Tödlicher Kohldampf - Helga Bürster - E-Book

Tödlicher Kohldampf E-Book

Helga Bürster

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Beschreibung

Im norddeutschen Larum gerät die dörfliche Idylle ins Wanken: Wirt Kuno Hansen ist verschwunden. Hals über Kopf reist seine Tochter samt Ehemann an. Zum Entsetzen der Larumer ist dieser schwarz und kocht internationale Grünkohlgerichte. Als der Flüchtlingshelferkreis seine Schützlinge zur Kohlfahrt anmeldet, um sie mit dem örtlichen Brauchtum bekannt zu machen, bricht im Dorf endgültig das Chaos aus. Zu allem Überfluss schwimmt Kuno Hansen dann auch noch tot in der Hunte.

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Seitenzahl: 311

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Helga Bürster, Jahrgang 1961, ist in der Nähe von Oldenburg geboren und lebt heute wieder mitten im Grünkohlland. Mit »Das Kohl & Pinkel Buch« schrieb sie das Standardwerk zum Grünkohl.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: fotolia.com/Marek

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Saskia Römer

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-088-1

Originalausgabe

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Gewidmet Hinnerk Ahlers,genannt Hasen-Ahlers, Wilddieb und Geschichtenerzähleraus dem Stüher Forst

Is de Buuk vull, kann de Mors ook hoochdüütsch schnacken.

Niederdeutscher Trinkspruch

Prolog

»Das Wann-dann ist des Mül-lers Lust, das Waa-han-dann!«

Heinrich Jesco schmetterte das Lied in die frische Frühlingsluft. Forschen Schrittes wahanderte er über die heimatliche Heide. Ihm folgten dreiundfünfzig schwitzende, vor Anstrengung keuchende Schüler. Es war Mai, die Bäume schlugen aus, und somit war Wandertag an der Dorfschule in Larum an der Hunte. Das Ziel blieb immer gleich: die berühmten Larumer Steingräber, Zeugen einer großen und längst untergegangenen Zeit, die dennoch deutliche Spuren in dem kleinen Heidedorf hinterlassen hatte. Darauf durften die Larumer stolz sein, und genau deshalb wanderte Oberstudienrat Heinrich Jesco, der sich eigentlich zu Höherem berufen fühlte, mit seiner Klasse alljährlich hierher.

Wie immer erzählte er auch dieses Jahr von dem Gelehrten Johan Picard, der es in einer wissenschaftlichen Abhandlung von sechzehnhundertpiependeckel als erwiesen angesehen hatte, dass Riesen aus dem Norden die gigantischen Findlinge vor Urzeiten nach Larum geschleppt hatten, um hier tote Artgenossen zu begraben. Daher komme auch der Ausdruck »Hünengrab«, eben weil hier Hünen begraben lägen. Bei den Schülern blieb nur »Hühnergrab« hängen, worüber sie sich kichernd amüsierten, während Jesco die erbauliche Sage von der versteinerten Hochzeitsgesellschaft vortrug. Sie handelte von einem hartherzigen Bauern, der seine Tochter partout an einen reichen Grobian verheiraten wollte, denn: »Geld gehört zu Geld.« In seiner Not bat das Mädchen Gott, sie lieber in Stein zu verwandeln, was der Allmächtige erhörte und tabula rasa die ganze Hochzeitsgesellschaft versteinerte.

So weit der Ablauf des Wandertags, der stets der gleiche war, bis zu jenem legendären Jahr 1890, ein Datum, das Larum noch hundertfünfzig Jahre später beschäftigen sollte. An diesem Tag nämlich fand Jescos Vortrag ein unerwartetes Ende. Kurz vor Schluss schrie ausgerechnet der kleine Dirk Dirksen, Sohn ärmlicher Heuerleute, vom anderen Ende des Steingrabes: »Ich hab einen Riesenknochen gefunden!«

Jesco, ärgerlich, weil der Bankert ihm seinen Auftritt versaut hatte, schnauzte ihn an, er solle die Klappe halten, sonst gäbe es eins hintendrauf. Aber das war Dirk egal. Er schaufelte eifrig zwischen zwei Steinen Erde mit den Händen weg, sodass die Krumen nur so flogen. Die Schüler stolperten alle einen Schritt beiseite, als Jesco durch sie hindurchpflügte. Er war jetzt nicht nur sauer, sondern wahrlich ungehalten ob dieses ungebührlichen Betragens. Dirk buddelte indessen unbeeindruckt weiter. Kurz bevor der Lehrer ihn am Ohr zu fassen bekam, sprang er auf, rief: »Ick hebb’t!«, und hielt die untere Hälfte eines riesigen Kieferknochens in die Höhe, in dem noch vereinzelt Zähne von beeindruckender Größe steckten. »Dat sind de Teen vun een Hünen!«, rief er aufgeregt.

Jesco, die Hand schon zur Ohrfeige erhoben, ließ sie wieder sinken und blickte verblüfft auf den Fund. Die Schüler kicherten. »Dat is doch man blots een oolen Eberknaaken!«

Man muss dazusagen: Die Schüler zu Bismarcks Zeiten kannten sich in der Anatomie von Schlachtvieh aus. Die meisten kamen von einem Bauernhof, wo selbstverständlich in jedem Winter eines oder mehrere Hausschweine geschlachtet wurden. Hin und wieder kam es vor, dass ein Kieferknochen, oder besser die Hälfte des Unterkiefers, ausgekocht wurde. Was übrig blieb, wurde hübsch bemalt und mit einer Kette oder einem Band versehen, um bei den beliebten winterlichen Kohlfahrten, die damals noch als zünftige Herrenpartien begangen wurden, den Kohlkönig damit zu zieren. Deshalb gab es jetzt Kommentare wie: »Dar liggt een Kohlkünnig unner de Eer. Dirk hett siene Kroon funnen!«

Sie spotteten immer nur auf Plattdeutsch, ihrer Muttersprache, die ihnen während des Unterrichts streng verboten war.

Jesco hatte seinen Zöglingen nur mit halbem Ohr zugehört, denn der Knochen nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Ein Zeichen war dort hineingeritzt worden. Eine Rune. Jesco wurde ganz nervös. Er schnappte sich den Fund und betrachtete ihn von allen Seiten. Dann steckte er ihn in die Jackentasche.

