. Meadows wiederum hatte niemals eine der Schulen besucht, in denen Tina Chapman Lehrerin war. Sie besaßen auch keinerlei gemeinsame Interessen. Jeder andere an Tonys Stelle hätte wahrscheinlich längst aufgegeben, eine Verbindung zwischen den beiden Morden zu suchen. Auch Carol war mittlerweile skeptisch: Sie glaubte ebenso wenig wie ihr Kollege in Leeds daran, dass die Fälle zusammenhängen könnten. Tonys Instinkt sagte etwas anderes.

Beim Lesen machte er sich Notizen. Wasser, Feuer, vier Elemente? Das wäre eine Möglichkeit, doch das brachte ihn nicht weiter. Wenn sich der Killer für seine Morde Methoden ausgesucht hatte, die Feuer, Wasser, Erde und Luft widerspiegeln sollten, was könnte das bedeuten? Und warum hatte er sie gerade bei diesen beiden Opfern angewendet? Tina Chapman war Lehrerin für Französisch. Was hatte das mit Wasser zu tun? Und welcher Bezug bestand zwischen einem Automechaniker und Feuer? Nein, solange er keine überzeugenderen Argumente finden konnte, führte die Vier-Elemente-Hypothese nicht weiter.

Er las noch einmal die Akten und breitete die Blätter auf dem Wohnzimmerboden aus, um alle Informationen gleichzeitig im Blick zu haben. Und dieses Mal zog etwas viel Interessanteres seine Aufmerksamkeit auf sich.

 

Carol starrte auf die zwei Blätter und fragte sich, was es da zu sehen gab. »Worauf soll ich achten?«

»Die Daten«, antwortete Tony. »31. Oktober, 15. November.«

Langsam dämmerte es. »Halloween, Bonfire Night.«

»Genau.« Wie immer, wenn er einer neuen Idee hinterherjagte, lief Tony im Zimmer umher, blieb ab und zu am Esstisch stehen und kritzelte irgendwelche merkwürdigen Notizen aufs Papier. »Was ist das Besondere an diesen beiden Tagen, Carol?«

»Die Leute feiern auf besondere Art. Es ist Tradition.«

Tony grinste und schwang seine Arme in die Luft. »Tradition. Genau das ist es. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Carol. Es sind traditionelle britische Feiertage.«

»Halloween stammt aber aus Amerika«, hielt ihm Carol entgegen. »Süßes oder Saures, das ist nicht britisch.«

»Aber ursprünglich war es das. Es leitet sich vom keltischen Samhain-Fest ab, dem Fest des Winteranfangs. ›Trick or treat‹ ist eine Variante der schottischen Tradition, sich zu verkleiden. Glaub mir, Carol, es wurde erst zu einem amerikanischen Fest, nachdem es die Iren mit über den Atlantik genommen hatten, aber seine Wurzeln lagen hier bei uns.«

Carol stöhnte. »Manchmal glaube ich, das Internet ist ein schlimmer Fluch.«

»Nicht für Leute mit einem wachen Geist. Wir haben also zwei traditionelle britische Feste. Ich frage mich, ob darin die Wurzel allen Übels liegt. Tina starb wie eine Hexe auf dem Tauchstuhl, Jonathan wie ein Opfertier auf dem Scheiterhaufen. Die Art und Weise, wie sie ermordet wurden, passt zum jeweiligen Datum.« Er drehte sich auf den Fersen herum und ging zu Carol zurück.

»Deshalb frage ich mich, ob unser Killer jemand ist, der einen Hass auf Großbritannien und unsere Traditionen hegt. Jemand, der sich von diesem Land beleidigt fühlt? Oder jemand, der unter rassistischer Verfolgung zu leiden hat? Immerhin sind die Opfer Weiße, Carol. Und der Killer hat das Diwali-Fest nicht weiter beachtet. Okay, das Eid al-Fitr, das Fest des Fastenbrechens, steht noch aus, aber ich wette, dass er an diesem Tag kein Opfer sucht. Carol, ich glaube, ich bin auf einer heißen Spur.«

Carol zog die Stirn in Falten. »Offen gesagt, diese Theorie klingt noch viel verrückter als all deine bisherigen. Selbst wenn du recht hättest, erklärt das noch nicht, warum er gerade diese beiden Personen ausgewählt hat.«

Tony blieb stehen und starrte auf seine Notizen. »Ich weiß es nicht, noch nicht.« Sein Blick suchte den ihren. »Aber etwas ist ganz sicher.«

