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Hauptkommissar Michael Müller steht unter Stress. Nicht nur leidet er noch immer unter der Trennung von seiner Freundin Anja. Auch scheint seine Chefin alles dafür tun zu wollen, dass er baldmöglichst seinen Job verliert. Als die Stadt Brühl von einem Giftmord an einer bekannten Industriellen erschüttert wird, ist schnell klar: Wenn er seinen Posten bei der Kripo Köln behalten möchte, muss er diesen Fall so schnell wie möglich lösen. Doch keiner der möglichen Zeugen scheint ernsthaft mit der Polizei sprechen zu wollen. Die Mauer des Schweigens zeigt erste Risse, als sich Verbindungen zu dem Mord an zwei afrikanischen Jugendlichen zeigen. Doch während Michael Müller der Lösung des Falles immer näher zu kommen scheint, steigt auch die tödliche Gefahr für die Polizisten.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Liebe Leserinnen, liebe Leser, die Schlossstadt Brühl ist eine der schönsten und sehenswertesten Städte in NRW. Nichtsdestotrotz musste ich ein paar unangenehme Charaktere erfinden, denn ohne Bösewichte kann ein Kriminalroman nicht funktionieren. Ich versichere Ihnen, dass alle Personen in diesem Roman frei erfunden sind. Selbstverständlich haben sie nichts mit den Menschen gemeinsam, die wirklich in Brühl leben und für die Stadt in Amt und Würden sind.
Eure MC Schulz
Für
Mika Lamar
Ohne Dich würde es dieses Buch nicht geben.
Ein Jahr zuvor...
Prolog
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel Sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Endlich hat sich der Regen an diesem grauen, kalten Novembertag verzogen. Nur der eisige Wind ist geblieben und weht die letzten verbliebenen Blätter von den Bäumen. Was für ein Mistwetter! Genau richtig, um sich in einem gemütlichen Zuhause mit heißer Schokolade und einem guten Buch einzukuscheln. Das muss jetzt aber erstmal warten. Bello braucht Bewegung und ihr tut es schließlich auch gut, eine Runde am Rhein entlangzugehen.
Bello springt wie immer freudig ins Auto, er liebt Autofahren, wartet als Belohnung doch immer ein ausgiebiger Spaziergang auf ihn. Sie fahren zu ihrer Lieblingsecke nach Worringen an den Rhein. Dort angekommen fühlt sich der Wind noch kälter an und peitscht ihr die halblangen, braunen Haare mit Wucht ins Gesicht. Das Gute bei dem Wetter ist jedoch: Sie haben den Uferbereich ganz für sich allein. Weit und breit ist niemand zu sehen. Selbst der Würstchenstand steht geschlossen da. Er wirkt seltsam verwaist. Die Autofähre fährt nur ein Mal pro Stunde und muss sich jetzt auf der Schälsick (so nennen die Kölner die rechte Rheinseite) befinden, so klein, wie das Schiff von ihrem Standpunkt aus wirkt.
Bello ist ein braver und sehr wohlerzogener Hund, den sie unbedenklich von der Leine nehmen kann. Freudig rennt er den Wellen des Rheins immer wieder aufs Neue entgegen. In diesen Augenblicken liebt sie ihren Hund ganz besonders. Er strahlt dann diese unendliche Lebensfreude aus, die für viele Menschen ihr Leben lang unerreichbar bleibt.
Ein einsamer Frachter kreuzt den Rhein, er liegt tief im Wasser, was sicher seiner schweren Fracht geschuldet ist. Jetzt wo der Winter vor der Türe steht, müssen noch viele Waren verschifft werden. Ihr Blick verlässt das Frachtschiff und sucht Bello, findet ihn aber nicht. »Bello, Bello«, schreit sie immer lauter, wo steckt er nur? Panik steigt in ihr auf, als sie ihn nirgendwo erblickt. Verzweifelt rennt sie zu der Stelle, wo sie ihn als Letztes sah. Nichts! Sie dreht sich um. Ist er ertrunken oder jagt er im Dickicht nach einem Kaninchen? Das machte er doch sonst nie! Er ist so lieb, hoffentlich hat ihn niemand einfach mitgenommen! Die Bäume sind wenige Meter entfernt, vielleicht versteckt er sich dort?
Sie läuft weiter und weiter, trägt der Wind vielleicht ihre Stimme zum Wasser? Bello hört sie möglicherweise gar nicht? Endlich erspäht sie ihn. Erleichtert hastet sie auf ihn zu. Er trägt etwas Dunkles in seinem Maul. Auf den ersten Blick erkennt sie nicht, was er da gefunden hat. Nervös geht sie auf ihren Hund zu, ihr Bauchgefühl sagt ihr, hier stimmt etwas nicht. Trotzdem wird sie magisch von einer Stelle im üppigen Dickicht angezogen. Sie starrt auf die Ursache für Bellos Verschwinden und ein schriller Laut entfährt ihrer Kehle. Sie kann nicht mehr aufhören zu schreien. Erschrocken über die Reaktion seines Frauchens lässt Bello den über und über mit Maden bedeckten nackten, dunkelhäutigen Unterarm fallen. Tröstend stupst er sie mit seiner Schnauze an. Bei dieser Aktion bleiben einige der Maden, die sich zuvor an Bellos Maul kringelten, an ihrem Hosenbein hängen. Ihr Blick wandert nach seiner Berührung an ihrer Kleidung herunter. Erst bleibt er an den Maden hängen, dann sinkt er weiter nach unten und verfängt sich in der Leichenhand. Durch das Ungeziefer auf der Hand scheinen sich die Finger geisterhaft zu bewegen. In diesem Augenblick erstirbt ihr Schrei. Alles wird schwarz vor ihren Augen und sie sinkt in sich zusammen.
Übelkeit steigt in ihm auf. Das Gemälde Salvatore Dalís an der gegenüberliegenden Wand, mit einer schmelzenden Uhr, fließt ihm in rasender Geschwindigkeit förmlich entgegen. Es fühlt sich an, als säße er auf einem sich rückwärtsdrehenden Karussell. Der dumpfe Glockenschlag der goldenen Standuhr in der linken Zimmerecke der altehrwürdigen Bibliothek scheint sein Trommelfell platzen zu lassen. Seine bis dahin unterschwellige Angst breitet sich zur Gewissheit aus, als er mit aller ihm zur Verfügung stehenden Energie sagt: »Das, das kannst du nicht von mir verlangen, Sophia. Wenn die Sache schief geht, bin ich ruiniert!«
Das Zittern seiner Glieder kann er nur mit einer letzten Kraftanstrengung unterdrücken. Sie soll und darf seine Angst nicht sehen.
