Tödlicher Abgrund - Karl Brodhäcker - E-Book

Tödlicher Abgrund E-Book

Karl Brodhäcker

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Beschreibung

Handlungsort ist die spanische Ferieninsel Gran Canaria. In vier Kriminalgeschichten erzählt Karl Brodhäcker vom Tourismus-Milieu, von geldgierigen Heiratsschwindlern, durchtriebenen Reiseleiterinnen und kanarischer Lebensart in sonnendurchfluteten Landschaften: "Das Thermometer kletterte in die Höhe. Tobias wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wolkenloser blauer Himmel wölbte sich über die Berggipfel und kündete für den Süden Gran Canarias wieder einen heißen Tag an. Da näherten sich zwei Pkw mit hoher Geschwindigkeit auf der kurvenreichen, schmalen und steilen Straße von Fataga her. Tobias schüttelte den Kopf über so viel Leichtsinn. Ob da zwei Fahrer bei einer Wettfahrt ihre Kräfte messen wollten...?" (Textauszug

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Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
1 Tod im Meer . . . . . . . . . . . . . .(40%)
2 Drüben liegt Afrika . . . . . . . . . .(5%)
3 Das Haus über dem Atlantik . . .(20%)
4 Tödlicher Abgrund . . . . . . . . . . .(35%)
Weitere Kanaren-Krimis im Zech Verlag
Inhaltsverzeichnis

Karl Brodhäcker

Tödlicher Abgrund

Kanarische Kriminalgeschichten · Zech

DAS BUCH: Handlungsort ist die spanische Ferieninsel Gran Canaria. In vier Kriminalgeschichten erzählt Karl Brodhäcker vom Tourismus-Milieu, von geldgierigen Heiratsschwindlern, durchtriebenen Reiseleiterinnen und kanarischer Lebensart in sonnendurchfluteten Landschaften.

DER AUTOR: Karl Brodhäcker (1919-2013) war als Journalist, Chefredakteur einer Kulturzeitschrift, Verlagsleiter und Verleger tätig. Er veröffentlichte circa 60 Bücher, darunter Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher, Gedichtbände, Romane, Erzählungen, Kriminalgeschichten, Märchen und Sagen, Bühnenstücke und volkskundliche Arbeiten. 1994 erhielt er den Kulturpreis der hessischen Stadt Alsfeld.

Impressum

Textgrundlage dieses E-Books ist die mit dem gleichnamigen Titel im Zech Verlag (Teneriffa 2007) erschienene Taschenbuchauflage, erstmals veröffentlicht im E-Pub-Format im April 2014.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, auch einzelner Teile, ist nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, öffentlichen Vortrag, Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen, z.B. über das Internet.

Alle Rechte vorbehalten. © 2014 ZECH VERLAG

Verena Zech, E-38390 Santa Úrsula (Teneriffa, Kanarische Inseln, Spanien)

Tel./Fax: (34) 922-302596 · E-Mail: [email protected]

Text: Karl Brodhäcker

Covergestaltung: Karin Tauer unter Verwendung eines Fotos von Tullio Gatti

Konvertierung: Zech Verlag

E-Book ISBN 978-84-941501-4-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-84-934857-5-7

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Webseite:

www.editorial-zech.es/de/

Tod im Meer

Eine Zufallsbekanntschaft

Steffen sah auf seine Armbanduhr. Erst eine Stunde in der Luft, dachte er, und noch immer über drei Stunden bis zur Landung. Meist verdöste er die Zeit im Flugzeug im Halbschlaf, nur ab und zu von Stewardessen aufgeweckt, die Getränke anboten oder Essen servierten. Er schaute durch das Kabinenfenster hinaus in den endlos blauen Himmel. Den Blick in die Tiefe verwehrte eine dicke weiße Wolkenschicht, die wie ein Wattegebirge anmutete.

Links neben Steffen saß eine junge Frau, die in einem Buch las. Steffen stellte fest, dass es sich um ein medizinisches Lehrbuch handelte und stufte seine Nachbarin als Studentin ein. Mit leichtem Seufzen ließ sie das Buch auf den Schoß sinken und sah hoch. Dabei trafen sich ihre Blicke, und sie errötete leicht. Außer »Guten Tag« beim Hinsetzen hatten sie bisher kein Wort gewechselt. Steffen lächelte und fragte: »Schwere Lektüre?«

Seine Nachbarin lächelte ebenfalls und antwortete: »Ziemlich. Aber leider kann ich mich nicht darauf konzentrieren«, und sie fügte etwas verlegen hinzu: »Ich habe nämlich Flugangst!«

So kamen sie ins Gespräch. Steffen erfuhr, dass die junge Studentin zum ersten Mal in einem Flugzeug saß.

