Tödlicher Herbst - Max Oban - E-Book
SONDERANGEBOT

Tödlicher Herbst E-Book

Max Oban

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Morde im September 

Detektiv Tiberio Tanner, passionierter Weintrinker und Genussmensch, beschäftigen gleich zwei Fälle im Meraner Land: Zum einen soll er dem Verdacht auf Weinpanscherei nachgehen und dazu Beweise sicherstellen. Und dann muss er in einer Privatklinik ermitteln, in dem eine Hebamme ermordet worden ist, ohne dass der Täter gefasst werden konnte. Besonders der zweite Fall bereitet ihm Kopfzerbrechen, denn kaum hat er seine Ermittlungen aufgenommen, wird der Chefarzt der Klinik getötet – genau ein Jahr nach der Hebamme. 

Tiberio Tanner – trinkfest und lebenslustig – ermittelt im malerischen Südtirol

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 505

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Detektiv Tiberio Tanner weiß das Leben zu nehmen – er liebt Wein, gutes Essen, und seine Partnerin Paula. Als eine Freundin Paulas ihn beauftragt, den Mord an ihrer Mutter aufzuklären, kann er nicht Nein sagen, obschon der Fall aussichtslos erscheint, da er bereits ein Jahr zurückliegt. Hedwig Pammer war eine beliebte Hebamme, die an einer Privatklinik beschäftigt war. Die Polizei konnte aber weder ein Motiv für den Mord finden, geschweige denn einen Täter. Tanner lässt sich in die Klinik einweisen und ermittelt undercover. Kaum hatte er erste Recherchen angestellt, wird der nicht sonderlich beliebte Chefarzt der Privatklinik ermordet – genau ein Jahr nach dem Mord an Hedwig Pammer. Für Tanner steht fest, dass beide Morde zusammenhängen. Er ahnt jedoch nicht, dass der Täter noch weitere Opfer im Visier hat.

Über Max Oban

Max Oban, geboren in Oberösterreich, studierte in Wien und Karlsruhe. Er schlug eine Karriere als Manager ein, arbeitete für einen internationalen Konzern in Deutschland, den USA und Teheran, bevor er sich seiner Tätigkeit als Schriftsteller widmete. Max Oban ist erfolgreicher Autor zahlreicher Romane, unter anderem der Paul-Peck-Krimireihe. Er lebt in Salzburg und in der Wachau.

Als Aufbau Taschenbuch erschien von ihm bisher ein Roman mit Tiberio Tanner: „Blutroter Wein“.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Max Oban

Tödlicher Herbst

Ein Krimi aus Südtirol

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

Personen

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Glossar Südtirolerisch – Deutsch

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

„Wir leben nicht, um zu essen, sondern wir essen, um zu leben.“

Sokrates

*

„Ein Philosoph gibt einem anderen Speisen und Getränke, aber nicht, um ihn zu sättigen, sondern um seinen Geschmack zu ändern.“

Ludwig Wittgenstein

*

„Das Leben ist viel zu kurz, um schlechte Weine zu trinken.“

Tiberio Tanner

Personen

Bertolotti, Pietro, 20, Student an der Uni Bozen

Bertolotti, Rebecca, 22, Schwester Pietros

Brugger, Marian und Regina, Nachbarn Ursulas und Inhaber des Geschäfts ANTIQUARIATO & TRÖDEL in Meran

Carluccia, Gerlinde, Tochter der Hebamme Hedwig Pammer

Chessler, Maurizio, 63, Freund Tiberios und ehemaliger Commissario Capo in der Questura Bozen

De Santis, Nero, Nachfolger Maurizios als Commissario Capo bei der Polizia Stato Bozen

Drackoner, Carlo, Dott. MBA, Chef der Krankenversicherung Assicurazione Sanitaria Fidatezza S.p.A

Klammer, Ursula,Krankenschwester in der Klinik St. Gertraud

Kogler, Henrico, Kellermeister im Weingut des Barons von Murach

Kogler, Susanne, Gattin Henricos und Hausdame bei Baron von Murach

Kurz, Dr. Bruno, 58, Inhaber und Chefarzt der Privatklinik Santa Gertrude im Ultental

Kurz, Marietta, 43, aufgedonnerte und stets chic gekleidete Gattin Brunos

Kurz, Luisa, 17, Tochter Mariettas

Matteiner, Dr. Erich, Anästhesist mit trauriger Vergangenheit

Matteiner, Corinna, Gattin Erichs.

Matteiner, Martin, 20, Sohn von Corinna und Erich.

Murach, Baron Filippo von, adeliger und renommierter Weingutsbesitzer im Meraner Land

Pammer, Hedwig, tüchtige und tote Hebamme

Pammer, Franz und Ines, Witwer Hedwigs und seine neue Ehefrau

Paula, 46, Apothekerin, verständnisvolle, hübsche und freche Partnerin Tanners

Podestà, Franz, Dr., Prokurist bei der Banca Nazionale del Lavoro in Bozen

Rosenfeld, Hera, Dr., provisorische Chefin der Kurklinik Bruneck

Sartori, Peter, Lebensgefährte Ursulas

Schluzzer, Paulas Cousin und Tanners Famulus

Schneidig, Rose-Marie, Dr., Ärztin und Jugendfreundin Tanners

Staudinger, Alois, pensionierter Polizist

Tappeiner, Stefano, Finanzchef der Privatklinik Santa Gertrude

Tiberio, Tanner, 56, Genussmensch und Leiter der Detektei Diskretion & Fazit mit Bürositz Bozen. Privatanschrift: Altenburg, Fraktion der Gemeinde Kaltern

Weitere Personen: Ehrbare Bauern, Mitarbeiter der Questura Bozen, obskure Verdächtige aus ganz Südtirol, diverse Langweiler und Snobs

Eins

Wie immer ließ Tanner sein Auto in einer Parkbucht am Bach stehen. Kühle Luft stieg herauf. Vor ihm auf der Promenade lagen die vier altertümlichen Ecktürme und die inmitten der grünen Weinranken in die Höhe ragenden Gemäuer des Schlosses Maretsch.

Nach dem quirligen Trubel der Bozner Altstadt genoss er den Weg entlang der Wassermauer, nahe am Stadtzentrum, aber doch im Grünen. Beim Haus Schönblick stieg er rechts die Stufen hinunter, die ihn zum Talfergries und in leichten Schwüngen am Fluss entlang zu seinem Büro führten.

Tanners Schritte verlangsamten sich, je näher er dem Büro kam. Heute war ihm jeglicher Enthusiasmus für die Büroarbeit abhandengekommen. Einen Moment blieb er vor der Tür stehen und starrte auf das Schild, das so blank geputzt war, dass er darin sein Spiegelbild sehen konnte.

DETEKTEI DISKRETION & FAZIT

DISCREZIONE E RISULTATO

TIBERIO TANNER

In seinem Büro war es heiß und stickig. Er hängte sein Sakko in den Schrank, setzte sich an den Schreibtisch und dachte über sein Tagesprogramm nach. Ein neuer Auftrag war nicht in Sicht, die Büroarbeit würde rasch erledigt sein: alte Unterlagen lochen und die halb leeren Ordner in seinem neuen IKEA-Regal verstauen. Von seinem letzten Auftrag hatte er noch die Rechnung an seinen Auftraggeber zu schreiben. Letzteres tat er am liebsten.

Leichte Rückenschmerzen trieben ihn ans Fenster, er sah auf die steinerne Mauer am Ufer des Talferbachs, der Richtung Süden floss, wo er sich nach Bozen mit dem Eisack vereinte. Von der Stadtpfarrkirche Sankt Nikolaus schlug es zehn Uhr. Um diese Zeit war er früher bei Fiat schon zwei Stunden damit beschäftigt gewesen, die diversen, in seinem Terminkalender vermerkten Besprechungen in die Tat umzusetzen. Tanners Gedanken wanderten zurück in die ehemalige Arbeitsumgebung in Turin und an das Ende seiner beruflichen Tätigkeit. Nach dreißig Jahren im Management, zuletzt als Mitglied der Geschäftsleitung, war es im Zuge der Fusion des Fiat-Konzerns mit Chrysler auch zu Anpassungen im Personalbereich gekommen. Er erinnerte sich, als ihn der Chef in sein Büro beorderte und ihn mit den Worten »Nehmen Sie Platz« begrüßte. Während der Boss unruhig vor ihm auf und ab marschierte, bekam Tanner das Gefühl, nur noch Befehlsempfänger zu sein. Fünf Minuten später war sein Vertrag einseitig aufgelöst und er stand mit sechsundfünfzig und einer mageren Abfindung auf der Straße.

Ohne lange zu überlegen, beschloss er damals, Zeit und Geld in eine neue Karriere zu investieren. Einige Zeit verbrachte er als junger Nachwuchslehrling bei einem Mailänder Detektivbüro und erwarb in einer mehrmonatigen Ausbildung die Arbeitsberechtigung als sogenannter Berufsdetektiv, ausgestattet mit Kompetenz und Faktenwissen in Kriminologie, Rechtskunde und Personenschutz, amtlich examiniert und mit einer von der Behörde ausgestellten Legitimation. Mit Lichtbild.

Von seinem Büro aus sah er auf die im Wind zitternden Äste der Bäume, die entlang der Straße standen und auf die braune Wiese, die von zahlreichen umherhüpfenden Krähen bevölkert war. In den letzten Tagen war das Grün immer stärker den bunten Farben des beginnenden Herbstes gewichen.

Das Telefon klingelte, und das plötzliche Geräusch erschreckte ihn. Nicht sein Handy war es, sondern das Festnetztelefon, das auf dem Schreibtisch stand. Einen Augenblick überlegte er, das Telefon läuten zu lassen und nicht abzuheben. Ob es Paula war? Nein. Die würde auf seinem Handy anrufen. Der Blick auf das Display zeigte ihm eine unbekannte Festnetznummer. Vielleicht war es ein Kunde. Ein Detektiv hat stets für seine Kunden da zu sein, auch wenn es sich nur um einen potenziellen Klienten handelte. Zudem könnte er einen neuen Auftrag gut gebrauchen. Noch einmal läutete das Telefon und diesmal, wie es ihm schien, besonders laut. Unaufmerksam drückte Tanner den Hörer ans Ohr und brauchte einige Augenblicke, bis er den Namen des Mannes verstand.

