5,99 €
Janeks Leben steckt in einer Sackgasse: Er hängt im Büro seines Onkels fest, wo er Webseiten für irgendwelche langweiligen Unternehmen erstellt. Dabei will er doch eigentlich in den Norden reisen, um die hohen Berge Lapplands zu besteigen – oder um irgendein anderes Abenteuer zu erleben. Er wittert seine Chance, als er der sagenumwobenen Fürstin Libuše begegnet, die auf der Hochfeste über Prag ihren Hofstaat hält. Libuše verspricht Janek, ihn auf seinem Weg nach Norden zu begleiten, wenn er drei Aufgaben für sie erfüllt: Für ihre Gunst verlangt sie von ihm die Maske eines Engels, die Treue eines Dämons und den letzten Wunsch eines Sterbenden. Eifrig macht Janek sich daran, der Fürstin zu bringen, was sie begehrt. Dafür muss er hinab in die dunklen Tiefen unter Prag, auf die Friedhöfe und in die uralten Gotteshäuser. So begeistert ist er von seinem neuen Vorhaben, dass er sich kaum die Mühe macht, darüber nachzudenken, welch tieferer Sinn sich wohl hinter Libušes Auftrag verbergen mag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ann-Kathrin Wasle
Tollkraut
www.TintenSchwan.de
TintenSchwan
Buchbeschreibung:
Janeks Leben steckt in einer Sackgasse: Er hängt im Büro seines Onkels fest, wo er Webseiten für irgendwelche langweiligen Unternehmen erstellt. Dabei will er doch eigentlich in den Norden reisen, um die hohen Berge Lapplands zu besteigen – oder um irgendein anderes Abenteuer zu erleben.
Er wittert seine Chance, als er der sagenumwobenen Fürstin Libuše begegnet, die auf der Hochfeste über Prag ihren Hofstaat hält. Libuše verspricht Janek, ihn auf seinem Weg nach Norden zu begleiten, wenn er drei Aufgaben für sie erfüllt: Für ihre Gunst verlangt sie von ihm die Maske eines Engels, die Treue eines Dämons und den letzten Wunsch eines Sterbenden.
Eifrig macht Janek sich daran, der Fürstin zu bringen, was sie begehrt. Dafür muss er hinab in die dunklen Tiefen unter Prag, auf die Friedhöfe und in die uralten Gotteshäuser. So begeistert ist er von seinem neuen Vorhaben, dass er sich kaum die Mühe macht, darüber nachzudenken, welch tieferer Sinn sich wohl hinter Libušes Auftrag verbergen mag.
Über die Autorin:
Ann-Kathrin Wasle schreibt Historisches mit einem Hauch Phantastik. Ihre Romane zeichnen sich durch einen magischen Realismus aus, der verschiedene Einflüsse zu einem neuen Ganzen vereint. Gleich ob ihre Geschichten in der heutigen Zeit spielen oder in vergangenen Jahrhunderten, immer wird ihre Welt durchströmt von einer mystischen Aura, die ihre Figuren und die Leser gleichermaßen verzaubert.
Eigentlich hat Ann-Kathrin Mathematik studiert und mehrere Jahre als Software-Entwickler gearbeitet, doch bald stellte sie fest, dass ihr das nicht reicht. Also begann sie damit, in ihrer freien Zeit an ihrem ersten historischen Roman zu schreiben. Zurzeit wohnt sie zusammen mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern und ein paar Freunden in einer quirligen Hausgemeinschaft am Rand der Karlsruher Rheinauen.
© 2022 Ann-Kathrin Wasle
Hirtenweg 22
76287 Rheinstetten
Lektorat: Martha Wilhelm
Coverdesign: Vanessa Hahn
ISBN: 978-3-949198-07-6
1. Auflage, Juni 2022
»O zittre nicht, mein lieber Sohn!