»Bisher habe ich es immer strikt abgelehnt zu fliegen«, sagte sie. »Wenn ich nur daran denke, dass zwischen mir und dem Himmel nur eine dünne Wand ist, bekomme ich schon Beklemmungen und Atemnot! Aber diesmal musste ich meine Angst überwinden. Meine Großmutter, die seit Jahren auf Gran Canaria lebt, hat mich zu sich beordert. Da blieb mir nichts anderes übrig, als das Flugzeug zu besteigen. Ich habe nämlich nur noch sie und sie nur noch mich. Eigentlich kommt sie jedes Jahr im Sommer für einige Wochen nach Deutschlad und besucht mich. Aber diesmal will sie etwas bei einem kanarischen Notar regeln, wozu sie meine Unterschrift braucht. Also, muss ich hin!«

Etwas hilflos sah sie Steffen an und fragte: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich weiter spreche? Beim Erzählen werde ich von meiner Flugangst abgelenkt und muss nicht dauernd an die schwindelnde Höhe denken, in der ich gewissermaßen in einer Art Blechbüchse über den gähnenden Abgrund düse! Huch, wenn ich mir das vorstelle, stellen sich mir die Haare schon wieder senkrecht, und ich bekomme eine Gänsehaut!«

Steffen lächelte sie beruhigend an und antwortete: »Reden Sie nur, wenn es Sie erleichtert und es Sie die Angst vergessen lässt!«

In den nächsten Stunden wurde Steffen so zu einem interessierten, schweigsamen Zuhörer, während derer die ihm völlig unbekannte Sitznachbarin ohne Punkt und Komma ihr junges Leben vor ihm ausbreitete.

Einmal, als das Flugzeug in einer Schlechtwetterzone leicht zu wackeln begann, verschlug es ihr die Sprache, und sie fasste intuitiv nach Steffens Hand.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie gleich darauf, »das war eine Schreck- und Angstreaktion!«

»Schon gut«, tröstete er sie und behielt nun ihre rechte Hand fest in seiner linken. »Denken Sie immer daran, dass die Piloten auch wieder gesund auf die Erde kommen wollen!«, sagte er und forderte sie auf, weiter zu erzählen.

Bis das Flugzeug endlich auf dem Aeropuerto Gando auf Gran Canaria landete und die Passagiere wieder festen Boden unter den Füßen hatten, erfuhr Steffen, dass seine Nachbarin Katrin hieß, 25 Jahre alt war, sie ihre Eltern bereits als Vierzehnjährige durch einen Verkehrsunfall verloren hatte, dass sie in einer westdeutschen Stadt lebte, wo sie nach einem abgebrochenen Pharmaziestudium als Gärtnerin arbeitete, dass die Großmutter ihre einzige nähere Verwandte war und sie sich immer gut mit ihr verstanden hatte. Das sei auch jetzt noch so, obwohl die Oma dagegen gewesen sei, dass sie ihr Studium aufgegeben hatte. Aber nach der abgeschlossenen Lehre als Gärtnerin habe sie einen neuen Berufswunsch, sie wolle Heilpraktikerin werden. Darum besuche sie eine entsprechende Schule und lerne gerade für eine Zwischenprüfung. »O Gott«, hatte sie gesagt, »da muss ich noch viel büffeln. Darum habe ich meine Bücher mitgenommen.«

Steffen hatte eingeworfen: »Gran Canaria, Sonne, Strand und Meer. Discos, Tanz und Flirts! Glauben Sie, dass Sie sich auf der Insel besser auf Ihre Bücher konzentrieren können als im Flugzeug?«

Entwaffnend hatte sie ihn angelächelt und gesagt: »Nö, glaub‘ ich nicht!« Und hinzugefügt, sie wisse ja nicht, wie sehr die Großmutter sie in Anspruch nehme. »An und für sich ist meine Oma eine sehr verständige Frau«, hatte sie gelobt. Schon nach drei Wochen müsse sie übrigens wieder zurückfliegen, um den Termin der Zwischenprüfung nicht zu versäumen.