Eine Weile betrachtet Sophia von Lauenstein ihn gelangweilt. So wie sie ihn mustert, fühlt er sich wie ein nützlicher Idiot. Er ist sich sicher, sie hat ihn noch nie geschätzt. Vor allem in diesem Augenblick. Es ist armselig, wie er versucht, ihr Widerstand zu leisten. Nach einer für ihn gefühlten Unendlichkeit antwortet sie:
»Mir ist neu, dass du ein solcher Feigling bist.« Sicherlich genießt sie sein Zittern auf ihre kleinen Provokationen. Mit den Worten: »Tja es war für den feinen Herrn immer leichter einfach abzukassieren und das Geld mit beiden Händen aus dem Fenster zu werfen«, endet sie.
Sie scheint verärgert über sein Verhalten zu sein, das spürt er. Sie ändert ihren Tonfall und lässt jegliche Freundlichkeit aus ihrer Stimme verschwinden. In seinem Inneren ziehen sich die Eingeweide ruckartig zusammen. Ist er zu weit gegangen, fragt er sich ängstlich? Was soll er machen? Er kann sich doch nicht alles von Sophia bieten lassen. In dem Moment hört er ihre kalten Worte:
»Damit ist jetzt Schluss, entweder du tust, was ich sage, oder ich drehe dir schlichtweg den Geldhahn ab.« Dabei bildet er sich ein, sie zieht gleichzeitig die rechte Augenbraue und den rechten Mundwinkel hoch. In diesem Moment erstarrt ihr schönes Gesicht zu einer angsteinflößenden Grimasse. Er weiß, sie meint es ernst.
Wie konnte er nur so naiv sein. Was hatte er erwartet? Da bricht es auch schon aus ihm heraus, vollkommen unüberlegt schreit er: »Das ist Erpressung, du herzloses Miststück.« Eine Hitze breitet sich in seinem Körper aus, so sehr, dass er nicht spürt, wie das mundgeblasene Glas zwischen seinen Fingern zersplittert. Lauwarm fließt das Blut über seine Hand und tropft auf den hellen Perserteppich unter seinen Füßen. Ein metallischer Geruch verbindet sich mit Sophias blumigem Parfüm.
Ohne seine Verletzung zu beachten, sieht sie ihn mit einem süffisanten Lächeln schweigend an. Aus ihren enzianblauen Augen schleudern ihm kleine weiße Blitze entgegen. Er sieht die Gewissheit in ihrem Gesicht. Sie wird auch diesmal gewinnen, so wie immer.
»Oh nein, es reicht! Das lasse ich mir nicht länger gefallen!« ruft er verzweifelt, auch wenn sein Unterbewusstsein den Verlust der Schlacht spürt, bevor sein Verstand es wahrhaben möchte.
Sophia, die bis dahin auf der Lehne ihres Sofas gesessen hat, steht unverwandt auf und bricht in schallendes Gelächter aus. Das warme Timbre ihrer Stimme füllt den Raum. Ihr Kopf mit den großen, weißblonden Locken fällt leicht nach hinten und bringt das makellose Profil ihres Gesichts zur Geltung. Unter dem weichfließenden Seidenkleid kann man ihre perfekte Figur mehr als nur erahnen.
Mein Gott, schießt es ihm in den Kopf, warum nur ist diese Frau, die so berechnend und gnadenlos ist, gleichzeitig so umwerfend schön?
Sophias wohltönendes Lachen endet ebenso abrupt, wie es begonnen hat.
»Ich habe dir beide Alternativen genannt. Aber scheinbar hast du ja noch eine Dritte auf Lager. Bitte, ich höre dir gespannt zu«, erwidert sie höflich mit der Aura einer siegesgewissen Frau. Sophia scheint bei diesen Worten genau zu wissen, dass er weder über die Kraft noch über die Mittel verfügt, gegen sie anzukommen.
Eindeutig zu harmlos antwortet er: »Du weißt, ich habe einflussreiche Freunde.« Immer noch schlägt sein Herz bis zum Hals, sein Mund ist trocken, kalter Schweiß rinnt ihm über seinen Rücken. »Was meinst du, welche Folgen es hat, wenn ich Ihnen von deinen krummen Geschäften erzähle.«
Sophia blickt ihn ungläubig an. Alles an ihr zeigt ihm, dass er, der kleine Wicht seine lächerlichen Worte nicht ernst meinen kann. Sicherlich würde sie jetzt am liebsten das Gespräch beenden und ihn einfach vor die Tür setzen.
Im nächsten Moment strahlt ihr Gesicht wieder ihre typische Gelassenheit aus. Lächelnd antwortet sie: »Ich muss mir keine Sorgen machen. Es gibt keinerlei Unterlagen, die belegen, dass ich an unseren gemeinsamen Aktionen beteiligt war. Nirgends erscheint mein Name. Aber dafür gibt es mehr als genügend Hinweise, die auf direktem Wege zu dir führen.«
Mit diesen Worten kehrt die Kälte in Sophias Auftreten zurück. Er muss wahnsinnig sein, aber mit der Kraft der Verzweiflung will er sich durchsetzen. Wenigstens, dieses eine Mal.
»Ich bring dich um, du falsche Schlange, du hinterhältiges Biest!» presst er mit erstickter Stimme hervor.
»Nein«, antwortet Sophia seelenruhig, ohne auch nur einen Hauch von Sorge oder Angst zu zeigen.
Mit nur einem einzigen Wort ist sie wieder da, diese Ausstrahlung von Macht, einer Präsenz, vor der es kein Entrinnen gibt und die keinen Widerstand duldet.
»Mein Lieber, du hast nicht das Format mich zu töten. Falls du es doch tun solltest, wirst du es bis an dein Lebensende bereuen. Das wissen wir beide.«
Nach diesen Worten rückt sie ganz nah an ihn heran. Er spürt ihren Atem. Er ist gefangen von ihrem Duft. Ihre Stimme wird zu einem bedrohlichen Flüstern: »Du bist von mir abhängig und so wird es für immer bleiben.«
Sophia entfernt sich ohne Eile in Richtung Tür, dreht sich nach wenigen Schritten um und sagt mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte der vorangegangene Dialog nie stattgefunden: »Verbinde deine Hand, heute Abend benötige ich dich in Topform. Es geht schließlich um sehr viel Geld!«
Wutentbrannt stürmt Kommissarin Ariane Schäfer in das Büro von Hauptkommissar Michael Müller. Sofort platzt es aus ihr heraus:
»Stell dir vor, dieser geile Bock hat das Miststück laufen lassen!«
Durch Arianes temperamentvollem Auftritt ist eindeutig klar, dass nur von Natascha Glucinewski die Rede sein kann. Zwei volle Jahre haben sie benötigt, um genügend Beweise für ihre Betrügereien, Heiratsschwindeleien und Unterschlagungen zusammenzutragen. Diese Frau ist mit Abstand die raffinierteste Kriminelle, die er je verhaften durfte. Immer wieder verschaffte sie sich falsche Alibis. Einmal ist es ihr sogar gelungen einen Unschuldigen zu belasten. Jetzt hat der alte Richter Schneider, der kurz vor der Pensionierung steht und nicht mehr zuhört, sobald er ein ausladendes Dekolletee zu Gesicht bekommt, sie bis zur Verhandlung auf freien Fuß gesetzt. Dabei verfügt die schöne Natascha über mehr als nur attraktive Kurven. Sie wird schneller untertauchen, als ein Regentropfen im Meer versinkt.
