Tödliches Chiemgau - Lena Köpl - E-Book

Tödliches Chiemgau E-Book

Lena Köpl

3,0

Beschreibung

Morden, wo andere Urlaub machen der erste Fall für Kriminalhauptkommissarin Abby Perez: Der mysteriöse Tod einer jungen Konditorin erschüttert das bayrische Örtchen Prien am Chiemsee. Was ist geschehen? Hat sich die junge Frau selbst das Leben genommen? Oder steckt tatsächlich ein Mord dahinter? Je mehr die Ermittler über das Opfer erfahren, desto rätselhafter erscheint ihr Tod. Immer wieder steckt das Team um Kriminalhauptkommissarin Abby Perez hoffnungslos fest. Doch dann meldet sich ein Zeuge ...

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2021 – Herzsprung-Verlag

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat + Herstellung: CAT creativ - cat-creativ.at

Titelbild: © germancreative

E-Book: 978-3-98627-009-4 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-98627-008-7 - E-Book

*

Inhalt

Prolog

1. Mittwochabend

2. Donnerstagmorgen

3. Donnerstagnachmittag

4. Donnerstagabend

5. Freitagmorgen

6. Freitagnachmittag

7. Freitagabend

8. Samstagmorgen

9. Samstagnachmittag

10. Samstagabend

11. Sonntagmorgen

12. Sonntagnachmittag

13. Sonntagabend

14. Montagmorgen

15. Montagnachmittag

16. Montagabend

17. Dienstagmorgen

18. Dienstagnachmittag

19. Dienstagabend

20. Mittwochmorgen

21. Mittwochnachmittag

22. Donnerstagmorgen

23. Donnerstagnachmittag

24. Donnerstagabend

25. Freitagmorgen

26. Freitagnachmittag

27. Freitagabend

*

Prolog

Ina Stöbl wusste nicht, dass sie keine drei Stunden mehr zu Leben hatte. Sie band sich ihre hellrosa Schürze um ihre schmalen Hüften und tänzelte von der Küche zum Tresen. Der süße Duft, der aus der Backstube drang, löste ein Glücksgefühl in ihr aus. Endlich war sie allein im Laden. Endlich waren ihre Chefinnen weg.

Sie hatte das Gefühl, keine Minute allein mit ihnen sein zu wollen. Sie fühlte sich in ihrer Gegenwart einfach nur unwohl. Doch dieses Gefühl von Unwohlsein wurde überdeckt. Überdeckt vom Krapfengeruch aus der Küche, von dem fröhlichen Geplapper der Gäste und von ihrem wahr gewordenen Traum.

War es nicht so, dass man nur Träume brauchte, um weiterleben zu können? Ina schloss die Augen. Für einen kurzen Moment sah sich die junge Konditorin in ihrem eigenen Café. Sie sah die Wiesen um sich, die duftenden Blumen und die glücklichen Gäste. Beflügelt von dem Gedanken würde ihr jede Arbeit leichtfallen. Bald würde sie ihr Leben so leben können, wie sie es immer gewollt hatte. Sie würde sich ihren Lebenstraum erfüllen und ihr eigenes Café besitzen.

Ein ungeduldiger Gast riss sie aus ihren Tagträumen. Ina seufzte und trank ihr Saftglas aus. Sie würde es später wegräumen, wenn weniger los war. „Komisch“, dachte sie noch. „Irgendwie hat der Saft anders geschmeckt als sonst. Ob er wohl schlecht war?“

*

1. Mittwochabend

„Wollen Sie nicht doch lieber auf Ihren Anwalt warten?“ Abby sah auf die Uhr. Der würde heute wohl nicht mehr antanzen.

„Ich habe nichts getan!“ Er musterte Abby kritisch. Eine Mischung aus Hass und Verständnislosigkeit. Wie oft hatte sie das schon beobachtet? Eine schwarze Polizeibeamtin in Deutschland, einige würden sich daran sicherlich nie gewöhnen.

„Sie waren in den letzten Wochen auffällig oft vor Ina Stöbls Haus und vor ihrem Arbeitsplatz in der Konditorei. Dort, wo sie heute Nachmittag tot aufgefunden wurde. Eine Zeugin hat ausgesagt, Sie dort über einen längeren Zeitraum hinweg auf dem Marktplatz gesehen zu haben.“

Herr Mooser, ein Mann um die Sechzig mit Bauchansatz, fettigen Haaren und riesigen Schweißflecken unter den Achseln, blieb weiterhin stumm. Sein Blick glitt knapp an Abby vorbei zu ihrer Partnerin und blieb an deren Dekolleté hängen.

„Okay. Dann sagen Sie uns, was passiert ist“, meinte diese schließlich und knöpfte ihre hellrosa Strickjacke zu.

„Also gut. Ich bin zu Ina gegangen und als ich in die Konditorei kam, habe ich sie da liegen sehen. Ich bin mit meinem Arm aus Versehen an das Saftglas auf dem Tresen gekommen und wollte es auffangen, bevor es runterfällt“, meinte Mooser schließlich und richtete seine Blicke wieder auf Abby. Er sah ihr nur kurz ins Gesicht, seine Blicke wanderten ihren Körper hinab. Sein Blick war ekelerregend. Er sah sie an wie ein Objekt. Abby und ihre Partnerin Elisabet blickten einander an. Auch Elisabet stand das Unbehagen ins Gesicht geschrieben. Ihr zartes Gesicht wirkte ungewohnt eingeschüchtert. Elisabet mochte sensibel aussehen, doch in Wahrheit brachte sie nichts so schnell aus der Ruhe. Heute jedoch sah sie aus, als würde sie am liebsten alles abbrechen. Doch das kam nicht infrage. Sie brauchten Antworten.

„Was sagen Sie zu den Stalking-Vorwürfen? Frau Stöbl war mehrmals auf der Polizeiwache, um Sie wegen Belästigung anzuzeigen“, sagte Elisabet.

Und schon waren seine Blicke wieder bei ihr. „Ich habe Sie nie angefasst!“, wehrte er sich. Genau das war ja auch der Grund gewesen, warum sie nicht früher polizeilich gegen ihn vorgehen konnten.

„Aber Sie haben ihr aufgelauert und Briefe vor ihre Tür gelegt. Geben Sie das zu?“, fragte Abby.

„Das tut doch keinem weh!“ Mooser schlug mit seinen gefesselten Händen fest auf ihren Schreibtisch. Die Porträts ihrer Familie, die Abbys Lebensgefährte Alec für sie gezeichnet hatte, fielen trotz Rahmen um. Das war zu viel. Für einen kurzen Moment fürchtete sie, jegliche Selbstbeherrschung zu verlieren und den Raum zu verlassen. Doch sie riss sich zusammen.

„Aber Sie verstehen schon, dass wir deshalb berechtigten Grund zur Annahme haben, dass Sie sich nicht länger beherrschen konnten und die Frau deshalb kurzerhand außer Gefecht setzen wollten. Warum haben Sie keinen Notarzt gerufen? Warum haben Sie die Polizei nicht alarmiert?“ Abby stellte die Bilder wieder auf und stapelte ihre Notizzettelchen fein säuberlich an der Schreibtischkante. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie erneut, dass Moosers Blick eine Spur zu tief für ihren Geschmack war.

„Aber ich habe ihr nichts getan!“

„In Ihrer Jackentasche haben wir K.-o.-Tropfen gefunden. Haben Sie die der Frau untergemischt?“, fragte Abby weiter.