»Wie war Ihr Name?«

»Hier ist Kogler. Henrico Kogler. Zum besseren Verständnis: Ich bin der Kellermeister von Filippo Murach.«

»Filippo wer?«

»Weingut Baron Filippo von Murach. Lassen Sie mich raten, Herr Detektiv … Sie sind leidenschaftlicher Biertrinker.«

»Ich bin leidenschaftlicher Weinliebhaber«, sagte Tanner, vielleicht eine Spur zu laut.

»Sie brauchen nicht gleich beleidigt sein. Noch mal von vorn: Henrico Kogler … ich bin der Kellermeister des Herrn Baron. Und wir brauchen Ihre Unterstützung.«

»Wer ist wir?«

»Ich und noch einer aus der Weinbranche. Ein Freund und Gesinnungsgenosse.«

»Und welcher Art soll die Unterstützung sein, die Sie und Ihr Gesinnungsgenosse brauchen?«

»Ihre Dienstleistung als Detektiv ist gefragt. In einer heiklen Angelegenheit, verstehen Sie?«

»Heikle Angelegenheiten sind meine Stärke. Worum geht es genau?«

»Nicht am Telefon. Die Angelegenheit ist nicht nur heikel, sondern auch bedrohlich und geradezu gefährlich.«

»Bedrohlich und geradezu gefährlich«, wiederholte Tanner.

»Kennen Sie das Gasthaus Ötzi in Vernagt? Eine Dreiviertelstunde von Meran entfernt.«

»Meinen Sie den Ort, wo der versunkene Kirchturm manchmal aus dem Stausee ragt?«

»Im Schnalstal. Genau dort.«

»Geht’s nicht etwas einfacher? Der Ort liegt fast zweitausend Meter hoch. Mitten in den Ötztaler Alpen.«

Tanner hörte den Mann, der sich mit Henrico Kogler vorgestellt hatte, heiser lachen. »Darum ist es der ideale Ort für unser konspiratives Treffen. Dort sieht und hört uns keiner.« Wieder das heisere Lachen, gefolgt von einem Hustenanfall. »Außerdem können Sie mit Ihrem Wagen bis zur Eingangstür des Gasthauses fahren. Wenn Sie ein ordentliches Auto haben. Und der Ort liegt nur eine Dreiviertelstunde von Meran entfernt.«

Tanner dachte an seinen alten Fiat und seufzte.

»Also! Wie entscheiden Sie sich, Herr Detektiv?«

»Wie sind Sie überhaupt auf mich gekommen?«

»Jemand hat Sie mir empfohlen.«

Tanner wollte schon fragen, wer ihn angepriesen hatte, überlegte es sich aber anders.

»Gut, dass Sie nicht danach fragen. Ich hätte ohnehin nicht verraten, wer Sie gelobt hat. Wenn Sie ein schlechter Detektiv wären, hätte ich Sie nicht angerufen.«

Tanner überlegte einen Moment, was er antworten sollte. »Wenn ich ein guter Detektiv wäre, würde ich nicht in die Ötztaler Alpen fahren, um einen Auftrag von Ihnen anzunehmen.«

»Also! Wie entscheiden Sie sich, Herr Detektiv?«

»Wann soll ich dort sein?«, hörte sich Tanner fragen.

*

»Was gibt’s zum Abendessen?«, fragte Tanner, als er Paulas Wohnung betrat.

»Zuerst erwarte ich einen Guten-Abend-Kuss, dann darfst du ans Essen denken.«

Tanner umarmte sie und wagte gleichzeitig noch einen Blick in den Spiegel.

»Wenn du dich noch einmal wie ein Pfau im Spiegel betrachtest, während du mich küsst, kannst du dein Essen selbst zubereiten. Und hör auf, den Bauch einzuziehen. Dafür bist du nämlich nicht schlank genug. Es ist übrigens bekannt, dass bei Männern, die plötzlich beginnen, auf ihre Figur zu achten, der Verdacht aufkommt, dass sie sich eine Freundin zugelegt haben.«

Tanner setzte sich an den Küchentisch und beobachtete mit wachsender Begeisterung, wie Paula das Abendessen zubereitete.

»Es gibt Neuigkeiten.« Paula nahm den Topf vom Herd und drehte sich zu ihm um, während sie weiter umrührte. »Morgen früh beginnt ein zweitägiger Kongress in Meran, an dem ich teilnehmen muss. Verpflichtende Fortbildung für Apotheker.«

»Und Apothekerinnen«, ergänzte er und runzelte die Stirn. »Ich muss morgen um zehn Uhr in Vernagt sein. Irgendwo dort, wo man den Ötzi gefunden hat.«

»Was hast du mit dem Ötzi zu tun?«

»Zwei Männer wollen mir einen Auftrag geben.«

»Was erwarten die beiden von dir?«

»Keine Ahnung. Worum es geht, wollen sie mir bei dem geheimnisvollen Treffen in Vernagt erzählen.«

»Vernagt liegt im Schnalstal. Das passt gut«, sagte sie, stellte den Kochtopf weg und drückte ihm einen Hochglanzprospekt in die Hand. »In dem Hotel findet mein Kongress statt.«

Panorama-Spa Alpinpool-Resort Meran, las Tanner. Auf dem Titelbild war eine Frau im Schneidersitz abgebildet, die mit geschlossenen Augen und halb erhobenen Armen glücklich in den warmen Schein der untergehenden Sonne lächelte.

»Was meinst du mit passt gut?«

»Ganz einfach. In diesem Hotel übernachte ich. Du fährst mich da hin und dann weiter zu deinem Termin in den Ötztaler Alpen. Das Schnalstal ist nicht weit von Meran entfernt. Nach deiner Besprechung kannst du bei mir im Hotelzimmer übernachten, auf einer Couch … oder einem Notbett.«

»Ich liebe Notbetten«, murmelte er und faltete den Hochglanzprospekt auseinander.

Vitalcenter, las er, Thalassotherapie und Wellness-Oase. Lifestyle und tiefgreifende Erlebnisse mit unseren Ayurvedapaketen. Bei dem Gedanken an die Ayurvedapakete bekam er spontan eine Gänsehaut. Früher stand in einem Hotelprospekt, dass sie ruhige und saubere Zimmer haben, dachte er und gab Paula die Broschüre zurück.

»Du solltest dich entscheiden«, sagte sie und fächelte sich mit dem Prospekt frische Luft zu. »Ich muss dem Hotel melden, dass ich nicht alleine im Zimmer übernachten werde.«

»Wegen des Notbetts.« Wie sehr liebte Tanner dieses Gefühl. Zuerst extreme Anspannung und dann extreme Verwirrung. »Seit ich dich kenne, bringst du mein Leben durcheinander.«

»Du kannst froh sein, dass es mich gibt. So darfst du in den schönsten Hotels in Meran absteigen. Wenn du mich nicht kennengelernt hättest, würdest du in einer obskuren Kneipe sitzen und mit irgendeinem Flittchen flirten.«

Tanner drehte den Kopf und sah nachdenklich aus dem Fenster. Obskure Kneipe … welche romantische Musik würden die da wohl spielen?

Zwei

Val Senales stand auf dem Schild. Schnalstal. Eines der linken Seitentäler des Unteren Vinschgaus. Kurz nach Naturns verließ er die SS 38 und folgte dem Schnalser Bach nach Nordwesten, der ihn in engen Kehren stets bergauf führte, vorbei am steil aufragenden Schloss Juval, in dem sich eine der Ausstellungen Reinhold Messners befand, die er gemeinsam mit Paula vor einigen Wochen besucht hatte.

Wie weiße Punkte zeichneten sich die Bauernhöfe ab, die zu jahrhundertealten Weilern gehörten, die sich links und rechts die steilen Hänge hinaufzogen. Hoch über dem Tal thronte die Pfarrkirche von Katharinaberg. Tanner hielt auf dem kleinen Platz vor der Kirche. Ein Holzschild klärte ihn darüber auf, dass früher hier eine Ritterburg stand, bevor sie von fleißigen Mönchen abgetragen wurde und der heutigen Pfarrkirche Platz machte. Das Schild informierte ihn auch, dass das Gotteshaus der heiligen Katharina von Alexandrien geweiht war. Von dieser heiligen Frau hatte Tanner noch nie gehört. Er drehte eine Runde durch das Gotteshaus und bewunderte die mächtigen Tonnengewölbe des Kirchenschiffs mit den Rundbogenfenstern und dem mehreckigen Chor.

Das Wetter war schön und Tanner setzte gut gelaunt die Fahrt fort. Auf Holzbrücken kreuzte er mehrmals den Schnalser Bach. Die enge Straße wand sich in steilen Serpentinen zwischen Felsblöcken und Schuttkegeln den Berg hinauf, bis er, umgeben von den Dreitausendern der Ötztaler Alpen, den Stausee in Vernagt erreichte.

Er parkte direkt vor dem Gasthaus Ötzi, neben dem zwei SUVs standen. Waren das die Autos seiner beiden Gesprächspartner? Die Uhr zeigte ihm, dass er bereits fünf Minuten zu spät war. Im Vorbeigehen bewunderte er den smaragdgrünen See, in dem sich die strahlend weißen Spitzen der Dreitausender spiegelten.

In der Gaststube saßen einige Männer beim Bier. Selbstbewusste Bauerngesichter sahen ihn an, Männer mit strubbeligen Haaren, kräftigen Bäuchen und blauen Schürzen.