»Dat is mien Knaaken!«, protestierte Dirk. Jesco fand, dass es endlich Zeit für die Ohrfeige war, und brachte seinen Schüler damit zum Schweigen.

»Das ist kein Riesenknochen, du Dööskopp!«, fuhr er den Jungen an. Um dann leise und mehr zu sich selbst hinzuzufügen: »Das ist etwas viel, viel Besseres.«

Klammheimlich dankte er Dirk und den Schülern. Sie hatten ihn auf eine grandiose Idee gebracht. Endlich konnte er beweisen, was wirklich in ihm steckte.

Sonntag

Kaum hatte sie geparkt, riss Bernd die Wagentür auf.

»Und? Wo ist er? Hast du ihn dabei?«, fragte er atemlos.

»Jetzt lasst mich doch erst mal aussteigen, Jungs!«

Bernd Behrends, Volker Ickeldick und Jürgen Koopmann, allesamt Mitglieder des Kohlfahrtvereins Larum e.V., traten einen Schritt zurück und sahen Cordula Carus staunend dabei zu, wie sie sich aus dem Wagen faltete. Zuerst schwang sie ihre appetitlich langen Beine heraus, die in beigen Lackstiefeln mit goldenen Pfennigabsätzen steckten. Nicht gerade der neueste modische Schrei, aber so sexy wie ihr Auto: ein karottengelber 914er-Porsche, Jahrgang 1972, ihr Geburtsjahr. Sie war eben eine Frau, die Wert auf Stil legte, selbst hier am Ende der Welt. Obwohl die Temperaturen Mitte Januar doch noch unter den Nullpunkt gesunken waren, trug sie Mini, einen weit ausgeschnittenen Wollpulli, der Einblick in ihr Dekolleté gewährte, und als Zugeständnis an den Winter eine Kaninchenfellweste.

So ganz elegant wollte ihr Auftritt dann doch nicht gelingen, denn der alte Kuno Hansen hatte sie vorhin in die Wade getreten, und es tat höllisch weh. Sie knickte ein und musste sich an der Wagentür festhalten. Im Stillen beglückwünschte sie sich, dass sie wegen der Kälte wenigstens eine blickdichte Strumpfhose angezogen hatte. Die verbarg die blauen Flecke an ihrem Bein. Nach gefühlten zehn Minuten hatte sie Kleidung und Frisur gerichtet und musterte nacheinander die drei Männer, die sie noch immer erwartungsvoll anblickten. Das war er also, der klägliche Rest des Kohlfahrtvereins, dem auch sie neuerdings angehörte. Eigentlich konnte sie es immer noch nicht fassen, dass sie ihr Berliner Domizil aufgegeben hatte und auf den halb verfallenen Resthof ihrer verstorbenen Eltern zurückgekehrt war. Da gab es nicht mal Internet! Oder fast nicht. Also kaum. Ja, mein Gott, Modems waren doch so was von Neunziger! Außerdem musste sie sich das Haus mit ihrem verrückten Bruder teilen. Vor einigen Wochen noch hätte sie jeden für ebenso bekloppt wie ihn gehalten, der ihr prophezeite, dass sie Öffentlichkeitsarbeit für den Kohlfahrtverein Larum e.V. machen würde, statt in den Straßen von Berlin Stars und Sternchen aufzulauern, um sie medial auszuschlachten. Fürs Fernsehen, versteht sich. Okay, fürs Privatfernsehen. Zuletzt auch mal für diverse Frauenmagazine. Also die, die man beim Friseur las. Bis ihr die Redaktionen die Tür vor der Nase zuschlugen. Angeblich wegen ihres alternativen Umgangs mit den Fakten. Also bitte! Es gab abwegigere Geschichten als die, dass Angela Merkel die Tochter von Helmut Kohl war.

»Also, wo ist er?«, fragte Bernd erneut und riss Cordula aus ihren Gedanken.

Sie schloss genervt die Augen. »Ver-schwun-den! Weg, in Luft aufgelöst, pfutschikato. Das hab ich euch doch schon am Telefon gesagt.«

»Ich meine nicht Kuno. Ich meine: Hast du den Orden wiederbekommen, weil doch …« Bernd verstummte. Er wurde von Jürgen und Volker abgelenkt, die mittlerweile den Porsche umtänzelten wie Zirkuspferde eine besonders leckere Möhre. Dabei ging es hier um den berühmten Larumer Kohlfahrtorden!

Oberstudienrat Heinrich Jesco hatte ihn im Jahre 1860 bei den Larumer Steingräbern entdeckt. Das Besondere daran waren die eingravierten Runenzeichen. Als Hobbyarchäologe hatte Jesco sie mit »Kohl« und »Krone« übersetzt. Alles in allem war klar, dass es sich bei dem Fundstück nur um eines handeln konnte: um einen Grünkohlorden aus der Zeit der Völkerwanderung. Dies wiederum belegte, dass schon die alten Germanen hier Kohlfahrten gemacht hatten. Die Geschichte Larums musste neu geschrieben werden: Die Wiege der Kohlfahrt stand hier, in dem kleinen Heidedorf an der Hunte. Zur Hege und Pflege des Larumer Kohlfahrterbes gründete Heinrich Jesco noch im selben Jahr den Verein »Kohlfahrtdorf Larum e.V.«, dem jeder Larumer, der etwas auf sich hielt, beitrat. Das Dorf wurde berühmt. Leider lockte die Geschichte mit den Jahren immer weniger Leute hinter dem Ofen hervor. Hätte Cordula Carus nicht beschlossen, in den Kohlfahrtverein einzutreten, hätte er sich aufgelöst.

Für das hundertfünfundzwanzigjährige Vereinsjubiläum, das kurz bevorstand, hatte Cordula den Orden zu einem Restaurator gegeben, zum Aufhübschen. Heute wollte sie ihn zusammen mit dem Krugwirt und ersten Vorsitzenden Kuno Hansen dort abholen. Dass Kuno dabei an einer Autobahnraststätte verschüttgegangen war, interessierte die anderen offensichtlich eher weniger. Na ja, Kuno war auch kein besonders netter Zeitgenosse. Eher so Richtung besorgter Bürger.