„Nein!“

„Okay. Ich schlage vor, wir beenden das Gespräch hier. Und Sie schauen, dass Sie ihren Anwalt ans Telefon bekommen, ja? Morgen sind die endgültigen Ergebnisse aus dem Labor da, bis dahin bleiben Sie hier.“ Abby stand auf, nickte einem Streifenbeamten zu, der Mooser daraufhin in eine Zelle brachte.

„Wir hätten das Gespräch eigentlich gar nicht führen dürfen, so ganz ohne Autopsiebericht“, raunte Elisabet, kaum dass der Verdächtige draußen war.

War das ihr Ernst? Ergriff sie gerade Partei für ihn? Abby schüttelte sich. Eigentlich hätte sie sich mit ihrem Freund treffen wollen. Doch heute würde er vergebens auf sie warten. In ihr hatte sich eine enorme Wut angestaut. Anstatt sich wie ein Objekt angaffen zu lassen, hätte sie in die Offensive gehen und Elisabet und sich selbst vor Mooser beschützen müssen. Irgendwo wusste sie, dass sie nicht viel hätte anders machen können. Doch andererseits fühlte sie sich, als hätte man sie in eine Opferrolle gedrängt. Abby sah auf die Uhr. Alec wartete seit über einer Stunde. Kurz überlegte sie, doch noch zu ihm zu fahren, aber sie entschied sich dagegen. Sie war viel zu gereizt. Er hatte es nicht verdient, dass sie unterschwellig ihre Aggressionen an ihm ausließ. Sie würde nach Hause fahren und ihre Trainingspuppe bearbeiten. Alec würde es verstehen. Er wusste, wie dieser Job sein konnte.“

„Es war nur eine Befragung. Kein Verhör. Außerdem gab es Zeugen, die ihn aus der Konditorei haben gehen sehen, zumal er K.-o.-Tropfen bei sich hatte!“ Abby raffte ihre Sachen zusammen.

„Na gut. Wir sehen uns morgen.“

Als Abby auf die Straße trat, war es bereits dunkel. Die Straßenlaternen beleuchteten die Streifenwagen, die neben dem Eingang ihres Polizeireviers parkten. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer schwarzen Lederjacke und sah sich um. Es war eine absolute Seltenheit, dass einmal Ruhe auf den belebten Straßen Rosenheims einkehrte. Selbst wenn sie sich hatte sagen lassen, dass es die Bayern nicht ganz so ernst mit der Einhaltung ihrer Termine nahmen, herrschte vor dem Präsidium meist Hektik. Umso schöner war es, einmal etwas Ruhe vor dem Revier zu haben. Das alte Backsteingebäude, in der sie ihr Büro hatte, wirkte im Laternenlicht plötzlich ganz anders auf sie. Abby stieg in ihren Wagen und fuhr los.

*

2. Donnerstagmorgen

„Der Autopsiebericht ist da!“, trällerte Elisabet zur Begrüßung, als Abby das Büro betrat. Dabei hielt Elisabet den Wisch in die Höhe, als würde darin ihre Beförderung stehen, nicht Ina Stöbls Todesursache.

„Okay“, meinte Abby und setzte sich auf ihren Stuhl. Sie hatte wenig geschlafen und war heute früh nicht aus dem Bett gekommen. Ihren Haaren sah man das deutlich an. Ihre widerspenstigen, schwarzen Kräusellocken waren nicht mit Haarspray fixiert worden und fielen ihr ständig ins Gesicht.

Sie hatte es gestern Abend übertrieben. Aus ihrem kurzen Aggressionsabbau war ein mehrstündiges Intensivtraining geworden. Ihre Knöchel waren stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Sie waren wundgeschlagen und in den hässlichsten Blau- und Lilatönen angelaufen. Elisabet hatte dieses Problem nicht. Sie zog Meditation und autogenes Training vor. Vielleicht schaffte sie es deshalb, heute wieder genauso frisch und motiviert auszusehen wie die Tage davor.

„Unser Opfer starb nicht an einer Überdosis K.-o.-Tropfen, sondern an einer Überdosis Ramipril. Der Menge nach muss Ina Stöbl eine ganze Schachtel von dem Blutdruckmedikament geschluckt haben. Vielleicht war es also doch Suizid. Der Todeszeitpunkt liegt etwa bei zwölf Uhr mittags“, meinte Elisabet.

„Na schön. Trotzdem hatte Ina Stöbl einen Stalker, der um die Zeit aus der Konditorei gelaufen ist. Mooser ist doch durchaus in dem Alter, in dem man solche Tabletten verordnet bekommen könnte, oder?“ Abby richtete die eingerahmte Zeichnung ihrer Familie wieder akkurat an den Tischrand.

„Es gab ja auch keinen Abschiedsbrief und laut Rechtsmedizin keine anderen Verletzungen, die für einen früheren Suizidversuch sprechen könnten. Aber wir sollten vorher trotzdem noch mal mit den Eltern reden“, sagte Elisabet.

Das war ein gutes Stichwort, denn die waren gestern zwar betroffen vom Tod ihrer Tochter gewesen, trotzdem hatten sie irgendwie merkwürdig reagiert.

„Was machen denn Alec und Lukas gerade? Die könnten uns die Befragung Moosers mit dem Anwalt abnehmen. Dann ist der nicht mehr so abgelenkt“, schlug Elisabet vor.

„Ich rufe Alec an und frage ihn“, sagte Abby.

Gleichzeitig fühlte sie sich komisch, ihn jetzt anzurufen und mit ihm über Berufliches zu reden. Ihr Korb gestern Abend hatte ihn bestimmt verletzt. Andererseits wusste Alec ganz genau, dass dieser Job manchmal direkt mit ungeplanten Überstunden verbunden sein konnte. Alec und Lukas arbeiteten beide in der Abteilung für organisiertes Verbrechen. Sexualdelikte waren dort inbegriffen, obwohl sie schon seit Jahren dafür kämpften, dass diese Kategorie endlich eine eigene Abteilung bekam. Mit dem Thema Stalking kannten sich Alec und Lukas demnach besser aus.

„Fakt ist doch, dass der Laden zugesperrt war, als die Leiche gefunden wurde. Sie kann den Laden nicht selbst abgesperrt haben, weil wir bei ihr keinen Schlüssel gefunden haben. Wenn du mich fragst, hat Mooser sie eingesperrt, nachdem er sie vergiftet hat, und ist dann weggelaufen“, sagte Abby und beugte sich über ihren Tisch, um die Bilder erneut geradezurücken. Verstohlen hielt sie sich die Hand vor den Mund und gähnte. Noch heute veränderte die Müdigkeit etwas an ihrer Person. Offenbar beschwor sie dieses Verlangen nach Ordnung und Sicherheit herauf. Auch, wenn ihre Zeit beim brasilianischen Militär lange vorbei war, sehnte sie sich oft nach der Struktur, die ihr die Armee gegeben hatte.

„Oder wer anders hat in der Zwischenzeit aufgesperrt. Aber machen wir es nicht so kompliziert. Fakt ist nämlich auch, dass Mooser keinen Schlüssel bei sich hatte. Vielleicht hat er sie aus abgewiesener Liebe ermordet? Anzeichen von sexueller Misshandlung gibt es nicht. Frau Stöbl wurde nach ihrem Tod offenbar auch nicht bewegt.“

„Mooser geht es doch nicht um Liebe. Wahrscheinlich hat er sich einfach auf sie eingeschossen, weil sie noch so jung war. Und hübsch war sie ja auch.“ Abby stand auf. Sie steckte ihren Dienstausweis in die Taschen ihrer schwarzen, abgewetzten Jeans. „Komm, wir fahren jetzt zu den Eltern.“

Ina Stöbl hatte bis zu ihrem Tod in ihrem Elternhaus gelebt. Es gab einen kleinen Garten vor dem Haus, durch den ein gepflasterter Weg zur Haustür führte. Die Familie wohnte in einem dieser typisch altbayerischen Holzhütten mit Balkon und üppigem Blumenschmuck. In der gesamten Nachbarschaft standen nur solche kleinen Häuschen, die meisten waren jedoch mit einem Kreuz über der Tür versehen.