»Ich bin mit zwei Herren verabredet«, sagte Tanner zu dem Wirt, der ihm ein paar Schritte entgegengekommen war und auf eine Tür im Hintergrund der Gaststube deutete. »Die warten schon auf Sie.«

»Schön, dass Sie pünktlich sind«, sagte der Ältere der beiden und sah auf die Armbanduhr. »Nehmen Sie Platz.«

Tanner bestellte ein Mineralwasser und ein Glas Weißburgunder vom Lehengut, hauptsächlich weil der Wein von den Hängen des Galsauner Sonnenbergs kam. Immer Weine aus der Region trinken, sagte er sich.

Die beiden Männer grinsten und nickten sich gegenseitig zu. »Gute Wahl«, sagte der eine zu Tanner. »Sie sind unser Mann.«

Als der Wirt den Raum verlassen hatte, stellte sich der Ältere mit dem Namen Arnoldo Sartini vor.

»Dann sind Sie Henrico Kogler«, sagte Tanner zu dem anderen.

Der Mann nickte. »Wir haben gestern telefoniert.«

Tanner sah den beiden Männern ins Gesicht. »Sie machen es richtig geheimnisvoll. Konspiratives Treffen am Rand eines abgelegenen Stausees auf siebzehnhundert Meter Seehöhe.«

Der eine Mann, der Tanner gegenübersaß, wollte antworten, unterbrach sich aber und wartete, bis der Wirt die Getränke abgestellt und den Raum wieder verlassen hatte. Tanner nahm einen Schluck, lehnte sich zurück und wartete, was jetzt kam.

Etwas umständlich stellten sich die beiden zuerst vor, wobei Henrico Kogler als Sprecher fungierte, während der andere den Mund nicht aufmachte und Tanner nicht aus den Augen ließ.

»Baron Filippo von Murach ist einer der größten und renommiertesten Weingutbesitzer im Meraner Land. Und ich bin seit Jahren der Kellermeister des Barons.«

Kogler trug verwaschene Jeans und ein dunkelblaues Sakko. Mit seinen nach unten hängenden Mundwinkeln machte er einen verbitterten Eindruck, was Tanner nicht so recht einschätzen konnte. Vielleicht entsprach seine Mimik auch der Rolle, die er mit dem anderen für das Gespräch verabredet hatte. Jedenfalls konnte sich Tanner nicht vorstellen, dass Kogler irgendwann in seinem Leben gelacht hatte.

Mit einer wedelnden Geste zeigte er auf den neben ihm sitzenden Mann, einen schlanken, liebenswürdig wirkenden Vierziger mit Vollglatze, der wortlos in die Brusttasche seiner dunkelblauen Samtjacke griff und eine Visitenkarte vor Tanner auf den Tisch legte. Arnoldo Sartini. Weingut Schloss Sartini. Plaus bei Naturns.

»Arnoldo Sartini«, sagte der Glatzkopf mit samtener Stimme. »Nun noch einmal ganz offiziell. Besitzer des Weinguts und des angeschlossenen Boutique-Hotels. Und guter Freund des Barons.«

Sartini trug einen sorgfältig gestutzten Dreitagebart und war im Gegensatz zu dem neben ihm sitzenden Kogler auffällig gut gekleidet. Sogar der Knoten seiner dezent gestreiften Krawatte saß vorschriftsmäßig in der Mitte des weißen Hemdes. So wie der Mann aussah, würde ihn Paula wahrscheinlich als gut aussehend bezeichnen.

»Also …« Tanner klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch. »Welche krummen Dinge soll ich für Sie erledigen?«

»Nicht so ungeduldig«, sagte Kogler. »Bevor wir darüber reden, beantworten Sie uns zuerst die Frage, wie gut Sie sich mit der Weinherstellung auskennen.«

»Weinherstellung?« Tanner zog die Stirne kraus. Er war eher in der Konsumation zu Hause.

»Ich meine den gesamten Produktionsprozess … von der Traube zur Maische und weiter bis zur Gärung und Abfüllung. Wie gut beherrschen Sie diese Materie?«

Tanner wartete mit der Antwort, bis ihm eine eingefallen war. »Ich kenne Weiß- und Rotwein«, sagte er und nahm einen großen Schluck von seinem Weißburgunder.

Kogler sah Sartini hilfesuchend an. »Da müssen wir wohl etwas nachhelfen.«

»Treffen Sie keine vorschnellen Schlüsse«, schob Tanner nach. »Ich bin nämlich ausgewiesener Experte in der Kellerwirtschaft, ich weiß, dass sich Önologie vom griechischen König Oineus ableitet und dass man als italienischer Autofahrer mit mehr als 0,5 Promille nicht mehr hinters Steuer darf.«

Aus Koglers Richtung tönte ein leises Seufzen herüber. »Hören Sie zu, Herr Detektiv, es geht mehr oder weniger um den guten Ruf unserer Weine, verstehen Sie? Achtundneunzig Prozent der Südtiroler Rebflächen tragen das Gütesiegel DOC, das unseren Kunden eine Qualitätsgarantie bietet. Leider gibt es in unserer Region ein kriminelles schwarzes Schaf und ein Delikt, das man mit banden- und gewerbsmäßigem Betrug bezeichnen kann, verstehen Sie?«

Kogler dozierte noch eine ganze Weile über die Gütemerkmale der Südtiroler Weine, kam aber nicht zur Sache. Schon während seiner Berufsjahre bei Fiat hatte Tanner Gesprächspartner nicht gemocht, die nach jedem zweiten Satz die Frage Verstehen Sie? einfügten, so als ob sie ihr Gegenüber als geistig minderbemittelt einschätzten.

»Sie sprachen von einem schwarzen Schaf«, sagte Tanner. »Hat das Schaf auch einen Namen?«

Kogler nickte. »Raffetseder heißt der Mann, verstehen Sie? Er hat ein Weingut in Kastelbell im mittleren Vinschgau. Die Gemeinde, in der er zu Hause ist, heißt Kastelbell-Tschars, kurz nach der Einfahrt ins Schnalstal. Sein protziges Weingut liegt direkt neben dem Schloss Kastelbell.«

»Und was werfen Sie dem Mann vor?«

»Zwei Vorwürfe stehen im Raum. Erstens der unzulässige Verschnitt minderwertiger Weine aus diversen Anbaugebieten. Auch ausländische Billigweine sollen verarbeitet werden. Billigste Weinpanscherei, verstehen Sie?«

Die Sonne schien durch die Scheiben der Gaststube und spiegelte sich auf Sartinis Glatze.

»Und das zweite Delikt?«

»Was meinen Sie?« Kogler schüttelte den Kopf.

»Sie sagten vorhin, dass Sie Raffetseder wegen zweier Verfehlungen beschuldigen.«

»Da ist noch die Sache der Vermarktung von Übermengen«, griff Sartini helfend ein. »Wein aus unrechtmäßiger Herstellung, nennen wir das, Übermengen also, die eigentlich der Destillation hätten zugeführt werden müssen. Wir schätzen, dass mehr als eine Million Liter als Biowein deklariert wurden. Das Schlimmste aber ist der Verschnitt der Weine unterster Qualität. Vermutlich wurden falsche Etiketten für die Flaschen und das Verpackungsmaterial hergestellt.«

Tanner hob den Kopf und sah den beiden ins Gesicht. »Weinfälschung … ist das normal bei den hiesigen Winzern?«

»Was ist schon normal in der heutigen Zeit?« Kogler grinste.

»Aber nicht doch«, sagte Sartini laut. »Normal ist das nicht. Wir in Südtirol sind ehrliche Winzer. Aber wie in jeder Branche gibt es auch bei uns schwarze Schafe. Und Raffetseder ist ein dunkelschwarzes. Da werden unter Einsatz von Eichenspänen, Eiweiß und synthetischen Enzymen die Geschmacksnuancen des Weins manipuliert, da wird oxydiert oder Feuchtigkeit entzogen, um künstlich einen Wein herzustellen, der alles andere ist als ein Naturprodukt. Von biologisch will ich gar nicht reden. Im Fall Raffetseder geht es wahrscheinlich um Millionen Hektoliter.«

»Wohin gehen die gepanschten Weine? Ins Inland?«

Sartini schüttelte den Kopf. »Selten. Zu gefährlich. Weinfälschung ist zwischenzeitlich ein internationales Geschäft geworden. Im Vordergrund stehen Osteuropa und China. Dort gibt es Millionen betuchter Kunden, die wenig bis nichts vom Wein verstehen.« Kogler ballte die Faust. »Und deshalb werden wir uns den Gauner jetzt kaufen, verstehen Sie?«

»Und das Kaufen soll ich für Sie übernehmen?«

Sartini nickte und schenkte Tanner ein freundliches Lächeln. »Für guten Sold natürlich.«

»Wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen? Alleine in Bozen gibt es mehrere Detektivbüros und Wirtschaftsdetekteien.«

»Sie haben als Detektiv einen guten Ruf. Sie gelten als kompetent und verschwiegen«, sagte Kogler.

»Wie recht Sie haben«, erwiderte Tanner.

Die Tür ging auf und der Wirt steckte den Kopf herein. Tanner hob sein leeres Glas hoch, was der Wirt mit einem Lächeln zur Kenntnis nahm.

»Und was erwarten Sie genau von mir?«, fragte Tanner.

»Unser Auftrag ist ganz einfach. Sie verschaffen sich Zugang zu den Kellereien Raffetseders, machen einige aussagekräftige Fotos und entnehmen aus unterschiedlichen Behältnissen Proben.«

»Aus unterschiedlichen Behältnissen«, wiederholte Tanner.

»Es ist wirklich simpel«, sagte Kogler. »Wir werfen dem Gauner Manipulation in allen Teilprozessen des Herstellungsprozesses vor, angefangen vom Ansetzen der Maische, einer hinterher vorgenommenen Anreicherung, möglicherweise auch Schwefelung oder späterer Einflussnahmen bei der Gärung, dem Ausbau oder im Rahmen der Reifung.«

Tanner wollte gerade eine Frage stellen, als Sartini in seine Aktentasche griff, die neben ihm auf der Bank lag, und zwei Blätter vor Tanner hinlegte.