Cordula kickte die Fahrertür mit dem heilen Knie ins Schloss. »Kuno hat den Orden mitgenommen. Als er an der Raststätte zum Pinkeln gegangen ist, hatte er ihn bei sich. Und jetzt sind beide verschwunden.«

»Nicht wahr, oder? Kuno ist mit dem Schweinekiefer abgehauen?«

Cordula nickte und beobachtete, wie sich eine Schweißperle auf Bernds Stirn bildete. Sie rann ihm die Nase hinab und blieb zitternd an der Spitze hängen.

»Wieso hat Kuno unseren Grünkohlorden?«, fragte er tonlos und wischte sich mit dem Hemdsärmel über das Gesicht.

»Weil er der erste Vorsitzende ist«, antwortete Cordula schnippisch. »Und außerdem ist er der amtierende Kohlkönig. Was sollte ich denn tun?« Die Männer nickten ernst. Fast hätte sie sich ihre Geschichte selbst abgekauft.

»Hätten wir den Orden nicht zu diesem Restaurator gebracht, wäre das alles nicht passiert«, knurrte Jürgen. »Wie viel Geld das allein gekostet hat!«

»Wenn ihr euch erinnert: Ich habe Fördergelder besorgt«, schnappte Cordula. »Außerdem hat die Presse berichtet, und wir brauchen Publicity.«

»Ja. Schon. Aber ein bisschen Möbelpolitur hätte es auch getan. Dann hinge er noch da, wo er hingehört.«

Cordula verstand, was Jürgen meinte: Solange sie sich erinnern konnte, hatte der Orden an der Fotowand im Krug zwischen Dieter Thomas Heck und Heidi Kabel gehangen.

»Ick verstah ok nich, warum Kuno eenfach so verschwinnen kunn«, hakte Volker nach.

Cordula zog es vor, diesbezüglich nicht ins Detail zu gehen. »Ich kann es mir auch nicht erklären«, seufzte sie stattdessen, und ein Windstoß durchharkte ihre sorgfältig gelegte Föhnfrisur. Sie drückte sie wieder in Form.

»Bestimmt hat er sich verlaufen«, überlegte Bernd. »Ich meine, wir wissen doch alle, dass Kuno in letzter Zeit tüdelig wurde.«

»Bi’n Miegen verloopen?« Volker blickte irritiert. »Mann, so breegenklöterig weer he nu ok woller nich.« Volker musterte Cordula mit zusammengekniffenen Augen. »Hett he denn nich seggt, wo he henwull?«

»Nein. Er hat nur sein Handy, ein Taschentuch und Pfefferminzbonbons bei mir im Wagen liegen lassen. Das ist alles.« Cordula schlang die Arme fröstelnd um sich. »Aber das hilft uns jetzt auch nicht weiter. Lasst uns endlich reingehen. Die Presse wartet auch nicht ewig.« Sie ließ die Männer stehen und klackerte auf ihren Stiefeln zum Eingang des Gasthauses. Sie hatte sich auf dem Weg hierher genau überlegt, was sie dem Nordboten und der Wochenendzeitung sagen wollte, nämlich dass es einen spektakulären Zwischenfall gegeben hatte. Kuno Hansen war mit dem ältesten Kohlorden aller Zeiten pinkeln gegangen und anschließend durchgebrannt. Das würde eine Schlagzeile geben. Wow! Später würde sie dafür sorgen, dass er wieder auftauchte. Wenn sie daran dachte, kribbelte ihre Kopfhaut. Sie hatte die Türklinke schon in der Hand, als sie merkte, dass die Männer ihr nicht folgten. »Was ist denn noch?«

»Es gab einen Notfall. Sozusagen«, druckste Bernd.

Cordula kam die Treppe wieder herunter. »Was heißt das?«

»Na ja. Die Wochenendzeitung war schon nach fünf Minuten wieder weg«, erklärte Jürgen, »aber die Jessy vom Nordboten ist länger geblieben. Musste dann aber auch nach Bocksdorf. Obwohl sie eine Tierhaarallergie hat.«

Cordula verstand kein Wort, aber bevor sie fragen konnte, mischte sich Bernd ein. »Schräge Deern, diese Jessica Meyer. Aber fleißig. Nach dem Termin in Bocksdorf muss sie wieder an die Kasse. Wir sollen selbst was schreiben, hat sie gesagt.«

»An welche Kasse denn?«

»Die jobbt beim Edeka.« Bernd hob bedauernd die Hände. »Von irgendwas muss die ja leben. Vom Schreiben wird man nicht satt. Du weißt, wie das ist.«

»Ich weiß gar nichts!«, pampte Cordula ihn an. »Und ich wäre euch dankbar, wenn ihr Klartext reden könntet. Was ist denn nun mit der Presse?«

»Dat is so«, fing Volker an, und seine Miene wurde ganz weich. »Lisa ut Bocksdorp hett Veerlinge, twee witte un twee schwatte. Sogar dat Fernsehn is dar.«

»Mutter und Nachwuchs sind wohlauf«, hauchte Jürgen versonnen. »Gibt auch schon ein Foto auf Facebook.« Er zückte sein Smartphone. »Willste mal sehen?«

»Vierlinge? In Bocksdorf?« Cordula starrte verständnislos auf die Fotos, die Jürgen ihr zeigte: Ein Schaf lag im Stroh, an den Zitzen saugten vier Lämmchen. Dafür kam die Presse also. Es versetzte ihr einen Stich.

»Wir sollten jetzt wirklich reingehen«, drängelte Jürgen. »Frau Jesco will schließlich auch wissen, was los ist.«

Beim Namen Jesco verspürte Cordula plötzlich keine Lust mehr, ins Warme zu kommen. Sie blickte unwillig zum Fenster der Gaststube. Einen kurzen Moment lang sah es aus, als bewegte sich ein Schatten hinter der beschlagenen Scheibe. Obwohl sie die Grundschule vor mehr als dreißig Jahren hinter sich gelassen hatte, graute ihr immer noch vor ihrer alten Lehrerin, die auch noch die Urenkelin von Heinrich Jesco, dem berühmten Entdecker des Kohlfahrtordens, war. Aber es gab keinen Ausweg. Sie riss sich zusammen und betrat die Höhle des Löwen.