Abby klopfte vorsichtig an. „Frau Stöbl, guten Morgen. Wir haben noch ein paar Fragen bezüglich Ihrer Tochter“, sagte sie zur Begrüßung.

Die Frau nickte und ließ sie herein. Ihr Mann saß wieder – oder noch immer – auf der Eckbank im Wohnzimmer mit angeschlossener Küche, auf der er gestern bereits gesessen hatte. Unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Ringe ab. Frau Stöbl hingegen schien es erstaunlich gut zu gehen. Sie schob ihrem Mann eine Tasse mit Brühe über den Tisch, setzte sich neben ihn und griff nach seiner Hand, an der ein Ring mit einem merkwürdigen Symbol steckte.

„Halten Sie es für möglich, dass sich Ihre Tochter mit Medikamenten umgebracht hat? War sie suizidgefährdet?“, fragte Abby.

Ihre Kollegin sah sie durch ihre grünen Augen, die sie stets an Kaa aus dem Dschungelbuch erinnerten, strafend an.

„Nein“, antwortete Frau Stöbl erstaunlich schnell, ohne auf Abbys unsensible Formulierung einzugehen. „In Gottes Augen ist das eine Sünde“, fügte sie hinzu und blickte wieder zu ihrem Mann, der nur kurz aufsah. Offenbar bemerkte er die Verwirrung in Abbys Gesicht.

„Wir sind Jünger Gottes“, meinte er schwach.

Abby hatte von dieser Sekte gehört. Sie musterte die Stöbls einmal von oben bis unten. Wie hatte ihr das nur entgehen können? Sie konnte nicht genau beschreiben, was es war, doch Frau Stöbl hatte diesen gewissen Ausdruck im Gesicht. Etwas Geistliches. Etwas, das sie bisher nicht einzuordnen gewusst hatte. Ihre langen, grauen Haare hatte sie ordentlich nach hinten gebunden, ihre Kleidung vermittelte etwas Bäuerliches. Deshalb hatte die Art, auf den Tod ihrer Tochter zu reagieren, gestern so befremdlich auf sie gewirkt. Wer konnte schon besser mit dem Tod eines geliebten Menschen umgehen als jemand, der glaubte, dass der Tod nicht das Ende, sondern ein besseres Leben versprach?

„Also hatte Ihre Tochter auch keinen Zugang zu solchen Medikamenten?“, hakte Elisabet nach.

„Nein. Und bevor Sie Ihre Frage von gestern noch einmal stellen: Ina hatte keine Feinde. Wir sind Konflikten stets aus dem Weg gegangen“, fügte Frau Stöbl hinzu.

Ina Stöbls Glauben lieferte ihnen ein perfektes Motiv für einen Mord. Bei den strengen Regeln, die in dieser Sekte herrschten, konnte sich Abby beim besten Willen nicht vorstellen, dass Frau Stöbl keine Feinde gehabt hatte. „Dürfen wir das Zimmer Ihrer Tochter sehen?“, fragte die Kommissarin.

„Sicher“, meinte Frau Stöbl und stieg mit ihnen die Treppen zum Obergeschoss hoch, um ihnen den Raum zu zeigen. Danach zog sie sich diskret zurück.

In dem Zimmer gab es nicht sehr viel zu sehen. Ein ausgeschalteter Laptop und das Handy des Opfers schienen auf den ersten Blick noch das Interessanteste zu sein. Neben dem Bett stand ein breites Bücherregal, das aber hauptsächlich mit Lektüren über ihren Glauben gefüllt war. Auf dem Schreibtisch fanden sich einige Broschüren für ihre Religion sowie ein paar Ordner mit Hygienevorschriften und anderen Richtlinien, die Ina Stöbl offenbar für ihre kürzlich abgeschlossene Ausbildung zur Konditorin gebraucht hatte.

„Hilf mir mal schnell, die Matratze anzuheben, ja?“ Elisabet ging zum Bett hinüber und sah Abby auffordernd an.

Gemeinsam hievten sie die Matratze hoch, unter der tatsächlich einige Bücher zum Vorschein kamen, die Frau Stöbl offenbar vor ihren Eltern versteckt hatte.

„Das sind alles Liebesromane. Ein paar von denen habe ich auch gelesen. Warum hat sie die unter ihrem Bett versteckt?“, wunderte sich Elisabet.

„Ich frage Alec nachher. Der kann uns mit Sicherheit einiges über die Jünger Gottes erzählen“, meinte Abby.

Er hatte ihr während ihrer Beziehung einmal erzählt, dass seine Mutter dort um ein Haar eingestiegen wäre, weil sie sich in einen Mann verliebt hatte, der diese Glaubensrichtung auslebte.

„Vielleicht hatte Frau Stöbl einen Freund“, überlegte Elisabet.

Doch als sie diese Frage der Mutter stellte, bekam sie eine recht eindeutige Antwort. Ina Stöbl hatte keinen Freund und schon gar keine Bekanntschaften außerhalb der Glaubensgemeinschaft.

Als sie zurück im Präsidium waren, besprach sich Herr Mooser offenbar gerade mit seinem Anwalt. Doch Alec und Lukas waren beide nicht in ihrem Büro. Insgeheim hatte Abby darauf gehofft, sich vor der Befragung drücken zu können. Allein bei dem Gedanken an seine Blicke wurde sie wütend. Sie ließ sich nicht gerne zum Objekt machen. Doch das Schlimmste an dieser Situation war die Tatsache, dass sie nichts dagegen tun konnte. Sie konnte Mooser nicht die Leviten lesen. Sie musste höflich und förmlich bleiben. So tun, als würde ihr nicht auffallen, wie sie von ihm zu einem willenlosen Objekt herabgesetzt wurde.

„Guten Morgen, Herr Mooser“, grüßte Abby höflich, als das Mandantengespräch beendet war. Sie nickte dem Anwalt kurz zu und setzte sich dann an ihren Schreibtisch.

„Ist Ihnen noch etwas eingefallen?“, fragte Elisabet.

„Ich habe bereits alles gesagt“, meinte Herr Mooser.

„Laut des Autopsieberichts sind nicht die K.-o.-Tropfen, sondern Ramipril Grund für Frau Stöbls tragischem Tod gewesen. Welchen Grund gibt es noch, meinen Mandanten hier festzuhalten?“, mischte sich der Anwalt sogleich ein.

Abby schätzte ihn auf Mitte vierzig. Doch irgendetwas sagte ihr, dass dieser Mann noch nicht viel Berufserfahrung hatte. Er wirkte ungepflegt. Seine Haare standen ungekämmt ab, der Anzug schlackerte an seinem Körper und seine schiefen Schneidezähne waren auffällig gelb. Was die Richter wohl von seinem Erscheinungsbild hielten?