»Thorsten soll so schnell wie möglich ein Observationsteam zusammenstellen. Wir müssen sie im Auge behalten, sonst ist die raffinierte Natascha bald über die Grenze verschwunden.«
»Zu spät! Die Entlassung war heute Morgen. Polizeirätin Lobel hat uns nur gerade erst informiert.«
Bei diesen Worten lässt sich Ariane auf den freien Stuhl vor Michaels Schreibtisch fallen. Ihr ist der Frust ins Gesicht geschrieben. Wie viele Stunden haben Ariane, Thorsten und Michael investiert? Nach der Entscheidung von Richter Schneider könnte alles umsonst gewesen sein.
»Das darf doch nicht wahr sein! Dabei durfte ich heute Morgen noch bei ihr antreten, wegen meiner Wortwahl gegenüber diesem pädophilen Schwein, das wir gestern in die Mangel genommen haben. Warum hat sie mir bei der Gelegenheit nicht von der Freilassung berichtet?«, erwidert Michael Müller verärgert und beißt seine Zähne zusammen. Sein Gesicht zieht dabei eine unschöne Grimasse.
»Micha, manchmal bist du sowas von naiv! Sie will, dass du verschwindest, damit ihr Lover deinen Job bekommt. So einfach ist das. Schade für sie, dass du a) zu gut bist und b) nicht freiwillig gehst. Kämpfe mit uns gegen den Ärger an und komm mit in die Trainingshalle. Thorsten und ich haben vor, zwei Boxsäcke zu verprügeln. Das hilft und täte dir auch gut.«
Michael gefällt es, wie sportlich seine Kommissare Ariane Schäfer und Thorsten Kreiner sind. Ihm persönlich genügt jedoch ab und zu eine Trainingseinheit Fußball mit seiner Thekenmannschaft. Mehr sportliche Betätigung benötigt er nicht. Ariane kennt ihren Chef gut genug und scheint Michaels Gedanken lesen zu können.
»Sport ist besser, als zwei doppelte Whisky und fünf Tafeln Schokolade. Überwinde dich und komme mit.«
Michael muss zugeben, dass Ariane mit ihren ebenmäßigen Gesichtszügen und dem durchtrainierten Körper ziemlich gut aussieht. Ihre langen dunklen Haare mit den großen dunkelbraunen Augen und der sehr hellen Haut erinnern an ein modernes Schneewittchen. Auch bei Thorsten schadet der Sport nicht. Ganz im Gegenteil: Die Frauen liegen ihm mit seinem schlanken und durchtrainierten Körper scharenweise zu Füßen. Aber dafür dieser Aufwand? Nein danke! Außerdem hat er auch so schon ganz gute Chancen bei den Frauen. Warum sich also quälen?
In diesem Moment klingelt Michaels Handy. Ein Blick aufs Display verrät ihm, dass sein Vater am Telefon ist. Normalerweise hätte Michael ihn weggedrückt. Seinen Eltern, zwei erfolgreichen internationalen Journalisten, ist die Karriere schon immer wichtiger gewesen, als sich um ihren einzigen Sohn zu kümmern. Also ließen sie ihn bei den Großeltern in Brühl aufwachsen und durchqueren seitdem erfolgreich die Welt. Gerade jetzt passt ihm der Anruf jedoch als geschickte Ausrede. Eilt Ariane erst einmal durch die Tür, ist auch der Druck verschwunden, heute Abend Sport zu treiben
»Sorry Ariane, ich muss hier wirklich ran gehen. Das mit dem Sport überlege ich mir.«
Ariane wirft ihm einen letzten Blick zu, bevor sie das Büro verlässt. In diesem Blick erkennt Michael: Ihr ist klar, dass er wie so oft in der Vergangenheit - nicht in die Trainingshalle kommen wird. Trotzdem verlässt sie schweigend das Büro, damit der Hauptkommissar den Anruf entgegennehmen kann.
»Hi Mike, Dad here!«
»Hallo Vater, da wir beide Deutsche sind, darfst du ruhig deutsch mit mir sprechen!« Am liebsten würde Michael schon wieder auflegen. Dieses Getue, er könnte kotzen. Sein Vater ist furchtbar verdorben durch die ganzen Schleimer und Speichellecker, die ihn umgeben. Nur damit der berühmte Journalist ihnen eine Chance auf ein Interview gibt.
»Ich war gerade in einem wichtigen Interview mit dem amerikanischen und britischen Außenminister zur Krise im Kongo. Das liegt in Afrika.«
»Toll, danke für die Mitteilung!«
Schade, dass sein Vater die Ironie, die in seiner Aussage steckt, nicht wahrnimmt. Sein Vater scheint ihn für einen Vollidioten zu halten. »Kongo liegt in Afrika!« Bevor Michael noch mehr negative Gedanken durch den Kopf wirbeln, redet sein Vater bereits weiter.
»Ich rufe an, weil deine Mutter sich beim Skilaufen in Kanada das Bein gebrochen hat und du sie sicher im Krankenhaus besuchen möchtest. Mir selbst ist momentan aus Zeitgründen leider nicht möglich. Das verstehst du sicher«
»Ich wusste gar nicht, dass Oma Ski läuft?« antwortet Michael provokativ. Schließlich hat sich seine Großmutter zeit seines Lebens weit mehr um ihn gekümmert, als seine leibliche Mutter.
»Mike hörst du mir überhaupt zu, ich rede von deiner Mutter, nicht von deiner Großmutter!«
»Gott sei Dank, ich habe mir schon Sorgen gemacht. Sorry, aber ich habe gerade einem äußerst heiklen Fall auf meinem Tisch liegen. Da kann ich eine Kanadareise nicht dazwischen packen.«
Michael kann es nicht lassen, seinen Vater weiter zu provozieren. Hat dieser doch bei jeder sich bietenden Gelegenheit angemerkt, wie minderwertig der Beruf eines Polizisten im Gegensatz zu einem Journalisten ist. Wenn sein Sohn unbedingt in den öffentlichen Dienst will, dann bitte als Richter oder Staatsanwalt. Das wäre gerade noch vertretbar.