Gerda Jesco saß kerzengerade am Vereinsstammtisch, als habe sie einen Stock verschluckt. Ihre dreiundachtzig Jahre sah man ihr nicht an. Eigentlich sah man ihr gar kein Alter an. Sie war schlank und drahtig, die weißen Haare trug sie streng zu einem Knoten zusammengebunden. Ihre Haut war farblos, dafür aber glatt und schier. Als sie Cordula gewahr wurde, schafuterte sie ohne Umschweife los: »Was hattet ihr da draußen denn so lange zu beschnacken? Heimlichkeiten?«

Volker blies in seine klammen Hände, während Jürgen und Bernd sich wortlos am Stammtisch niederließen. Volker setzte sich ebenfalls, und Cordula lehnte sich rücklings an den alten Rippenheizkörper, um sich aufzuwärmen. Außerdem war der Abstand zu Frau Jesco so größer.

Die Alte funkelte sie böse an. »Was ist passiert? Raus mit der Sprache!«

Cordula blickte so bekümmert, wie sie nur konnte. »Kuno musste mal aufs Klo.«

»Na und? Da muss er ständig hin, seit er siebzig ist.«

»Ich habe auf dem Rückweg vom Restaurator an einer Raststätte gehalten. Er ist ausgestiegen und kam nicht wieder.«

»Hast du ihn nicht gesucht?«

»Natürlich hab ich das. Ich hab sogar eine Streife angesprochen, die vorbeikam, und die Beamten haben sich ein bisschen umgesehen.«

»Ein bisschen?«

Cordula nickte betreten.

»Hast du ihn wenigstens vermisst gemeldet?« Frau Jescos Stimme war in ungeahnte Höhen geklettert, und Cordula zog unwillkürlich den Kopf ein.

»Die netten Polizisten meinten, bei Erwachsenen können sie erst nach achtundvierzig Stunden eine Fahndung einleiten, weil die meisten in der Zeit wieder auftauchen.«

»Und was ist mit dem Orden?«, bohrte Gerda weiter.

»Na ja, den hat er bei sich.«

Eine Weile war nur noch das Ticken der alten Kaminuhr zu hören, die im Regal hinter der Theke stand. Dann sprach Jürgen laut aus, was wohl alle außer Cordula in diesem Moment dachten: »Es ist wegen dem Fluch, oder?«

»Wegen des Fluches!« Gerda schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Genitiv! Habt ihr denn nix bei mir gelernt?«

»Op Platt gifft so wat nich«, knurrte Volker und erntete einen vernichtenden Blick von Cordula.

»Haglaz«, flüsterte sie.

Gerda sog scharf die Luft ein. »Sprich das Wort nicht aus!«

Obwohl Cordula nicht daran glaubte, sträubten sich ihre Nackenhaare. »Haglaz«, so hieß die Rune, die neben die Worte »Kohl« und »Krone« in den Kohlorden geritzt worden waren. In seiner unter Heimatchronisten berühmt gewordenen Abhandlung »Der Larumer Kohlorden und seine Bedeutung für die Geschichte der Kohlfahrt« hatte Heinrich Jesco dieses Zeichen als Fluchrune gedeutet, und da hatte er fast den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Restaurator hatte Cordula bestätigt, dass die »Haglaz«-Rune genauso alt war wie der Knochen, nämlich tausendsechshundert Jahre. Die schlechte Nachricht war, dass irgendein Witzbold die Worte »Kohl« und »Krone« nachträglich in den Knochen geritzt hatte, wofür eigentlich nur einer in Frage kam: Gerdas Urgroßvater Heinrich Jesco höchstselbst. Es wurde Zeit, dem Verein diese Hiobsbotschaft mitzuteilen.

»Ich habe den Restaurator gebeten, eine Radiocarbondatierung machen zu lassen«, begann Cordula.

»Eine was?« Bernd blickte verständnislos.

»Eine Altersbestimmung. Nur zur Sicherheit.« Cordula machte eine effektvolle Pause. »Das lief so ein bisschen unter der Hand, wisst ihr? Der Restaurator hat gute Kontakte zu einem Labor und ‒«

»Mein Urgroßvater, Gott hab ihn selig, hat mit bloßem Auge erkannt, dass der Kohlorden aus der Zeit der Urvölker stammt!«, zischte Gerda.

»Na ja, so falsch lag er da nicht«, gab Cordula ihr recht, »der Knochen stammt wahrhaftig aus der Zeit der Völkerwanderung. Aber die Zeichen darauf nicht. Bis auf diese Rune, deren Name hier nicht genannt werden darf.«

»Und was heißt das?«, wollte Bernd wissen.

»Ihr müsst jetzt stark sein.« Cordula setzte ein Gesicht auf, als müsse sie eine Todesnachricht überbringen. »Der Knochen ist wahrscheinlich nur eine Grabbeigabe. Deshalb die Fluchrune. Die sollte böse Geister fernhalten.«

»Dann haben die alten Germanen am Steingrab einen Kohlkönig beerdigt?«, fragte Bernd fassungslos.

Cordula stöhnte auf. »Eben nicht! Der Knochen hat mit Grünkohl so viel zu tun wie du mit der Enzyklopädie des Wissens.« Bernd machte den Mund auf, aber Cordula schnitt ihm das Wort ab. »Kapiert ihr das nicht? Die Einritzung ›Kohlkrone‹ ist gefälscht. Und was das Schlimmste ist: Wir hätten längst selbst drauf kommen können.«

Jetzt wussten sie es. Aber Gerda Jescos einziger Kommentar war: »Du faselst, Cordula!«

Sie hatten es offenbar immer noch nicht begriffen. Cordula stieß sich von der Heizung ab und setzte sich an den Tisch. »Die Urvölker Larums kannten das Wort ›Kohlkrone‹ nicht«, sagte sie betont langsam. »Das altsächsische Wort dafür wäre ›Köli-Hövidband‹ oder so ähnlich gewesen. Auf dem Knochen stehen aber die hochdeutschen Worte ›Kohl‹ und ›Krone‹, zwar im schönsten Runenalphabet geschrieben, aber trotzdem falsch.«

Gerdas Mund klappte mehrmals auf und zu, aber es kam kein Laut heraus.