„Herr Mooser wurde von einer Zeugin identifiziert. Laut dieser ist er um kurz nach zwölf aus der Konditorei Holzner gegangen. Außerdem haben wir mehrere Aussagen, die belegen, dass er Frau Stöbl nachgestellt hat“, erklärte Elisabet geduldig. Eigentlich stand das alles in der Akte. Aber der Anwalt wirkte nervöser als sein Mandant selbst. Bestimmt war das auch Elisabet nicht entgangen.

„Also haben Sie keine Beweise?“, hakte der Anwalt nach.

„Nein. Aber Indizien. Indizien, die ausreichen, um ihren Mandanten fürs Erste hier festzunageln. Heute Mittag kommt der Bericht aus dem Labor, da erfahren wir dann, ob die Fingerabdrücke am Glas mit denen ihres Mandanten übereinstimmen. Außerdem haben wir einen Beschluss für die Durchsuchung seiner Wohnung. Also, Herr Mooser, für Sie ist das jetzt die letzte Chance, uns die Wahrheit zu sagen“, meinte Abby.

„Meine Fingerabdrücke sind mit Sicherheit auf dem Saftglas. Ich habe es ja auch aufgefangen. Aber umgebracht habe ich sie nicht.“ Herr Mooser sah sie während des gesamten Gesprächs nicht an. Er starrte nur auf die Tischplatte.

„Warum haben Sie keinen Notarzt gerufen?“

„Ich weiß nicht. Ich war aufgewühlt.“

„So aufgewühlt, dass Sie danach auch direkt die Tür abgeschlossen haben, damit keiner die Leiche findet?“, hakte Abby weiter nach. Elisabet schickte ihr einen warnenden Blick.

„Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe.“ Mooser sah kurz zu Abby auf. Seine Augen blieben an ihrem Oberkörper hängen. Er schluckte und zwang sich, wieder zurück auf den Tisch zu starren.

„Also geben Sie es zu?“, fragte Abby weiter.

„Sie sollten nicht darauf antworten“, sprang Moosers Anwalt ein.

„Zu spät. Gestern Abend haben Sie noch nicht zugegeben, auch abgesperrt zu haben. Gibt es sonst noch etwas, das wir wissen müssten?“, fragte Elisabet.

„Ich habe den Schlüssel aus Inas Handtasche genommen und unterwegs weggeworfen. Aber ich weiß nicht wohin.“

Abby nickte langsam und sah auf ihre Armbanduhr. In einer halben Stunde würde der Staatsanwalt vor Moosers Wohnung stehen. Da sollten sie nach Möglichkeit vor Ort sein.

Die Autofahrt zog sich. Rosenheims Straßen waren verstopft mit Touristen. Abby spürte, wie ihre Aggressionsschwelle von Minute zu Minute stieg. Sie hätte keinen Umweg fahren dürfen, um die Hauptstraßen zu umgehen. Ihre schweißnassen Hände klammerten sich vor lauter Wut am Lenkrad fest. Am liebsten hätte sie dagegen geschlagen. Sie ließ den Staatsanwalt nicht gerne warten. Hinter ihr begannen die ersten Autofahrer mit ihrem Hupkonzert. Gerne wäre sie ausgestiegen, hätte die Fahrertür einer dieser Proleten aufgerissen und ihn an seinem Kragen hinausgezerrt. „Du bist Polizeibeamtin. Du hast eine Vorbildfunktion. Du musst Ruhe bewahren“, sagte ihr Unterbewusstsein.

„Diese Schlaftabletten da vorne sollen besser aufpassen, dass ich sie nicht wegen Behinderung des Straßenverkehrs in Handschellen aus ihrer schäbigen Seifenkiste zerre!“, fluchte sie zurück und klammerte sich noch fester an ihr Lenkrad, um nicht doch irgendetwas zu zerschlagen.

„Was sagst du? Ich verstehe kein Portugiesisch, sprich doch bitte Deutsch mit mir“, sagte Elisabet neben ihr.

Abby war gar nicht aufgefallen, dass sie in ihre Muttersprache zurückgefallen war. Aber es war bestimmt gut, dass Elisabet das jetzt nicht verstanden hatte. Sie selbst blieb ruhig und starrte nur etwas gelangweilt zum Fenster hinaus.

„Ich hasse diese Stadt!“, sagte Abby diesmal in deutscher Sprache.

Der Staatsanwalt war ganz offensichtlich so schlau gewesen und hatte die Hauptstraße gewählt. Er war lange vor ihr da. Ihre Blicke trafen sich kurz zur Begrüßung. Er hatte dunkles Haar und tiefe, fast schwarze Augen. Sein ganzer Gesichtsausdruck wirkte verbissen. Seine Haltung verriet, dass er fast schon panische Angst davor hatte, eine falsche Bewegung zu machen. Er knöpfte sein Jackett zu, obwohl es fast schon glühend heiß war.

„Da hat wohl wer Angst vor Schweißflecken“, meinte Elisabet schmunzelnd und musterte ihn.

„Guten Morgen, Herr Staatsanwalt“, begrüßte Abby ihn.

„Frau Perez.“ Er nickte kurz.

Mooser lebte in einem Mietshaus unter strengster Beobachtung einer älteren Dame, die wie eine Spionin auf den Hof starrte. Mit einer Tasse Tee in der einen und einer dicken Katze in der anderen Hand. Seine Wohnung befand sich in einem von Rosenheims Billigvierteln. Vermutlich war dies eines der wenigen Häuser mit halbwegs bezahlbarer Miete. Das Viertel bestand aus drei Gebäuden, die an ihren Ecken jeweils aneinandergrenzten.

„Ich könnte hier nicht wohnen“, sagte Abby zu Elisabet. „Nicht mehr“, fügte sie in Gedanken hinzu. In Brasilien hatte sie in einem kleinen Bauernhaus in einem Elendsviertel kurz hinter Sao Paulo gewohnt. Sie hatte früh gelernt, sich durchzusetzen, und bedauerte diese Umstände nicht. Es gab keine bessere Vorbereitung für das Militär, als in einer harten Gegend aufzuwachsen.

Sie betraten Moosers Wohnung, die relativ aufgeräumt war, jedoch lag auf den Regalen ziemlich viel Staub. Abby steuerte direkt das Bad an, weil sie hoffte, das Ramipril zu finden, an dem Ina Stöbl gestorben war. Aber es fanden sich keine Blutdrucktabletten. Dafür einige starke Schlafmittel.

Wenn Mooser das Opfer also tatsächlich selbst vergiftet hätte, warum sollte er sich dann dafür extra Ramipril beschaffen?

„Abby! Kommst du mal?“, rief Elisabet von hinten.

„Was ist denn?“, wollte Abby wissen, als sie ins Schlafzimmer kam. Sie merkte jedoch schnell, dass diese Frage ziemlich überflüssig war. „Was für ein perverses Schwein!“, entfuhr es ihr. Über Moosers Bett hingen mehrere Bilder von Frau Stöbl, die sie so mit Sicherheit nicht von sich hatte machen lassen.

„Er hat sie heimlich fotografiert und die Bilder nachbearbeitet. Das ist so was von abartig“, meinte Elisabet, während sie die Nacktfotos von den Wänden pflückte.

„Zu schade, dass wir keinen Beschluss für Moosers Laptop bekommen haben.“

„Hast du das Ramipril?“, erkundigte sich Elisabet.

Abby schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht an Suizid, Lissy.“

„Ich auch nicht. Wir sollten erst einmal mehr über Frau Stöbl und über ihren Glauben herausfinden.“

„Es ist aber sicher, dass Frau Stöbl die Tabletten nicht verschrieben bekommen hat, oder?“, hakte Abby sicherheitshalber nach.