Du bist unschuldig, weise, fromm.«
– Die Königin der Nacht
Die Zauberflöte
Emanuel Schikaneder
Hoch über Prag erhebt sich ein schroffer Felsen über der Moldau, auf dem die Reste einer alten Festungsanlage thronen. Es wird erzählt, dass das mythenumwobene Geschlecht der Přemysliden auf der Hochfeste seinen Sitz hatte: Die Fürsten und Könige von Prag haben dort oben Hof gehalten, samt ihrer Ahnherrin, der Seherin Libuše.
Unten vom Fluss aus ist von diesem Felsgestein nur die äußerste Klippe zu sehen, die die Prager Libušes Bad nennen, nach den uralten Ruinen, die darauf zu erkennen sind. Als drohendes Riff ragt dieser Felsen über den Fluten der Moldau empor, so wie er es schon seit Anbeginn der Zeit getan hat. Das Land um die alte Burg herum mag sich verändert haben; immer mehr der umliegenden Stadt wurde von den Menschen gezähmt, schließlich haben sie sogar einen Tunnel aus dem Berg herausgeschlagen. Und doch ist es ihnen nicht gelungen, der Felskante mit den uralten Ruinen etwas von ihrem majestätischen Wesen zu nehmen. Jede Passantin hält inne, um an der Klippe emporzuschauen, jeder Spaziergänger lässt seinen Hund anhalten und verbringt eine kurze Pause im Schatten des Gesteins – so als würden sie den Ruf einer verlorenen Zeit vernehmen, die sie ermahnt, innezuhalten und sich auf die alten Legenden zu besinnen, ehe sie ihren Alltag wieder aufnehmen.
Nicht selten spürt der unschuldige Wanderer bei diesem Anblick eine nie gekannte Sehnsucht, die ihm das Herz abschnürt. Dieses Sehnen lässt ihn verrückte Dinge tun – es weckt den Drang nach großen Heldentaten und selbstlosen Gesten. Er will sein Hab und Gut in den Fluss werfen und als Vagabund durch die Lande ziehen. Oder er fühlt die Versuchung, den Felsen zu besteigen und die alten Ruinen oben auf dem Gestein zu erreichen, die seit Jahrhunderten kein Sterblicher mehr betreten hat.
So ergeht es zumindest dem Jugendlichen, der an diesem Maienmorgen auf dem Vorsprung vor dem Felsen steht und prüfend hinaufschaut. Es ist ein magerer Kerl von vielleicht neunzehn Jahren, der seine etwas zu weite Jacke gerade auf den Boden fallen lässt, neben die Straßenschuhe, die er bereits gegen geflickte Kletterschuhe eingetauscht hat. Mit forschem Blick betrachtet Janek den Fels, der noch feucht ist vom Morgentau und den Resten eines vergangenen Regenschauers. Es ist nicht das erste Mal, dass er versucht, Libušes Bad zu besteigen. Immer wieder zieht es ihn hier heraus, um sein Glück an der schroffen Felskante zu versuchen – auch wenn es ihm bisher noch keinmal gelungen ist, die verfallenen Ruinen oben auf dem Felsen zu erreichen.
Janek legt die Hand auf das Gestein, er spürt die Feuchtigkeit des Mooses und den Tau, der seine Finger benetzt. Die Morgensonne hat es noch nicht geschafft, den klammen Stein zu erwärmen. Drüben am Westufer der Moldau spielen ihre Strahlen bereits auf den gemauerten Uferpromenaden, aber hier wirft der Berg lange Schatten über die Straße. Mit einem Seufzen wischt er sich die Hand an der Jeans ab. Erst vor einer halben Stunde hat es geregnet; der Fels ist feucht und viel zu rutschig. Es wäre eine Torheit, jetzt hinaufzuklettern. Und doch … Was, wenn gerade heute der Tag ist, an dem er das Felsplateau erreichen wird? Ein frischer Maienmorgen, noch ehe die Sonne den Berg überstiegen hat und ihm von hinten auf den Rücken brennt …
Noch einmal schaut er über die Brüstung hinab auf die Moldau, die tief unter der Straße mit gischtbesetzten Wellen an den Felsen entlangpeitscht. Er atmet tief ein, dann greift er nach dem ersten Steinvorsprung und zieht sich mit einer entschlossenen Bewegung hinauf.