»Jemand Grog?«, fragte Bernd und flüchtete hinter die Theke, wo er sich erst mal selbst einen Schluck aus der Rumflasche genehmigte.

»Is ja nicht to glööven«, flüsterte Volker. Einige Minuten lang war es still, bis auf das Ticken der alten Uhr und das Geklapper der Gläser hinter der Theke. Schließlich brachte Bernd den Grog.

»Gegen den Schock«, sagte er und verteilte die Gläser. Bei Cordula hielt er inne und zog die Stirn kraus. »Ich frage mich nur, wie kommt ein hochdeutsches Wort in Runenschrift auf eine alte Grabbeigabe?«

Cordula nahm ihm das Glas aus der Hand. »Es ist im Grunde ganz einfach«, sagte sie. »Entweder wurde in Larum die Zeitreise erfunden, oder der gute Heinrich Jesco hat ein bisschen geschummelt. Sucht euch was aus.«

Alle sahen zu Frau Jesco, die wie versteinert am Tisch thronte. Nur ihr linkes Augenlid zuckte nervös. Cordula musste ein Grinsen unterdrücken. Ach, was machte das für einen Spaß!

»Wenn die Sache mit der gefälschten Inschrift publik wird, war’s das mit der Ehrenbürgerschaft«, fuhr sie fort. »Keine Heinrich-Jesco-Straße mehr. Und wenn die Presse erst mal davon Wind bekommt!« Sie ließ in gespielter Betroffenheit den Kopf hängen.

»Nu verstah ick, warum Kuno mit den ollen Knaaken afhaut is«, seufzte Volker.

Cordula nickte betroffen. »Wenn ihr mich fragt, trampt der gerade Richtung Italien.«

»Kuno und trampen!« Gerda war also doch noch nicht verstummt. Und das mit dem Trampen ging vielleicht wirklich ein bisschen zu weit.

»Ich mein ja nur«, verteidigte sich Cordula.

»In Italien gifft ok gar kien Grönkohl«, sagte Volker. »Wat schall he denn dar?«

»Italien hin oder her! Eins ist klar«, stellte Jürgen fest. »Das Jubiläum können wir vergessen.«

»Schlimmer«, fügte Bernd hinzu, »den ganzen Verein können wir in die Tonne treten. Nix mehr mit Wiege der Kohlfahrt und so.« Er warf seiner alten Lehrerin einen verstohlenen Blick zu.

Cordula fand, es lief allerbest. Sollten sie die alte Jesco ruhig von ihrem hohen Ross herunterholen. Gerade rutschte sie von der Bank und langte wortlos nach ihrem Gehstock. Mit versteinerter Miene setzte sie sich in Bewegung Richtung Ausgang. Als sie an Cordula vorbeischritt, trafen sich ihre Blicke. Mit der Alten war noch zu rechnen, in ihren Augen flackerte mörderische Wut. Aufrecht wie eine Primaballerina mit kaputter Hüfte stolzierte sie durch die Gaststube und schlug dann die Tür hinter sich zu.

Cordula atmete auf, während die Männer betreten die Tür anstarrten, durch die die graue Eminenz des Kohlfahrtvereins gerade verschwunden war. Höchste Zeit für eine flammende Rede.

»Männer«, rief sie, »lasst den Kopf nicht hängen. Schließlich hat sich das halbe Dorf schon zum Jubiläum angemeldet. Wir können die Larumer jetzt nicht enttäuschen!«

»Na ja. Dreiundzwanzig Leute stehen auf der Liste«, bemerkte Bernd resigniert. »Davon sind zwei aus Bocksdorf und fünf aus der Kreisstadt.«

»Ist ja auch noch ein bisschen hin!«, munterte Cordula sie auf. »Die meisten melden sich erst kurz vorher an.«

»Und wenn schon«, sagte Jürgen geknickt. »Ohne Orden kein Kohlkönig und ohne König keine Kohlfahrt. Aus die Maus.«

Sie war wohl ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen, musste Cordula feststellen. Frau Jesco einen Schuss vor den Bug zu versetzen, war eine Sache. Aber jetzt desertierte gleich der ganze Verein.

»Nun werft die Flinte doch nicht ins Korn!«, rief sie. »Ihr dürft nur nicht breittreten, dass der Orden, na ja, sagen wir mal, dass der gerade nicht da ist. Das Jubiläum feiern wir trotzdem, und wenn ich uns einen Schweinekiefer schnitzen muss!«

»Schön und gut, aber wo soll das Jubiläum stattfinden?«, fragte Jürgen. »Wir können den Krug nicht einfach in Beschlag nehmen, solange Kuno weg ist.«

Cordula griff in ihre Westentasche und kramte einen Schlüsselbund hervor. »Hab ich ganz vergessen«, sagte sie siegesgewiss. »Den hat Kuno auch im Auto liegen lassen.«

»Aber ‒«, begann Jürgen wieder.

»Du mit deinen Abers!«, schnitt Cordula ihm das Wort ab. »Was glaubt ihr, wie Kuno reagiert, wenn er zurückkommt und wir haben das Kohlessen abgesagt?«

»Dat wart em nich gefalln«, seufzte Volker.

»Gut! Ja! Aber habt ihr mal überlegt, wer den Kohl kocht, wenn Kuno länger ablandig bleibt?«, gab Jürgen zu bedenken.

Darüber hatte Cordula zugegebenermaßen noch nicht nachgedacht. Doch Bernd wusste Rat.

»Da ist doch noch die Tochter in Berlin. Monika. Die arbeitet sogar im Gastgewerbe, hab ich gehört.«

»Stimmt!«, fiel Cordula ein. Sie war Moni Hansen sogar mal in Berlin über den Weg gelaufen. Warum war sie nicht selbst darauf gekommen?