Elisabeth nickte.

„Hier ist nichts, bis auf die perversen Bilder. Lass uns in der Küche noch einmal nach der Quittung für das Ramipril suchen“, meinte Abby und ging voraus.

Aber in dem Mülleimer der Küche fanden sich nur leere Verpackungen von geliefertem Essen oder Fertigprodukten. In den Regalen war ebenfalls nichts Interessantes – bis auf alle drei Bände von Fifty Shades of Grey und einer gewaltigen Pornosammlung.

„Ein Mann zum Verlieben“, meinte Elisabet.

„Okay. Ich fürchte, wir haben uns geirrt, was das Ramipril angeht“, sagte Abby nach einer Weile.

„Wenn er sich das Medikament extra für den Mord beschafft hat, dann hat er die Quittung vermutlich irgendwo unterwegs entsorgt und gleich alle Medikamente für die Tat benutzt.“

„Ich denke nicht, dass es dem Mooser um irgendeine Form der Liebe geht. Ich denke, der war einfach nur scharf auf ihren Körper, also glaube ich, dass das eine Kurzschlussreaktion war. Aber dann hätte er wiederum die K.-o.-Tropfen benutzt.“

„Stalkern geht es meistens um Liebe, nicht um irgendeinen Körper. Davon gibt es ja wohl mehrere!“ Elisabet funkelte sie fast schon sauer an.

„Okay. Du glaubst an einen vorsätzlichen Giftmord mit zurückgewiesener Liebe als Motiv. Ich glaube an einen Mann, der sich nicht mehr unter Kontrolle hatte, ihr deshalb das Ramipril untergemischt hat, und gestört wurde, als er sich gerade an ihr vergehen wollte“, meinte Abby, um zu schlichten.

„Du widersprichst dir gerade selbst. Warum hat er dann nicht die K.-o.-Tropfen benutzt? Und warum hat er sie nicht schon früher außer Gefecht gesetzt, wenn ich deine Theorie jetzt mal ein bisschen zerlegen darf.“ Elisabet fuhr sich durch ihre roten Locken, die bis zu ihren Hüften gingen.

„Hast du gesehen, wie der geschwitzt hat, als der uns angeschaut hat? Wie angespannt sein Gesicht war? Der Mann hat sich nicht oder kaum unter Kontrolle. Oder hat dich Lukas schon mal so angeschaut?“

„Warum musst du ausgerechnet Lukas mit einem perversen Arschloch vergleichen?“

„Ist ja gut, entschuldige.“

Elisabet kniff ihre Augen zusammen und sah sie böse an.

„Also, ich denke, Mooser ist da eine Ausnahme“, sagte Abby schließlich. „Oder ich hoffe es“, fügte sie in Gedanken hinzu und schob das Bild von Alec, der schwitzend vor dem Bild einer nackten Frau saß, ganz schnell wieder zur Seite. Ihr Handy vibrierte. Alec hatte geschrieben.

Bin gerade auf der Baustelle beim Kaffeetrinken. Kommst du?

Sicher.

„Lass uns fahren“, meinte Abby zu Elisabet, als sie ihr Handy weggesteckt hatte.

Abby sah ihn nicht sofort. Ihre alte Kellerkneipe wirkte irgendwie anders. Überall standen Farbeimer herum, Möbel gab es so gut wie gar keine. Nur in der hintersten Ecke stand eine Couch, von der sie sich einfach nicht trennen konnte. Alec saß darauf – mit einer Tasse Kaffee in der einen und einer Leberkässemmel in der anderen Hand. Eine zweite Tasse stand vor ihm auf dem Boden. „Schau mal, wofür ich gekämpft habe!“ Stolz zeigte Alec auf das alte Möbelstück.

Abby sah sich um. „Heute keine kostenlose Paartherapie?“, raunte sie ihm zu.

Er schüttelte den Kopf und überreichte ihr die Kaffeetasse vom Boden. „Nein. Es ist nur Louis da. Linda ist in ihrer Praxis“, meinte er genauso leise.

Louis war ein befreundeter Forensiker aus dem Labor, den sie schon seit Ewigkeiten kannten. Vor Kurzem hatte er die Bar mit seiner Lebensgefährtin Linda von dem Eigentümer gekauft und wollte sie nun grundlegend renovieren. Die Stadt Rosenheim war froh darum gewesen. Nachdem der Vorbesitzer wegen Steuerhinterziehung und einer Schlägerei in seiner Kneipe vor Gericht gekommen war, hatte Abby eigentlich gehofft, ein anderer würde die Kneipe genauso weiterführen. Selbstverständlich ohne Steuerhinterziehung und Kneipenschlägerei, aber das altmodische, typisch bayrische Flair hatte ihr gefallen.

„Es tut mir leid wegen gestern.“

Alec nickte nur. „Schon okay. Ich weiß doch, wie das läuft.“ Er breitete die Arme aus.

Sie lehnte sich gegen ihn und schloss kurz die Augen. Die Angst, dass sie ihre Beziehung auch beim zweiten Mal wieder gegen die Wand fahren würden, fiel für einen kurzen Moment von ihr ab. Alec und sie waren zwar geschieden, doch das alles wirkte plötzlich ganz weit weg. Sie würden zusammen neu anfangen.

„Abby!“ Als hätte Louis ihre Gedanken noch durch die Wand lesen können, trat er zu ihnen an die Couch.

Er hatte, trotz seines jungen Alters, immer etwas von einem alten, verrückten Wissenschaftler an sich mit seinen zerzausten, hellblonden Haaren. Sie nickte ihm zur Begrüßung kurz zu und sah wieder zu Alec. Der schlang seine kräftigen Arme um ihren Körper und zog sie an sich. Seine Hände umfassten ihre.

„Alec hat mich dir zuliebe überzeugt, dieses alte, hässliche Ding hier vorerst stehen zu lassen. Ich wusste gar nicht, dass du sentimental bist?“

Abby zuckte mit den Schultern. „Ich mochte dieses altmodische Flair mit der Rockmusik und dem riesigen Whiskyregal.“ Louis seufzte und ging zurück in die Küche.

„Wie war dein Tag?“, erkundige Alec sich schließlich. Seine Blicke wanderten zu ihren aufgeplatzten Knöcheln. Er sagte nichts, sondern fuhr nur sanft mit seinem Daumen darüber. Der Mann hatte wunderschöne Hände. Kräftige und mit Fingern, denen man bereits das handwerkliche Geschick ansehen konnte. Äderchen drückten sich durch seine braun gebrannte Haut hervor.

„Anstrengend. Es wäre besser, du würdest die Akte lesen. Wir wollen euch heute sowieso dazu holen. Es steht die Möglichkeit im Raum, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt.“

Sie konnte ein leises Lachen vernehmen. „Du bist so kommunikationsfreudig wie früher. Daran hat sich nie was geändert.“

Louis stieß wieder zu ihnen, er hatte sich ebenfalls eine Tasse Kaffee geholt und setzte sich neben Abby.

„Ich glaube, der Täter hat sich Ramipril besorgt und sein Opfer damit vergiftet, weil er seine Hormone nicht im Griff hat“, meinte sie.

„Ich will mich ja nicht einmischen, aber Ramipril bekommt man nicht mal eben schnell in einer Apotheke. Das ist ein verschreibungspflichtiges Medikament“, sagte Louis und trank einen Schluck aus seiner Tasse.