Die ersten Meter sind nicht schwer – Janek ist sie schon so oft geklettert, dass ihm jeder Zug in Fleisch und Blut übergegangen ist. Der alte Wachturm links von ihm, von dem es heißt, dass im Winter die Fledermäuse dort nisten, schützt ihn zuverlässig vor den neugierigen Blicken der Autofahrer. Die Bergwand hier unten ist glatt und rutschig, aber Janek stemmt sich mit dem Rücken gegen den Turm, sodass er jeden noch so schmalen Riss im Gestein als Tritt nutzen kann. Wenn er jetzt abrutschen würde, hätte er kein großes Problem: Gemächlich könnte er am Fels entlanggleiten, zurück auf den Gehweg, der zwischen dem Straßentunnel und dem Ufer der Moldau entlangführt.
Dann, fast zu schnell, hat Janek die Zinnen des dicken Turms erreicht. Über ihm liegt der freie Aufstieg, weiter den Felsen hinauf, wo er gerade so das uralte Mauerwerk der Ruine erkennen kann – das Ziel seiner Klettertour.
Noch ein paar Züge lang kann er sich auf die Erinnerung seiner Muskeln verlassen. Ein schmaler Tritt zu seiner Rechten, dann ein langer Zug, ein paar Schritte quer am Fels entlang … Er ist nun hinausgestiegen aus dem Windschatten von Turm und Straße. Unter ihm ist nichts mehr als das raue Gestein, das sich über der Moldau erhebt. Dunkel und drohend schäumt der breite Fluss im Schatten des Berges, scharf ragen die Felsspitzen aus dem Wasser. Janek schluckt, dann wendet er den Blick ab, hoch zu den fernen Mauerresten. Hier oben muss er sich bei jedem Fingergriff konzentrieren – noch hat er den besten Weg nicht gefunden, um hinauf zu seinem Ziel zu gelangen.
Mit einem Seufzen richtet Janek sich auf und streckt den Rücken durch, den Körperschwerpunkt nah an der Bergwand gehalten. Nirgendwo sonst ist die Moldau so tief wie hier; neun Meter reichen die Fluten angeblich hinab. Angestrengt blinzelt er hinauf zu den Mauerresten, die über ihm direkt aus dem Fels zu erwachsen scheinen. Libušes Bad … Es ist ein uralter Wachturm, so viel weiß er über die Ruine. Es heißt, dass die sagenumwobene Fürstin Libuše dort einst ihre Liebhaber empfangen hat. Und dass sie diejenigen, die ihr nicht mehr gefallen haben, hinunter in den Fluss werfen ließ. Heute gibt es keine Möglichkeit, zu der Ruine zu gelangen, keinen Weg als diesen: hoch über den Wellen, am nackten Fels entlang.
Janek schließt die Augen, während er nach dem nächsten Griff im Gestein sucht. Für einen Moment stellt er sich vor, es wäre nicht der Felsen über der Moldau, den er hier beklettert. Er spürt die kühle Morgenluft auf seiner Haut, den Wind, der an seinen Kleidern zieht, und malt sich aus, er wäre irgendwo weit im Norden, draußen in Lappland, um einen der Gipfel im Kepnekaise-Massiv zu besteigen. Den Tuolpagorni vielleicht … Hoch oben am Fels, fern aller Menschen, nur er und der Berg.
Da steigt ihm ein süßlicher Geruch in die Nase und weht seine Träumerei dahin. Es ist der Fliederduft von Prag, der jetzt im Mai die ganze Stadt erfüllt. Janek atmet tief ein. Nein, das hier ist kein nordisches Gebirge; dies ist die altvertraute Felswand über der Moldau. Nirgends sonst ist die Luft im Frühjahr so blütenschwer.