Er konnte die Angst in ihren Augen sehen. »Was?«

»Wenn wir den Killer nicht bald finden, wird das nächste Opfer ein toter Weihnachtsmann sein, der in einen Kamin gesteckt wurde.«

Später sollte sie sich an Tonys Worte erinnern. Sie klangen in ihrem Kopf nach, als sie es am wenigsten erwartete. Carol saß gerade in der Kantine, ihre Aufmerksamkeit halb auf die Lasagne vor sich und halb auf den Bildschirm an der Wand gerichtet, als sie von einer Nachricht erschüttert wurde, die sie stärker frösteln ließ als der Novemberschnee: WEIHNACHTSMANN AUF OFFENER STRASSE ENTFÜHRT.

2

Tonys Studienzeit lag zwar schon lange zurück, aber seinen Forscherdrang hatte er bis heute nicht verloren. Seine Ermittlungen gingen jedoch in eine andere Richtung als die von Carol und ihrem Team, denn er war überzeugt, dass der Schlüssel zur Aufklärung der Morde in den Verbindungslinien läge. Eine gründliche polizeiliche Ermittlung würde zwar viele Tatsachen ans Licht bringen, aber es blieb immer etwas zurück, das in irgendwelchen schwarzen Löchern verschwand. Die Leute waren abergläubisch, wenn es um das Ausplaudern von Geheimnissen ging. Sogar diejenigen, die ihre Informationen bereitwillig weitergaben, hielten stets etwas zurück. Teilweise weil sie nicht anders konnten, aber auch weil sie das vermeintliche Gefühl der Stärke auskosten wollten. Tony war ein Mann von außergewöhnlichem Einfühlungsvermögen; das war sein wertvollstes Instrument, aber zugleich seine größte Schwäche. Außerdem besaß er ein unglaubliches Talent, Leute zu überzeugen, dass sie nicht mehr ruhig schlafen könnten, ehe sie ihm nicht alle ihre Informationen weitergegeben hätten.

Und deshalb richtete er seine ganze Aufmerksamkeit darauf, die wunden Punkte im Leben von Tina Chapman und Jonathan Meadows zu finden. Als Erstes fiel ihm auf, dass Tina Chapman gerade mal vier Jahre an der Schule war. In seiner Welt warf die Geschichte einen langen Schatten, und die Wurzeln eines Verbrechens führten häufig weit in die Vergangenheit zurück. Tony fragte sich, was Tina Chapman gemacht hatte, bevor sie nach Leeds kam, um Französisch zu unterrichten.

Er wusste, dass er seine Neugier durch einen Anruf bei Carol womöglich schnell stillen konnte, aber er hatte ihre spöttischen Bemerkungen über das Internet noch nicht vergessen; so entschloss er sich, es zunächst ohne ihre Hilfe zu versuchen. Die Google-Recherche nach Tina Chapman brachte lediglich einen Eintrag bei Facebook, in dem Tina als »jedermanns Lieblingssprachlehrerin« beschrieben wurde, außerdem die Besprechung einer Oberstufen-Aufführung von »Der eingebildete Kranke«, bei der sie Regie geführt hatte, und jede Menge neuer Beiträge über den Mord. Einer von ihnen enthielt einen interessanten Hinweis. Tinas Sohn hieß nicht Ben Chapman, sondern Ben Wallace. »Sehr schön«, sagte Tony laut. Wenn Wallace der Nachname von Bens Vater war, bestand zumindest eine kleine Chance, dass ihn auch seine Mutter eine Zeit lang angenommen hatte.

Er gab »Tina Wallace« in die Suchmaschine ein, worauf mehrere Akademiker und ein Immobilienmakler aus Wyoming ausgespuckt wurden. Danach versuchte er noch »Martina Chapman«, »Christina Chapman«, »Martina Wallace« und schließlich »Christina Wallace«. Er starrte auf den Bildschirm und konnte nicht glauben, was er da sah. Es gab keinen Zweifel. Wenn es jemals ein Motiv für Mord gegeben hat, dann dieses.