„Wir haben bei der Hausdurchsuchung kein Rezept gefunden. Dabei hatte er auch keines. Heißt das, er war gar nicht der Täter?“

„Wäre möglich. Gibt es denn einen anderen Verdächtigen? Oder zumindest einen Verdacht, warum die Frau sterben musste? Ich meine, von irgendwelchen Hormonen mal abgesehen?“, fragte Alec.

Sie richtete sich auf. Alec hatte markante Gesichtszüge, seine warmen, braunen Hundeaugen sorgten schon fast für eine Erholung in seinem strengen Gesicht. Einzig und allein seine Nase war nicht mehr ganz so gerade wie vor einigen Jahren.

„Die Dame war bei den Jüngern Gottes. Kannst du mir etwas über diese Glaubensgemeinschaft erzählen?“ Abby sah ihn an, bis er ihren intensiven Blick erwiderte. Alec und sie waren noch nicht lange wieder zusammen. Doch sie kannten einander so gut, dass sie genau spürten, wenn der andere im Begriff war, ein schwieriges Thema anzusprechen. Sie wusste, dass Alec einmal sehr unter den Launen seiner Mutter gelitten hatte. Sie hatte sich immer sehr schnell und heftig verliebt und war jedes Mal bereit gewesen, ihr Leben für ihren neuen Mann umzukrempeln. Wäre Alecs Mutter nur ein bisschen heftiger in diesen einen Mann verliebt gewesen, dann wäre sie womöglich tatsächlich mit Alec in diese Sekte eingetreten.

Alecs Blick wurde innerhalb von Sekunden hart. „Das ist eine Sekte. Und eigentlich bin ich absolut dafür, dass jeder seinen Glauben lebt, wie er es für richtig hält. Aber ich kenne einen Fall, in dem ein Kind bei einem Unfall schwer verletzt wurde und die Mutter die Notoperation verweigert hat. Der Junge ist daraufhin gestorben.“ Er trank einen Schluck seines Kaffees.

„Du kennst doch die Regeln da ganz gut. Was dürfen die denn so alles und was nicht?“

Alec seufzte, sah sie lange an und nickte schließlich. „Kein Fremdblut, kein Spenderorgan, keine Medikamente und jegliche Eingriffe wie beispielsweise Blinddarm-OPs sind auch tabu. Kein Alkohol, keine Drogen. Kein Sex oder Zusammenleben vor der Ehe“, erzählte er und sah sie an, als könne er diese Liste noch ewig weiterführen. „Merk dir einfach, dass alles verboten ist, was Spaß macht und in unserer Gesellschaft normal ist.“

„Dann kann es also gut sein, dass sie gegen eine der Regeln verstoßen hat und deshalb ermordet wurde, oder? So streng gläubig, wie die Stöbls sind, wird sie sich kaum mit den Tabletten umgebracht haben. Aus dem Teen-Trotzalter ist sie ja wohl raus.“

„Also, ich weiß nicht, ob dir das noch hilft, aber die Fingerabdrücke auf dem Glas stimmen mit denen von Herrn Mooser überein. Ich schicke euch den Bericht, sobald ich wieder im Labor bin“, meinte Louis. In seiner Manteltasche bewegte sich etwas. Zwei lange, behaarte Beinchen krochen langsam aus dem dunklen Versteck hervor. Nach einiger Zeit krabbelte Esmeralda, Louis Vogelspinne, ganz aus der Manteltasche hervor und pausierte schließlich auf seinem Oberschenkel.

*

3. Donnerstagnachmittag

Der Bericht über die Fingerabdrücke am Saftglas war bereits da, als Abby wieder im Büro ankam. Sie erwischte sich mehrmals dabei, wie sie auf die Uhr sah und die Stunden bis zum Dienstschluss zählte. Abby hatte keinen Nerv mehr für Mooser und dessen Anwalt übrig. Zu gerne hätte sie dessen Befragung auf Alec und Lukas abgewälzt, doch das ging nicht. Nicht heute. Die beiden Chaoten hatten die dringende Anweisung ihres Chefs bekommen, all die Berichte endlich abzuheften und alphabetisch zu sortieren. In den letzten Wochen hatte sich einiges an Papierkram angesammelt, welcher jetzt ungeordnet durch ihr Büro flatterte.

„Herr Mooser. Nehmen Sie die Blutdrucktabletten Ramipril?“ Abby schob ihm ein ausgedrucktes Bild der Schachtel des Medikaments hin.

Er schüttelte den Kopf, ohne sie dabei anzusehen. „Haben Sie meine Wohnung durchsucht?“ Seine verschwitzten Hände klammerten sich an der Ecke ihres Schreibtisches fest.

Abby nickte und gab ihm demonstrativ eines der offensichtlich nachbearbeiteten Bilder, welche sie in seiner Wohnung gefunden hatten.

„War Frau Stöbl damit einverstanden, dass Sie diese Bilder von ihr gemacht haben?“

„Darauf sollten sie keine Antwort geben“, sagte Moosers Anwalt.

„Haben Sie die Bilder nachbearbeitet? Wusste sie davon?“

„Sie sollten besser schweigen“, sagte er.

„Haben Sie die Bilder auf irgendwelchen sozialen Netzwerken hochgeladen?“, wollte Elisabet wissen und rührte in ihrem Kräutertee herum, der roch, als hätte sie ihren Biomüll püriert und mit Wasser aufgebrüht.

„Nein. Die habe nur ich gesehen. Und jetzt eben Sie.“

Bilder im Internet waren oft Grund genug für einen Suizid. Aber dann hätte sie das kaum mit Medikamenten getan, welche bei den Jüngern Gottes so verpönt waren.

Oder hatte sie es gerade deshalb getan, um ein Zeichen gegen ihren Glauben zu setzen? Dann hätten sie doch einen Abschiedsbrief gefunden. Was, wenn den jemand versteckt hatte? Immerhin war Suizid bei den Jüngern Gottes ebenfalls tabu.

„Also gut. Dann kommen wir zur Tat zurück. Sie haben Ina Stöbl alleine in der Konditorei gesehen. Was ist dann passiert?“, fragte Abby.

„Das habe ich doch alles schon erzählt. Ich habe sie auf dem Boden liegen sehen. Ich war geschockt, weil ich noch nie eine Leiche gesehen habe, deshalb bin ich weggerannt.“

„Und weil Sie so geschockt waren, haben Sie auch direkt noch die Tür hinter sich abgeschlossen, ja? Haben Sie denn überprüft, ob Frau Stöbl noch lebt? Haben Sie ihren Puls gefühlt oder versucht, sie wiederzubeleben?“, fragte Abby.

„Auch dazu sollten Sie nichts sagen“, sagte der Anwalt.

Also hatte Mooser vermutlich nichts unternommen, die Frau zu retten. Der Todeszeitpunkt konnte nicht auf die Minute festgelegt werden, deshalb war es gut möglich, dass Frau Stöbl zu dem Zeitpunkt, als Mooser bei ihr war, noch gelebt hatte. Möglicherweise war sie sogar noch bei Bewusstsein gewesen.

„Sie sagten, Sie hätten sie verfolgt, aber nicht angefasst. Was verstehen Sie denn darunter?“, wollte Elisabet wissen.

„Ich war öfter vor ihrem Haus, habe ihr Textnachrichten per Handy gesendet, war an ihrer Arbeitsstelle …“, zählte Herr Mooser auf, noch bevor dessen Anwalt einspringen konnte.

„Woher haben Sie Frau Stöbls Nummer?“ Abby lehnte sich interessiert vor.