Langsam richtet Janek den Blick erst nach oben, dann unter sich auf den schäumenden Fluss. So weit hinauf hat er es noch nie geschafft – nur wenige Meter trennen ihn von dem alten Mauerwerk. Aber der schwerste Teil kommt erst noch: Die letzten Meter sind glatt und schimmern von Morgentau. Vielleicht ist es genug für heute … Vielleicht sollte er sein Glück nicht überstrapazieren. Wenn er sich jetzt vorsichtig an den Abstieg macht, hat er in einer Viertelstunde wieder festen Boden unter den Füßen.
Noch einmal hebt er den Blick, um hinauf zu dem Gemäuer zu schauen – und schreckt zusammen, als er hinter den alten Zinnen eine Frauengestalt erkennt.
Es kostet Janek alle Selbstbeherrschung, vor Überraschung nicht den Halt zu verlieren. Fest klammert er sich an den Fels, die Muskeln zum Bersten gespannt. Der Duft umschließt ihn nun von allen Seiten; wie eine unsichtbare Wolke hängt er an ihm und lässt ihn für einen Moment schwindeln. Seine Finger schmerzen, nur mit äußerster Kraft stemmen sich seine Zehen in die Spalten im Gestein. Vorsichtig, ohne sich von der Wand zu lösen, hebt Janek den Kopf und blickt wieder hinauf zu der verfallenen Mauer.
Fliederfarbene Augen sehen ihn an, aus einem Gesicht, das zugleich uralt und kindlich wirkt. Die hellbraunen Haare sind locker hochgesteckt, der herzförmige Mund lächelt ihm entgegen. Süß und schwer scheint ihn der Fliederduft hinaufzuziehen, direkt in ihre Arme.
Erstarrt schaut Janek hinauf, die Finger immer noch in das Gestein gekrallt. Sein Mund ist trocken, sein Blick hängt gebannt an der unwirklichen Gestalt. Es ist, als wäre der Fels selbst zum Leben erwacht, als hätte sich eine uralte Legende seiner erbarmt.
Die Erscheinung über ihm öffnet ihre Lippen, so als wollte sie etwas sagen – doch kein Laut ist zu hören. Dafür hebt sie nun die Hand, um ihn mit ihrem Zeigefinger zu locken. Es ist nur eine unscheinbare Geste, aber die Bedeutung ist klar: Janek soll zu ihr kommen, Fels und Witterung zum Trotz. Ein ferner Lichtschein funkelt ihm ins Auge, die Spiegelung der ersten Sonnenstrahlen, die sich auf den Wellen unter ihm brechen. Janek spürt, wie ihn frische Kraft erfüllt, eine neuerwachte Entschlossenheit: Dieses Mal wird er sich nicht von dem Gestein unterkriegen lassen. Er wird den Berg bezwingen und die alten Ruinen erreichen oder bei dem Versuch untergehen.
Mit neuem Mut löst Janek die verkrampften Hände und tastet nach dem nächsten Halt. Suchend fahren seine Fingerspitzen über die Steilwand, um irgendeinen Riss, eine Unebenheit zu finden, die er auf seinem Weg ausnutzen könnte. Sein Atem geht schwer, ob nun vor Anstrengung oder vor neuerwachter Aufregung. Schon beginnen seine Knie zu zittern – die gegen den Berg gestemmten Fußspitzen können das Gewicht, das auf ihnen lastet, nicht mehr tragen.
Janek beißt die Zähne aufeinander, den Blick starr auf die Felswand gerichtet. Es gibt einen Weg hinauf – es muss ihn einfach geben. Da sieht er es: Rechts über ihm ist eine flache Kerbe, gerade breit genug, dass er seine zitternden Finger um das Gestein schlingen kann. Mit all seiner Kraft stemmt er sich hoch, um sein ganzes Gewicht an diesen Vorsprung zu hängen, in einem letzten, tollkühnen Wagnis.