 

Detective Inspector Mike Cassidy kannte Carol Jordan nur vom Hörensagen. Dass sich ihr Team um die wichtigsten Fälle kümmerte, wurde von den übrigen Kollegen in Bradfield gleichzeitig mit Neid und mit Bewunderung gesehen, je nachdem, ob sie sich Hoffnungen machten, selbst einmal dazuzugehören, oder ob sie wussten, dass sie dafür niemals gut genug sein würden. Cassidy gehörte keinem der beiden Lager an. Mit 42 Jahren war ihm klar, dass er zu alt war, um neben der Topermittlerin des Polizeichefs noch eine Nische zu finden. Trotzdem missgönnte er ihr nicht den Erfolg wie so viele andere. Cassidy verbarg nicht seine Überraschung, als Carol mit selbstbewusster Miene in sein Arbeitszimmer stürmte. Er stand auf und kam hinter seinem Schreibtisch hervor, um nicht in eine nachteilige Position zu geraten. »DCI Jordan«, begrüßte er sie mit einem förmlichen Nicken. Er wartete, dass sie aus der Reserve kam.

Carol nickte ebenfalls. »DI Cassidy. Wie ich höre, kümmern Sie sich um die Entführung in der Market Street?«

Cassidys Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Der Fall des gestohlenen Weihnachtsmannes? Nennt man ihn nicht so in der Kantine?«

»Es ist mir egal, wie man den Fall in der Kantine nennt. Ich jedenfalls finde es nicht komisch, wenn ein Mann am helllichten Tag mitten in Bradfield gekidnappt wird.«

Cassidy trug den Verweis mit Fassung. »Ich sehe das genauso wie Sie, Ma’am. Für Tommy Garrity oder seine Familie ist es bestimmt kein Spaß. Und außerdem schauen wir bei dieser Geschichte ziemlich dumm aus der Wäsche.«

»Wie weit sind Sie schon?«

»Tommy Garrity war als Weihnachtsmann verkleidet und sammelte Geld für die Organisation ›Christmas for Children‹. Plötzlich fuhren zwei Männer, die Sturmhauben und blaue Overalls trugen, mit einem weißen Transit in die Fußgängerzone. Sie stoppten vor Tommy, zerrten ihn in den Wagen und rasten davon. Wir haben den Van mithilfe von Überwachungskameras verfolgt; es stellte sich heraus, dass er heute Morgen auf einer Baustelle gestohlen wurde.« Cassidy ging zu seinem Schreibtisch zurück und zog eine Karte aus einem Stapel Papiere, der neben seiner Tastatur lag. Er reichte sie Carol. »Die rote Linie markiert die Route, auf der die Täter aus der Innenstadt geflüchtet sind. Wir haben sie in Höhe Temple Fields verloren. Sobald man den Campion Way hinter sich lässt, genügt die Reichweite nicht mehr.«

Carol seufzte. »Typisch. Was ist mit den Kennzeichen-Überwachungskameras?«

»Nichts. Immerhin wissen wir, dass sie die City nicht auf einer der großen Ausfallstraßen verlassen haben.«

»Und Tommy Garrity? Irgendetwas Brauchbares?«

Cassidy schüttelte den Kopf. »In den Akten gibt es nichts über ihn. Er arbeitet im Irish Club in Harriestown hinter der Bar und engagiert sich in seiner Freizeit für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen. Er ist 55 Jahre alt, hat drei Kinder und zwei Enkelkinder. Seine Frau arbeitet in der Schulkantine. Ich habe mein Team von Tür zu Tür geschickt, aber bis jetzt ist Garrity ein unbeschriebenes Blatt.«

Carol zog die Linie auf der Karte nach. »Genau das macht mir Sorgen.«

Cassidy konnte seine Neugier nicht länger zurückhalten. »Entschuldigen Sie bitte, Ma’am, wieso interessiert Sie dieser Fall? Ich möchte ja die Bedeutung einer Entführung am helllichten Tag nicht herunterspielen, aber das fällt doch nicht in Ihren Bereich?«

Carol ließ die Karte auf Cassidys Schreibtisch fallen. »Das Gleiche hat mir jemand schon vor einigen Wochen gesagt. Würden Sie mich bitte auf dem Laufenden halten?«

Cassidy blickte ihr nach, als sie sein Büro verließ. Sie war nicht leicht zu durchschauen, und normalerweise berührte ihn das nicht weiter. Doch Carol Jordans Interesse an diesem Fall hatte ihn verwirrt. Was zum Teufel sollte er davon halten?