„Ich habe in ihrem Handy nachgesehen, als ihre Handtasche auf dem Tresen stand.“

Abby sah zu Elisabet. Wenn Herr Mooser seinem Stalkingopfer Nachrichten geschrieben hatte, konnte es doch gut sein, dass die Eltern der jungen Frau das mitbekommen haben. Das wiederum könnte bedeuten, dass diese gedacht hatten, ihre Tochter hätte eine geheime Liebesbeziehung zu dem Mann. War das nicht ein Regelverstoß? Dann sollten sie noch einmal mit den Stöbls sprechen.

„Wenn die Eltern der jungen Frau diese Nachrichten gelesen haben, wäre das definitiv ein Mordmotiv für sie. Er hat ihr nämlich auch Bilder von sich geschickt. Und ich glaube nicht, dass du die sehen willst“, sagte Elisabet und reichte Abby das Handy der Verstorbenen, kaum dass sie am Straßenrand vor dem Haus der Stöbls geparkt hatte. Abby drehte demonstrativ den Kopf weg. „Oh, Mann. Ich will sie wirklich nicht sehen. Niemand will das. Wir sollten die Geräte unseren Nerds vorbeifahren, wenn wir hier durch sind“, meinte sie und stieg aus.

Stumm gingen sie zum Haus und klingelten.

„Frau Stöbl? Wir haben noch ein paar Fragen. Dürfen wir hereinkommen?“ Abby hielt das Handy der Toten in die Luft. Die Tür wurde weiter aufgeschoben und beide traten ein.

Herr Stöbl saß noch immer auf der Bank, diesmal mit einer Tasse Tee in der Hand. So wie diese Mischung roch, hatte Elisabet ihm etwas von ihrem pürierten Kompost abgegeben.

Abby beschloss kurzfristig, ihre Taktik zu ändern. Sie würde die Stöbls da packen, wo es am meisten schmerzte. Bei ihrer Glaubenssekte. Unter Provokation hatte schon so mancher Verdächtiger schnell ausgepackt.„Machen wir es kurz. Sie sagten, Ihre Tochter hatte keinen Freund. Das sieht hier ein bisschen anders aus“, meinte Abby und zeigte der älteren Dame das Bild, welches Mooser gemacht hatte. Elisabet stieß sie daraufhin so fest an, dass Abby um ein Haar umgefallen wäre.

Die alte Frau Stöbl wurde schlagartig grün im Gesicht, als sie die Bilder erblickte. Offenbar hatte es ihr gehörig die Sprache verschlagen.

Elisabet sog scharf die Luft ein und tötete Abby mit ihren Blicken.

„Wussten Sie von der Affäre?“, hakte diese weiter nach.

Die Rentnerin setzte sich neben ihren Mann auf die Bank und klammerte sich an seinem Arm fest. „Das hat sie nicht getan!“

Abby bemerkte Elisabets Gesichtsausdruck. Sie wusste, sie hatte die Stöbls umsonst überfallen. Sie würde ihr dazwischenfunken. Und vielleicht hatte sie damit wirklich recht. Es war eine unmögliche Idee von ihr gewesen, die Ehre der jungen Frau durch solch eine Behauptung durch den Dreck zu ziehen. Sämtliche Augenpaare richteten sich nun auf sie.

„Sie wurde von einem älteren Mann gestalkt. Wussten Sie davon gar nichts?“, fragte Elisabet.

„Sie hat oft von ihm gesprochen. Hatte Angst vor ihm“, antwortete Frau Stöbl. Ihren Blick hatte sie auf die leere Tischplatte vor sich gerichtet.

„Warum haben Sie vorhin davon nichts erwähnt?“, wollte Abby wissen. So etwas blieb sicherlich im Gedächtnis.

„Weil wir gerade unsere Tochter verloren haben!“

Das war nicht die Antwort, die sie hatte hören wollen. Aber als Elisabet das Zeichen zum Aufbruch gab, musste Abby dennoch zustimmen. Das würde zu nichts mehr führen. Das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Selbst, wenn ihr Plan aufgegangen wäre, hätte sie Elisabet vorher einweihen müssen. So oder so war es geschmacklos von ihr gewesen. Sie mussten zwar die Wahrheit herausfinden, doch war es nicht mindestens genauso wichtig, den Respekt vor den Toten zu wahren? In ihrem Beruf war ihnen gar nichts heilig. Sie durchsuchten die privatesten Ecken und wussten am Ende alles über die Verstorbene. Und je länger man diesen Job machte, desto schwieriger wurde es, die wenigen Grenzen, die es noch gab, einzuhalten.

„Die haben gerade ihr Kind verloren und du ziehst die Ehre der Frau in den Dreck, nur um ein paar Antworten auf deine Fragen zu bekommen! Das ist so was von pervers!“, schimpfte Elisabet, kaum dass sie draußen waren.

„Immerhin haben sie reagiert. Ich glaube ihnen nicht. Die Reaktion war irgendwie …“ Abby verstummte. Sie war noch nie gut darin gewesen, die Reaktionen anderer Menschen zu deuten.

„Weih mich einfach zukünftig in deine Pläne ein, damit ich dir vorher sagen kann, wo ich mitspiele und wo nicht. Mensch, die Frau wurde gestalkt und hat üble Bilder bekommen. Und du drehst dir das, wie es dir passt! Versetz’ dich doch mal in die Lage der Mutter!“

„Ich weiß, das war wirklich sehr respektlos, und ich weiß selbst nicht mehr, was ich mir davon versprochen habe. Aber lass uns mal zu dem Rest der Glaubensgemeinschaft fahren und dort meine Taktik anwenden. Wenn die uns das mit dem Stalking auch verheimlichen, dann haben sie daran geglaubt, dass Frau Stöbl eine Affäre mit Mooser hat!“

Abby stieg auf der Fahrerseite ein.

„Wenn es sein muss. Aber wir klären das auf, wenn sie es schlucken. Vielleicht zeigen sie ja auch eine Reaktion. Dann hätten wir eine Art indirektes Geständnis“, meinte Elisabet.

„Und die Reaktion der Stöbls war kein indirektes Geständnis für dich?“

„Nein.“

Die Glaubensgemeinschaft traf sich laut Internet jeden Montag und Donnerstag in einem speziellen Kongresssaal in Rosenheim, der von den Jüngern Gottes selbst erbaut worden war. Vor dem Gebäude stand eine riesige Statue mit dem Glaubenssymbol der Jünger Gottes. Eine Taube schwebte von ihrem Sockel auf. Eine Frau mittleren Alters begrüßte sie herzlich und lud sie zu ihrem Gottesdienst mit ein. Die Stöbls waren ebenfalls dabei, saßen aber relativ weit vorne, sodass sie Abby und Elisabet nicht sehen konnten.

So einen Gottesdienst hatten sie sich irgendwie anders vorgestellt. Zuerst wurde gemeinsam gebetet, anschließend las ein älterer Mann, der offenbar schon recht lange dabei war, Stellen aus der Bibel vor und stellte anschließend immer wieder Fragen zum Inhalt. Fast wie in der Schule. Die Jünger Gottes mussten sich melden, er rief einen von ihnen auf und hörte sich die richtige Antwort an.

Jetzt konnte Abby verstehen, warum Alec so schlecht auf diese Glaubensgemeinschaft zu sprechen war. Irgendwie hatte dieser zweistündige Gebetskurs fast etwas von Gehirnwäsche. Abby sah zu der Dame, die sie freundlicherweise in den Gottesdienst gelassen hatte. Die gut gelaunte Stimmung war verschwunden. Mit gesenktem Kopf saß sie ehrfürchtig dreinblickend im Saal, war ganz in ihren Gedanken versunken.