Da fällt ihm der ferne Lichtstrahl erneut ins Auge; hastig wendet Janek den Kopf ab, um dem Gleißen zu entgehen. In diesem Moment spürt er, wie der Stein unter seinen Fingerspitzen nachgibt. Mit einem leisen Bröckeln löst sich der Fels, und mit ihm Janeks Finger. Wie in Zeitlupe stürzen erst seine Hand, dann sein gesamter Körper von der Steilwand weg – nutzlos treten Janeks Beine nach dem verlorenen Halt, während er schon rückwärts dem Abgrund entgegenrauscht. Ein heftiger Stoß trifft ihn an der Schulter; für ein paar Meter schlittert er mehr an dem Gestein entlang, als dass er fällt. Dann wieder der freie Fall, die Luft saust ihm in den Ohren. Ein letztes Mal öffnet Janek die Augen, schaut hinauf zu dem Felsen, der riesenhaft über ihm aufragt – und hoch oben, weit entfernt die Frauengestalt, die immer noch auf ihn herabsieht, auf ihren stummen Lippen ein undeutbares Lächeln.
Dann ein letzter harter Schlag, der alle Luft aus seinen Lungen treibt. Ohne weiter zu kämpfen, ergibt Janek sich der Kälte und seine Welt erlischt.
Die Kälte ist überall – in seinen Gliedern, seinem Kopf, bis in sein Innerstes dringt die eisige Schwärze. Janek kann sich nicht bewegen, kann nicht einmal atmen. So fühlt sich also das Ende an … Es ist anstrengender, als er erwartet hätte. Kein friedlicher Nebel, der ihn umfängt, eher ein fortwährender Kampf gegen seine Umgebung. Ein Ziehen und Reißen, das in alle Richtungen gleichzeitig geht. Und immer wieder diese Kälte, die wie spitze Nadelstiche in seine Haut fährt.
Dann ist da ein neuer Druck – anders als zuvor, spezifischer. Ein Zug an seinem Arm, um seine Taille, der ihn in eine bestimmte Richtung schleppen will. Janek würde sich gegen diese Berührung wehren, aber ihm fehlt die Kraft dafür. Also lässt er zu, dass ihn die unbekannte Gewalt mit sich nimmt, nach oben, dorthin wo es heller ist und etwas weniger kalt …
Mit einem schmerzhaften Japsen durchbricht Janek die Wasseroberfläche. Spritzer überall, die Morgensonne sticht viel zu grell in seine Augen. Der instinktive Atemzug wandelt sich in ein dumpfes Husten, während er vergebens versucht, sich über den Wellen zu halten. Sie treiben ihn hin und her, durch Wirbel und Stromschnellen, als wäre er nicht mehr als ein Spielball des Flusses. Schon droht er wieder unterzugehen, in den Tiefen der Moldau zu versinken – aber nein, jemand hält ihn gepackt und zieht seinen Kopf nach oben, fort von den Wellen. Eine rettende Hand in seinem Nacken, zart und doch unentrinnbar. Sie lässt ihn an die Gestalt denken, die er oben auf dem Fels gesehen hat, und endlich hört Janek auf, gegen die Bewegung der Wellen anzukämpfen. Er konzentriert sich darauf, Luft in seine Lungen zu ziehen, während er sich dem Griff der kalten Finger anvertraut. Wie ein Schiffbrüchiger, gerettet von einer Meerjungfrau … Das Bild erinnert ihn an einen alten Märchenfilm, den er als kleiner Junge im Fernsehen gesehen hat. Unwillkürlich wendet Janek den Kopf, um sich nach seiner unbekannten Retterin umzublicken. Er kann helle Haare erkennen, darunter weiße Haut, zart und überirdisch …
Ein heftiger Stoß trifft Janeks Rücken und treibt ihm einen Schmerzensschrei über die Lippen. Hilfesuchend schlagen seine Arme um sich – und finden unerwarteten Halt: Steine und Kies, die um ihn her im Fluss verstreut liegen. Erschrocken schaut er sich um. Vor sich sieht er das weite Band der Moldau, die zu beiden Seiten an ihm vorbeiströmt. Gleichzeitig spürt er festen Boden unter sich – er sitzt im flachen Wasser, um sich die Uferböschung und in seinem Rücken ein großer Baumstamm, der seine Flussreise so abrupt aufgehalten hat.