»Das ist es im Detail, was wir von Ihnen wollen.« Mit dem Zeigefinger klopfte er auf das oberste Blatt. »Das sind die Pläne der Kellereien, und wir empfehlen Ihnen, hier in den Gärkeller einzusteigen. Die kleine Tür hier seitlich wird für Sie offen stehen.«

»Und wenn sie versperrt ist?«

»Vertrauen Sie mir. Sie wird für Sie geöffnet sein. Wir haben im Vorfeld bei Raffetseder gründlich recherchiert.« Mit dem Finger fuhr er quer über den Grundrissplan. »Wir brauchen Proben aus dem gesamten Produktionsprozess, aus allen Behältern, die auf dem Plan mit den Nummern 1 bis 5 versehen sind.« Wieder griff er in seine abgenutzte Aktentasche und holte fünf kleine Fläschchen heraus, die ebenfalls die Ziffern 1 bis 5 trugen.

»Von diesen Behältern brauchen wir Proben, die Sie in die richtige Flasche füllen. Für einen Weinfachmann wie Sie eine Kleinigkeit, verstehen Sie?«

Tanner verstand.

»Seien Sie vorsichtig, wenn Sie in den Gärkeller hinuntersteigen. Möglicherweise sind nachts die elektronischen Kohlendioxyd-Melder außer Betrieb. In diesem Fall empfehle ich Ihnen die alte Methode mit der Kerze. Halten Sie sie ganz unten auf den Boden. Sobald die Kerze erlischt, ist Gefahr im Verzug. Zuviel Dioxyd und zu wenig Sauerstoff.«

»Wann muss das Ganze über die Bühne gehen?«, fragte Tanner,

»Es ist wichtig, dass Sie das Ganze während der nächsten zwei Tage erledigen. Wir konnten uns Kopien der Raffetseder’scher Erntetagebücher beschaffen. Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um dem Schweinehund die Betrügereien nachzuweisen.«

»Wie sind Sie an diese Unterlagen gekommen?«

Kogler lachte. »Nicht nur in der hohen Politik gibt es Whistleblower, auch bei den Südtiroler Winzern laufen hilfreiche Menschen herum, die einem mit etwas Geld Informationen und Unterlagen beschaffen.«

»Warum zeigen Sie Raffetseder nicht einfach an und lassen die Staatsanwaltschaft ermitteln? Damit stoppen Sie seine Betrügereien und sind einen lästigen Konkurrenten los.«

Sartini schnaufte. »Wenn es so einfach wäre. Wer glaubt schon ohne Nachweis einem Wettbewerber? Natürlich kommt es irgendwann zu einer Anzeige, aber zuerst müssen wir die Beweise haben. Und die werden Sie uns liefern.«

»Und außerdem«, unterbrach Kogler, »geht es um den Ruf des Südtiroler Weins an sich. Ein Skandal wäre tödlich und würde das Vertrauen bei unseren Kunden nachhaltig erschüttern. Denken Sie an den österreichischen Weinskandal. Der ist bis heute in aller Munde. Den Fehler, den die Österreicher damals begangen haben, werden wir in Südtirol nicht wiederholen. Das Weingut Raffetseder wird von uns diszipliniert werden, aber ohne Skandal und ohne Spektakel in der Presse.«

»Ohne Spektakel«, sagte Tanner. »Warum machen Sie das Ganze nicht selbst?« Er zeigte auf den Grundrissplan am Tisch. »Sie haben recherchiert, und Sie kennen die Räumlichkeiten im Detail. Warum soll ich in die Höhle des Weinlöwen?«

»Es darf nicht der geringste Verdacht aufkommen, dass wir dahinterstecken«, entfuhr es Kogler.

»Jetzt kommt die Wahrheit ans Tageslicht.« Tanner grinste. »Lassen Sie mich raten, wie Sie sich das vorstellen … zum Beispiel, wenn man mich schnappt. Dann darf ich Sie nicht als Auftraggeber angeben. Stimmt’s? Und was sage ich dann? Vielleicht patrouillieren nachts schwer bewaffnete Wachen durch die ganzen Räume, oder sie haben Alarmanlagen installiert, oder Raffetseder hetzt scharfe Hunde auf mich. Wenn man mich auf frischer Tat bei einem Einbruch erwischt, ist meine Karriere als Detektiv im Eimer, und ich wandere ins Bozner Gefängnis.« Tanner klopfte auf die Pläne vor sich. »Das ist ein verdammtes Himmelfahrtskommando, das mich direkt in die Strafanstalt bringt.«

»Übertreiben Sie nicht«, sagte Kogler. »Nach unseren Informationen sind Sie ein erfahrener Detektiv. Raffetseder fährt keine Nachtschichten. Ab zwanzig Uhr sind die Weinkeller menschenleer. Sie bekommen alle notwendigen Informationen von uns, um das Risiko auf Minimalniveau zu halten.«

»Minimalniveau, dass ich nicht lache. Ich hab was gegen ein Selbstmordkommando, das mich zwei Jahre hinter Gittern bringt. Wenn nicht länger.«

»Es gibt ein attraktives Honorar«, sagte Kogler.

Tanner trank das Weinglas leer. Er hatte sich ein inneres Nicken antrainiert, ohne dass ihm jemand seine Zustimmung anmerkte. »Jetzt wird’s interessant. Lassen Sie hören.«

*

Was für ein eigenartiges Gespräch, dachte Tanner, während er auf der SS 38 Richtung Meran fuhr. Als er durch den kleinen Ort Rabland nahe der Talsohle des Vinschgaus fuhr, schob er eine alte CD mit Donizettis Arien aus Lucia di Lammermoor in das Radio. Einige Minuten lang verfolgte er Erika Köths Bemühungen, mit der Rolle der Lucia klarzukommen, dann schaltete er die Musik aus. Bei dem Gedanken an seinen Auftrag fühlte er sich nicht wohl. Erstens hatte er sich seinen Auftraggebern gegenüber bereit erklärt, eine massive Rechtsverletzung zu begehen. Noch schwerer wog aber, dass er sich fachlich nicht genügend auf der Höhe fühlte, um den Anforderungen des Falles gerecht zu werden. Weinliebhaber zu sein und einen Chardonnay treffsicher von Weißburgunder zu unterscheiden, reichte hier als Expertise nicht aus.

Eine halbe Stunde später schlich Tanner müde durch die klimatisierte Halle des Panorama-Spa Alpinpool-Resort-Hotels in Meran. Wie in einer gotischen Kathedrale strebten schlanke Säulen zur Decke, wo sie sich zum sternenförmigen Gewirr eines Kreuzrippengewölbes vereinten. Die beiden Portiere lümmelten gelangweilt hinter dem Tresen und richteten sich schlagartig auf, als Tanner die Lobby betrat. Kurz nach ihm wurde die Drehtür in kreisende Bewegung gesetzt, und eine Gruppe gut gelaunter Frauen und Männer betrat lärmend die Hotelhalle. Wahrscheinlich Teilnehmer an dem Apothekerkongress, die froh waren, dass das Vortragsprogramm für diesen Tag zu Ende war.

Ein Ehepaar, nach dem Dialekt aus der Schweiz, kam eiligen Schrittes in die Hotelhalle, steuerte die Rezeption an und begann übergangslos ein lautstarkes Gespräch mit einem der Portiere, der in seiner phantasievollen Uniform wie ein altösterreichischer General wirkte. Leise Volksmusik tönte aus unsichtbaren Lautsprechern. Lyrische Instrumentalklänge, aus denen Tanner Gitarre, Flöte und Hackbrett heraushören konnte. Ein gut frisierter Herr in dunkelblauem Anzug und mit schwarzem Aktenkoffer stand am Fenster und sprach leise in sein Mobiltelefon.

Zielstrebig fuhr Tanner mit dem Lift in den dritten Stock und klopfte zaghaft an die Zimmertür mit der Nummer 322.

Paula dampfte förmlich noch, als sie vorsichtig die Tür öffnete. Sie hatte ein Handtuch wie einen Turban um den Kopf gewickelt und trug einen flauschigen Bademantel.

»Ich komme gerade aus der Dusche«, sagte sie unnötigerweise. »Wie geht es dir? Du siehst müde aus.«

»Das mag ich an dir«, sagte er, »dass du deine Fragen selbst beantwortest.«

»Meine Frage war, wie es dir geht.«

»Ich habe einen neuen Auftrag.« Tanner erzählte von seinem Gespräch mit den beiden Männern.

»Gehen wir in die Hotelbar«, sagte sie. »Deinen neuen Auftrag müssen wir feiern.«

»Ich habe keine Lust mehr, wegzugehen. Am liebsten würde ich hier im Zimmer bleiben und die Minibar plündern.«

»Du hast recht. Außerdem ist die Hotelbar unten sicher vollgestopft mit all den Kongressteilnehmern, die mir schon den ganzen Tag auf die Nerven gehen.«

»Ist dein Kongress wenigstens interessant?«

»Man trifft immer die gleichen Vortragenden, die vor den gleichen Teilnehmern über die gleichen Themen reden. Networking nennen die das.«

»Worum geht es eigentlich in deinem Seminar?«

Paula drückte ihm einen Zettel in die Hand.

Kongress der Südtiroler Apothekerkammer

Fortbildung für Apotheker/innen im Panorama-Spa Alpinpool-Resort Meran

09:00 UhrApotheken zwischen High Touch und High Tech

Prof. Dr. Willibald Eisner, Policlinico Universitario Agostino Gemelli, Rom

10:00 Uhr Frühe Demenz bei Männern

Dr. med. Carla Pedesta, Policlinico Federico II, Napoli

10:30 UhrTrainingstherapien für Männer im fortgeschrittenen Alter

Prof. Dr. Emily Gimero, Universitā di Milano, Istituto di clinica medica.

