Tödlicher Glühwein -  - E-Book

Tödlicher Glühwein E-Book

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Beschreibung

Stille Nacht, heilige Nacht? Von wegen! Harmonie und Frieden unterm Weihnachtsbaum? Wers glaubt, wird selig! In ihren Weihnachtskrimis aus der Pfalz zeigen 21 Autorinnen und Autoren, dass auch zwischen dem ersten Advent und Silvester alte Rechnungen beglichen und neue aufgemacht werden.Da trifft sich eine Freundesclique zum letzten Mal zu ihrer traditionellen Burgenwanderung - mit viel Glühwein! - im Pfälzerwald, in Groß-Bundenbach lebt zur Wintersonnwende ein altes Ritual wieder auf, während eine alte Dame im Spätzug ausgerechnet von einem Nikolaus überfallen wird und ein Ehemann in Barbelroth Haus und Garten in ein Weihnachtswahnsinnsland verwandelt. Psychologisch fein austarierte Tatabläufe treffen auf spontane Befreiungsschläge und manchmal auf die Falschen …Die Tatorte sind Barbelroth, Flomersheim, Frankenthal, Groß-Bundenbach, Landau (4), Ludwigshafen (3), Neustadt (2), Nußdorf (2), der Pfälzerwald bei Leinsweiler, Speyer (2) und die Südpfalz (3).

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Tödlicher Glühwein

21 Weihnachtskrimis aus der Pfalz

TödlicherGlühwein

21 Weihnachtskrimis aus der Pfalz

herausgegeben vonGina Greifenstein und Angelika Schulz-Parthu

Die Handlung und alle Personen sind völlig frei erfunden;Ähnlichkeiten wären rein zufällig.

© Leinpfad VerlagHerbst 2014

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: kosa-design, IngelheimLayout: Leinpfad Verlag, Ingelheim

Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim,Tel. 06132/8369, Fax: 896951E-Mail: [email protected]

eISBN 978-3-942291-93-4

Inhalt

Wie ein Stich ins Herz Claudia Platz

Barbelrother Lichterglanz Gina Greifenstein

Ein letztes Mal Kathrin Pohl

Backtage Antje Fries

Engel im Blindflug Susanne Knepper

Schrottreif Birgit Jennerjahn-Hakenes

Ein elender Lump Monika Deutsch

Spätzug nach Frankenthal Alexandra Guggenheim

Kleine Geschenke Wolfgang Kemmer

Marmeladen-Roulette Brigitte Vollenberg

Und wenn das letzte Lichtlein brennt Jana Thiem

Von Mandelecken und Trüffeln Astrid Plötner

Der Weißdornkönig Cornelia Anken

Vom Himmel hoch Heidi Moor-Blank

Hoffnung Ella Daelken

Die letzte Kerze Jürgen Heimbach

Christmas Shooting Gabriele Scholtz

Späte Bescherung Walter Landin

Das Weihnachtsgeschenk Petra Scheuermann

Mit Mama auf dem Weihnachtsmarkt Isabella Archan

Kirschbaumopfer Christina Bacher

Die Autorinnen und Autoren

Wie ein Stich ins Herz Claudia Platz

„Und du findest das Azur wirklich nicht zu grell und den Ausschnitt zu groß?“

„Nein, das Blau unterstreicht die Farbe deiner Augen und das Kleid zeigt genau so viel, wie es zeigen soll. Du kannst das tragen. Wirklich!“

Vor Schreck klemmte sie ein bisschen Haut im Reißverschluss des Rockes ein und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Schweiß brach aus allen Poren. Die Umkleidekabine begann sich zu drehen, die Wände schienen auf sie einzustürzen, der Vorhang drohte sie zu ersticken. Sie zitterte, schaffte es aber irgendwie die Haut zu befreien. Zurück blieb ein kleiner violetter Abdruck. Sie plumpste auf die schmale Ablage, lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand, atmete schwer.

Seine Stimme hätte sie unter Tausenden erkannt. An jedem Ort der Welt, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Nur hatte sie niemals damit gerechnet, ihm je wieder zu begegnen. Schon gar nicht heute und ausgerechnet in einer Umkleide in der Rhein-Galerie Ludwigshafen. Sie bedauerte, dass der Laden auf Musikbeschallung verzichtete – anders als die Supermärkte, die während der Weihnachtszeit gern ihre Kunden mit sentimentaler Musik berieselten.

Alles hätte sie ertragen, nur um diese Stimme nicht hören müssen. Selbst George Michaels Pop-Schmodder-Song „Last Christmas“. So aber überwanden seine Worte mühelos die Trennwände der Kabine, schwappten in ihr Ohr, drangen tief in sie hinein. Jedes einzelne war dabei wie ein Stich ins Herz.

„Ich probiere trotzdem das Cremefarbene noch an“, hörte sie die Frau nebenan sagen.

Vorhangringe klapperten.

„Wie du meinst! Wir haben ja Zeit.“

Ihr Magen rebellierte. Sie war kurz davor, sich zu übergeben. „Reiß dich zusammen“, flüsterte sie sich zu. „Konzentriere dich aufs Atmen. Langsam ein und wieder aus, ein und wieder aus, bis du die Entspannung im Solarplexus spürst“, betete sie mantragleich, so wie sie es im Meditationskurs gelernt hatte. Heute klappte die Übung nicht. Ihr Magen lag wie ein Klotz in ihrem Bauch. Schuld daran war er, dort draußen vor dem Vorhang, nur wenige Schritte von ihr entfernt.

„Schade, es spannt über der Brust.“

„Besser als wenn es zu weit wäre“, frotzelte er.