Katrins Großmutter empfing die Enkelin in der Ankunftshalle. Nach einer herzlichen Begrüßung stellte die Enkelin der Oma ihren »Beschützer« vor, wie sie Steffen nannte, dem es zu verdanken sei, dass sie den Flug gesund überstanden habe ohne durchzudrehen.

Da die ältere Dame ihr Auto dabei hatte, lud sie Steffen ein mitzufahren, denn es stellte sich heraus, dass die Großmutter Katrins in Playa del Inglés wohnte und Steffens Apartment in San Agustín an der Strecke lag.

Als er abgesetzt wurde, baten ihn beide Frauen: »Sie müssen uns unbedingt besuchen«, und Katrins Großmutter gab Steffen ihre Visitenkarte und beschrieb den Weg zu ihrer Wohnanlage.

Steffen winkte dem Auto hinterher und hatte die Zufallsbekanntschaft schon nach wenigen Stunden, während er es sich in seinem Heim wieder gemütlich machte, vergessen. Das einzige, was ihn einige Tage später noch an Katrin und ihre Großmutter erinnerte, war die Visitenkarte auf seinem Schreibtisch.

Illustrationen unterm Sonnenschirm

Steffen gehörte zu den beneidenswerten Menschen, die das Winterhalbjahr, wenn in Deutschland trübe, dunkle Tage vorherrschen und Nebel, Schnee und Eis das Leben für Mensch und Tier erschweren, auf der Sonneninsel Gran Canaria verbringen. Meist verließ er im Herbst mit den Zugvögeln die heimischen Gefilde und kehrte erst Anfang Mai nach Deutschland zurück.

Steffens Inselmonate im warmen Klima unterschieden sich hinsichtlich seines Tagesablaufes nur unwesentlich von dem in Deutschland. Seitdem er alleine lebte, hatte er sich eine Tageseinteilung »verordnet«, die er diszipliniert einhielt, wie er lächelnd seinen Freunden erklärte. Ein Berufsleben lang war er aktiv und kreativ gewesen und wollte nun im fortgeschrittenen Alter nicht »vergammeln«, wie er das nannte, sondern die Zeit so ausfüllen, dass ihm das Leben auch weiterhin lebenswert bleibe. Im Berufsstress als Grafiker eines Werbebüros hatte er sich immer gewünscht, eines Tages nur noch das zu tun, was ihm Freude macht.

Dieser Zeitpunkt war gekommen, als er am 60. Geburtstag aus der Firma ausschied und erst einmal ein Jahr lang rund um den Globus reiste, um sich endlich die Welt ohne Stress von nahem anzusehen, ohne dass Termine ihn durch Länder hetzten, von denen er nur Hotels und Konferenzzimmer kennen lernte. Nun genoss er in Ruhe Länder und Menschen, machte Halt, wo es ihm gefiel, skizzierte, zeichnete und malte Eindrücke nur für den eigenen Gebrauch, ohne einem Termindruck oder Kundenwünschen zu unterliegen.

Auf den kanarischen Inseln hielt er sich auf dieser Reise besonders lange auf, sah sie sich der Reihe nach an, schwankte zwischen Gomera und Lanzarote, entschloss sich aber schließlich für Gran Canaria, um hier sein Winterquartier aufzuschlagen. Das Apartment, das er im Süden der Insel, in San Agustín am Strand Playa de las Burras erwarb, war ideal für ihn: Nicht zu klein, nicht zu groß und so nah am Meer, dass er sich auf seinem geräumigen Balkon wie der Kapitän auf der Brücke seines Schiffs vorkam.

Auf diesem Balkon entstanden Illustrationen für Kinderbücher. Für diese Arbeit hatte er seine Liebe entdeckt, sie füllte ihn aus, und es gab kaum einen Tag, an dem er nicht Stunden lang unterm Sonnenschirm zeichnend verbrachte. Mit zwei Jugendbuchverlagen hatte er Illustrationsverträge abgeschlossen. Die Verlage schickten ihm Manuskripte, von denen er sich nur solche aussuchte, deren Inhalt ihm besonders zusagten.