11:00 Uhr Sinn und Unsinn von Homöopathie

Ayurveda-Berater Gundolf Schüssler, Heilpraktiker

12:00 UhrDigitalisierung und Telemedizin im medizinischen Umfeld

Dr. Petrovich Scharlatansky, Prag, ČSSR

»Die beiden Programmpunkte von zehn bis elf Uhr halte ich für sexistisch. Kein Wunder, dass hier Frauen am Rednerpult stehen.«

Tanner wedelte mit dem Zettel. »Und? Gibt es neue Erkenntnisse in der Pharmazie?«

Paula schüttelte den Kopf. »Nichts Neues. Stets dieselben alten Geschichten, nur werden sie immer von neuen Menschen erzählt. Täusche ich mich, oder bist du nicht happy mit deinem neuen Klienten?«

»Mit dem Klienten bin ich zufrieden. Nur was sie erwarten, geht über meine Kenntnisse. Die sehen in mir eine unfehlbare Weinautorität. Das gefällt mir nicht.«

Paula musterte ihn und Überraschung stand in ihrem Gesicht. »Tiberio, du trinkst seit vierzig Jahren Wein. Und meist sogar zu viel. Folglich gehst du locker als Experte durch.«

»Natürlich weiß ich, dass Lago di Caldaro für trockene, hellgranatrote Weine mit Bittermandel-Bouquet steht, die hauptsächlich aus Vernatsch, Lagrein oder Pinot Nero hergestellt werden und die Zusatzbezeichnung Classico tragen dürfen, sofern sie aus dem historischen Bereich stammen.«

»Na also«, sagte Paula. »So weit gehen nicht einmal meine Kenntnisse.«

»Das reicht aber nicht. Zumindest entspricht es nicht dem, was ich für meinen Auftrag brauche. Meine Klienten verlangen, dass ich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in ein fremdes Weingewölbe einbreche, um aus Gärbottichen und unterirdischen Barriquekellern Proben zu entnehmen und in Fläschchen zu füllen.«

»Wo lieferst du die Flaschen ab?«

»In der Nähe des Weinkellers, den ich unter die Lupe nehmen soll, liegt das Schloss Kastelbell, von dem ein Wanderweg nach Norden geht, der hundert Meter weiter in die Via Montalban mündet. Dort steht eine alte knorrige Kiefer, die einen hohlen Stamm haben soll.« Er grinste. »Hohler Baumstamm als toter Briefkasten. Wie bei Sherlock Holmes.«

»Und wo liegen jetzt deine Bedenken?«

»Meine Wissenslücken liegen bei der technologischen Ausstattung einer modernen Kellerei, den Gerätschaften und Verfahrenstechniken.«

»Ich habe vor zwei Jahren ein Weinseminar besucht. Dort lernt man alles, was du für deinen Auftrag brauchst.«

»Weinseminar?«

»Weinseminar«, wiederholte Paula und klappte das Notebook auf, das auf ihrem Bett lag. »Hier! Eintägiger Weinworkshop der Kellerei Vinum Vulcanus in Nals bei Terlan. Beginn morgen um neun Uhr.«

»Was kostet das?«

»Zweihundert Euro. Geschenkt. Und die Seminarinhalte sind wie für dich gemacht.« Sie drehte den Laptop zu ihm, sodass er auf den Bildschirm sehen konnte.

»Was hältst du davon?«, fragte sie.

»Nicht schlecht. Nur neun Uhr ist verdammt früh.«

Drei

Nach einigen Kilometern auf der Via Principale Richtung Norden überquerte er die Etsch und folgte der schmalen Straße, die in Serpentinen zwischen den Weinbergen hinaufführte. Jedes Mal, wenn Tanner auf der SP 10 die Ortschaft Nals in nordwestlicher Richtung durchquert hatte, wunderte er sich, warum das unmittelbar anschließende Dörfchen Schernag zur Gemeinde Tilsens gehörte, obwohl es von dort aus nicht erreichbar war. Einige hundert Meter Richtung Prissian stand eine verwitterte Holztafel, auf der er den Namen WEINGUT VINUM VULCANUS entziffern konnte. Lautlos öffnete sich ein schweres schmiedeeisernes Tor, hinter dem sich der Weg in eine lange, wie mit dem Lineal gezogene Zufahrt verwandelte, an deren Ende ein steinerner Bergfried stand, der zur Gänze mit Efeu zugewachsen war und wie ein verwunschener Turm aussah. In einem kleinen Fenster am oberen Ende des massiven Rundbaus erschien für wenige Augenblicke eine junge Frau, rothaarig und außerordentlich hübsch, wie es Tanner vorkam. Etwas verschämt hatte sie den Kopf gesenkt und ihre Blicke trafen sich. Eine beklagenswerte Jungfrau, dachte Tanner, hinter dicken Mauern von einem brutalen Burgherrn gefangen und voll Sehnsucht nach dem Ritter in weißer Rüstung, der sie befreite. Das wird nichts, dachte er. Tanner hatte während der letzten Jahre an Gewicht zugelegt, so dass er sicher war, dass ihm seine weiße Rüstung nicht mehr passte.

Die Straße führte durch ein kleines Wäldchen und zog sich weiter schräg den Berg hinauf. Der Ansitz entpuppte sich als ein monströses, altes Steingebäude mit ineinander verschachtelten Dachvorsprüngen, unmotivierten Erkern und wuchtigen Balkonen. Alle Richtung Norden gerichteten Mauern waren mit graubraunen Flechten und grünem Moos überwuchert. Sein Blick fiel auf die hohen Ziegelschornsteine und eine zentral angeordnete gläserne Kuppel, die sich bis zu dem gewaltigen Steinportal herunterzog, was dem gesamten Ensemble den Eindruck einer theatralischen Mixtur aus Mittelalter und Kitsch verlieh.

Die Zufahrt endete in einem Straßenrund, das den Charakter eines mittleren Kreisverkehrs hatte, auf dem bereits rund zwanzig Autos parkten. Er hörte das Knirschen der Räder auf dem Kies, als er im Schritttempo dahinrollte, bis er zwischen zwei protzigen SUVs eine Lücke entdeckte, in der sein kleiner Fiat beinahe verschwand.

»Wir freuen uns, Sie zum Weinsymposium auf unserem Campus willkommen zu heißen.« Eine aufgedonnerte Blondine stürzte auf ihn zu und drückte ihm einen Zettel in die Hand. »Sie sind sehr pünktlich. Wir starten mit dem ersten Theoriereferat in genau vier Minuten.« Sie zeigte auf den Boden vor seinen schmutzigen Schuhen. »Die blauen Punkte am Boden führen Sie direkt in die Räume der Kellerei. Dort finden die Vorlesungen statt.«

Gemeinsam mit zwei Männern, die ihm freundlich zunickten, stieg er eine Marmortreppe nach unten und folgte den blauen Punkten, die ihn über einige verzweigte Gänge schließlich in den Vortragssaal führten. Etwa zwanzig Menschen, etwa gleich viele Frauen wie Männer, warteten mit verschränkten Armen oder blätterten in Unterlagen, die vor ihnen auf den Tischen lagen. Der Seminarraum war modern und funktional ausgestattet, als Teil des Kellergewölbes aber außerordentlich kühl und feucht. Nach fünf Minuten jagte der erste Kälteschauer durch Tanners Körper.

Zum Beginn des Seminars wurde viel Theorie vorgetragen. Der Referent, ein übergewichtiger Mann mit Nickelbrille, erinnerte ihn an seinen Mathelehrer auf dem Gymnasium. Genauso ermüdend, nur viel langweiliger. Mit sanfter, monotoner Stimme dozierte er über den Südtiroler Wein, berichtete, dass zwei Drittel der gesamten Menge in genossenschaftlichen Kellereien gekeltert wurden, ein Viertel aus dem Verband Südtiroler Weingüter stammt und fünf Prozent von den freien Weinbauern.

Interessant wurde es, als zwei Stunden später ein Programmpunkt an die Reihe kam, der sich Blick hinter die Kellertür nannte. »Wir gewähren Ihnen jetzt einen authentischen Blick hinter die Kulissen und lassen den Südtiroler Wein in einem völlig neuen Licht erstrahlen«, zwitscherte die aufgedonnerte Blondine, die er bereits kennengelernt hatte. »Hier im Keller adeln wir den Traubensaft zu aromatischen und erfrischenden Weißweinen und zu eleganten, ausgewogenen Rotweinen.« Tanner bewunderte den 2000 Liter fassenden Traubenwagen, durfte auf einem Lesefahrzeug LM‑31 der Firma Mörtl Platz nehmen und übte die Bedienung des schweren Maischewagens mit einem zugelassenen Gesamtgewicht von 2800 Kilogramm. Aufmerksam lauschte Tanner den Bemerkungen zur sogenannten Chemiekeule. »Während die böse Konkurrenz 14- und 18-mal mit dem Spritzwagen unterwegs ist, fährt der Ökowinzer zwischen ein- und viermal im Jahr zum Spritzen raus«, sagte die Blondine und nickte stolz. »Schwefeln gilt als unbedenklich, nur die Sache mit dem Kupfer wird von uns strikt abgelehnt.« Darüber war Tanner sehr froh. Im Rahmen der Kellerführung stellte er der aufgedonnerten Blondine noch einige tiefergehende Fragen, die für seinen Einsatz im Weinkeller Raffetseders wichtig sein könnten. Sicher ist sicher.