„Ich weiß ja, was du magst“, kicherte sie. „Brummbärchen, kannst du mal nachsehen, ob sie es eine Nummer größer haben?“

Brummbärchen? Wie albern war das denn! Und gänzlich unpassend. Ein weiterer Schwall Magensäure schoss ihre Speiseröhre hoch, brannte in der Kehle. Er hatte so gar nichts Knuddeliges an sich, nicht wie der gutmütige Bärenmarkenteddy. Er war ein Raubtier, das mit einem Lächeln seine Fänge tief in seine Beute schlug und sie bis auf die Knochen abnagte.

„Ich schau, was sich machen lässt. Vielleicht erwische ich ja jetzt eine Verkäuferin“, seufzte er.

„Es geht doch auch super ohne! Du machst das für einen Mann einfach toll! Eine bessere Shopping-Begleitung kann sich keine Frau wünschen.“

Das stimmte – leider. Sie schluckte mehrmals. Atmete weiter tief in den Bauch. Wenn dieses Gesäusel nicht bald aufhörte, kotzte sie wirklich. Mit zittrigen Fingern leerte sie eine Plastiktüte aus, beugte sich nach vorn und hielt den leeren Beutel unters Kinn. Sicher war sicher. Vielleicht sollte sie besser direkt in die Tüte pusten, so wie sie es im Fernsehen immer machten, wenn jemand hysterisch reagierte. Aber sie hyperventilierte ja nicht, sondern fühlte sich einfach nur hundeelend.

Nebenan wurde es ruhig. Der gallige Geschmack in ihrem Mund ließ nach, die Übelkeit klang ab. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, liefen warm die Wangen hinunter, schmeckten salzig. Sie schniefte, wischte sie mit dem Handrücken ab. Ausgerechnet hier in der Pfalz musste sie auf ihn treffen. Konnte der Scheißkerl denn nicht endlich Vergangenheit sein? Auf Nimmerwiedersehen verschwinden und sie in Ruhe lassen? In ihrer Handtasche fand sie ein Taschentuch, schnäuzte sich leise.

„Das Kleid gibt es nicht mehr größer und eine Verkäuferin habe ich auch nicht gefunden. Aber, was hältst du von diesem Burgunderfarbenen aus Seide oder dem Nachtblauen aus Taft?“

„Die sind beide schön. Hängst du das Cremefarbene bitte weg? Ich habe sonst überhaupt keinen Platz hier drinnen. Und dann nimm noch die Kette an dich. Ich habe Angst, dass sie beim Anprobieren reißt.

„Mache ich doch gerne. Bin gleich wieder da, Schatzimausi.“

Schatzimausi? Würg! Sie knüllte das Papiertuch zu einem festen Ball. Ihr Herz stolperte, kam aus dem Takt, schlug hart gegen ihre Rippen. Die Nachwehen ihres überwunden geglaubten Liebeskummers. Dieser Mistkerl hatte sie zutiefst verletzt und sie dumme Pute hegte trotzdem noch Gefühle für ihn. Jede Träne seinetwegen war eine zu viel. ‚Tickst du noch richtig?’, ärgerte sie sich über sich selbst. Doch die Erinnerung ließ sich nicht so einfach verbannen. Zehn herrliche Monate hatten sie in Wetzlar miteinander verbracht, von denen sich jeder einzelne Tag in ihre Gehirnrinde eingebrannt hatte. Tage voller Leichtigkeit, Liebe, Leidenschaft. Kein Mann zuvor hatte ihm das Wasser reichen können. Keiner nach ihm würde es je wieder vermögen.

Sein markantes Gesicht mit den Robert-Redford-Augen und dem süßen Grübchen am Kinn tauchte vor ihr auf. Sie sah sein Lausbubenlächeln und bekam Puddingknie. ‚Denk nicht an ihn, sondern an etwas wirklich Schönes!’ Endlich verschwand sein Konterfei. Eine weiße Winterlandschaft tauchte vor ihr auf. Unberührter Schnee. Skifahren täte jetzt gut. Eine Schussfahrt ins Tal!

„Und, hast du schon eins an?“, brachte seine Baritonstimme ihren Tagtraum zum Platzen.

„Ja, das Nachtblaue. Es ist wirklich hinreißend. Nur bekomme ich es allein nicht zu. Hilfst du mir?“

„Sehr gerne“, lachte er leise und schob den Vorhang zurück.

Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Ein wohliger Schauer lief über ihren Rücken. Wie hatte sie dieses Lachen geliebt. Es brachte jedes Mal die Schmetterlinge in ihrem Bauch zum Flattern – auch jetzt wieder. Und erst seine zärtlichen Hände, die verlangenden Küsse … Sie wollte sich nicht mehr erinnern. Schluss, aus, vorbei!

„Das ist es! Es steht dir fantastisch!“

„Aber es kostet wahnsinnig viel.“

„Für dich ist nichts zu teuer.“

Wie oft hatte sie diesen Satz von ihm gehört. Anfangs zumindest. Da war er ja auch äußerst spendabel gewesen. Es änderte sich erst, als er in finanzielle Schieflage geriet, angeblich durch Fehlspekulationen seiner Bank. Er bat sie um ein Darlehen – nur zur kurzzeitigen Überbrückung, wie er versicherte. Sie gab gern. Half ihm erst mit fünftausend, dann mit zehntausend, schließlich mit zwanzigtausend Euro aus der Patsche. Wie doof kann ein Mensch nur sein! Aber hinterher ist man immer schlauer.

„Du wirst die schönste Frau auf der Silvestergala sein!“, schmeichelte er.

„Ich freue mich schon so wahnsinnig darauf.“

„Und danach wartet eine Überraschung auf dich“, versprach er.

Er fuhr also noch immer dieselbe Masche. Etwas mehr Einfallsreichtum hätte sie ihm schon zugetraut. Aber er hielt sich eben an Bewährtes. Never change a running system!, lautete sein Wahlspruch.

Sie wusste genau, was Silvester geschehen wird: Schlag Zwölf würde er sich mit der anderen verloben. Dann mit Champagner auf ihr neues, gemeinsames Leben anstoßen und ihr den Ring an den Finger stecken, der teuer aussah, aber nur eine billige Imitation war.