Bei seiner Arbeit ließ er sich Zeit, denn gegen die Uhr unter Termindruck wollte er nie wieder arbeiten. Anregungen für seine Illustrationen holte er sich bei seinen Spaziergängen am Las Burras-Strand, wo er vergnügt die Kinder beobachtete und mit deren Eltern er ins Gespräch kam. So machte er immer wieder neue Bekanntschaften, aus denen manchmal auch Freundschaften wurden. Mit seinem kanarischen Dasein war Steffen rundum zufrieden.

Einmal in der Woche fuhr er hinauf in die nahen Berge, am liebsten dorthin, wo Menschen und Natur vom Tourismus noch einigermaßen unberührt geblieben sind. Hier genoss er die wohltuende Ruhe in fast unberührter Landschaft, die nur hin und wieder von Ziegenherden, Schafen oder einem Esel belebt war. Gerne unterhielt er sich auch mit den Einheimischen und bekam so Einblick in deren genügsames Leben als Bergbauern in oft herber, unwegsamer Abgeschiedenheit.

Seit seiner Begegnung mit Katrin waren einige Wochen vergangen. Steffen hatte die junge Sitznachbarin aus dem Flugzeug längst vergessen, als er bei einem Ausflug in die Bergwelt ein seltsames Erlebnis hatte.

Nach langer Fahrt machte er in einem abgelegenen Dorf, an dessen einziger Straße ein Schild mit der Aufschrift »Bar« zum Verweilen einlud, Halt. Er setzte sich vor dem niedrigen Haus auf eine rustikale Bank an einen Holztisch. Während er den ihm freundlich servierten Kaffee genoss und den Haushund streichelte, der sich wie zu seiner Begrüßung zu seinen Füßen niedergelassen hatte, kam laut knatternd ein Motorrad auf der steil ansteigenden Straße heran. Gestört in seiner Ruhe erhob sich der Hund, stellte sich an den Wegrand und bellte den Ankommenden entgegen.

Auch wenn auf dieser abgelegenen Straße so gut wie kein Verkehr war, sollten die beiden jungen Leute auf dem Krad doch besser ihre Schutzhelme auf dem Kopf tragen als am Gürtel, ging es Steffen durch den Sinn. Während dessen wurde Pedro, der Hund, von seinem Besitzer zurückgepfiffen.

Im Vorüberfahren winkte der junge Mann, der die Maschine lenkte, freundlich mit der Hand, während es den Anschein hatte, als ob sich das Mädchen auf dem Sozius krampfhaft festhalte. Seine blonde Mähne wehte im Fahrtwind. Mit fest geschlossenem Mund und etwas ängstlich blickend schien es, als sei es keine besonders geübte Soziusfahrerin.

Steffen hatte die beiden jungen Leute nur kurz gesehen. Plötzlich war ihm, als sei ihm die junge Frau auf dem Sozius bekannt, der Fahrer war ihm fremd, aber das Mädchen mit dem blonden Schopf und dem ängstlichen Gesichtsausdruck...? Als das Motorrad hinter einer Straßenbiegung seinen Blicken entschwand, fiel es ihm ein: das musste Katrin gewesen sein, seine Sitznachbarin auf dem Hinflug. Aber schnell verwarf er den Gedanken wieder. Katrin musste längst zurück in Deutschland sein. Drei Wochen wollte sie bei der Großmutter in Playa del Inglés bleiben, und die waren längst vorbei. Wie sich manche Menschen doch ähnlich sehen, ging es ihm durch den Kopf, und er widmete sich wieder seinem Kaffee und Pedro, der sich von der Ruhestörung erholt hatte und wieder zu Steffens Füßen lag.

Der Einzelgänger mit dem Gitarrenkasten

An der Südostküste der Insel, von Playa de San Agustín, Playa de las Burras, Playa del Inglés, Playa de Maspalomas bis Playa de Meloneras kannten ihn die einheimischen Fischer und viele Touristen, die an den Stränden Sonne tankten: Den jungen, hoch aufgeschossenen Mann mit dem Gitarrenkasten. Seine etwas gebeugte Haltung, seine weit ausladenden Schritte, seine lockige schwarze Haarpracht, die durch ein buntes Stirntuch gebändigt wurde, und die runde Nickelbrille unterschieden den stets schwarz Gekleideten so von den halbnackten rot und braun gebrannten Touristen an den Stränden, wie sich ein Rabe von einer Schar buntgefiederter Papageien unterscheidet.