»Hör zu, ich habe gleich einen wichtigen Fernsehauftritt. Ich finde, es ist deine Pflicht als Sohn, dich um deine Eltern und jetzt speziell um deine Mutter zu kümmern. Sei ehrlich zu dir, Mörder jagen ist nicht gerade die wichtigste Aufgabe der Welt.«
»Richtig Vater, Interviews führen, hat da einen ganz anderen Stellenwert. Viel Glück für deinen Auftritt, ich muss los. Tschüss!«
Michael legt auf und schlägt heftig mit der Faust auf seinen Schreibtisch. Weil seine Wut auf die Arroganz seines Vaters durch diese Aktion auch dadurch nicht verraucht, tritt er im Anschluss mit seinem rechten Fuß heftig gegen die Wand. Dies stellt sich als wenig clever heraus. Der Schmerz im dicken Zeh zieht sich durch das ganze Bein. Jetzt kommt noch seine Wut auf sein idiotisches Verhalten hinzu. Er weiß, er ist seinem Vater egal, wieso regt dieser ihn trotzdem so auf? Bullshit! Heute ist einfach ein katastrophaler Tag! Womit hat er sich den verdient? Ab nach Hause, zu einem guten Essen mit Hardrock-Musik. Die beste Methode zum Abschalten.
»Hey Schäfer, das sind wirklich coole Klamotten, die du heute wieder anhast. Die passen perfekt zu meinem Schlafzimmerboden.«
Es ist mitten in der Nacht, als Kommissarin Ariane Schäfer in das dümmlich grinsende Gesicht von Kriminalobermeister Kevin Schenkenberg blickt. Dieses Riesenbaby muss in seiner Ausbildung einen verdammt sozialen Banknachbarn gehabt haben. Unvorstellbar, dass er sonst die Prüfung zum Polizeidienst bestanden hätte. Warum muss ausgerechnet er den Eingang zum Tatort bewachen und sie mit einem seiner bescheuerten Anmachsprüche begrüßen?
Ariane atmet tief durch, bewegt sich ein wenig auf Kevin zu und antwortet lächelnd: »Die Farbe deines Gesichts passt dafür umso perfekter zu einem Krankenhausbett.«
Bevor Kevin reagieren kann, ist Ariane bereits auf dem Weg zum Tatort. Sein Gestammel, sie solle ihm doch nicht schon wieder ein Veilchen verpassen, hört Kommissarin Schäfer schon nicht mehr. Eigentlich sollte er ihr leidtun. Stattdessen nerven sie seine ständigen schlechten Sprüche nach wie vor. Warum versteht er nicht, dass er bei ihr nicht den Hauch einer Chance hat? Mit den schlechtesten Anmachsprüchen aller Zeiten sinken sie noch weiter - falls dies überhaupt möglich ist.
Ariane hatte sich nach der Freilassung von Natascha Glucinewski mit einer extra Einheit Sport abreagiert. Als sie es sich später mit einem schmackhaften Salat vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte, meldete ihr Kollege Kommissar Thorsten Kreiner den Mord in Brühl. Gut, dass sie zu dieser späten Stunde noch nicht im Bett lag. Schnell zog sich Ariane wieder ihr dienstliches Outfit, beige Chino, Bluse und Blazer über und fuhr zum Tatort.
Hier stellt sie fest, dass sie anscheinend als letzte gekommen ist, wodurch sie das Pech hat, am Ende der üppigen Autoparade parken zu müssen. Als sie durch das große schmiedeeiserne Tor, über die lange Auffahrt Richtung Herrenhaus fährt, ist Ariane beeindruckt. Nachdem sie ihr Auto geparkt hat, wanderte sie zielstrebig durch die riesige Parkanlage auf die beeindruckende Gründerzeitvilla zu. Leider ist es bereits so dunkel, dass vom Park aus nur der beleuchtete Weg zu erkennen ist. Ihr Gefühl sagt ihr jedoch, dass zu dieser Wahnsinnsvilla auch ein Traumpark gehöret. Ohne Polizei und Krankenwagen, ohne Blaulichter und die weiß gekleidete Spurensicherung hätte man glatt meinen können, man sei in Pemberley. Vielleicht, so dachte Ariane, begegnete sie hier ihrem persönlichen Mr. Darcy. Aber bitte nicht als Leiche.
Allein die Eingangshalle ist mehr als doppelt so groß wie ihr eigenes Wohnzimmer. Durch die goldgerahmten Spiegel, die sich mit wertvollen alten Gemälden abwechseln, wirkt die Halle noch größer und ehrfurchtsvoller. Ariane fühlt sich in ein anderes Jahrhundert versetzt. Ob die Gemälde aus dem Familienbesitz stammen oder nur ersteigert wurden, um Eindruck zu schinden? Egal, bei ihr wirken die edlen Stücke.
Einer der wachhabenden Polizisten zeigt ihr den Weg in den Speisesaal, hin zum Tatort. Bevor sie den Saal betritt, zieht sie schnell die obligatorische Schutzkleidung über. Nachdem sie daraufhin die ersten Schritte in den Raum getan hatte, in dem das Verbrechen stattgefunden haben musste, überblickt sie kurz das Szenario. Auf dem Boden liegt eine schlanke, rot gekleidete Frau mit hellblonden Locken. Beim Näherkommen kann Ariane einen Blick in das Gesicht der Toten werfen. Schaum hat sich vor ihrem Mund gebildet. Das ganze Gesicht ist zu einer schauerlichen Grimasse verzogen. Der Tod musste besonders schmerzhaft gewesen sein. Dem sich darbietenden Bild folgend, hatte sie vor ihrem Tod auf einem Stuhl gesessen, der mit ihr im Todeskampf umgefallen war. Jetzt lagen beide vor einer riesigen Tafel.
Arianes Blick wandert hoch zu dem cremefarbenen Tischtuch und hin zu den eckig geschwungenen Tellern auf denen verschiedene Desserts in allen Formen und Farben stehen. In der Mitte der Tafel stehen große mit Obst gefüllte Schalen. Dazwischen silberne Tabletts mit kleinen gefüllten Gläsern und Etageren mit verschiedenen Käsesorten. Ein paar silberne Körbe mit Brot, Platten mit Gebäck sowie kleine Schälchen mit Pralinen runden die nicht enden wollende Üppigkeit ab. Sie tritt näher an den Tisch heran und sieht, dass fast alle Behälter noch zum großen Teil gefüllt sind. Der Tod musste zu Beginn des Desserts eingetreten sein. Neben den Tellern liegen goldene Löffel, deren Stiele Trinkhalme bilden. Schon verrückt, wofür reiche Menschen ihr Geld ausgaben.