Ihr Kleid war damals jadegrün gewesen, die Farbe hatte ihre Augen wie Smaragde leuchten lassen. Sein Verrat brannte weiter, fraß sich tiefer in ihre Seele. Ihr Herz stach. Am liebsten hätte sie ihm ihre Verzweiflung ins Gesicht geschrien, alles zurückgefordert. Aber dafür fehlte ihr der Mumm. Stattdessen bohrte sie ihre Nägel tief in die Handflächen und entspannte die Finger erst, als der Schmerz unerträglich wurde.

„Och, bitte, bitte, gib mir doch einen kleinen Hinweis“, bettelte Schatzimausi.

„Nein, dann ist es keine Überraschung mehr! Vertrau mir einfach!“

Besser nicht!, schoss es ihr durch den Kopf. Vertrauen war für ihn eine einseitige Angelegenheit und auf den weiblichen Part seiner Beziehungen beschränkt. Ohne Gewissensbisse missbrauchte er es, nahm Frauen der Reihe nach aus wie Weihnachtsgänse. Auch sie hatte ihm vertraut. Seitdem tat sie sich schwer damit.

Mitleid mit seiner Neuen flammte auf. In längstens drei Monaten war Brummbärchen über alle Berge. Sie hätte ihm gern die Tour vermasselt und Schatzimausi gewarnt. Doch das war aussichtslos. Das wusste sie aus Erfahrung. Die rosarote Brille machte blind. Dafür hatte sie selbst teuer bezahlt. Mit ihrem Ersparten, dem goldenen Familienring ihres Urgroßvaters, der geliebten Perlenkette ihrer Oma und vor allem ihrer Selbstachtung.

Sie schämte sich und behielt seinen Verrat für sich. Tat vor Freunden und Familie so, als hätten sie sich einvernehmlich getrennt. Anzeige erstattete sie keine. Was hätte die Polizei auch schon tun können? Das Geld hatte sie ihm freiwillig und ohne Quittung überlassen. Und wie sollte sie beweisen, dass sie ihm den Ring und die Kette nicht geschenkt, sondern er sie heimlich genommen hatte, wo er doch sonst so viel von ihr bekam?

Noch knapp ein Jahr hielt sie es in Wetzlar aus. Dann gab sie auf. Die Erinnerung ließ keinen Neuanfang zu. Sie floh aus der Stadt des unglücklichen jungen Werthers, der genauso an der Liebe verzweifelt war wie sie. Auch jetzt wollte sie nichts wie weg. Weg aus dieser Kabine, aus der Rhein-Galerie in ihre gemütliche Wohnung in Neustadt an der Weinstraße, etwas mehr als dreißig Kilometer von hier entfernt. Dort hatte sie ein neues Zuhause gefunden, die Menschen, das Klima und den Pfälzer Wein schätzen gelernt, fühlte sich geborgen. Leise schlüpfte sie aus dem Rock, hängte ihn auf den Bügel, zog ihre Jeans wieder an und die Stiefel. Dann lugte sie vorsichtig durch den Vorhang. Er stand mit dem Rücken zu ihr, lässig an die Wand gelehnt, versperrte ihr den Weg.

Der Anprobenbereich war nur nach einer Seite hin offen, ihre Ankleide die letzte in der Reihe. Wenn sie raus wollte, musste sie an ihm vorbei. Dafür reichten weder ihre Kraft noch ihr Mut. Keine weitere Wunde.

Er spielte mit einem goldenen Ring am linken, kleinen Finger. Anscheinend war er eine Spur zu groß, denn er konnte ihn mühelos drehen. Sie erkannte ihn sofort wieder. Es war der ihres Urgroßvaters. Beim Anblick des Erbstücks an seiner Hand blieb ihr die Luft weg. Ihre Ohnmacht wandelte sich in Wut. Sie musste ihn wiederhaben. Unbedingt. Nur wie?

‚Denk nach’, ermahnte sie sich. Der exklusive Gin, den sie vorhin für ihren Schwager zu Weihnachten gekauft hatte, kam ihr in den Sinn. Ein kräftiger Schluck aus der Pulle förderte womöglich den Ideenfluss. Nur der Preis hinderte sie. Er wäre ein verdammt teurer Impulsgeber. Sie hatte keine finanziellen Reserven mehr, knapste sich die Geschenke regelrecht ab, was sie ihrer Familie jedoch tunlichst verschwieg. Der Merlot für den Vater ging auch nicht. Die Flasche hatte einen Korken. Dann mussten eben die handgemachten Pralinen für die Mutter ihrem Gehirn auf die Sprünge helfen. Zwei Champagnertrüffel landeten in rascher Folge in ihrem Mund, schmolzen auf der Zunge, belebten sie.

„Ich schlüpf noch schnell in das Burgunderrote.“

‚Komm endlich in die Gänge, sonst haut er mit deinem Schmuck ab!’ Am liebsten hätte sie ihm den Hals umgedreht. Aber für einen Mord war sie entschieden nicht der Typ und Halsumdrehen sicherlich schwieriger als gedacht!

„Na, wie findest dus?“

„Wow. Das haut mich um. Das ist es.“

„Nicht das Nachtblaue?“

„Nein, nimm dieses!“ Er senkte die Stimme. „Das macht mich echt scharf. Was hältst du davon, wenn wir den Weihnachtsmarkt heute sausen lassen und stattdessen die neuen Dessous ausprobieren?“

Wieder dasselbe Spiel. Auch sie hatte damals nach dem Kauf des Kleides auf den Besuch des Weihnachtsmarktes verzichtet und war mit ihm gegangen. Selbst unter den jetzigen Umständen musste sie zugeben, dass es sich gelohnt hatte. Schon wieder dieses Kribbeln im Bauch!

Zwei Whiskeytrüffeln zum Ablenken.