Volker nickte entschlossen. »De schullen wi furs mal anroopen.«

Mittwoch

Hauptkommissar Hans Olbers hatte schon mehrmals auf seine Armbanduhr gesehen. Vor sage und schreibe vier Stunden hätte sein regulärer Feierabend begonnen, aber er hatte seit heute Morgen leider einen Fall. Der Wirt vom Larumer Krug, Kuno Hansen, war am Sonntag auf mysteriöse Weise verschwunden. Cordula Carus, die neue Pressefrau des Vereins, war am Morgen auf der Wache aufgetaucht und hatte ihn als vermisst gemeldet. Zwei Kollegen von der Autobahnpolizei bestätigten Cordulas Geschichte. Sie hatte sie am Sonntag auf der Raststätte angesprochen und gebeten, ihr bei der Suche zu helfen. Ohne Erfolg. Die Kollegen hatten nur kurz eine Runde gedreht und waren dann weitergefahren, denn Kuno wurde laut Aussage erst eine halbe Stunde vermisst.

Natürlich kannte Olbers den Wirt recht gut, konnte aber nicht behaupten, dass er ihn auch mochte. Trotzdem hatte er ihm das eine oder andere zu verdanken. Als Junge war er beim Kinderkarneval im Krug als Indianer dramatische Tode gestorben. Dort hatte er, während seine Kumpels sich den ersten Rausch antranken, bei einem Glas Vanilletee sein erstes Liebesgedicht verfasst und später Hochzeit gefeiert. Seine Elke hatte Moni Hansen quasi adoptiert. Es war im Dorf bekannt, dass bei den Wirtsleuten regelmäßig gehörig die Fetzen flogen. Deshalb war Moni zu ihnen gekommen. Gerade mal volljährig war sie dann weggezogen. Es hatte sich angefühlt, als hätte die eigene Tochter sie verlassen, doch der Kontakt war niemals ganz abgebrochen. Aus all diesen Gründen und weil die Jubiläumskohlfahrt kurz vor der Tür stand, schob Kriminalhauptkommissar Hans Olbers Überstunden. Er hatte sogar die Hundestaffel auf die Suche nach Kuno Hansen geschickt. Na gut, wenn er ganz ehrlich war, tat er es ein ganz klein bisschen auch Cordula Carus zuliebe. Es rührte ihn, wie sie sich um den Wirt sorgte, der inzwischen alt, verbittert und mutterseelenallein in seinem Krug hockte und den verstaubten Kohlfahrtorden hütete. Außerdem sah sie scharf aus und fuhr einen tollen Wagen, aber das behielt er lieber für sich.

Je mehr er sich jedoch mit dem Fall beschäftigte, desto seltsamer kam ihm alles vor. Wenn er davon ausging, dass der Wirt sich nicht durch die Kanalisation gespült hatte, gab es nur zwei mögliche Szenarien: Entweder saß er hinter irgendeinem Busch, oder er hatte sich aus Versehen in den falschen Wagen gesetzt und schiffte gerade nach Timbuktu ein. Tüdelig genug war er inzwischen. Dass er aus eigenem Antrieb das Weite gesucht hatte, dafür klebte Hansen viel zu fest an der Scholle. Es war zum Mäusemelken. Er hatte nicht die kleinste Spur hinterlassen. Auch auf dem Handy, das Cordula Carus dem Hauptkommissar mit wenigen anderen Hinterlassenschaften übergeben hatte, war absolut nichts Brauchbares zu finden. Hansen hatte das Gerät, das inzwischen archäologischen Wert besaß, wohl höchstens als Uhr benutzt. Nach ziemlich ergebnislosen Befragungen des Raststättenpersonals wartete Olbers jetzt nur noch auf die Rückkehr der Hundestaffel. Die durchkämmte schon seit geraumer Zeit das Freiluftklo hinter dem Restaurant.

Endlich kam eine junge Beamtin auf ihn zu. »Die Hunde sind durch«, keuchte sie und zupfte sich ein verwelktes Blatt aus dem Haar. »Zu viele Gerüche zwischen den Bäumen dahinten. Die drehen durch.«

»Und?«, fragte der Kommissar. »Irgendwas gefunden?«

»Nichts.«

Er blickte nachdenklich in die Ferne. »Geradezu mysteriös, wie jemand beim Pinkeln so spurlos verschwinden kann.« Vielleicht sollte er ein Gedicht darüber schreiben. Er spürte schon den Hauch der Muse, da riss ihn die Beamtin aus seinen Gedanken.

»Brechen wir ab?«

Hans zuckte zusammen. »Was? Ja. Natürlich. Sammeln Sie die Hunde ein. Wir machen Schluss.«

Donnerstag

Kaum hatte sie einen Fuß auf den Bahnsteig gesetzt, spürte sie den scharfen Ostwind im Gesicht. Dünne Schneeflocken puderten den grauen Asphalt, die Luft roch nach mehr Schnee. Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch, während die Nordwestbahn hinter ihr abfuhr. Das Wetter war so frostig, wie ihr gerade zumute war. Hatte sie sich nicht vorgenommen, nie wieder einen Fuß in dieses Kaff zu setzen? Dies war jedoch schon das zweite Mal, dass sie ihren Vorsatz brach und zurückkehrte, seit sie das Dorf mit achtzehn fluchtartig verlassen hatte. Wie naiv sie gewesen war. Und so voller Hoffnung. Ins frisch wiedervereinigte Berlin auszuwandern, davon träumte damals jeder unter fünfundzwanzig. Aber dann war es doch nicht so cool gewesen. Jahrelang war sie durch den Scheuersack gegangen, hatte alle möglichen Jobs angenommen und in schäbigen wgs gewohnt. Schließlich hatte sie knapp vor Torschluss eine Lehre als Hotelfachangestellte angefangen. So hatte sie Abraham kennengelernt, das Beste, was ihr jemals passiert war. Er war ein bekannter Starkoch und Inhaber des Bronx, ein Geheimtipp in der hippen Berliner Szene. Er bot ihr eine Stelle an.

Nachdem sie beschlossen hatten zu heiraten, war sie das erste Mal ins Dorf zurückgekehrt, um es den Eltern zu erzählen. Die waren schier aus dem Häuschen gewesen. Ihre Monika. Die hatte es doch noch zu was gebracht. In Berlin! Da hatte Moni den nächsten Schritt gewagt und von derSache erzählt. Es gab da nämlich etwas, das nicht ins Weltbild ihrer Eltern passte. Abraham besaß zwar einen deutschen Pass, aber sonst wenig, was ihn in den Augen ihrer Eltern zu einem passenden Schwiegersohn machte. Ihr Vater hatte sie prompt vor die Wahl gestellt: Entweder suchte sie sich einen ordentlichen Bräutigam, oder sie war nicht mehr seine Tochter. Der Mutter war es peinlich gewesen, was sollten denn die Leute denken, wenn sie mit so einem hier auftauchte! Ohne Abschied verließ Moni das Dorf ein zweites Mal. Sie heiratete Abraham und kam nicht einmal zur Beerdigung ihrer Mutter zurück. Das war jetzt acht Jahre her.