Nach dem Rundgang ging es zurück in den alten, kopfsteingepflasterten Gewölbekeller, der in der Zwischenzeit neu möbliert worden war. Tanner nahm an einem der beiden runden Tische Platz und freute sich darauf, dass nach der langweiligen Theorie nunmehr die Praxis des Verkostens auf dem Programm stand. Schließlich verstand er sich zutiefst als Mann der Praxis. Tanner fand es bemerkenswert, dass an seinem Tisch nur die Männer Platz genommen hatten, während sich die Frauen gegenüber versammelt hatten. Wieder war es die aufgetakelte Dame, die während der Weinprobe das Regiment übernahm. »Die nun vor uns liegende geruchliche und geschmackliche Prüfung der Weine erfordert eine ausgefeilte Degustationstechnik. Dabei geht es nicht nur um Schlürfen und Schlucken, sondern auch um die haptischen und die nasalen Empfindungen, mit denen wir Menschen ausgestattet sind.«

»Meine Gattin sitzt da drüben.« Der ältere Herr neben Tanner deutete mit dem Kinn zum Tisch der Frauen hinüber. »Sie hat ein derart aufdringliches Parfum, dass wir keine Chance hätten, die blumigen Noten des Weins wahrzunehmen.«

»Lassen Sie sich Zeit«, näselte die Blondine. »Schwenken Sie das Glas, damit sich die Aromen entfalten können. Vergessen Sie nicht, vor dem Geruch die Farbe des Weins zu beurteilen. Und essen Sie zwischendurch immer wieder ein Stückchen Schüttelbrot, um den Geschmack zu neutralisieren.«

Ab jetzt wurde die Sache zu einer echten Herausforderung, zumal alle fünf Minuten ein neuer Wein kredenzt wurde. Erst sehr spät wies ihn der ältere Herr darauf hin, dass zu Beginn der Weinprobe die aufgetakelte Blondine dringend empfohlen hatte, den probierten Wein in die dafür bereitgestellten Näpfe zu spucken. Diesen Hinweis musste Tanner überhört haben. Ab diesem Zeitpunkt ging es Schlag auf Schlag. In kurzer Taktfolge kamen immer neue Weine in das Probierglas, und bei jedem vollführte Tanner konzentriert die gleiche Prozedur: Farbe des Weins prüfen, riechen, Glas ein- bis zweimal schwenken, nochmals riechen und abfragen, was einem die Nase sagt. Danach die Probe mit ein wenig Luft am Gaumen zirkulieren lassen, bis sich die Aromatik voll entfaltet, um sich auf der Zunge auszubreiten und den Gaumen zu kitzeln. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, dass sich die zuvor in der Nase wahrgenommenen Nuancen in Geschmack umwandelten. Er hatte das Ziel erreicht.

Es war schon spät am Nachmittag, als er sich genötigt sah, Paula anzurufen.

»Das Weinseminar ist aus dem Ruder gelaufen«, sagte er und versuchte, deutlich zu artikulieren.

»Du lallst.«

»Du musst mich abholen.«

»Und dein Auto?«

»Lass ich hier stehen.«

Eine Dreiviertelstunde später saß er in Paulas Auto und versuchte, nicht in ihre Richtung zu atmen. Es war wenig Verkehr auf der Straße nach Meran, und der Wagen glitt ruhig durch die Nacht. Paula sprach kein Wort mit ihm.

»Interessiert dich, wie das Weinseminar war?«, fragte er, um die peinliche Stille zu durchbrechen.

»Wenn du möchtest«, sagte sie mit spitzer Stimme.

»Ich habe viel Theorie gepaukt. Und ich habe 87 Weine probiert. Nach professionellem Ritus. 42 Weißweine und 45 Rotweine. Eine Heidenarbeit.«

»Warum hast du dir die Zahl gemerkt?«

Er klopfte auf seine Brusttasche. »Ich habe akribische Aufzeichnungen angefertigt.«

»87 Weine … was für eine Herausforderung.« Paula grinste.

»Mach dich nicht lustig. 87-mal Geruch prüfen mit anschließender Gaumenzirkulation. Und sich 87-mal zwingen, das durchgegorene Analysegut zu schlucken.«

»Ich bin stolz auf dich.« Paula stöhnte. »Erfahrene Weinprüfer spucken den Wein nach dem Probieren aus.«

Jetzt stöhnte Tanner auf. »Glaub mir, Paula, ich hab es bei jedem Wein von Neuem probiert. Das mit dem Ausspucken. Es ging nicht.«

»Um Gottes willen. Hast du alles getrunken? Jetzt verstehe ich deinen Zustand.«

»Du darfst mich nicht verachten, Paula. Man kann mir alles nehmen, dachte ich während der Weinprobe, die Ehre, das Geld und meinen guten Ruf … nur das nicht, was ich hinuntergeschluckt habe.«

Vier

Nachdem er seine Kopfschmerzen mit einer überdurchschnittlichen Dosis Aspirin halbiert hatte, fuhr er mit dem Bus quer durch den mittleren Vinschgau, um seinen Fiat abzuholen, der immer noch vor dem Weingut in der Nähe von Nals stand. Es war kurz vor elf Uhr, und die Sonne war bereits vor drei Stunden hinter den Ötztaler Alpen untergegangen, als er den dunklen Schatten von Schloss Kastelbell hoch auf dem mächtigen Felsblock neben der Straße sah.

Für jeden Auftrag braucht man die richtige Arbeitskleidung. Aus seinem Kleiderschrank hatte er einen schwarzen Pulli zur schwarzen Hose ausgesucht und hoffte, dass ihn die Kleidung im Dunklen weitgehend unsichtbar machte. Ein kritischer Blick in den Spiegel bestätigte ihm, dass man in schwarzer Kleidung tatsächlich schlanker wirkte. Das wollte er Paula nicht vorenthalten, sodass er vor ihr einige beschwingte Schritte auf und ab tänzelte, was sie mit den Worten kommentierte: »Schwarz ist bei Weitem nicht dunkel genug, um dich wirklich schlanker erscheinen zu lassen.«

Kein Licht erhellte die Gegend, als er das Weingut Raffetseder erreichte. Genügend weit von den Gebäuden entfernt, stellte er den Wagen ab und näherte sich zu Fuß dem verwinkelten Komplex, bei dem es sich, so hatte Henrico Kogler erwähnt, um einen mittelalterlichen Ansitz handeln sollte, der aber mehrere Male umgebaut und mit modernen Anbauten ergänzt worden war. Wie ein klobiger Klotz erhob sich rechter Hand der Wohntrakt, neben dem einige Nebengebäude standen, in denen früher wohl das Gesinde untergebracht worden war. Im Hintergrund rauschte der Wald, und davor waren ein paar Schuppen zu erkennen und die weitverzweigte Haupthalle, die wohl der Weinerzeugung gewidmet war. Das niedrige Gebäude zog sich über die gesamte Breite des Grundstücks hin und verschwand im Hintergrund im Schatten mächtiger Baumkronen.

Tanner schlich an der Mauer entlang, um dem Lichtkegel einer einsamen Lampe zu entgehen, die den Hof beleuchtete. Vor seinem geistigen Auge glich er das Terrain mit dem Grundrissplan ab, den ihm Kogler ausgehändigt hatte. Hinter diesen Mauern mussten sich die Gärkeller befinden, in denen er seinen Auftrag erfüllen musste. Er fand die kleine Tür auf der Nordseite des Gebäudes, die ihm Kogler und Sartini zum Einstieg in die Kellerei empfohlen hatten. Hier war es dunkler, so dass er sich sicherer fühlte. Die kleine Tür hier seitlich wird für Sie offen stehen, hatte Sartini versprochen. Tanner drückte die Klinke nach unten und rüttelte einige Male. Natürlich war die Tür verschlossen.

Da war ein Geräusch zu hören. Tanner erstarrte, presste sich flach an die Gebäudewand und horchte in die Dunkelheit. Ein Tier mit langem Schwanz huschte über seine Füße. Kein Feind. Keine Panik.

Vorsichtig lugte er um die Ecke und schlich an der Außenwand der Halle entlang, wo er ein kleines, mit Spinnweben verhangenes Fenster entdeckte, durch das er schemenhaft große Tanks erkennen konnte. Hier war er richtig. Mit dem Messer kratzte er den brüchigen Kitt aus dem Rahmen, entfernte die Glasscheibe und nach einer Minute stand er zwischen zwei Tanks. Dort verharrte er einige Augenblicke und war froh, dass kein Bewegungsmelder ansprach und sich keine Scheinwerfer einschalteten.

Im Licht der Taschenlampe sah er kurz auf den Grundrissplan, verglich diesen mit der Wirklichkeit und schlich zu den Gärbottichen auf der linken Seite der Halle hinüber. Der Raum machte einen sauberen, aufgeräumten Eindruck. Weinherstellung ist eine saubere Angelegenheit.

Er erinnerte sich an die Warnung Koglers, zog den Kerzenstummel aus der Tasche und zündete ihn an. Kein Flackern. Kein Kohlendioxyd. Er blies die Kerze aus und verstaute sie in seiner Jackentasche.

In der Halle war es warm, es roch nach Wein, dem sich der scharfe Geruch von Trester überlagerte. Mannshohe Gärtanks standen in einer übersichtlichen Reihe Spalier, jeweils mit kleinen Schildern, die über den Inhalt Auskunft gaben. In einem eisernen Wandregal fand er einige Behälter mit Flaschenetiketten. Praktische Angelegenheit. Nicht der Inhalt der Flasche bestimmte den Preis, sondern das Etikett.

Über eine Leiter kam er in einen zweiten Gebäudeteil, in dem es noch wärmer war. Sein Nacken und die Achseln waren nass vom Schweiß. Er wischte gerade mit dem Taschentuch über seine Stirn, als jemand von draußen den Schlüssel ins Schloss steckte. Sein Herzschlag stockte. Leises Quietschen der Tür drang an sein Ohr und dann leise Schritte, die näher kamen. Eine auf den Boden gerichtete Taschenlampe leuchtete am Ende der Halle auf.