Von drüben albernes Gekicher. „Du bist mir vielleicht einer! Ich will noch einmal das Azurblaue anziehen. Nur um ganz sicherzugehen.“

„Beeil dich.“

Die Zeit drängte. Sie wollte ihn nicht schon wieder ungeschoren davonkommen lassen. Ihre Finger waren eiskalt, als sie die beiden Kirschwasserpralinen aus der Schachtel nahm. In ihrem Kopf herrschte lähmende Leere. Sie hatte keine Idee, wie sie ihn aufhalten konnte.

Erneutes Geraschel. „Du hast recht. Ich bleibe bei dem Burgunderfarbenen. Es steht mir einfach am besten.“ Schatzimausis Tonfall änderte sich, wurde zu einem Hauchen. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass wir beide endlich mal wieder die Feiertage und den Jahresbeginn zusammen verbringen können. Ich habe es satt, dich mit den anderen teilen zu müssen. Wir haben uns in den letzten Jahren viel zu selten gesehen.“

„Damit ist jetzt erst einmal Schluss. Dank dem alten Meyerhoff und der Million, die er dir vermacht hat.“

„Du hast aber auch nicht schlecht gewirtschaftet. Deine Damen waren ebenfalls recht großzügig. Wir landen weich“, wisperte sie anerkennend.

„Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, sesshaft zu werden.“

„Ist das die Überraschung?“, quietschte es durch die Trennwand.

„Vielleicht.“

Sie verschluckte sich beinah. Die andere war gar kein Opfer, sondern seine Komplizin! Brummbärchen und Schatzimausi gingen einvernehmlich auf Beutezug, wenn auch jeder für sich. Ihre Wut steigerte sich zu blankem Hass. Der Mordgedanke von vorhin loderte wieder auf, konkretisierte sich. Zum Halsumdrehen gab es eine Alternative, lautlos und schnell. Praktisch, dass sie heute ihre Weihnachtseinkäufe erledigt hatte. Sie holte das japanische Allzweckmesser für ihre Schwester aus der Papiertüte des Haushaltswarengeschäftes. Lange hatte sie überlegt, ob sie es kaufen sollte. Auch wenn es ein Sonderangebot war, kostete es immer noch eine Menge. Sie hatte unschlüssig vor der Auslage gestanden. Daneben lief auf einem Monitor ein Werbefilm, in dem eine bekannte Schauspielerin für Santoku-Messer warb.

„Sehen Sie, es lässt sich kinderleicht handhaben und ist wunderbar ausbalanciert. Es schneidet nicht nur mühelos Schinken, sondern auch Braten und Fleisch. Selbst durch die dickste Schwarte geht es wie durch Butter“, demonstrierte sie an einem Schweinebauch und lächelte dabei vom Bildschirm.

Argumente, die zogen. Sie streifte ihre Lederhandschuhe über, entfernte die Verpackung und nahm das Messer heraus. Verdammt scharfe Klinge. Es lag wirklich federleicht in der Hand. Eine perfekte Waffe, schoss es ihr durch den Kopf. Ob es sein Versprechen auch an lebenden Objekten hielt? Sie zögerte, legte es hin. Der Stahl glänzte matt.

„Brauchst du noch lange?“, drängelte er.

„Nein. Du kannst mir gleich die Perlen wieder anlegen!“

Perlen? Trug die andere etwa ihre Kette? Sie biss sich die Lippen blutig. Das Maß lief endgültig über. Ihr Entschluss stand fest. Es gab kein Zurück mehr. Ihre Nervosität verschwand. Sie wurde absolut ruhig. Ein letzter Blick durch den Vorhang. Seine Haltung war unverändert. Nur, dass er jetzt nicht mehr mit dem Ring, sondern mit ihren Perlen spielte. Er durfte sie nicht länger beschmutzen, sollte sie niemals wieder einer Frau um den Hals legen.

Rasch stopfte sie ihre Haare unter die Wollmütze und zog sie tief in die Stirn. Den Schal schlang sie so um den Hals, dass er bis zur Nase reichte. Von ihrem Gesicht war kaum etwas zu erkennen. Sie verteilte die Geschenke auf möglichst wenig Tüten – nur das Messer nicht. Mit ihrem Jackenärmel verdeckte sie ihre rechte Hand, ließ aber die Spitze der Klinge frei. Mit der Linken packte sie ihre Einkäufe und den Rock. Nicht ganz einfach, aber zu schaffen.

Ein letzter Blick nach draußen. Außer ihm wartete niemand vor den Kabinen. Überwachungskameras gab es hier auch nicht. Keine Zeugen. Gut so! Nebenan klapperte ein Kleiderbügel. Noch immer betatschte er ihren Schmuck. Sie holte tief Luft, glitt geräuschlos durch den Vorhang, die Augen fest auf seinen Rücken gerichtet. Ihr Puls beschleunigte sich etwas, ihr Körper bewegte sich wie ferngesteuert. Ein letzter Schritt auf ihn zu, die Hand auf der Höhe, in der sie sein Herz vermutete. In einem Krimi hatte sie einmal gelesen, dass ein gezielter Stich sofort tötete. Sie hoffte für sich, dass es stimmte, kein schriftstellerisches Fantasiegespinst war. Angeblich bemerkte der Betroffene ihn noch nicht einmal, wurde vom Tod regelrecht überrascht. Das wiederum fand sie bedauerlich. Er hätte Schmerzen verdient – große Schmerzen und vor allem langanhaltende.

„Bin gleich so weit“, trällerte es aus der Umkleide.

„Gut. Ich habe nämlich Hunger – nach dir!“, raunte er.