Und nun stand sie doch wieder hier und betrachtete mit gemischten Gefühlen das Bahnhofsgebäude, dessen Baujahr 1896 frisch unter den Dachfirst auf den Putz gemalt worden war. Wie es schien, hatte der Bau kürzlich einen neuen Anstrich bekommen. In der ehemaligen Wartehalle verkaufte die Genossenschaft jetzt Streusalz, Vogelfutter, Arbeitskleidung und Briketts, dafür mussten die Fahrgäste im Regen stehen bleiben.

Der Tag dämmerte schon seinem Ende entgegen. Sie schlang fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper und sah sich nach Hans Olbers um. Der hatte sie gestern informiert, dass ihr Vater vermisst wurde. Am Sonntag, als Jürgen Koopmann sie in seiner Eigenschaft als Schriftführer des Kohlfahrtvereins angerufen hatte, dachte sie, das sei ein verdammt schlechter Scherz. Aber die Sache war wohl doch ernst, sodass sie sich entschloss, nach dem Rechten zu sehen. Hans hatte versprochen, sie abzuholen, aber außer einer Elster, die an der Bahnkante entlangstolzierte, war kein Lebewesen in Sicht. Moni nahm den Griff ihres Trolleys in die Hand und zog damit los. Bis zum Krug war es ein ordentlicher Fußmarsch, aber so würde ihr wenigstens warm.

Als Moni um die Ecke bog, rannte sie fast in Hans hinein, der in diesem Moment aus dem Wagen stieg.

»Hoppla!«, rief er und schlug die Tür zu.

»Hans? Ich hab schon gedacht, du hast mich vergessen.«

Er breitete die Arme aus. »Wie lange ist das her, Moni?«

Sie lächelte. »Lange. Du bist ein bisschen fülliger geworden.«

»Dank Elkes guter Pflege.«

Die beiden umarmten sich freundschaftlich. Dann fiel Monis Blick auf den Wagen, der nur eine Armlänge entfernt parkte. Sie strich mit der Hand über die Kühlerhaube des Strich-Achter-Mercedes. »Meine Güte, du hast ihn immer noch?«

Hans warf seinem Oldtimer einen liebevollen Blick zu. »Klar. Bei dem kann ich wenigstens noch eine Glühbirne ohne Computerdiagnose wechseln.«

Moni nickte. Von Autos verstand sie nicht viel. Sie hatte zwar den Führerschein gemacht, aber nie einen Wagen besessen, was sie in Berlin nicht störte. Es entstand eine verlegene Pause.

»Was ist denn nun mit meinem Vater?«, fragte sie schließlich und bemühte sich, beiläufig zu klingen, denn trotz allem machte sie sich Sorgen. »Gibt es Neuigkeiten?«

Hans hob bedauernd die Schultern. »Leider keine. Wir haben gestern jeden Stein umgedreht. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Glaubst du, dass ihm etwas zugestoßen ist?«

Hans überlegte kurz. Dann sagte er: »Mach dir keine Gedanken. Der taucht wieder auf. Schließlich ist bald Kohlfahrt.«

»Ja, vielleicht hast du recht«, stimmte Moni ihm zu. »Was meint denn Elke?«

Hans’ Frau war bekannt für ihr Sherlock’sches Gespür in Sachen Kriminalfälle und griff ihrem Mann hin und wieder unter die Arme, denn der war nur Kommissar geworden, weil schon sein Vater und dessen Vater und so weiter. Hans Olbers war eigentlich ein Dichter, aber damit hätte er seinem Vater nicht kommen dürfen. Mit der Stelle in Larum war er jedoch immer zufrieden gewesen, denn hier wurden höchstens Straßenschilder geklaut, die dann in einem Partykeller als Deko wiederauftauchten. Er hatte also viel Zeit für die Muse übrig, die ihn des Öfteren küsste. Ihr verschwundener Vater taugte jedoch zur Partydekoration ebenso wenig wie das Plakat einer Suchtberatungsstelle, was ihm sicher ziemliches Kopfzerbrechen bereitete.

»Ich habe mir in letzter Zeit viele Gedanken über deinen Vater gemacht«, sagte er, und sein Blick wanderte in die Ferne.

»Gab es dafür einen bestimmten Grund?«, wollte Moni wissen. »Also außer der Tatsache, dass er verschwunden ist?«

Hans schloss die Augen und begann zu deklamieren:

»Verzeihen, vergeben, vergessen.«

»Wie bitte?«

»Dem Vater, der Mutter, dem Kind.«

Moni schwante langsam, dass dies der Anfang eines neuen Olbers’schen Werks war.

»Löse Knoten, damit im Himmel

Das welke Blatt, das vom Baume wehte

Neu ergrünen kann.«

Moni beobachtete ihn, wie er seinen Worten nachlauschte. Er neigte hin und wieder zu experimenteller Lyrik, das musste man nicht verstehen. »Hübsch«, kommentierte sie den Vortrag. »Können wir dann endlich losfahren? Ich spüre meine Füße kaum noch.«

Elke Olbers hatte sich kaum verändert. Rundlich war sie schon immer gewesen, jetzt hatte sie noch ein paar Pfunde mehr zugelegt, aber sonst war sie immer noch genau so, wie Moni sie in Erinnerung hatte. Frisch, herzlich, ein wenig hektisch und mit energischem Blick. Sie hatte den rustikalen Holztisch in der Küche gedeckt. Keramikbecher und handgetöpferte Steingutteller gehörten bei Elke Olbers immer dazu. In der Mitte stand eine Vase mit einem Forsythienzweig aus dem Garten, dessen Blüten in der Wärme schon zartgelb hervorbrachen. Daneben stand eine Platte mit ihrem legendären Apfelkuchen.