»Hallo Michael.«
Hauptkommissar Michael Müller scheint mal wieder als Erster aus dem Team vor Ort angekommen zu sein. Seine große, schlaksige Erscheinung kniet zusammen mit dem kleinen und schmächtigen Pathologen Friedrichsen neben der Leiche. Er schaut erst jetzt auf, als er Arianes Stimme hört. Dabei fällt ihm eine seiner dunkelblonden, widerspenstigen Locken in die Stirn. Selbst unter dem weißen Overall erkennt man seine dunkle Kleidung. Bestimmt trägt ihr Chef wieder eine schwarze Jeans mit schwarzer Lederjacke und dem passenden schwarzen Shirt. In diesem Outfit erinnert er sie an einen Rockstar, der sich jeden Moment seine Gitarre schnappt und lossingt. Noch nie hat Ariane den Hauptkommissar anders als in Schwarz gekleidet angetroffen. Sogar als sie ihn im letzten Sommer im Supermarkt traf, trug er kurze schwarze Hosen und ein schwarz in schwarz gemustertes T-Shirt. Jetzt sieht sein Gesicht verknittert aus, als ob er gerade aufgestanden wäre. Bestimmt hat er sich anstelle der Sporteinheit für einen doppelten Whisky entschieden und wurde durch den Anruf eines Kollegen aus dem Schlaf gerissen.
»Schön, dass du da bist.«
Sein Kopf zeigt auf ihren Kollegen Thorsten, der mit einem freundlich konzentrierten Gesicht die Aussage einer extrem dicken Frau aufnimmt. Thorsten schenkt der Dame im aufwändig bunt gemusterten Zelt seine ganze Aufmerksamkeit. Das ist eine wahre Höchstleistung, da sich die Befragte während ihres Vortrags eine rote Schaumerdbeere nach der anderen in den Mund steckt. Wo sie die wohl her hat? Zu den Delikatessen auf dem Tisch passen sie nicht. Vielleicht trägt sie diese Nervennahrung für den Notfall immer bei sich?
»Thorsten soll dir die Sachlage kurz darlegen und dann übernimmst du bitte die Befragung des Personals.«
Mit diesen knappen Worten, die so typisch für ihn bei Einsätzen sind, wendet Michael seine ganze Aufmerksamkeit wieder der Leiche und seinem Freund, dem Pathologen Friedrichsen zu.
Während Ariane auf Thorsten zugeht, hört sie noch einen letzten Satz aus Michaels Mund.
»Sie ist also eindeutig vergiftet worden?«
»Das kannst du ganz gut an der Farbe der Haut, der Zunge und dem weißen Schaum erkennen. Ein weiteres Indiz sind die Fingerspitzen, der Hautton hebt sich klar von der restlichen Hand ab. In ihrem Gesicht können wir lesen, dass sie unter gravierenden Schmerzen gestorben ist«.
«Die wird sie sich nicht freiwillig zugefügt haben«, antwortet der Hauptkommissar.
»So wie du heute wieder aussiehst mit deinen Tränensäcken und den dunklen Rändern unter den Augen, freue ich mich, dass du mir tatsächlich zugehört hast. Glaube mir, keine Frau der Welt ist es wert, dass Mann wegen ihr nachts nicht mehr schläft.« Michael zieht in Sekundenschnelle eine Schutzwand hoch. Deshalb setzt Tom Friedrichsen schnell grinsend hinzu, »Naja, außer vielleicht bei Taylor Swift.«
Aber der anschließende Scherz verfehlt seine Wirkung.
»Wann kannst du mir sagen, um welches Gift es sich handelt?«, fragt Michael leicht angesäuert. Auch sein Kumpel Tom sollte langsam kapieren, dass er am Tatort nicht über Privates reden will. Erst recht nicht heute nach diesem vollkommen verkorksten Tag!
»Ich schicke die Proben noch heute Nacht ins Labor und bitte Kathrin sie vorzuziehen. Wenn wir Glück haben, bekommen wir die Ergebnisse morgen im Laufe des Tages.«
Toms Bemerkung setzt bei Michael eine Szene aus seinem Unterbewusstsein frei. Irgendwo ist er der Toten schon einmal begegnet, irgendwann in Zusammenhang mit seiner Exfreundin Anja. Nur kann oder will sich sein Geist im Moment nicht erinnern. Er arbeitet schließlich schon länger daran, alles, was mit Anja in Verbindung steht, zu vergessen. Seinem Unterbewusstsein passt es daher gar nicht, die Erinnerungen wieder freizulegen. Und seinem Herzen erst recht nicht. Abrupt wird Michael aus seinen Gedanken gerissen.
»Sie sind der zuständige Kommissar. Sorgen Sie gefälligst dafür, dass alle Gäste nach Hause gehen dürfen! Sie scheinen nicht zu wissen, dass es sich bei den Gästen meiner Mutter um wichtige Brühler Persönlichkeiten handelt, die sie nicht einfach grundlos hierbehalten können.«
Michael blickt in das gerötete, leicht verschwitzte Gesicht von Hubert von Lauenstein, dem Sohn des Opfers. Ein schmächtiger Mann mit hängenden Schultern. Sein rundes, faltenfreies Gesicht verrät nicht sein Alter und seine Augen sind von einem so hellen Blau, wie ein ausgewaschener Himmel im Hochsommer. Bereits bei Ankunft des Teams zeigte er sich von einer ausgesprochen uncharmanten Seite. Die Unhöflichkeit seiner jetzigen Worte wird durch seine dünne, leicht näselnde Stimme verstärkt.
»Herr von Lauenstein, es mag ja sein, dass Ihnen das Wohl Ihrer Gäste mehr am Herzen liegt, als den Mörder ihrer Mutter zu finden. Nur, Mörder zu finden ist nun mal mein Job und dafür werde ich bezahlt. Es wäre also schön, wenn sie mich meine Arbeit machen ließen«, antwortet Michael so beherrscht wie möglich.