Verliebtes Gelächter. „Wir werden dich schon satt kriegen!“

Noch ein paar Zentimeter. Wenn sie nur nicht die Rippen traf! Dann wäre alles umsonst. Sie hielt die Luft an, stieß zu. Die Klinge drang mühelos bis zum Schaft ein. Der Stich saß – mitten im Herzen. Es blutete erstaunlicherweise kaum. Sie ließ es stecken. Das war es ihr wert. Er röchelte leise. Die Kette rutschte aus seiner erschlaffenden Hand. Sie fing sie auf und konnte ihm irgendwie auch noch den locker sitzenden Ring abstreifen. Beides landete in einer der Tüten. Bevor sein Körper langsam an der Wand herunterrutschte, war sie aus dem Umkleidebereich verschwunden. Sie hängte den Rock auf den nächstbesten Ständer und ging weiter, ohne zu hasten oder sich umzudrehen.

Die Werbung hatte nicht zu viel versprochen. Das Messer war jeden Cent wert. Es ging wirklich mühelos durch Fleisch wie durch Butter und auch durch einen Kaschmirmantel, wie sie soeben hatte feststellen können. Sie wollte gleich ein neues kaufen. Auf dem Weg zum Ausgang hörte sie Schatzimausi schreien.

Barbelrother Lichterglanz Gina Greifenstein

Ich erzähle Ihnen jetzt mal von meinem Mann.

Viel zu erzählen gibt es ja eigentlich nicht, denn er ist … ähm, war eher der unspektakuläre Typ. Will sagen: Er war ziemlich langweilig.

Er hieß Hubert und war bis zu seiner Pensionierung vor ein paar Jahren Buchhalter in einer großen Firma – also nicht so ein kleines Buchhalterlein, nein, er war so lange in dieser Firma, dass er es zum Schluss quasi zum Oberbuchhalter geschafft hatte. Er war nie krank und ich glaube sogar, er liebte diesen eher faden Beruf. Irgendwie passten seine Arbeit und er perfekt zusammen: Dort bekam er die sture Routine, die er zum Leben brauchte, und es gab keinerlei Aufregung, die sein kleines, ruhiges Dasein durcheinanderbrachte – höchstens mal eine Rechnung, die falsch abgelegt oder verloren gegangen war.

Daheim war er nicht viel anders, ruhig, ich will nicht sagen faul … doch, ich will sagen faul. Stinkfaul, um genau zu sein!

‚Haushalt ist Frauensache‘, das war seine Devise. Und für ihn waren Gartenarbeit und Straße kehren auch Frauensache. – Tätigkeiten, die seine männlichen Nachbarn übrigens alle perfekt beherrschten – nur bei uns musste ich das machen.

Sein Lieblingsplatz war definitiv der Fernsehsessel. Nachdem er nicht mehr zur Arbeit gehen musste, hatte ich manchmal wirklich Sorge, er könnte dort festwachsen.

Aber irgendwie bin ich jetzt abgeschweift … was hatte ich Ihnen vor dem Exkurs über die Faulheit meines Mannes erzählt? – Ach, ja, dass er Buchhalter war, genau. Nun, zu Hause wollte er nach Dienstschluss auch das Buch halten, sprich: Er kontrollierte meine Ausgaben. Stellen Sie sich das mal vor: Ich musste ein Haushaltsbuch führen! Am Anfang fand ich das ja noch irgendwie originell und ich trug auch alles fein säuberlich ein – bis er eines Tages ein Defizit in meiner Haushaltskasse feststellte.

Ein wirklich gewaltiges Defizit von sage und schreibe zehn Cent.

Das war ein Aufstand, kann ich Ihnen sagen! Wie Rumpelstilzchen hat er sich aufgeführt – fehlte nur noch, dass er mich der Unterschlagung und böswilligen Täuschung bezichtigte!

Ich war wirklich überrascht, wie viel Feuer und Energie in meinem Hubert steckte, das können Sie mir glauben.

Irgendwie hat dieser Ausraster wegen lumpiger zehn Cent unserer Beziehung damals einen Knacks versetzt.

Wofür ich die zehn Cent ausgegeben habe?! – Sie sind ja fast schon wie mein Mann, aber ehrlich! – Eine Plastik-Einkaufstüte habe ich davon gekauft. Das fiel mir damals etwa gegen vier Uhr morgens siedend heiß ein, nachdem ich deswegen die ganze Nacht kein Auge zugemacht hatte.

Von da an rechnete ich übrigens immer ein paar Einkaufstüten mehr ab, als ich wirklich brauchte, nicht weil ich mir so ein ansehnliches Vermögen beiseiteschaffen wollte, sondern weil es mir einfach eine diebische Freude bereitete, meinen Hubert zu besch…ummeln.

Vor sieben Jahren geschah es dann … oder war es schon vor acht Jahren? … hm, ist ja auch nicht so wichtig. Da bekamen wir von Huberts Schwester einen Schwibbogen.

Sie kennen doch diese hübschen holzgeschnitzten Lichterbögen, die in der Adventszeit in die Fenster gestellt werden und so angenehm heimeliges Licht in die kalten Winternächte ausstrahlen? – So einen Bogen bekamen wir von Hildegard zum ersten Advent. Jetzt muss ich erwähnen, dass Hubert von jeher jeglichen Firlefanz im und ums Haus verabscheute. Erstens, weil er es als totalen Humbug empfand, und zweitens, weil dieser unnötige Zierrat nur unnötig Geld kostete. Ganz zu schweigen von jedem einzelnen Glühbirnchen, das nichts anderes im Sinn hatte, als seinen teuren Strom zu fressen.

Ich hatte mir schon immer so einen Schwibbogen gewünscht, war aber stets auf vehemente Ablehnung seinerseits gestoßen.

Nun brachte aber Hildegard diesen Bogen ins Haus – übrigens auf Anregung von mir, das gebe ich gerne zu – und er durfte bleiben. Er durfte sogar seinen Stecker in eine von Huberts heiligen Steckdosen stecken und seinen sorgsamst gehüteten Strom verbrauchen! Das war aber nur der Anfang.