Röchelnd lässt Janek sich zurücksinken und starrt in das grüne Blätterdach über sich. Die Schützeninsel – er liegt am Ende der langen Insel inmitten der Moldau, vielleicht eine Meile flussabwärts von der Hochfeste und Libušes Bad. Die Strömung muss ihn geradewegs an das Südende der Insel getragen haben. Die Strömung oder …
Suchend schaut Janek sich um. Er ist allein zwischen den Bäumen, niemand ist da, der ihm geholfen haben könnte. Nun, wie auch? Für jeden anderen Menschen wäre die Moldau wohl genauso tödlich, wie sie es für ihn hätte sein sollen. Und doch, sind da vorne nicht Schritte zu hören – Schritte und besorgte Rufe?
Mühsam richtet Janek sich erneut auf, ohne auf seine Kopfschmerzen und den brennenden Rücken zu achten. Die Schritte kommen näher, die Worte finden sich zu Sätzen.
»He, du da! Alles in Ordnung?«
»Scheiße – du bist doch nicht ernsthaft durch den Fluss geschwommen, oder?«
Keine Möglichkeit mehr, zu entkommen. Schon sind da Arme, die ihm aufhelfen, und besorgte Gesichter über ihm.
»Brauchst du vielleicht etwas? Warte, ich besorg irgendwo ein Handtuch …«
Janek versucht, sich der hilfreichen Hände zu erwehren. Es geht ihm gut – so gut, wie es unter den Umständen zu erwarten ist. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann, ist die großmütterliche Aufmerksamkeit dieser fremden Menschen. Ohne die ausgestreckten Hände zu beachten, greift er nach dem Baumstamm und richtet sich auf. Seine Kleider sind klatschnass, seine Haare triefen – nun, das war zu erwarten. Aber davon abgesehen, hat er übermenschliches Glück gehabt. Ein paar Schrammen dort, wo er beim Fallen gegen den Fels gestoßen ist, dazu ein Schmerz am Rücken, der wohl einen veritablen blauen Fleck abgeben wird; das scheint alles, was er sich von seinem Sturz in die Moldau geholt hat. Instinktiv tastet er nach seiner Hosentasche – sogar Handy und Geldbeutel sind noch da. Janek runzelt die Stirn. Beinahe ist es, als wäre das vergangene Abenteuer nicht mehr als ein dunkler Traum.
»Junge, setz dich lieber wieder hin!«, klingt da eine neue Stimme. »Ich habe schon einen Krankenwagen gerufen.«
Von fern dringen die Worte zu Janek durch. Mit zusammengezogenen Augenbrauen hebt er den Kopf und bemüht sich, seine Umwelt zu erfassen. Um ihn her stehen mittlerweile drei Menschen: ein älteres Pärchen und daneben ein junger Mann, der aufgeregt mit seinem Handy wedelt.
»Nein, ich … keinen Krankenwagen!« Janek schüttelt den Kopf – und ein schneidender Schmerz fährt ihm durch die Stirn. Jetzt erst bemerkt er die dumpfe Übelkeit, die ihm die Kehle ausfüllt. Für einen Moment ist ihm, als müsse er sich übergeben, doch mit aller Kraft hält er die aufsteigende Säure zurück. Wenn er vor den Augen dieser fremden Menschen seinen Mageninhalt loswird, werden sie ihn mit Sicherheit in ein Krankenhaus schleppen – und dann hat er keine Chance, seinen Ausflug vor seiner Mutter geheim zu halten.
Oder vor Großmutter.