Er betrachtet diesen aufgeblasenen Pinsel genauer. Mit grenzenlosem Reichtum geboren und zu unerträglicher Arroganz erzogen. Ein blasser Langweiler, der ohne Mamas Geld wahrscheinlich nicht einmal eine Stelle als Bleistiftspitzer ergattern würde. Michael weiß, dass jeder in seiner Trauer anders reagiert. Aber bei dem Sohn der Toten kann er nicht einmal eine Spur von Bestürzung über die grausige Tat feststellen. Dabei handelt es sich bei ihr um seine leibliche Mutter. Trotzdem sollte er sich mit voreiligen Schlüssen zurückhalten. Vielleicht verbirgt sich hinter der Fassade des Mannes mehr, als es im ersten Moment scheint.
Der kleine Gerichtsmediziner Tom Friedrichsen gesellt sich dazu, legt Michael kurz die Hand auf den Rücken und sagt:
»Ich bin so weit fertig. Wir nehmen die Leiche mit und ich melde mich schnellstmöglich bei dir.«
»In Ordnung«, antwortet Michael mit einem leichten Nicken, während seine Augen weiter auf dem Sohn der Verstorbenen ruhen. Dieser soll gleich wissen, wer hier den Ton angibt. An Hubert von Lauenstein gewandt, entgegnet er: »Dann können wir beide uns jetzt ein wenig unterhalten. Wo sind wir ungestört?«
Wortlos dreht sich Hubert von Lauenstein um und stapft davon. Michael beobachtet die Verärgerung des Sohnes. Die genaue Ursache kann er nur vermuten. Aber Hubert von Lauenstein besitzt keine natürliche Autorität. Vielleicht hat dieser erwartet, der Hauptkommissar wage es nicht, ihm zu widersprechen? Michael beobachtet amüsiert, wie Hubert seine Schultern streckt und versucht so aufrecht wie möglich an einen Ort voranzugehen, an den sie sich zurückziehen können.
Hinter dem Speisesaal liegt ein kleiner Salon. Dieser ist geschmackvoll, mit gut erhaltenen Gründerzeitmöbeln bestückt. An den Wänden hängen einige Originale. Es sind ausschließlich Landschaftsbilder im Stil des neunzehnten Jahrhunderts. Die dicken Teppiche auf dem Boden des kleinen Salons verschlucken ihre Schritte. Der nächste Raum ist die Bibliothek. Inmitten der unzähligen Bücher hängt ein einzelnes, indirekt beleuchtetes, goldgerahmtes Gemälde hinter Glas. Beim Betreten des Raumes wird der Blick eines jeden Besuchers magisch von diesem Bild angezogen. Auch Michael kann sich diesem Sog nicht entziehen.
»Bevor Sie fragen: Ja es ist echt und ja es ist Panzerglas.«
Die Stimme Hubert von Lauensteins holt den Hauptkommissar zurück in die Gegenwart. Michael spürt den Stolz in der Stimme des Sohnes über dieses Werk. Michael hofft für ihn, dass es nicht das Einzige ist, worauf der Mann stolz ist.
Michael weiß aus Erfahrung. Zu Beginn der Ermittlungen darf er den einzelnen Verdächtigen nicht zu viel Raum geben. Gerade jemand wie der Sohn der Toten benötigt klare Grenzen. Nur so kann der Hauptkommissar auf eine gute Zusammenarbeit hoffen. Daher bestimmt er von vornherein den Gesprächsverlauf.
»Bitte berichten Sie über den Ablauf des Abends. Was ist Ihnen alles aufgefallen? Jedes Detail zählt!«
Nach kurzem Nachdenken legt Hubert von Lauenstein los.
»Der Abend verlief wie immer. Nichts Außergewöhnliches. Die heutigen Gäste wurden von meiner Mutter regelmäßig eingeladen.« Weniger ausführlich ist die Beantwortung seiner Frage kaum möglich.
Michael wartet. Nachdem der Sohn auch nach dreißig Sekunden weiterhin schweigt, fragt er weiter.
»Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben. Wie ist ihre Mutter gestorben?«
Der Widerwille über die Fragestellung ist Hubert von Lauenstein ins Gesicht geschrieben. Mit großer Überwindungskraft schaut er dem Hauptkommissar in die Augen. Vielleicht in der schwachen Hoffnung, der Blick in die Gegenwart verdecke das Bild der vergangenen Stunden. Nach einem tiefen Atemzug wird ihm die Notwendigkeit seiner Aussage bewusst. Er beginnt mit der Beschreibung des vorherigen Abends.
»Meine Mutter begrüßte die Gäste und wir nahmen alle einen Aperitif im kleinen Salon. Das nahm circa eine halbe Stunde in Anspruch. Danach erschien unser Butler Herr Jäger und teilte mit, das Essen sei bereit. Wir setzten uns an den Tisch und der erste Gang, eine Hummer-Consommé, wurde gereicht. Verschiedene weitere Gänge folgten, immer durch Pausen unterbrochen, bis zum abschließenden Dessert. Hier tischte das Personal eine üppige Auswahl auf, zur freien Wahl der Gäste. Wir hatten gerade mit der Einnahme des Desserts begonnen, da veränderte sich meine Mutter von einem Augenblick auf den nächsten. Sie wirkte plötzlich wie versteinert, ihr Gesicht verzerrte sich, dabei artikulierte sie wenige unverständliche Laute. Bevor ich die Situation richtig begriff, fiel sie auch schon mit dem Stuhl zu Boden. Sie können sich nicht vorstellen, wie rasend schnell das alles geschah.«
Eine ausführliche Schilderung ohne Emotionen. Hat der Sohn etwas zu verbergen? Michael bleibt nichts anderes übrig. Er muss weiter bohren, um noch mehr zusätzliche Informationen zu erhalten.
»Ich weiß, dass die Erinnerung sehr schmerzhaft für sie ist. Der Gerichtsmediziner geht von einer Vergiftung aus. Hundertprozentige Sicherheit liegt natürlich erst nach der Obduktion vor. Es ist daher für uns wichtig, zu wissen, wer Zugang zum Essen hatte?«
Vollkommen verdutzt schaut Hubert von Lauenstein den Hauptkommissar an.
»Unsere Köchin hat das Essen zubereitet und Herr Jäger und Carina haben aufgetragen. Das sind alles langjährige und vertrauenswürdige Angestellte. Ich verstehe ihre Frage nicht.«
»Wenn Sie das Personal ausschließen, frage ich anderes herum. Besteht die Möglichkeit, dass einer der Tischnachbarn Ihrer Mutter am heutigen Abend etwas ins Essen gegeben hat?«
»Herr Hauptkommissar, ich bitte sie, meine Mutter hatte ihre Freunde zu Besuch, keine Feinde! Außerdem reden wir nicht von einer alten, debilen Person, sondern von einer wachen und intelligenten Frau. Meiner Mutter wäre ein solcher Vorfall definitiv aufgefallen. Abgesehen davon haben wir alle das Gleiche gegessen. Ihre Vermutung ist vollkommen absurd!«
Möglicherweise sind die Fähigkeiten des Sohnes begrenzt und selbst wenn er wollte, könnte er der Polizei bei der Charakterbeschreibung der Gäste nicht weiterhelfen. Michael erkennt: An dieser Stelle kommt er nicht weiter. Er beschließt seine Fragen nun in eine andere Richtung zu leiten.