Bei einem unserer seltenen gemeinsamen Ausflüge in einen Baumarkt erstand Hubert tatsächlich eine Lichterkette. Für draußen. Sonderangebot. Fünfhundert Meter lang.

Ich wunderte mich, sagte aber kein Wort, um ihn nicht irgendwie zu verschrecken und eventuell von dem Kauf abzubringen.

Denn insgeheim hatte ich schon immer alle meine Nachbarn beneidet, die in der Vorweihnachtszeit die Bäume in ihren Vorgärten mit Lichterketten schmückten. Dieses Jahr würde ich also auch endlich einen so schön geschmückten Baum haben – mit einer fünfhundert Meter langen Lichterkette, ha, da würden die Nachbarn aber Augen machen!

Die Kette war dann doch ein erhebliches Stück zu lang für unsere kleine Tanne vor dem Haus. Doch Hubert – und mal ganz im Vertrauen: So viel Improvisationstalent hatte ich ihm gar nicht zugetraut – befestigte die restlichen zweihundertfünfunddreißig Meter entlang der Dachrinne und ein Stück den Giebel hinauf. Doch bevor ich ihn darauf hinweisen konnte, dass so ein halb geschmückter Giebel nun doch etwas komisch aussähe, war er schon von sich aus wieder in den Baumarkt unterwegs, um die restlichen Sonderangebotsketten zu kaufen.

Was man mit viereinhalb Kilometer Lichterkette macht, wollen Sie wissen? – Das fragte ich mich anfangs auch. Doch mein Hubert legte eine Kreativität an den Tag, die in der ganzen Nachbarschaft ihresgleichen suchte! Eigentlich gab es nichts mehr im Garten, dass NICHT von einer Lichterkette umwunden, eingerahmt oder geschmückt war: der Gartenzaun in seiner vollen Länge – oberer Holm sowie unterer Holm –, das komplette Dach, die Garage, jede Hecke, jeder Strauch.

Ich kann Ihnen sagen, wenn es abends in der Südpfalz dunkel wurde, war es um unser Haus herum taghell.

Das ganze Dorf bestaunte regelmäßig Huberts Kunstwerk. Was anfangs recht nett war, denn unsere Kontakte zu dem Rest der Barbelrother waren bis dahin eher eingeschränkt gewesen. Jetzt plauderte Hubert munter mit den herbeiströmenden Dorfbewohnern und prahlte und protzte mit Watt- und Voltzahlen, dass die übrige männliche Einwohnerschaft Barbelroths vor Ehrfurcht nur noch mit den Ohren schlackerte.

Dieses erste Jahr mit unserem phänomenalen Lichterglanz war das schönste. Obwohl die Stromrechnung gewaltig war.

Das Jahr darauf ging auch noch. Allerdings entdeckte Hubert zu meinem Entsetzen die Existenz von bunten Lichterketten.

Die wickelte er zusätzlich zu den ganz normalen Ketten um alles, was sich ihm in den Weg stellte. Er umrahmte damit jedes einzelne Fenster und die Haustür. Disneyworld war ein Dreck dagegen. In diesem Jahr wallfahrten sogar die Leute aus Oberhausen, Billigheim, Hergersweiler und Dörrenbach regelmäßig nach Barbelroth, um sich unser Weihnachtshaus anzusehen.

Da hatte Hubert die Idee mit dem Glühweinstand. Ich kochte von da an in der gesamten restlichen Adventszeit Abend für Abend bis zu zwanzig Liter Glühwein, den wir dann an die Schaulustigen verkauften. Doch der florierende Verkauf des Glühweins deckte nur halbherzig die in diesem Jahr entstandene Stromrechnung. Der Lichterglanz kostete uns in den sechs Wochen bis zum Abschmücken mehr, als ich das ganze Jahr an Haushaltsgeld zugeteilt bekam!

Habe ich schon erwähnt, dass Hubert damals schon im Oktober damit beschäftigt war, die ganzen Lichter auszupacken, die Leuchttauglichkeit jeder einzelnen Birne zu kontrollieren und dann alles liebevoll und gewissenhaft um unser Haus zu wickeln? – Da ja in der Zwischenzeit die bunten Lichterketten noch dazugekommen waren, brauchte er für das Entfernen, Einpacken und Wegräumen bis weit in den März hinein.

Für die darauffolgende Vorweihnachtszeit, also genau fünfeinhalb Monate später, packte er dann schon wieder aus und begann alles zu schmücken, was nicht weglaufen konnte. Ja, er toppte das Ganze noch: Er kaufte für jedes unserer dreiundzwanzig Fenster einen Leuchtstern. Ha, nicht irgendeinen Leuchtstern, wahrhaftig nicht! Jeder dieser Sterne blinkte in rhythmischen Intervallen.

Dazu erstand er einen beleuchteten Nikolaus, der vier beleuchtete Rentiere führte, die wiederum vor einen beleuchteten Schlitten gespannt waren. Ein Ausbund der Scheußlichkeit, wie ich fand, doch all den anderen Menschen schien das tatsächlich zu gefallen: Mit Bussen kamen sie jetzt jeden Abend angefahren, sobald das letzte Tageslicht verglommen war.

Reiseveranstalter aus Landau, Neustadt, Bad Dürkheim, ja sogar aus dem elsässischen Wissembourg karrten ganze Busladungen Menschen zu unserem Haus. Die Busse parkten die engen Dorfstraßen zu, oft war kein Durchkommen mehr. Die Nachbarschaft war darüber natürlich nicht allzu entzückt. Anonyme Drohbriefe fanden den Weg in unseren Briefkasten. Immer wieder brach das Stromnetz im Dorf zusammen.

Keiner von den Dorfbewohnern kam jetzt mehr zu einem Plausch an den Gartenzaun, alle mieden uns.

In der zweiten Adventswoche kam Hubert dann mit dem Riesengrill an – von da an gab es zu dem Glühwein (inzwischen hundert Liter pro Abend!) Bratwurst im Brötchen.