In panischem Schrecken zog sich Tanner hinter einen der dicken Tanks zurück. Dabei stieß er mit der Hand gegen eines der vorstehenden Ventile. Die Taschenlampe entglitt ihm und polterte auf den Boden. Tanner hielt den Atem an. War dies das Ende seines Auftrags? Wo war die Taschenlampe? Während er sich bückte und auf allen Vieren nach vorne kroch, hörte er, wie die Gestalt näher kam und, die Taschenlampe hin und her schwenkend, nicht nur den Korridor zwischen den Tanks, sondern auch jeden verborgenen Winkel dahinter ausleuchtete. Es war ein älterer, kleinwüchsiger Mann, der sich mit schlurfenden Schritten näherte. Verzweifelt auf dem Bauch liegend tastete Tanner den Boden vor sich ab, bis er seine Taschenlampe wieder in Händen hielt. Wie ein Krebs kroch er rückwärts und hoffte, dass ihn der Mann nicht bemerkt hatte.

In diesem Moment schalteten sich mit einem stakkatohaften Trommelwirbel die aberhundert Leuchtstoffröhren an der Decke ein und tauchten die Halle in gleißendes Licht. Neugierig lugte Tanner nach vorn. Der Mann war tatsächlich nicht größer als ein Meter sechzig. Unter dem wadenlangen Mantel trug er einen gestreiften Pyjama. Tanner sah auf die Uhr. Genau Mitternacht. Vielleicht war das der Nachtwächter, der seine Pflichtrunde durch die Produktionshallen erledigte. Plötzlich gab der Mann ein Schnauben von sich und hob den Kopf. Tanner hielt den Atem an. Doch nichts geschah. Mit eigenartig steifen Schritten setzte der Mann seinen Rundgang fort, und Tanner sandte ein Stoßgebet zum Himmel, als die Beleuchtung erlosch und er hörte, wie der Mann das Tor von außen versperrte.

An der Wand hinter den Tanks war eine ganze Batterie von Ventilen und Auslässen angebracht, die wie Wasserhähne aussahen. Zum wiederholten Mal verglich er die beschrifteten Täfelchen mit den mitgebrachten Plänen, dann kletterte er an den stabil aussehenden eisernen Rohrleitungen nach oben. Er plagte sich lange, um den Kupplungsflansch mit dem Schlauch zu verbinden, der zu dem Gärbottich führte. Im Licht seiner Taschenlampe unternahm Tanner mehrere Versuche, die Handpumpe zu betätigen, bis das Probenfläschchen endlich gefüllt war. Danach wanderte er zuerst zu den benachbarten Behältern, dann im Barriquekeller zu den großen Holzfässern, um auch von dort die verabredeten Proben zu entnehmen.

Das Unglück passierte, als er auf dem Weg zu dem kleinen Fenster war, durch das er das Gebäude wieder verlassen wollte. Er hätte hinterher nicht mehr sagen können, ob er zu schnell oder zu unaufmerksam durch die Fertigungshalle unterwegs war. Die Misere begann, als er einer großen Pumpenanlage auswich, wo er über einen am Boden liegenden Schlauch stolperte. Er schwankte, warf hilfesuchend die Hände in die Luft und stürzte kopfüber in einen großen, ovalen Bottich. Tanner zappelte panisch und ruderte mit den Armen, bis sein Kopf wieder die Oberfläche erreicht hatte, wobei er einiges von der hellroten, streng riechenden Flüssigkeit schluckte. Aufgrund der Erkenntnisse aus dem Weinseminar wusste er sofort, wo er gelandet war: Er steckte bis zum Hals in einem Behälter mit Maische, die weder unangenehm kalt war, noch schlecht schmeckte. Rotwein-Maische, sagte er sich, wahrscheinlich Vernatsch oder Lagrein. Genauer konnte er die Maische trotz seiner auf dem Seminar erworbenen Kompetenz nicht analysieren.

Maische muss in Ruhe gelassen werden, hatte er auf dem Symposium gelernt. Um dem Wein keinen Schaden zuzufügen, bemühte er sich, so rasch wie möglich den Bottich zu verlassen, was sich aufgrund der glatten Wände als schwierig herausstellte. Er versuchte, den Rand des Behälters zu fassen, rutschte ab und verlor endgültig das Gleichgewicht. Dickflüssiges Gemisch aus Traubensaft, Fruchtfleisch und Schalen wirbelte an die Oberfläche. Vorsichtig rappelte er sich in die Höhe, suchte mit beiden Beinen nach einem festen Untergrund, um wieder das Gleichgewicht zu erlangen. Noch während er bis zu den Oberschenkeln in der Flüssigkeit stand, sah er an sich herunter und stellte eine große Ähnlichkeit mit dem Schlamm-Monster aus dem Hollywoodstreifen Der Schrecken vom Amazonas fest. Nur war dieses grün, während sein Anzug dezent rot gefleckt war. Mit zitternder Hand befingerte er seine Stirn und entfernte einige hartnäckige Breiklumpen, die ihm in die Augen hingen.

Vorsichtig glitt er zum Rand des Bottichs und unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, sich nach oben zu hieven, bis er über den Behälterrand steigen konnte. Endlich wieder festen Boden unter den Füßen.

Leise öffnete er die Tür. In Paulas Hotelzimmer war es dunkel. Er hörte ihren Atem. Sie schlief. Plötzlich gab sie einen undefinierbaren Laut von sich. »Bist du es?«, fragte sie mit verschlafener Stimme.«

»Das will ich dir auch geraten haben«, flüsterte er.

Paula griff zum Schalter ihrer Nachttischlampe.

»Oh, Dio mio, Tiberio!« Paulas Schrei schrillte durch den Raum, als sie das rot schimmernde Schlamm-Monster sah, das vor ihrem Bett stand. Sie schnaufte laut und rieb sich die Augen. »Um Gottes willen! Was ist passiert? Bist du verletzt?«

»Ich weiß jetzt, wie Rotwein hergestellt wird«, sagte Tanner.

»Du stinkst nach Vernatsch«, sagte sie.

»Stimmt«, sagte er. »An dir ist eine Sommelière verloren gegangen.«

»Ich weiß seit vielen Jahren, dass sich Männer zu ihrem Nachteil verändern, wenn sie älter werden, doch dass sie Fruchtfleisch, Schalen und zerquetschte Trauben ansetzen, ist mir neu.«

Mit unsicheren Schritten stapfte er am Bett vorbei Richtung Badezimmer. Während er die heiße Dusche genoss, hörte er Paula rufen: »Soll ich dir den Rücken waschen?«

»Du sollst mir den Rücken stärken«, entgegnete er, doch das ging im Rauschen des Wassers unter. Angewidert betrachtete er danach im Spiegel seine zerrupften Haare und die rot geränderten Augen. In der Duschkabine lagen zwei Handvoll Maischerückstände. Welche Verschwendung! Das würde locker für eine Flasche Wein reichen.

Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete sie ihn, als er aus dem Badezimmer kam. »Im ersten Moment dachte ich, ein Monster steht vor der Tür. Was ist passiert?«

»Ich brauche einen doppelten Grappa.« Tanner deutete zur Minibar neben dem Bett. »Rasch.«

»Hast du deinen Auftrag erfüllt?«

Er nickte. »Ich habe sogar die Probefläschchen in den hohlen Baum gesteckt.«

Tanner gefiel es nicht, wie sie ihn von oben bis unten musterte. »Bist du in diesem Zustand durch die Hotelhalle gelaufen?«

»Es war furchtbar … im Keller des Hotels habe ich mich zwischen den Abfallbehältern versteckt und dann bin ich über abgelegene Treppenhäuser zu dir geeilt.«

»Hoffentlich hat dich keiner gesehen. Stell dir die Schlagzeile in der Lokalzeitung vor.«

Er griff sich auf den Kopf. »Hier oben tut es weh.«

»Da blutest du«, sagte Paula. »Was hast du angestellt?«

»Der Maischebehälter war glatt. Ich bin ausgerutscht …«

»Hast du Schmerzen?«

»Alles tut weh, vor allem wenn ich den Kopf bewege. Selbst wenn ich denke.«

»Nicht zu denken schaffst du locker.«

Paula entdeckte eine kleine Flasche Vernatsch in der Minibar.

»Um Gottes willen«, stöhnte er. »Kein Rotwein. Darin bin ich heute schon geschwommen.«

»Zwei Fläschchen Grappa sind hier. Nach diesem Schrecken wird das nicht reichen für dich«, sagte sie. »Jetzt erzähle endlich, welche Abenteuer du erlebst, wenn ich nicht dabei bin.«

Fünf

Tanner saß auf einem Polstersessel nahe der Rezeption und beobachtete das bunte Treiben in der Hotelhalle. Paula war bei den Apotheker-Kollegen in ihrem Seminar und ihm war langweilig. Auf dem niedrigen Tisch entdeckte er eine Apothekerzeitung mit der Überschrift: DU UND DEINE KRANKHEITEN. Rasch legte er die Broschüre beiseite. Solche Zeitungen mochte er nicht, in denen auf jeder Seite Symptome von Krankheiten beschrieben waren, die er wahrscheinlich schon mit sich herumschleppte.

Nach dem Frühstück hatte er eine Botschaft von Henrico Kogler auf dem Handy vorgefunden, der sich für die prompte und korrekte Erledigung des Auftrags bedankte. Den letzten Satz, dass das vereinbarte Honorar bereits auf sein Konto überwiesen wurde, las Tanner zweimal. Diese erfreuliche Botschaft gehörte gefeiert. Er überlegte, was er trinken sollte. Für Grappa war es zu früh und für Kaffee zu spät. Es war warm in der Lobby des Hotels, also bestellte er bei einem weiß beschürzten Mädchen ein Glas Wein. Weißwein. Rotwein hatte er in schlechter Erinnerung. Er sah auf die Uhr und beschloss, schnell zu trinken, bevor Paula aus ihrem Seminar zurückkam. Nach dem zweiten Glas spürte er, wie ihn die Wärme des Weins durchflutete und die Wände der Hotelhalle langsam zur Seite rückten. Geräuschlose Wellen bewegten sich in seinem Kopf von einer Seite zur anderen, langsam und behäbig, wie an einem Meeresufer, an dem eine angenehme Brise das Wasser an den flachen Strand spült. Als er im Hintergrund Paula entdeckte, die gemeinsam mit einer Frau auf ihn zusteuerte, erhob er sich, und langsam verliefen sich die geräuschlosen Wellen. Rasch trank er sein Weinglas leer und stellte es auf den Nebentisch.