»Erzählen sie mir, was für ein Mensch ihre Mutter war. Wie war ihr Verhältnis zu ihr?«
Hubert von Lauenstein schluckt hörbar. In Sekundenschnelle scheint er älter und kleiner zu werden. Es sieht aus, als ob sämtliche Spannkraft aus seinem Körper herausgesaugt worden sei.
Mit veränderter, leicht brüchiger Stimme antwortet er: »Meine Mutter ist«, bei dem letzten Wort muss er eine kleine Pause einlegen und tief durchatmen, bevor er weiterspricht, »war nicht nur die schönste Frau der Welt. Sie war intelligent, witzig und konnte mit ihrem Charme jeden um den kleinen Finger wickeln. Sie war die perfekte Unternehmerin!«
Nach einer weiteren kleinen Pause fügt er traurig hinzu: »Sie hatte alles, was ich nicht habe.«
Michael spürt, wie schwer dem Mann diese Offenbarung fällt. Der Hauptkommissar kann sich dem Eindruck nicht erwehren, dass er die seit Jahren in ihm schlummernde Erkenntnis heute zum ersten Mal in seinem Leben in Worte packt. Plötzlich wird die Stimme des Sohnes lauter, und ein wütendes Funkeln tritt in seine Augen.
»Wenn ich so blöd gewesen wäre, meine eigene Mutter zu ermorden - abgesehen davon, dass jeder Mensch seine Mutter liebt - hätte ich in Kauf genommen, dass bei der aktuellen Wirtschaftslage die Brühler Firma «IT-Solution World» unaufhaltsam in die Pleite steuert.«
So viele Emotionen hätte er diesem blutarmen Wicht gar nicht zugetraut, stellt Michael überrascht fest.
»Trotzdem muss ich sie fragen: Angesichts der Tatsache, dass ihre Mutter sich aller Voraussicht nach nicht selbst vergiftet hat - Wer könnte es auf ihr Leben abgesehen haben?«
Stille breitet sich aus. So schnell der emotionale Ausbruch auftrat, so schnell wird Hubert von Lauenstein wieder zu dem blassen jungen Mann, der er schon zu Beginn des Gesprächs gewesen war. Unruhig wandert er einige Schritte hin und her, bis er plötzlich stehen bleibt. Ergriffen leise antwortet er: »Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Alle haben sie verehrt. Wirklich alle! Mir fällt niemand ein«.
Michael blickt Hubert von Lauenstein fest in die Augen. In diesem Moment ist ihm die Aufrichtigkeit seiner Worte mehr als bewusst.
Während Ariane durch den riesigen Speisesaal zu Thorsten geht, betrachtet sie sein aufmerksames Mienenspiel. Thorsten, der schönste Polizist Kölns, groß, schlank, durchtrainiert mit einem symmetrischen und doch markanten Gesicht. Dazu besitzt er ein Lächeln, das alle Frauenherzen höherschlagen lässt - ganz abgesehen von seinen tiefseeblauen Augen, die beim Gegenüber allein schon weiche Knie erzeugen können. So wie die dicke Frau an seinen Lippen klebt, wirft er gerade seinen ganzen Charme in die Waagschale. Und das alles nur, um ein paar gute Hinweise von ihr zu erhaschen. Das dürfte selbst den erfahrensten Kollegen schwerfallen.
Die übrigen Gäste, die schlechtgelaunt die Polizisten keines Blickes würdigen, machen einen unangenehmen Eindruck auf sie. Ob auch nur einer von ihnen zumindest über einen gewissen Grad an Offenheit oder Hilfsbereitschaft verfügt, ist schwer einzuschätzen. Wie eigenartig! Eine derart ablehnende Stimmung ist ihr an einem Tatort noch nie begegnet. Auf Ariane wirken diese Menschen so, als sei ihnen der Mord egal und die Untersuchungen ausschließlich lästig.
Nachdem Thorsten die Aussage der Frau aufgenommen hat, wendet er sich Ariane zu.
»Hi, wie du siehst, haben wir eine Leiche. Sophia von Lauenstein: Industrielle aus Brühl, 58 Jahre alt, Witwe, ein Sohn. Ist bei einem Dinner mit Freunden tot vom Stuhl gefallen.« Das Wort Freunde wird von Thorsten ganz besonders betont. Mehr muss Thorsten auch nicht sagen. Ariane kennt ihn so gut, sie weiß auch so, was er von diesen Freunden hält.
»Ich bin dabei, die Gäste des Abends zu befragen. Hilfst du mir?«
Dabei betrachtet Thorsten seine geschätzte Kollegin und hofft auf Unterstützung. Er scheint sich schon auf den Moment zu freuen, in dem er die Befragung hinter sich hat. Diese Herrschaften sind ihm alle nicht geheuer.
»Leider nein, aber danke für deine Infos. Ich soll mich um das Personal kümmern. Kannst du mir sagen, wo ich es finde?«
Ein ca. 50 Jahre alter Mann in einer Butler Livree - bestehend aus einem dunklen einfarbigen Anzug, die Jacke mit kurzen Schößen, das Revers tief ausgeschnitten, weiße Weste, weißes Hemd und weiße Fliege - eilt auf einen Fingerzeig von Thorsten sofort herbei.
»Herr Jäger, ist die gute Seele des Hauses«, erklärt er kurz. »Wären Sie bitte so nett und begleiten meine Kollegin zu den übrigen Mitarbeitern des Hauses.«
Mit einem höflichen »Selbstverständlich« geleitet er Ariane in den Küchentrakt. Wahnsinn, denkt sich Ariane. Dass es einen solchen Menschen in Deutschland heutzutage noch gibt. Für Ariane hätte Herr Jäger um einiges besser ins Großbritannien des neunzehnten Jahrhunderts gepasst.
Nachdem die Polizei den Tatort freigegeben hat, kann endlich die Ruhe der Nacht einkehren. Hubert von Lauenstein und seine Frau Luisa stehen Seite an Seite vor dem Kamin im kleinen Salon. Die letzte Glut wärmt sie noch immer. Luisa legt zärtlich die Hände auf den Arm ihres Mannes.