Morgens marschierte der zu spät geborene »Hippie«, wie Steffen ihn bei sich nannte, an vielen Tagen pfeifend oder singend unten am Balkon vorüber zu den Stränden Richtung Süden, und abends kam er auf demselben Weg, den Gitarrenkasten stets unter dem Arm, zurück, um sein Nachtlager im Barranco zwischen den Stränden von Playa de las Burras und Playa de San Agustín aufzusuchen. Dort hatte Steffen ihn einmal bei einem späten Spaziergang beobachtet, wie er sich unter einem dichten Busch sein Nachtlager bereitete. Ein Stoß Zeitungen, der ihm als Kopfkissen diente, und eine leichte Decke, in die er sich einwickelte, hatte er dem Gitarrenkasten entnommen, in dem sich so manches befand, nur kein Streich- oder Zupfinstrument. Ersetzt hatte er diese durch eine Flöte, mit der er als Strandmusikant seinen Unterhalt zu verdienen schien.

Die Woge des Tourismus hatte so manchen »bunten Vogel« auf die Insel geschwemmt: Aussteiger, Glücksritter, Junkies, verhinderte Künstler, Kriminelle und Bettler aus aller Herren Länder.

Es war schwer, den ›Hippie‹ mit dem Gitarrenkasten einzuordnen. Aussteiger oder Glücksritter? Harmloser Irrer oder berechnender Bettler, der einer geregelten Arbeit aus dem Wege ging? Manchmal, wenn Steffen von Playa de las Burras nach Maspalomas am Strand entlang wanderte, was er ein bis zwei Mal in der Woche tat, begegnete er dem ›Hippie‹. Meist lag dieser irgendwo hoch oben auf einem Kamm der Dünen von Playa del Inglés und beobachtete das Strandleben. Den Gitarrenkasten dicht neben sich, als enthalte er einen Schatz, blickte er durch ein Fernrohr zu den vorüberziehenden Schiffen und Segelbooten oder sah dem Trubel des Badelebens zu. Selbst schien er wasserscheu und auch dem Bräunen der Haut abhold zu sein, denn nie sah Steffen ihn in Badehose und »oben ohne«. Stets trug er lange schwarze Hosen, ein schwarzes Hemd und oft auch ein schwarzes Jackett. Dazu ging er barfuß. Hin und wieder auch saß er am Strand, spielte Flöte und ließ sich von den Vorüberkommenden Peseten in den offenen Gitarrenkasten werfen.

Überrascht war Steffen, als er den schwer einzuordnenden Einzelgänger eines Tages dabei antraf, wie er zusammen mit einem Kumpanen am belebten Strand Sandfiguren baute. Während der zweite Wasser herantragen und den Sand befeuchten musste, formte der ›Hippie‹ Krokodile, Löwen und Buddhas von beachtlicher Größe aus dem feuchten Sand. Dabei entwickelte er eine dermaßen künstlerische Gestaltungskraft, dass Steffen staunte. Noch mehr staunte er, der mit Bewunderung zugesehen hatte, als der »Sandkünstler« nach vollbrachtem Werk die Hände an seiner schwarzen Hose abrieb, seinen Gitarrenkasten nahm, sich mit »Hi« vom anderen verabschiedete und seinen Marsch nach Süden fortsetzte. Der andere stellte einen Teller vor die Sandfiguren, steckte sich eine Zigarette an und wartete gelangweilt darauf, dass die Beschauer der Figuren die Sandkunst mit Münzen bedachten.

Gehörten die beiden zusammen?, überlegte Steffen, machten sie gemeinsam Kasse? Bisher hatte er den »pfeifenden Raben« stets nur als Einzelgänger gesehen. Der Sandkünstler, für den der ›Hippie‹ die Figuren geformt hatte, war bereits nach einigen Tagen mit einem anderen Kumpanen bei der Arbeit und versuchte mit diesem, Figuren zu bauen, um den Vorübergehenden erneut Peseten aus der Tasche zu locken.