Wenn dann all die Menschen wieder abtransportiert, der Grill verstaut, der Müll eingesammelt und die Berge von dreckigen Glühweinbechern gespült waren, lag ich fix und fertig im Bett. Ich wollte nur eines: schlafen. Aber an Schlaf war nicht zu denken.

Da Hubert darauf bestand, dass sein heiß geliebter Lichterglanz die ganze Nacht über brannte, war es taghell in unserem Schlafzimmer, ganz zu schweigen von dem unsäglichen blinkenden Stern am Fenster. Ich könnte wetten, dass es in Las Vegas nachts dunkler ist, als es das damals nachts in Barbelroth war!

Die Stromrechnung war exorbitant und brachte uns an den Rand des Ruins. Davon abgesehen, dass Hubert bis weit nach Ostern brauchte, bis auch der allerletzte Weihnachtsschmuck abgebaut war, sinnierte er auch darüber nach, seine eigene Reisegesellschaft zu gründen. Slogans wie „Lichterglanz-Reisen“ oder „Reisen ins Weihnachtsdorf“ schwirrten um meine Ohren. Als er dann auf die glorreiche Idee kam, diese Reisen auch in China und Japan zu bewerben, und dafür eventuell sogar die Weihnachtsbeleuchtung ganzjährig in Betrieb zu lassen, begann ich mir ernstlich Sorgen zu machen.

Und ich kam zu dem Schluss, dass ich da auf gar keinen Fall mitmachen wollte!

Der Bürgermeister, dem er diesen Vorschlag unterbreitete, war jedoch Feuer und Flamme. Aller Unmut war schlagartig vergessen, als er die einmalige Möglichkeit erkannte, Geld in die klamme Gemeindekasse zu spülen. Er musste nur noch den Gemeinderat davon überzeugen, dass die riesigen Ackerflächen rund um Barbelroth aufgekauft und in gebührenpflichtige Parkplätze umgewandelt werden müssten. Und dass im Zuge dieser Baumaßnahmen auch gleich noch einige Toilettenhäuschen gebaut werden sollten, denn auch damit konnte man sich eine goldene Nase verdienen, glaubte er zu wissen. Auch das Wort McDonald‘s-Filiale soll bei diesem Gespräch gefallen sein.

Doch der restliche Gemeinderat war seinen visionären Plänen nicht so aufgeschlossen zugetan wie erhofft. Das für den Juli angestrebte Bauvorhaben wurde erst auf den September, dann in einer weiteren Sitzung auf den November verschoben. Schließlich wurde endgültig beschlossen, im Februar – also erst nach dem nächsten Barbelrother Lichterglanz – den Grundstein für den neuen Parkplatz zu legen.

Als Hubert dann schon im September damit begann, den Lichterschmuck auszupacken, entschied ich mich für Sabotage.

Hie und da ließ ich eine Glühbirne verschwinden oder machte sie kaputt. Worauf er schlecht gelaunt loszog, um Ersatz zu besorgen. Ich versteckte Trafos und Verlängerungskabel, die er dann aber doch irgendwie fand – oder er hatte heimliche Vorräte, von denen ich nicht wusste. Alles, was ich damit erreichte, war eine minimale Verzögerung, aber aufhalten konnte ich ihn nicht.

Pünktlich zum ersten Advent erstrahlte unser Haus im altgewohnten Lichterglanz. Plus der schrecklich kitschigen fünf leuchtenden und blinkenden Engel, die er im Sommer zu einem Sonderpreis im Internet entdeckt hatte. Und inklusive der Lichternetze, die er dieses Jahr zusätzlich über das Dach und jeden Baum geworfen hatte. Geschätzte hundertfünfzigtausend Glühbirnchen saugten inzwischen gierig den Strom aus unserer Leitung.

Und zum ersten Advent kamen auch die Besucherscharen. Busse aus Frankfurt, Mainz und Nürnberg verstopften das Dorf sowie jede Zufahrtsstraße.

Ich musste wieder Glühwein ausschenken und Hubert grillte massenweise Bratwürste. Neu im Sortiment waren die Postkarten, die Hubert hatte machen lassen: Es war ein Foto von unserem Haus im Lichterglanz – werbewirksam mit „Das Haus des Weihnachtsmanns“ untertitelt. Sie verkauften sich wie blöd.

Am nächsten Tag war ich wie gerädert und wünschte mir nur eines: Ruhe und auf gar keinen Fall weihnachtliche Beleuchtung.

Über Nacht war es bitterkalt geworden und da kam mir eine wunderbare Idee: Unter dem Vorwand, endlich mal das große Dachfenster zu putzen, füllte ich einen Eimer mit Wasser und stieg die Treppen hinauf. Natürlich putzte ich das Fenster, es war ja gut möglich, dass Hubert das später kontrollieren würde. Aber ich tat noch etwas anderes: Besagtes Fenster befindet sich ganz in der Nähe des Schornsteins, der in diesem Jahr auch eine Lichterkette verpasst bekommen hatte. Ich kletterte also vorsichtig aus dem Fenster hinaus aufs Dach, sorgsam bemüht, auf gar keinen Fall nach unten zu sehen, geschweige denn, runterzufallen. Die nächstbeste Glühbirne, die ich zu fassen bekam – es war eine rote – drehte ich so weit aus der Fassung, dass der Kontakt unterbrochen war. Zufrieden krabbelte ich zurück und schloss das Fenster – nicht ohne vorher das Putzwasser auf das Dach hinauszuschütten. Es fror augenblicklich auf den Ziegeln fest. Ich schloss das Fenster, platzierte den Schwibbogen wieder auf dem Fensterbrett und knipste dessen Lichter an. Äußerst zuversichtlich, ja regelrecht beschwingt ging ich nach unten.