Noch einmal schüttelt er den Kopf und zwingt sich zu einem gelassenen Lächeln. »Mir geht es gut, danke. Ich bin nur … Ich will jetzt nach Hause gehen.«
Er wehrt die hilfreichen Hände ab, ignoriert alle besorgten Worte. Taumelnd macht er sich auf den Weg über die Insel, hin zu der Brücke, die die Schützeninsel mit der Prager Innenstadt verbindet. Schon nach wenigen Schritten fragt er sich, ob es wirklich eine gute Idee war, sich allein auf den Weg zu machen – aber mit Sicherheit wird er jetzt nicht wieder umkehren und folgsam auf einen Krankenwagen warten. Also zwingt er die Übelkeit herunter, genau wie die stechenden Schmerzen, die ihm im Takt seines Pulsschlags durch die Stirn zucken.
Mit schleppendem Schritt kämpft er sich auf die Brücke hinauf, den Kopf immer noch erhoben für den Fall, dass ihm einer der Fremden hinterherblickt. Erst als er aus ihrem Sichtfeld verschwunden ist, sinkt er auf die Knie und erbricht einen wässrigen Schwall auf das Steinpflaster, die Finger haltsuchend an die Brüstung geklammert.
Janek kann nicht sagen, wie er nach Hause gekommen ist. Er erinnert sich an einzelne Bruchstücke – wie er mit schummrigem Kopf über die Brücke gestolpert ist, dann das verästelte Netz der Prager Altstadt. Mindestens ein weiteres Mal hat er sich auf seinem Weg übergeben, unter den Blicken von Touristen, die sich angewidert abgewandt haben. Einmal hat er das Handy hervorgezogen, um sich ein Taxi zu rufen, aber das Gerät in seiner Hand ist dunkel und leblos geblieben. An das letzte Stück bis nach Hause hat er fast gar keine Erinnerung – vielleicht hat ihm jemand geholfen; eine mitleidige Passantin, die seinen Zustand bemerkt hat. Eine Hand unter seinem Arm, die Frage, wo er zuhause sei; grobe Erinnerungsfetzen, von denen er nicht sagen kann, ob sie wahr sind oder Traum. Und dann die Stimme seiner Mutter, die ihm die Tür öffnet und ihn die Treppe hinauf in die Wohnung schleppt.
Mit der Kraft einer Bärin hilft sie ihrem schlaksigen Sohn, der sie längst um einen halben Kopf überragt, in sein Zimmer und führt ihn zum Bett. Feuchte Tücher auf seiner Stirn, eine sanfte Berührung an seiner Wange. Sie stellt einen Plastikeimer neben sein Bett – hat er sich etwa hier in der Wohnung noch einmal übergeben? Müde kraust er die Stirn auf der Suche nach seiner Erinnerung, doch noch ehe er sie erhaschen kann, schwinden ihm die Sinne. Das Letzte, was er wahrnimmt, ist ein mitfühlendes Gesicht, kaum älter als sein eigenes, das über ihm schwebt, und eine kalte Hand, die ihm über die Wange streicht.