Erneute Einladung zum Besuch

Die Fischläden im Einkaufszentrum von San Fernando sind bei Einheimischen, Residenten und sich selbst versorgenden Touristen wegen des besonders großen Angebotes sehr beliebt. Kaum eine Fischart im Atlantik, die es hier neben anderen Meerestieren nicht preiswert zu kaufen gibt. So kommt die Kundschaft außer aus San Fernando auch von San Agustín, Playa del Inglés, Maspalomas und der weiteren Umgebung des Inselsüdens. Hier werden Fische und Schalentiere für den Familientisch erstanden, aber auch Restaurant- und Hotelküchen decken in diesen Fischläden ihren Bedarf.

Einmal im Monat fuhr Steffen mit dem Bus nach San Fernando und reihte sich in die Käuferschlangen vor den Fischtheken ein. Als Selbstversorger, der selber kochte, war es ihm ein Vergnügen, sich unter die Wartenden zu mischen und dem Treiben vor und hinter der Ladentheke zuzuschauen und zuzuhören. Menschen verschiedener Hautfarben und Herkunft radebrechten mit den Verkäufern in vielen Sprachen, und wenn auch Spanisch vorherrschte, so schien es doch keinen Dialekt zu geben, in dem nicht der gewünschte Fisch erstanden werden konnte.

Steffen wurde die Wartezeit stets zur Kurzweil, denn er beobachtete gerne Menschen verschiedener Kulturen, und diese Beobachtungen flossen oft genug in seine Illustrationen ein.

Während er auch an diesem Freitag geduldig und interessiert in einem der Fischläden anstand, wurde er plötzlich angesprochen.

»Hallo, sind Sie nicht...? Ja, gewiss, jetzt erkenne ich Sie wieder. Sie sind doch der nette Herr, der meiner Enkelin Trost bei ihrem ersten Flug gespendet und versucht hat, ihr die Flugangst zu nehmen! Wie geht es Ihnen?«

Steffen erkannte die sympathische, nette ältere Dame nach ihren ersten Worten ebenfalls wieder: Die Großmutter seiner Sitznachbarin Katrin beim Hinflug vor einigen Wochen.

Steffen fragte, wie es Katrin auf der Sonneninsel gefallen habe.

»Ach ja, Sonneninsel!«, antwortete die Dame, die sich in der Ankunftshalle des Flughafens mit Olga vorgestellt hatte »Das war nichts mit der Sonne! Es hat sich herausgestellt, dass meine Enkelin eine Sonnenallergie hat und die Sonne meiden muss! Dafür hat sie die Nächte genossen und sie in den Discos durchtanzt. Na ja, die Jugend, soll sie halt ihren Spaß haben, und den hatte Katrin! Die drei Wochen sind natürlich wie im Flug vergangen, zumal wir auch Behördengänge zu erledigen hatten. Aber wir haben alles geschafft, was ich mir vorgenommen hatte! Sie ist nämlich meine einzige noch lebende Verwandte und wird mich einmal beerben, auch meinen hiesigen Besitz. Bis diese Dinge hier bei den umständlichen Behörden unter Dach und Fach gebracht waren, dazu gehörten gute Nerven, das kann ich Ihnen sagen! Zum Flugplatz hat sie ein junger Mann gebracht, da mein Auto in der Werkstatt war. Ausgerechnet am Tag vor dem Abflug hat die Kupplung gestreikt. Ich hatte Katrin ja auf den frühen Bus verwiesen und hätte sie so zum Aeropuerto begleiten können. Aber sie wollte unbedingt mit ihrer neuen Errungenschaft fahren, na ja, die Jugend! Mir hat diese ›Errungenschaft‹ ja gar nicht gefallen. Also, wenn Sie mich fragen, nicht geschenkt hätte ich den genommen. Einen Geschmack haben die jungen Leute heute, da kann man sich nur wundern«, lachte Olga und schüttelte den Kopf.

»Hat Ihre Enkelin denn ihre Zwischenprüfung inzwischen gemacht?«, wollte Steffen wissen.