Nach geschlagenen zwei Stunden war Abbys Kopf derart überfüllt, dass sie kurzfristig zu überlegen begann, warum sie überhaupt hier war.

„Entschuldigen Sie?“, sprach Elisabet die freundliche Dame von vorhin nach dem Gottesdienst vor dem Gelände an.

„Ja? Haben Sie noch weitere Fragen?“ Die Frau wirkte wieder genauso herzlich wie zu Beginn.

Abby zeigte ihr ihren Dienstausweis, aber auch das schien sie nicht im Geringsten aus der Ruhe zu bringen. „Wie Sie vielleicht schon erfahren haben, ist Ina Stöbl gestern verstorben. Können Sie sich vorstellen, dass sie sich selbst umgebracht hat?“, hakte Abby nach.

„Nein. Wissen Sie, es gibt ein paar Regeln, an die man sich hier zu halten hat. Suizid würde Gott nicht gutheißen. Ina war immer sehr respektvoll, erschien stets zum Gottesdienst und hat unseren Glauben immer unterstützt.“ Die Frau drückte Abby eine Zeitschrift in die Hand.

„Dann wussten Sie also nicht, dass sie eine Affäre mit einem älteren Mann außerhalb der Glaubensgemeinschaft hatte?“

Der Dame gefror das Lächeln auf den Lippen. Ihre Augen weiteten sich. Aber genauso schnell, wie der Schock gekommen war, verflog er auch wieder.

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich weiß nur, dass sie von einem älteren Mann verfolgt wurde, sich von ihm belästigt gefühlt hat. Ich kann mir als gute Freundin der Familie beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie sich auf diesen Mann eingelassen hat. Er war öfter hier, hat sie komisch angeschaut.“

„Haben Frau Stöbls Eltern auch von dem Stalking gewusst?“, fragte Abby.

Die Dame nickte. „Ja. Haben Sie sonst noch Fragen?“

„Nein, schon gut. Gehen Sie ruhig“, meinte Abby schließlich und sah der Frau nach, wie sie zu einer kleinen Gruppe anderer Jünger Gottes hinüberging.

„Die zwei Stunden haben uns also auch nichts gebracht. Wir hätten zumindest noch aufklären müssen, dass die arme Frau kein Verhältnis mit ihrem Stalker hatte.“ Elisabet warf ihre langen, roten Haare nach hinten.

„Was machen wir jetzt? Wir sind keinen Schritt weiter“, sagte Abby.

„Ich weiß es nicht. Wir könnten die Protokolle der Zeugen durchgehen. Vielleicht finden wir etwas, das Mooser entlastet. Und wir sollten in seinem persönlichen Umfeld nachfragen, ob er irgendwie an das Ramipril kommen konnte.“

„Erst mal brauche ich einen sehr, sehr starken Kaffee!“, meinte Abby und rieb sich die Schläfen.

Laut Gemeindeamt war Herr Mooser seit etwa drei Jahren von seiner Ehefrau geschieden. Bisher waren beide nicht auffällig geworden, wenn man einmal von seinem Stalking absah.

Frau Drexl, die ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte, lebte mit einem neuen Mann zusammen. Sie wohnte in einer kleinen Wohnung am Priener Stadtrand.

Das Mietshaus befand sich neben einem kleinen Spezialitätenladen, der schon über Generationen hinweg von einer Bauernfamilie geführt wurde. Von ihrer Haustür aus brauchte Frau Drexl vermutlich keine zweihundert Meter zum Laden laufen.

„Ich habe kaum Zeit, im Laden gab es einen kleinen Zwischenfall“, meinte sie, ließ Abby und Elisabet aber dennoch eintreten.

Frau Drexl hatte ihr schulterlanges Haar blond gefärbt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug einen Hosenanzug mit weißer Bluse, der ihre drahtige Figur perfekt umspielte.

„Wir müssten mit Ihnen mal über Ihren Ex-Mann sprechen“, fing Abby an und sah sich in der Wohnung um, welche ihr mehr steril als aufgeräumt vorkam.

„Hat er etwas angestellt?“ Frau Drexl schulterte ihre Handtasche und angelte einen Autoschlüssel daraus hervor.

„Das ist noch nicht sicher. Trauen Sie ihm Stalking zu?“, fragte Abby.

„Ach, was soll ich sagen. Ich traue ihm alles und nichts zugleich zu, wissen Sie? Ich meine, ich war immerhin mit ihm verheiratet.“ Frau Drexl schlüpfte in ihre hochhackigen Schuhe und sah Abby von unten an. „Warum fragen Sie?“

„Weil er möglicherweise in ein Tötungsdelikt verwickelt ist“, meinte Elisabet und zeigte Frau Drexl ein Foto von Frau Stöbl.

„Das ist doch nicht Ihr Ernst! Er würde niemals einen Menschen töten!“, rief Frau Drexl ein bisschen zu empört.

„Sexuelle Belästigung und Stalking trauen Sie ihm dann also auch nicht zu?“, kombinierte Abby.

Doch die Frau sah sie nur stumm an. „Nein. Etwas Gegenteiliges kann ich auch kaum über einen Mann behaupten, den ich geheiratet habe. Vielleicht sind Sie ja noch zu jung, um so etwas zu verstehen.“ Vermutlich hatte sie recht. Wenn es um Alec gegangen wäre, hätte Abby auch kein schlechtes Wort über ihn verloren. Aber wahrscheinlich konnte man das auch gar nicht mehr vergleichen. Als ihr Ex-Mann zählte er schließlich schon seit ein paar Monaten nicht mehr. Wobei es eine ziemliche Frechheit war, diesen schmierigen Mooser mit Alec zu vergleichen.

„Kann ich jetzt los?“, fragte Frau Drexl.

„Welches Geschäft betreiben Sie denn?“, wollte Elisabet noch wissen.

„Die Mariannen-Apotheke in Prien. Vielleicht waren Sie schon einmal dort. Sie liegt direkt am Marktplatz.“

Abby und Elisabet sahen sich an. „War Herr Mooser in der letzten Zeit mal dort?“

Frau Drexl seufzte und schien kurz überlegen zu müssen. Anschließend nickte sie langsam. „Ja. Vor einer Woche. Ich wollte ihn meinem neuen Freund vorstellen. Mir war es wichtig, dass er den neuen Mann an meiner Seite akzeptiert, immerhin waren wir gut zehn Jahre zusammen.“

„Wo bewahren Sie die Schlüssel zu Ihrer Apotheke auf? Hätte er sie entwenden und anschließend zurücklegen können?“, fragte Elisabet.

„Meine Schlüssel liegen immer in meiner Handtasche, damit ich direkt loskann. Aber ich hätte doch gemerkt, wenn plötzlich ein Schlüssel an meinem Bund gefehlt hätte!“

Mooser kannte die Gewohnheiten seiner Ex-Frau. Er wusste also, wann sie ins Bett ging, und hätte dann den Schlüssel klammheimlich wieder in die Tasche zurücklegen können.

„Hat Ihr Ex einen Ersatzschlüssel zu Ihrer Wohnung?“, fragte Abby.

„Ja. Zum Blumengießen, falls ich mal nicht da bin. Außerdem ist unser Verhältnis ja durchaus gut.“

„Könnte er also ein Medikament aus ihrem Lager in der Apotheke entfernt haben?“, wollte Elisabet wissen.