 

Im Allgemeinen kümmerte sich Tony nicht um die neuesten Nachrichten. Seine Arbeit verschaffte ihm genügend Abwechslung, sodass er nicht noch weiteren Beispielen menschlicher Schwäche hinterherjagen musste. Da er jedoch die Vermutung aufgebracht hatte, der Weihnachtsmann könnte ein weiteres Opfer des Serienkillers sein, war er momentan für die Schlagzeilen empfänglicher, die in großen Lettern von den Titelseiten prangten: »WEIHNACHTSMANN IM STADTZENTRUM GEKIDNAPPT«.

Der Zeitungsbericht enthielt nur wenige Fakten, dafür jede Menge gewagter Kommentare, ob man über die Sache eher belustigt oder empört sein sollte. Tony war bereits auf dem Weg zu Carols Büro und beschleunigte seine Schritte.

Er fand sie hinter ihrem Schreibtisch, damit beschäftigt, die Zeugenaussagen über die Entführung zu lesen. Sie schaute hoch und zwang sich zu einem müden Lächeln. »Sieht aus, als hättest du recht gehabt.«

»Nein. Ich meine, ich denke schon, aber er ist es nicht.« Tony warf verzweifelt die Hände in die Luft, weil er sich nicht klar ausdrücken konnte. »Es handelt sich nicht um das nächste Opfer in dieser Serie«, presste er schließlich hervor.

»Was sagst du? Warum nicht? Schließlich warst du es doch, der mir gesagt hat, ich soll nach einem Weihnachtsmann Ausschau halten, und zwar nicht, um meinen Strumpf aufzuhängen.«

»Es waren zwei. Ich sagte nichts darüber, dass es zwei Täter sind.«

»Das ist mir klar. Aber die ersten beiden Morde ließen sich leichter erklären, wenn wir von zwei Tätern ausgehen könnten. Und wir wissen beide, dass rassistische Fanatiker eher in Gruppen agieren. Nach dem, was du gesagt hast, habe ich mein Team auf alle Geheimdienstberichte angesetzt, und wir haben nicht viel über allein agierende Aktivisten herausgefunden.« Sie zuckte mit der Schulter. »Es passt vielleicht nicht ins Profil, aber wir sollten von zwei Tätern ausgehen.«

Tony ließ sich in den Sessel fallen. »Genau deshalb habe ich meine wichtigste Grundregel missachtet. Zuallererst sollte man das Opfer betrachten. Nur darum geht es, aber ich habe mich von den außergewöhnlichen Umständen der Verbrechen ablenken lassen. Doch dann habe ich mich auf die Opfer konzentriert, und ich weiß jetzt, warum sie ermordet wurden.« Er zog ein paar Ausdrucke aus seiner Tragetasche. »Tina Chapman war früher unter ihrem Ehenamen Christina Wallace bekannt.« Er reichte Carol das oberste Blatt. »Sie lehrte Französisch an einer Schule in Devon. Sie nahm eine Gruppe Kinder auf einen Schulausflug mit, zwei davon ertranken bei einem Bootsunfall. Die gerichtliche Untersuchung entlastete sie, doch die verzweifelten Eltern gaben ihr in einem Interview die Schuld an dem Unglück. Und es sieht so aus, als hätten sie dafür auch gute Gründe gehabt. Deshalb verließ Christina Wallace Devon, nahm wieder ihren Mädchennamen an und begann noch einmal von vorn.«

»Glaubst du, jemand von den Eltern könnte das getan haben?«

»Nein. Aber als ich das über Tina herausgefunden hatte, wusste ich, wonach ich bei Jonathan suchen musste.« Er reichte Carol das zweite Blatt hinüber. »Vor sieben Jahren wurde ein fünfjähriges Mädchen von einem Auto überfahren und getötet. Der Fahrer flüchtete. Bei dem Wagen handelte es sich um einen Porsche, der angeblich aus einer Werkstatt gestohlen war, in die man ihn zur Inspektion gebracht hatte. Es war die gleiche Werkstatt, in der Jonathan Meadows arbeitete. Ich habe mit den zuständigen Verkehrspolizisten gesprochen. Sie sagten mir, es habe einen begründeten Verdacht gegeben, dass der Porsche gar nicht gestohlen worden war, sondern dass Jonathan ihn sich für eine Spritztour ausgeliehen und dabei die Kontrolle verloren habe. Man hat seine DNA überall im Wagen gefunden, aber er behauptete einfach, er hätte bereits an dem Porsche gearbeitet. Seine Freundin gab ihm ein Alibi, und die Ermittlungen verliefen im Sand.