»Gemacht ja, aber nicht bestanden!«, ereiferte sich die Oma. »Viel hat sie seit ihrer Abreise ja nicht von sich hören lassen. Na ja, schreibfaul war sie leider schon immer. Aber per Handy hat sie mir wenigstens ihre Ankunft in Deutschland mitgeteilt und dann nach drei Wochen, dass sie mit Pauken und Trompeten durch die Prüfung gefallen sei. Jetzt habe sie von der Heilkunde die Nase voll und suche sich wieder einen Job als Gärtnerin. Ich bin gespannt ob sie eine neue Stelle findet!«

Inzwischen waren beide in der Warteschlange so weit vorgerückt, dass sie ihre Einkäufe erledigen konnten. Bald darauf verabschiedeten sie sich, und Oma Olga erinnerte Steffen daran, dass sie ihn im November auf der Fahrt vom Flugplatz nach San Agustín eingeladen habe, sie in Playa del Inglés zu besuchen. »Die Einladung gilt noch immer«, sagte sie fröhlich. Darauf trennten sich ihre Wege, und wenig später war für Steffen das Zusammentreffen mit Katrins Großmutter Olga eines von vielen, die er auf der Insel hatte.

Als er in ein Taxi einstieg, sah er zufällig, wie auch der ›Hippie‹ das Einkaufszentrum verließ und mit weit ausladenden Schritten, den Gitarrenkasten unterm rechten Arm, um eine Ecke bog. Ob er auch Fische eingekauft hat, überlegte Steffen und wunderte sich, wo man dem »schwarzen Raben« überall begegnete.

Unerwartete Begegnung

Aus den Illustrierungsangeboten seiner Verlage hatte sich Steffen den Text eines Bilderbuches ausgesucht, den er mit besonderer Freude gelesen hatte. Es ging dabei um einen kleinen Esel, der zu früh von der Mutter genommen worden war und in seiner neuen Umgebung Ersatz für diese bei allen möglichen Tieren suchte, aber nicht fand. Erst als er Klein-Lotti begegnete, die sich mit ihm anfreundete, verlor er seine Traurigkeit. Beide waren bald unzertrennlich und führten manchen lustigen Streich aus.

Beim Zeichnen merkte Steffen, dass er lange keinen Esel skizziert hatte und Anschauungsunterricht nützlich wäre. Er wusste, dass in den Bergen Bauern noch mit Eseln arbeiteten. Die treuen, intelligenten Tiere gelangten zu den hoch und abseits gelegenen steilen Äckerchen und Wiesen, die mit keinem motorisierten Fahrzeug zu erreichen sind. Als Trage- und Reittier waren Esel dort unersetzlich und wurden von ihren Besitzern als treue Helfer gehalten und gepflegt. In Fataga, wo Steffen einmal mit einem Eselbauern ins Gespräch gekommen war, hatte dieser lächelnd gesagt, der Esel sei »der Mercedes der Berge«.

Steffen nahm Zeichenblock und -stifte und fuhr an einem Sonntag, an dem auch die Bergesel Feiertag haben, früh morgens nach San Fernando, bog dort rechts in die Straße nach Fataga und war bald aus der Touristenzone. Die schroffe Bergwelt faszinierte ihn immer wieder. Ohne Bäume waren die steilen steinigen Berghänge nur spärlich bewachsen. Sattes Grün grüßte lediglich aus den Tälern, in denen sich zumeist Palmen angesiedelt hatten. Wo der Mensch die Barrancos bewässerte, wuchsen Papaya-, Apfelsinen- und Zitronenbäume oder waren Bananenplantagen angelegt.

Lange schon hatte er Fataga hinter sich gelassen, war an San Bartolomé de Tirajana vorübergefahren und später von der Straße in enge Wege eingebogen, die irgendwie hinauf zum höchsten Punkt der Insel, den Pozo de las Nieves und den Roque Nublo zu führen schienen, zu denen er auf der Straße allerdings bequemer gekommen wäre. Aber nicht der malerische Roque Nublo war heute sein Ziel, sondern irgendeine abgelegene Siedlung, in der er damit rechnen konnte, dass es dort noch Esel gab.

Bald hatte er sich mit dem Auto verfranzt, und der Weg wurde so eng und steil, dass er mit dem Wagen nicht weiterkam. Also ließ er ihn stehen und machte sich zu Fuß zu einer Handvoll kleiner Häuser auf, die weiß aus der grünen Kulisse leuchteten. Nach einer halben Stunde mühsamer Wanderung bergauf gelangte er in das kleine Dorf, das wie an den Abhang angeklebt wirkte.