Nach einer herzlichen Begrüßung schob sie Moni sofort an den Tisch, legte ihr ein pfannkuchengroßes Stück Kuchen auf den Teller und klatschte noch einen ordentlichen Schlag Sahne obendrauf. Moni hatte lange nichts gegessen und langte dankbar zu. Sie plauderten so vertraut über dieses und jenes, als wären keine acht Jahre, sondern nur acht Tage vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Nun gut, das eine oder andere Telefonat und Post zu Weihnachten hatte es schon gegeben.

»Es tut mir so leid«, sagte Elke schließlich, als sich die Ereignisse, die zu Monis überstürzter Rückkehr geführt hatten, nicht mehr umschiffen ließen. »Auch wenn du dich nie gut mit deinem Vater verstanden hast, muss es schwer für dich sein.«

»Ich weiß nicht.« Moni legte die Kuchengabel beiseite. »Ich wundere mich selbst, dass ich mir Sorgen mache. Ist doch komisch, oder?«

»Hans wird ihn finden.« Elke stieß ihren Mann an, der sich gerade das dritte Stück Apfelkuchen auf den Teller lud. »Wolltest du Moni nicht vor dem Abendbrot noch etwas zeigen?«

»Jetzt noch?« Er sah auf die Uhr. »Ich habe schon seit einer Stunde Feierabend, du weißt, ich hatte heute die Frühschicht.« Hans beugte sich tief über seinen Teller und murmelte: »Das hat Zeit bis morgen.«

Elke packte ihn fest am Arm. Er ließ die Kuchengabel fallen.

»Aua!«

»Bist du Kommissar oder ein Hamster? Da draußen irrt Monis Vater wahrscheinlich orientierungslos herum!«

Hans schüttelte ihre Hand ab. »Jetzt mach mal halblang. Ich hab gestern alles auf die Suche geschickt, was Beine hatte, und heute sind Enno und ich noch mal alles abgefahren. Die Streifenbeamten sind alarmiert, und die Fahndung läuft. Was soll ich denn noch tun? Ich hab jetzt Feierabend.«

Elke funkelte ihn zornig an. »Du hast einen Fall!«

»Ich hab vor allen Dingen einen Sack voll Überstunden.«

»Wenn du dich entschlossen hast, die Füße hochzulegen, dann übernehm ich eben die Sache«, sagte Elke entschlossen und stand auf. »Komm, Moni. Wir müssen noch mal auf die Wache.«

»Jetzt hör aber auf!«, rief Hans seiner Frau nach, denn die war schon auf dem Weg zur Garderobe. »Wer ist denn hier bei der Kripo? Du oder ich?«

»Das frag dich mal!«, kam es aus dem Flur zurück.

»Jetzt lass Moni doch erst mal ankommen«, machte Hans einen letzten Versuch, seinen Feierabend zu retten. Aber Elke überhörte ihn glatt.

»Kommst du, Moni? Es dauert auch nicht lange. Aber es ist sehr wichtig.«

Moni war hin- und hergerissen. Sie warf Hans einen hilfesuchenden Blick zu. Der verdrehte die Augen und stemmte sich aus dem Friesensofa hoch, in dem er gerade so gemütlich versunken war.

»Ich bin ja schon auf dem Weg!« Er folgte seiner Frau in den Flur.

Moni trank schnell ihren Kaffee aus und beeilte sich, nachzukommen. Das war mal wieder typisch. Elke neigte manchmal zur Übereifrigkeit.

»Hast du dich anders entschieden?«, fragte Elke, als ihr Mann sich die Jacke anzog. Hans nickte wenig begeistert, und Elke hängte ihre eigene Jacke zurück. Sie drückte Hans einen Kuss auf die Wange. »Was soll ich dir zum Abendbrot machen, Schatz? Eine schöne Pfanne Hackgrütze?« Sie wandte sich Moni zu. »Du isst doch auch bei uns?«

»Was? Nein!« Moni war beim Wort Hackgrütze ein wenig flau geworden. Elke sah enttäuscht aus, also fügte Moni schnell hinzu: »Tut mir leid. Ich muss im Krug nach dem Rechten sehen. Das verstehst du doch, oder?«

»Kommst du da überhaupt rein?«, fragte Elke.

Moni zog einen Schlüssel aus ihrer Hosentasche. »Wenn mein Vater die Schlösser nicht ausgetauscht hat.«

Elke lächelte mütterlich. »Das hat er sicher nicht«, sagte sie und eilte in die Küche zurück. »Ich packe euch noch schnell was von dem Kuchen ein. Gebt Enno auch was ab.«

***

Polizeiobermeister Enno Theiß beugte sich über Elkes Tupperdose, klaubte ein Stück Kuchen heraus und schnupperte genüsslich daran, bevor er hineinbiss.

»Schmeckt das wieder lecker«, nuschelte er mit vollem Mund und musterte dabei Moni. »Wen bringst du da mit, Hans?«, fragte er kauend.

»Das ist doch Monika Hansen. Ihr kennt euch.«

»Baschir«, korrigierte sie, und Hans fiel ein, dass Moni längst verheiratet war.

Enno ließ den Kuchen sinken und sah sie stirnrunzelnd an. »Na klar! Du warst zwei Klassen unter mir«, erinnerte er sich.

»Ist das Sitzungszimmer frei?«, fragte Hans ungeduldig, bevor die Wiedersehensfreude ausuferte und er gleich hier übernachten konnte.

»Klar«, nuschelte Enno, der sich gerade den Rest Kuchen in den Mund stopfte. Er wischte sich die Hand an der Hose ab.

Hans griff nach dem Schuhkarton, der auf seinem Schreibtisch stand. Darin lagen die Sachen, die Kuno in Cordulas Wagen zurückgelassen hatte, und irgendwie wurde es Hans beim Anblick der spärlichen Hinterlassenschaften ganz wehmütig ums Herz. Ihm fiel spontan ein Reim dazu ein.

»Einfach verschwinden und so

Auf dem Raststättenklo

Nur noch Taschentuch und Pfefferminzbonbon

Im Schuhkarton.«

Moni blickte irritiert, Enno mitleidig. Hans räusperte sich verlegen. Er hatte wieder laut vor sich hin deklamiert, ohne es zu merken.

»Komm!«, befahl er Moni und machte sich auf den Weg zum Besprechungszimmer.