Carol starrte auf die beiden Ausdrucke. »Möchtest du damit sagen, dass es sich in diesen beiden Fällen um Selbstjustiz handelt?«

Tony senkte den Kopf. »Eine Art Selbstjustiz. Beide Opfer hatten mit dem Tod eines Kindes zu tun, aber sie kamen ungestraft davon, entweder wegen einer Lücke im Gesetz oder aus Mangel an Beweisen. Der Killer hat das Gefühl, sie hätten den Eltern ihre Kinder gestohlen. Wir müssen deshalb nach jemandem suchen, der ebenfalls ein Kind verloren hat und der glaubt, dass dafür niemand zur Verantwortung gezogen wurde. Wahrscheinlich im letzten Jahr. Er hat sich diese Opfer ausgewählt, weil er überzeugt ist, dass sie bestraft werden müssten; und er sucht sich diese Todesarten für sie aus, weil sie diese besonderen Tage im Jahr symbolisieren, an denen Eltern mit ihren Kindern feiern.«

 

In der nächsten Stunde waren Tony und Carol damit beschäftigt, eine Liste mit sieben Kindern durchzuarbeiten, die eventuell durch fremde Schuld ums Leben gekommen waren. »Wie können wir den Kreis einengen?«, fragte Carol, und in ihrer Stimme schwang Frustration mit. »Es ist unmöglich, alle Eltern einschließlich der engsten Familienangehörigen zu überwachen.«

»Es gibt keinen naheliegenden Weg«, sagte Tony vorsichtig.

»Weihnachtsmann Garrity könnte immer noch ein mögliches Opfer sein«, sagte Carol. »Wir wissen nur wenig über ihn, und deine Theorie sagt nichts darüber aus, ob nicht doch zwei Täter zusammenarbeiten.«

Tony schüttelte den Kopf. »Emotional passt das nicht. Es geht hier um Bestrafung und Schmerz, nicht um Gerechtigkeit. Das ist ein sehr persönliches Motiv und spricht gegen eine Teamarbeit.« Er fuhr sich mit der Hand durch seine Haare. »Könnten wir nicht wenigstens die Eltern befragen? Ein bisschen auf den Busch klopfen?«

»Das ist Zeitverschwendung. Nicht einmal du kannst unter ihnen einen Killer erkennen, indem du kurz mit ihnen plauderst.« Für einige Minuten herrschte betretenes Schweigen, dann meinte Carol: »Opfer. Du hast recht. Alles dreht sich um die Opfer. Wie wählt er sie aus? Du hast ziemlich tief schürfen müssen, um ein paar Ergebnisse ans Licht zu befördern. Wir haben über Jonathan nichts in den Akten gefunden, und Tina hatte ihren Namen gewechselt. Deshalb hat mein Team nichts über das Motiv herausfinden können.«

Tony nickte. »Okay, woher könnte er diese Informationen bekommen haben? Jedenfalls nicht von der Polizei, und auch nicht von der Staatsanwaltschaft; beide sind gar nicht erst so weit gekommen.«

Carols Augen begannen zu glänzen. »Ein Journalist könnte es wissen. Die Presse hat Zugang zu allen möglichen Informationen. Er könnte Tina Chapman anhand der damals erschienenen Pressefotos erkannt haben. Wenn er Kontakt zur örtlichen Polizei hat, könnte er aufgeschnappt haben, dass man Jonathan Meadows verdächtigt, der flüchtige Fahrer zu sein.«

Tony überflog die Liste. »Ist ein Journalist darunter?«

 

DI Cassidy betrat das Büro der Organisation »Children for Christmas« fast im Laufschritt, sein Team auf seinen Fersen. Eine kleine, schlanke Frau stand auf und deutete auf ihren Computerbildschirm. »Hier, das kam gerade herein.«

Die E-Mail war kurz und bündig: »Wir haben den Weihnachtsmann. Ihr habt das Geld. Wir wollen 20000 Pfund in bar. In einer Stunde gibt es die nächsten Anweisungen. Keine Polizei!«

»Ich hielt es für besser, den Zusatz ›keine Polizei‹ zu ignorieren«, meinte die Frau. »Ich hätte es nicht getan, wenn wir das Lösegeld bezahlen würden.«

Cassidy bewunderte ihre Offenheit, aber er musste sichergehen, dass sie alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen hatte. »Befürchten Sie nicht, dass die Entführer Mr. Garrity töten werden? Oder dass sie ihn zumindest ernsthaft verletzen?«

Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Sie werden dem Weihnachtsmann nichts antun. Was glauben Sie, wie das im Gefängnis ankommen würde? Gerade Ihnen sollte doch bekannt sein, wie sentimental Kriminelle sind.«

 

Carols Überzeugung, dass David Sanders der Serienmörder war, brachte sie keinen Schritt näher an eine Festnahme heran. Es gab keinen einzigen handfesten Beweis gegen Sanders, der als Feuilletonist für die Bradfield Evening Sentinel Times arbeitete. Und obwohl die Kriminaltechnik des 21. Jahrhunderts bereits wahre Wunder vollbracht hat, kamen sie hier nicht weiter. Wasser und Feuer waren gefürchtet, weil sie oft wertvolle Spuren beseitigten. Carol hatte gehofft, dass genauere Untersuchungen eine Übereinstimmung zwischen den Schnittkanten von Klebeband und Draht, die bei den Morden verwendet wurden, erbringen könnten. Doch das Feuer hatte zu sehr gewütet. Es gab keine Möglichkeit, eine Verbindung zu jenen Materialien herzustellen, die noch in Sanders Besitz waren.

Es gab weder einen zuverlässigen Zeugen noch brauchbares Filmmaterial aus den Überwachungskameras. Einige Obdachlose wollten beobachtet haben, wie Tina Chapman in den Kanal gefallen war. Doch die Person, die sie hineingestoßen hatte, trug eine Halloween-Maske und fiel nicht weiter auf.

Eine letzte Hoffnung blieb noch: Sie klammerte sich an Tonys Theorie, dass der Killer vor Weihnachten wieder zuschlagen würde. Es war schon immer schwierig, ihren Chef von Überwachungseinsätzen zu überzeugen: Sie waren nicht nur sehr teuer, sondern erforderten auch viel Personal, das von anderen Fällen abgezogen werden musste. Doch in diesem Fall war zumindest die Dauer überschaubar.

Und so legten sie sich auf die Lauer. Sie beobachteten David Sanders auf dem Weg zur Arbeit. Sie beobachteten ihn, wie er sich mit seinen Arbeitskollegen im Pub einen Drink genehmigte. Sie beobachteten ihn bei seinem Training im Fitnessstudio und bei seinen Weihnachtseinkäufen. Was sie nicht beobachteten, war, dass er jemanden entführte und ermordete.

Endlich brach Heiligabend an, der letzte Tag, für den die Überwachung genehmigt war. Ungeachtet ihrer Privilegien als DCI übernahm Carol selbst eine Schicht. Es war bereits dunkel, als sie sich neben DC Paula McIntyre auf den Beifahrersitz eines unscheinbaren Wagens gleiten ließ.

»Nichts Auffälliges, Chefin. Er ist vor einer Stunde nach Hause gekommen; seitdem ist niemand hineingegangen oder herausgekommen.«

»Das Haus sieht nicht gerade sehr festlich geschmückt aus, oder? Kein Weihnachtsbaum, keine bunten Lichter.«

Paula wusste nur zu gut, was Kummer bedeutete; sie zuckte leicht mit den Achseln. »Haben Sie vielleicht Ihr einziges Kind verloren? Ich glaube nicht, dass Sie dann noch groß Weihnachten feiern würden.«

Die vierjährige Tochter der Sanders war letzten September beim Schwimmunterricht ertrunken. Der Schwimmlehrer war gerade mit einem anderen Kind beschäftigt, als das Kind mit dem Kopf gegen den Beckenrand stieß. Bis es jemand bemerkte, war es schon zu spät. Nach Aussage eines Kollegen, den Sergeant Devine diskret befragte, hatte Sanders diesen Schicksalsschlag nicht verkraftet; und er weigerte sich beharrlich, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Bevor Carol antworten konnte, öffnete sich das Garagentor, und Sanders Geländewagen tauchte auf. Sie warteten, bis er das Ende der Straße erreicht hatte; dann scherten sie aus der Parklücke aus und folgten ihm. Es war nicht schwer, sich an den auffälligen Wagen zu heften, und nach 15 Minuten bogen sie in eine Straße mit heruntergekommenen Reihenhäusern ein, irgendwo im hintersten Winkel von Moorside. An der Ecke fiel ein hell erleuchteter Laden auf, dessen Fenster mit Werbung für billigen Alkohol vollgepflastert waren. Sanders hielt an und betrat den Laden. In der Hand trug er eine Sporttasche.