Wie er erwartet hatte, waren hier außer einigen wenigen Menschen auch Esel zu Hause. Mit den Menschen fand er schnell Kontakt, und als er sein Anliegen vorbrachte, wurde er zu einem eingezäunten Grasgarten geführt, in dem einige Grautiere gemächlich den arbeitsfreien Tag genossen und mit Interesse dem Besuch entgegen sahen.

Steffen arbeitete schnell und sicher. Bald hatte er Esel von allen Seiten, in Bewegung und stehend, den Kopf neugierig zu ihm gewendet oder gelangweilt abgedreht skizziert, sehr zum Vergnügen einiger Kinder, die ihm bewundernd Gesellschaft leisteten. Nachdem er sich bei dem Eselbesitzer herzlich bedankt und den Kindern Schokolade geschenkt hatte, trat er den Rückweg an.

Abwärts ging es schneller, bald saß er in seinem Auto und fuhr nur noch nach Gefühl in der Hoffnung, bald auf eine Straße zu gelangen. Wie es der Zufall wollte, verfuhr er sich auf den unbefestigten Wegen, so dass er unbeabsichtigt auf jener schmalen Straße landete, an der er vor wenigen Wochen zur Bar gekommen war. Natürlich steuerte er sie an und wurde dort von Hofhund Pedro schwanzwedelnd wie ein alter Bekannter begrüßt.

Wirt Lorenzo hatte Zeit und leistete ihm Gesellschaft. Während der Unterhaltung stellte es sich heraus, dass auch er zwei Esel hatte, die allerdings etwas abseits von der kleinen Ansiedlung ihren Stall hatten. Steffen zeigte Lorenzo die Skizzen, die er von den Eseln im Dorf gemacht hatte. Lorenzo behauptete, seine Esel seien viel schöner und graziler, zumal im Stall gerade ein neugeborenes Eselchen sei, das sein Herz entzücke. Also machten sich beide auf, damit sich Steffen davon überzeugen könne.

Es stellte sich heraus, dass der Eselstall in einer ehemaligen Höhlenwohnung untergebracht war. Wie Lorenzo war auch Steffen von dem erst wenige Tage alten Grautier so begeistert, dass er bedauerte, seine Aquarellfarben nicht dabei zu haben, um den Kleinen aquarellieren zu können. In einem Dutzend Bleistiftskizzen hielt er jedoch die noch ungelenken Bewegungen des lustigen Eselchens fest, das genau die Vorlage für sein Bilderbuch abgab.

Lorenzo erzählte unterdessen, dass seine Großeltern noch in der Höhlenwohnung, die nun den Eseln gehörte, gewohnt hatten. Er lobte die Vorzüge dieser Wohnart. Im Winter biete sie gute Wärme ohne Ofenheizung und somit Schutz vor den auch hier oben sinkenden Temperaturen, und im Sommer seien die Räume angenehm kühl. Im Übrigen gebe es auf der Insel inzwischen viele Höhlenwohnungen mit modernem Komfort wie elektrischem Licht, Fernsehen und was der Mensch heute so alles beanspruche.

Im Berg waren weitere Höhlenwohnungen, die inzwischen bis auf eine unbewohnt waren. Alle anderen waren in den letzten Jahrzehnten verlassen worden. In der bewohnten habe sich vor wenigen Monaten ein junger Deutscher eingenistet, der in Playa del Inglés bei einer Tauchschule beschäftigt sei, erzählte der Wirt. Neuerdings habe er auch eine Novia (Braut), die mit in der Wohnung hause. Die Einheimischen sähen es nicht gerne, wenn sich Fremde der Wohnhöhlen bemächtigten. Aber der Deutsche habe ein Schreiben des ehemaligen Besitzers vorgezeigt, das bestätige, dass er die Wohnung nutzen dürfe. Lorenzo wiegte bedenklich den Kopf und sagte, viel halte er von dem jungen Burschen nicht, der nur zwei, drei Tage in der Woche hinunter zum Strand zur Arbeit fahre. An den übrigen Wochentagen höre man ständig laute Musik aus der Wohnung und »komische Leute« besuchten ihn. Für einen jungen Mann sei das Faulenzen Gift, und er, der Wirt, halte von Faulenzern gar nichts, ganz gleich ob es sich dabei um Spanier, Deutsche oder sonst wen handele.