Kurz nach sechzehn Uhr machte Hubert wie an jedem Tag die Beleuchtung an. Bei seinem kurzen Kontrollgang entdeckte er die ausgefallene Birne am Schornstein.

Während er die Leiter holte, begann es leicht zu schneien.

Er steckte sich die Ersatzbirne zwischen die Zähne und stieg zielstrebig die viereinhalb Meter bis zur Dachrinne hinauf. Voller freudiger Erwartung sah ich nach oben, wo er gerade unsicher aufs Dach robbte und sich zum Schornstein emporhangelte.

Jetzt schneite es schon mehr, dichte Flocken schwebten aus dem von Hubert erhellten Abendhimmel herab.

Jeden Augenblick musste er auf dem spiegelglatten Dach ausrutschen und abstürzen … aber den Gefallen tat er mir nicht.

„Sie war nur locker“, rief er undeutlich mit der Ersatzglühbirne im Mund aus und arbeitete sich vorsichtig millimeterweise zur Leiter zurück.

Wider meine Erwartungen schaffte er es tatsächlich problemlos und fand mit dem rechten Fuß die oberste Leitersprosse. Als er glücklich den zweiten Fuß auf die Leiter setzte, half ich dem Schicksal spontan nach: Ich warf mich mit meinem gesamten Gewicht, das von jeher nicht gerade unerheblich war, gegen die Leiter. Die geriet daraufhin heftig ins Schwanken und mit ihr Hubert, der nach kurzem, verlorenem Kampf ums Gleichgewicht in die Tiefe stürzte und unsanft vor meine Füße plumpste.

Als ich kurz darauf mit dem Notarzt telefonierte, sah ich durch das Fenster, dass heftiges Schneegestöber eingesetzt hatte. Nur widerwillig deckte ich Hubert mit einer Decke zu, ich wollte ja keinesfalls, dass er noch gerettet werden konnte.

Aber da hätte ich mir gar keine Sorgen machen müssen, denn er hatte sich bei dem Sturz das Genick gebrochen und war somit sofort tot gewesen.

Ich kann Ihnen sagen, dann war hier vielleicht was los!

Der Notarzt kam wegen der vielen Busse kaum durch, die Polizei regelte dann letztendlich den Verkehr und vertrieb die Schaulustigen. Sogar ein Mann von der Kripo war da, einer von der Mordkommission, der stellte mir unangenehme Fragen. Was mein Mann denn da auf dem Dach wollte? Wo es doch so geschneit hat und überhaupt, warum hat er nicht gewartet hat, bis es wieder hell geworden war? Ob ich von irgendwelchen Feinden wüsste? Worauf ich fast laut aufgelacht hätte, schließlich hatte er inzwischen – bis auf den Bürgermeister – das ganze Dorf zum Feind. Mich eingeschlossen, aber das sagte ich natürlich nicht. Schließlich stellte er aber fest, dass es wohl ein bedauerlicher Unfall war. Und ich stimmte ihm selbstverständlich und gekonnt erschüttert zu.

Als endlich alle weg waren, schaltete ich die Hauptsicherung ab. Tiefe Dunkelheit umfing mich – was für eine Wohltat!

In den darauffolgenden Tagen und Wochen ließ ich alles verschwinden, jede einzelne Lichterkette, die Leuchtengel, die blinkenden Fenstersterne, den unsäglichen leuchtenden Nikolaus nebst Rentieren und Schlitten – ja, sogar den Schwibbogen.

Meine Nachbarn redeten von da an übrigens auch wieder mit mir, worüber ich ausgesprochen froh war.

Ach, noch was: Der geplante und bis zuletzt ziemlich umstrittene Parkplatz wurde dann doch nicht gebaut.

Alles war also gut. Etwa ein Jahr lang.

Bis eines Tages meine Nachbarin von direkt gegenüber aufgelöst vor meiner Tür stand und heulend berichtete, dass ihr Göttergatte ernsthaft überlegte, Huberts Geschäftsidee aufzugreifen und professionell auszubauen. Er hatte sogar schon mit dem Bürgermeister gesprochen, der daraufhin die Parkplatzpläne sofort wieder aus der Schublade geholt hatte. Sie stammelte in diesem Zusammenhang auch noch etwas von einem riesigen Einkaufszentrum, das im Zuge dessen gleich mit errichtet werden sollte – nur für Weihnachtsartikel, wohlgemerkt!

Sie wollte diesen Zirkus aber nicht schon wieder vor ihrem Haus haben.

Ich natürlich auch nicht.

Wir sahen uns nur stumm an und wechselten ein verschwörerisches Lächeln – es war klar, dass ihr Mann das nicht überleben würde.

Drei Wochen später war die Beerdigung.

Der Frau des Bürgermeisters, der Huberts Traum ebenfalls zu gerne weitergeträumt hätte, konnte exakt ein Jahr später auch geholfen werden. Ihr Mann erlag tragischerweise einem Stromschlag, als er die Weihnachtsbeleuchtung an seinem Haus installieren wollte.

Bedauerlicherweise wurden auch andere männliche Bewohner Barbelroths aller Altersklassen in der darauffolgenden Zeit nicht müde, Huberts Lichterglanz-Plänen neues Leben einhauchen zu wollen.

Einem aufmerksamen Beobachter wäre sicher aufgefallen, dass die Totenglocke in unserem kleinen Ort umso häufiger geläutet wurde, je näher die Weihnachtszeit rückte. Ebenso würde im Falle einer statistischen Erhebung für unser nettes, kleines Barbelroth im Vergleich zu anderen Orten der Pfalz ohne Zweifel eine überproportional hohe Männersterblichkeit festgestellt werden.

Aber wer macht schon solche Erhebungen?

Autorin und Verlag weisen noch einmal darauf hin, dass die Handlung und alle Personen völlig frei erfunden sind; Ähnlichkeiten wären rein zufällig …

Ein letztes Mal Kathrin Pohl