»Jetzt sind alle weg. In mir ist eine surreale Leere entstanden. Ich komme mir ein wenig vor, wie in einem Gemälde von Dalí. Aber das ist nicht wichtig. Wie fühlst du dich?« Sorgenvoll betrachtet Luisa ihren Mann.
»Nach meinem Gespräch mit dem Kommissar durchlebte ich noch einmal die Szene vor dem Abendessen. Es war, als ob Sophia mir erneut entgegenkommt. Sie sprach auch die gleichen hässlichen Worte.« Nach einer kurzen Pause, indem er Luisas Hand festdrückt, fährt er fort: »Ich habe meine Mutter verloren. Aber statt Trauer ist nur Wut über ihre letzten Worte in mir. Soll sie mir so in Erinnerung bleiben?«
Luisa schweigt. Sollte sie ihrem Mann erzählen, dass die letzte Unterhaltung, die sie mit ihrer Schwiegermutter führte, kein Gespräch, sondern ein handfester Streit gewesen war? Besser nicht. Sie möchte ihn gerade jetzt nicht unnötig belasten. Reglos hängen beide ihren trüben Gedanken nach. Ist dies nun das schreckliche Ende eines fürchterlichen Tages oder der grauenvolle Beginn eines neuen Tages? Es spielt keine Rolle, das Leben geht für sie und Hubert weiter.
Luisa wendet sich an ihren Ehemann: »Du wirst bei der Beerdigung eine Rede halten. In dieser erinnerst du an alle ihre guten Seiten. Vor allem an ihre Leistungen und ihr soziales Engagement. Danach kannst du sie hoffentlich wieder mit anderen Augen sehen und wirst dann auch um deine Mutter trauern können. Lass uns jetzt ein Schlafmittel nehmen. Ausgeruht können wir die nächsten Tage besser überstehen.«
Hubert blickt seine Frau voller Dankbarkeit an, streichelt ihr sanft über die Wange und nimmt die Schlaftablette entgegen. Wie immer folgt er ihrem Vorschlag und wie immer ist er ihr dankbar dafür. Wie würde er nur ohne sie zurechtkommen? Sie ist sein Fels in der Brandung – in diesem Moment mehr denn je.
Kaum hat Hauptkommissarin Eva Wolff mit einer halben Stunde Verspätung das Polizeipräsidium erreicht, klingelt ihr Handy. Der Hund einer Spaziergängerin hat in den frühen Morgenstunden eine Leiche gefunden. Durch den dichten Kölner Berufsverkehr auf die andere Rheinseite zu gelangen ist ein zeitraubendes Unterfangen. Es ist immer das Gleiche, kaum tröpfelt es in Köln, trauen die Autofahrer sich nur noch Schritttempo zu fahren. Eva fühlt sich als Bestandteil einer riesigen Blechschnecke. Der Tag könnte nicht nerviger beginnen. Wäre sie heute Morgen nur eine Viertelstunde früher aufgestanden, wäre ihr wenigstens der erste Stau erspart geblieben. Aber wie jeden Morgen, fiel ihr das Aufstehen schwer. Sie liebt es nun mal, lange aufzubleiben und noch länger zu schlafen.
Die Spurensicherung hatte das Gebiet weiträumig abgesperrt. Eva parkt auf einem Parkplatz, der an einem, bei Spaziergängern sehr beliebten, Wald- und Wiesenareal liegt. Um diese Uhrzeit steht nur ein verwaistes Privatauto hier. Nachmittags sieht das ganz anders aus. Bei Sonnenschein sind hier freie Parkplätze Glückssache. Noch ehe sie ihre Autotür öffnet, stürmt bereits eine junge Polizistin auf sie zu. Bevor die entschlossen dreinblickende Frau loslegen kann, zückt Eva ihren Dienstausweis.
»Ich bin die zuständige Hauptkommissarin. Wo befindet sich der Tatort?«
So einfach will die junge Kollegin nicht klein beigeben. Sie nimmt Evas Ausweis und liest ihn aufmerksam durch. Der anschließende Blick in Evas Augen treibt ihr die Schamesröte ins Gesicht. Das »Hier lang, bitte.« klingt ein wenig gepresst.
Die junge Kollegin konnte sich wohl nicht vorstellen, dass es sich bei der kleinen, zierlichen Eva um Hauptkommissarin Wolff handelt.
Nach fünfzig Metern in östlicher Richtung verlassen sie den geteerten Weg und biegen auf einen schmalen Trampelpfad ab. Durch die Zweige erkennt Eva bereits die Kollegen in ihren weißen Anzügen. Am Tatort angekommen schlüpft auch Eva nach einer kurzen Begrüßung in den obligatorischen Schutzanzug.
Die diensthabende Pathologin nickt Eva kurz zu. Die beiden haben erst einmal zusammengearbeitet. Frau Doktor Hohlweg hasst, im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, jegliche Gespräche am Tatort. Daran erinnert Eva sich noch sehr gut. Die Ärztin benötigt die vertraute Umgebung der Gerichtsmedizin für ein bisschen mehr Gesprächigkeit.
Konzentriert betrachtet Eva die Leiche. Nach einem Jahr taucht nun eine zweite dunkelhäutige Leiche auf. Diese befindet sich in einem weitaus besseren Zustand als der junge Mann damals. Diesmal handelt es sich um eine ca. sechzehnjährige, dunkelhäutige junge Frau. Die Kleidung der Toten wirkt kein bisschen europäisch. Eva fragt sich, aus welchem afrikanischen Land sie wohl stamme. Das gilt es nun herauszufinden, denkt sie. Diese junge Frau sollte eigentlich lachend auf einem Roller sitzen oder mit Freunden im Schwimmbad plantschen, statt tot vor ihr zu liegen, geht es ihr durch den Kopf. Eva denkt wieder an den jungen Mann, dessen Leiche vor einem Jahr gefunden wurde. Seine Haut zeigte den gleichen dunkelbraunen Farbton. Ob die beiden sich kannten? Ob die Fälle sogar zusammenhängen? Möglicherweise der gleiche Täter?
Die Gerichtsmedizinerin reißt Eva aus ihren Gedanken.
»Ich vermute Tod durch Ersticken. Genaueres kann ich jedoch erst nach der Obduktion sagen.« Mit diesem einen Satz, begleitet von einem kurzen Nicken, bereitet sich Frau Dr. Hohlweg auf ihren Rückweg vor.
»Können Sie mir noch etwas zur Todeszeit sagen?«, versucht Eva, noch eine weitere Information zu ergattern, bevor die Ärztin den Tatort verlässt.
»Schwierig, ca. vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden.« Mit diesen knappen Worten ist sie auch schon verschwunden.