»Tiberio, darf ich dir Gerlinde Carluccia vorstellen?« Dann deutete Paula auf ihn und sagte: »Das ist Tiberio, von dem ich dir schon erzählt habe.«

»Was hast du über mich erzählt?«, fragte Tanner.

Paula warf ihm einen blitzenden Blick zu, den er nicht einordnen konnte. Er erinnerte sich, Gerlinde schon einmal getroffen zu haben. Das musste schon einige Jahre her sein.

»Sie sind auch Apothekerin?«, fragte er.

Sie nickte. »Löwenapotheke in Bruneck. Paula und ich kennen uns schon viele Jahre. Und von Zeit zu Zeit treffen wir uns auf solch langweiligen Kongressen.«

Gerlinde war klein und hatte ein breites, teigiges Gesicht. Ungefähr in Paulas Alter, nur deutlich weniger attraktiv, dachte Tanner. Noch im Sitzen sah man, dass sie mit ihrer kräftigen Statur eher wie eine Bäuerin als eine Apothekerin wirkte. Ihr mittellanges Haar war grau und strähnig, das Kleid aus dickem, welligem Stoff, der wie Samt glänzte. Ein Kleid von zweifelhaftem Geschmack und viel zu schwer für ihren dünnen Körper. Eine mächtige rotbraune Bernsteinkette lag auf ihrer Brust, die braun war von unzähligen Sommersprossen.

So wie die Frau aussah, war sie wahrscheinlich weniger intelligent und ziemlich humorlos. Tiberio! Reiß dich zusammen! Deine Vorurteile nehmen schon wieder überhand. Wie oft hatte er beschlossen, mit der zur Gewohnheit gewordenen Unart zu brechen, sich zu schnell ein Bild von einer Person zu machen, die er kaum kannte. Keine Klischees, wiederholte er für sich und nicht vorschnell kategorisieren. In einem der Firmenseminare bei Fiat in Turin hatte er von den Gefahren der schnellen Klischees gelernt, die angeblich den Blick auf die Vielfalt der Realität versperren. Nachdem er sich einige Zeit danach gerichtet hatte, eröffnete sich ihm, dass Klischees die Wirklichkeit oftmals exakt und treffsicher beschrieben. Seitdem ließ er seinen Vorurteilen wieder freien Lauf, bastelte sich seine Klischees sogar selbst zurecht und lebte freier damit als früher.

»Du hast Wein getrunken«, sagte Paula und wiederholte den blitzenden Blick von vorhin. Die beiden Frauen drehten die Köpfe zueinander und nickten sich zu. »Wir wollen auch Wein. Dann überstehen wir unser trockenes Seminar heute Nachmittag besser.«

Als Kavalier bestellte er bei dem jungen Mädchen drei Gläser Sauvignon. »Eigentlich wollte ich nichts mehr trinken«, sagte er. »Aber du hast mich dazu überredet.« Paula kommentierte seine Bemerkung mit dem Hochziehen ihrer Augenbrauen.

Sie prosteten sich zu. »Gerlinde hat ein Anliegen an dich«, sagte Paula.

»Vielleicht bitte ich Sie, einen Auftrag zu übernehmen«, sagte Gerlinde und zog ihre Stirn in Falten. »Wenn ich mir das leisten kann. Detektive sollen teuer sein.«

Bevor er antworten konnte, sagte Paula: »Mein Detektiv macht dir bestimmt einen Sonderpreis. Nicht wahr, Tiberio? Du hast ohnehin gerade einen Fall abgeschlossen. Anschlussauftrag nennt man das in der Wirtschaft.« Sie lächelte ihn an und nippte an ihrem Glas.

Sonderpreis! Was fiel der Frau ein! Tanner mochte das Wort Sonderpreis nicht.

»Warum heißen Sie eigentlich Tiberio?«, fragte Gerlinde.

»Daran ist mein Großvater schuld. Er stammt aus der südlichen Emilia-Romagna, wo der Fluss Tiber entspringt. Deshalb Tiberio.«

»Ich glaube das nicht.« Paula trank den Rest des Weines und sah ihn über den Rand des Glases an. »Mein guter Tiberio ist wahrscheinlich nach dem Kaiser Tiberius benannt, der seine ihn liebende Gattin Agrippa ermorden ließ.«

»Historisch nicht bewiesen. Das mit dem Mord an der Ehefrau ist nur ein Gerücht.«

Langsam drehte er sich zu Gerlinde um. »Worum geht es nun bei Ihrem Auftrag?«

Sie sah zuerst auf die Uhr, dann auf Paula. »Unsere Pause ist vorbei. Wir müssen wieder in den Vortragsraum.« Und zu Tanner gewandt: »Unser heutiges Programm ist um vier Uhr zu Ende. Haben Sie dann Zeit für mich?«

Tanner nickte. »Ich warte hier in der Lobby auf Sie.«

Tanner sah den beiden Frauen nach, die Richtung Treppenhaus schlenderten.

»Und nach Meran steht das Pustertal auf dem Programm.« Tanner drehte sich um und sah, dass am Nebentisch zwei schmuckbehangene, ältere Frauen Platz genommen hatten. »Hinterher fahren wir nach Verona, leider nur zwei Tage, da wir rechtzeitig in Barcelona sein müssen, wo wir unser Kreuzfahrtschiff nach Ibiza besteigen. Shoppen auf der Avenida de España … es gibt nichts Schöneres. Nur mein Gatte mag es nicht, wenn ich mit seiner Kreditkarte losziehe.«

Tanner lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Er erinnerte sich an die Zeit, als er noch ein schlechtes Gewissen bekam, wenn er Gespräche mithörte, die nicht für ihn bestimmt waren. Das war lange her.

Tanners Telefon klingelte. Nach einem kurzen Blick auf das Display meldete er sich. »Maurizio, wie geht’s dir?«

»Meine Frau ist verreist, und ich muss den ganzen Tag auf meine beiden Enkel aufpassen.«

»Das ist doch schön.« Tanner lachte. »Dann kannst du dein Opa-Dasein in vollen Zügen genießen und musst es mit niemandem teilen.«

»Ich würde es liebend gerne teilen. Der eine Enkel schreit wie am Spieß, der andere stinkt aus den Windeln. Stör ich dich? Wo bist du gerade?«

»Ich sitze in der Lobby eines Luxushotels in Meran.«

Maurizio Chessler war zwanzig Jahre Commissario Capo bei der Polizio di Stato in Bozen gewesen, bis er vor einem Jahre nach einem Streit mit dem Vizequestore vorzeitig in Pension geschickt worden war. Seitdem war ihre Freundschaft noch enger geworden.

»Hast du einen neuen Auftrag, weil du dir so eine teure Absteige leisten kannst?«

Tanner erzählte von seinem Abenteuer in den Raffetseder’schen Weinkellern und den fünf Probefläschchen, die er in dem toten Briefkasten deponiert hatte.

»Du verwendest tote Briefkästen? Kommunikationshistorisch betrachtet, ist das ein Relikt aus dem Neolithikum.«

»Hat aber seinen Zweck erfüllt. Die Proben sind beim Auftraggeber angekommen, der jetzt juristisch gegen das schwarze Winzerschaf vorgehen wird.«

»Ich frage mich nur, ob die Proben, die du dir bei einem Einbruch angeeignet hast, vor Gericht als Beweis anerkannt werden. Soweit ich weiß, dürfen unrechtmäßig erlangte Beweise vom Gericht nicht verwertet werden.«

»Das ist deren Problem«, sagte Tanner. »Ich glaube nicht, dass es überhaupt zu einem Gerichtsverfahren kommt. Die werden Raffetseder erpressen und ihn zwingen, seine Betrügereien bleiben zu lassen. Wie die das anstellen, will ich gar nicht wissen.«

»Wann bist du wieder in Kaltern?«

»In zwei Tagen.«

»Dann treffen wir uns zu einer Marende.«

*

Es war kurz vor 16 Uhr. Tanner dachte an Gerlinde Carluccia, die er gleich treffen würde. Verabredungen und Termine, dachte er. Das ganze Leben unterliegt zeitlichen Planungen. Früher, als er noch bei Fiat arbeitete, war sein gesamter Tagesablauf von Terminplänen beherrscht gewesen, und auch heute prägten stundengenaue Planungen und stets aktuelle To‑do-Listen seine Detektivarbeit. Planen heißt, den Zufall durch Planungsfehler ersetzen. Planen heißt aber auch, genau zu wissen, was man nicht tun oder auf später verschieben sollte. Tanner beschloss, für nächste Woche eine Nicht‑To-do-Liste zu erstellen.

Nach einem Speckbrot und einem doppelten Espresso blätterte er sich gerade durch die Neue Südtiroler Tageszeitung, als Gerlinde Carluccia mit einem Buch in der Hand aus dem Lift stieg.

»Gott sei Dank sind die Vorträge für heute zu Ende«, sagte sie.

Tanner drehte den Kopf. »Wo ist Paula?«

Gerlinde lächelte. »Ich soll Ihnen schöne Grüße ausrichten. Sie ist im Schwimmbad.«

»Und worüber reden wir beide jetzt?« Tanner faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite.

Sie bestellte ein Glas Wein und seufzte. Ihr faltiges, gelbliches Gesicht war ungeschminkt und strahlte genauso Müdigkeit aus, wie ihre schleppende Art, zu reden und sich fortzubewegen. Sie hat sich umgezogen, dachte er. Gerlinde trug ein mit großformatigen Blumen bedrucktes Kleid, und auf ihrem flachen Busen erblühte eine Rose, von Margariten umrankt.

Sie legte das mitgebrachte Buch auf ihren Schoß. Sie blätterte darin, und Tanner sah, dass es sich um ein Fotoalbum handelte.

»Sind das Urlaubsfotos?«