Von den nächsten Tagen bekommt Janek nur wenig mit. Den Großteil der Zeit liegt er im Bett und träumt – zumindest nimmt er an, dass die fremden Gesichter und die Stimmen, die er um sich hört, Träume sein müssen. Zwei- oder dreimal am Tag tritt seine Mutter mit einem Teller Suppe oder einem Butterbrot zu ihm und bemüht sich, etwas von dem Essen in ihn hineinzubekommen. Dann folgt stets die Stimme seiner Großmutter:
»Du verwöhnst den Jungen!«, ruft die alte Frau vom Flur aus herein. »Lass ihn aufstehen, wenn er etwas zu essen haben will. Der Hunger wird ihn schon kurieren.«
Seine Mutter schüttelt nur den Kopf, auch wenn Janek die Sorge in ihren Augen sehen kann. Sie fragt ihn nicht, was dort draußen geschehen ist, auch dann nicht, als er seine Sinne wieder beisammen hat und ihren Blick klar erwidert. Janek vermutet, dass sie eine Ahnung davon haben muss, was er getrieben hat. Allein der Zustand, in dem er nach Hause gekommen ist, ist schließlich verräterisch genug: in seinen Sportsachen, die immer noch durchnässt waren, und mit den Kletterschuhen an den Füßen. Aber es war noch nie Mutters Art, mit ihm über seine Unternehmungen zu reden – dafür war früher Janeks Vater zuständig. Was sollten die Nachfragen auch bringen, außer einen neuen Streit vom Zaun zu brechen? Und wenn seine Großmutter mitbekäme, was geschehen ist … Allein die Vorstellung lässt ihn den Mund verziehen. Sie würde ihn wohl nie wieder hinausgehen lassen, ohne ihm zuerst eine halbstündige Standpauke zu halten.
Irgendwann legt seine Mutter das Handy neben ihm auf den Nachttisch. »Ich habe es über Nacht in Reis eingelegt. Ich glaube, jetzt funktioniert es wieder.«
Müde greift Janek nach dem schwarzen Gerät, mehr aus Gewohnheit denn aus Interesse. Er drückt auf den Powerknopf und wirklich: Der Bildschirm wird hell, während das Smartphone langsam hochfährt.
Beim Anblick der Datumsanzeige runzelt Janek die Stirn. »Dienstag? Im Ernst?« Er sieht seine Mutter an. »Wie lange habe ich denn geschlafen?«
»Etwas mehr als zwei Tage«, antwortet sie mit einem besorgten Lächeln. Sie hebt die Hand, um ihm ein paar Haare aus der Stirn zu streichen, und in ihren Augen kann Janek Erleichterung lesen. »Keine Sorge; ich habe deinem Onkel Bescheid gesagt. Er weiß, dass du zu krank bist, um zu kommen.«
Mit einer ungeduldigen Bewegung wischt Janek ihre Worte fort. Seine Arbeitsstelle ist gerade das Letzte, was ihn interessiert. »Zwei Tage …« Sein Blick schweift zum Fenster, wo schon die Abenddämmerung hereinbricht, während seine Gedanken zu seinem Unfall zurückkehren.
Janek weiß noch ziemlich genau, was oben an Libušes Bad geschehen ist – er erinnert sich an seine wahnwitzige Kletteraktion und an den beinahe fatalen Sturz, der darauf gefolgt ist. Aber dann sind da andere Bilder, die nicht ganz so klar zu sein scheinen. Hat er dort oben wirklich etwas gesehen, das ihn zu den Ruinen gelockt hat – ein Traumbild, eine Vision, was auch immer es gewesen sein mag?
Ein dumpfes Pochen erfüllt seine Stirn und mit einem Kopfschütteln gibt Janek die Erinnerung auf. Dabei trifft sein Blick auf den seiner Mutter, die ihn immer noch besorgt mustert. Schuldbewusst beißt er sich auf die Lippe. Er stößt die Luft aus, wie um ihre und seine eigenen Grübeleien zu vertreiben, dann richtet er sich auf und lässt die Beine über den Rand des Betts baumeln. »Höchste Zeit, wieder aufzustehen.«
Die Kopfschmerzen werden stechender, aber Janek zwingt ein strahlendes Lächeln auf seine Lippen. Jedenfalls beinahe strahlend – die Falte auf der Stirn seiner Mutter zeigt, dass sie nicht überzeugt von seiner Darbietung ist. Doch da klingt die Stimme der Großmutter aus dem Flur herüber, ausnahmsweise gerade zur rechten Zeit:
»Ilona, liegt der Junge denn immer noch im Bett?«
»Nein, Oma!«, ruft Janek zurück und macht die Worte wahr, indem er mit einem großen Satz aus dem Bett springt. »Ich bin gerade aufgestanden. Mir geht es schon viel besser!«
»Na, das wird auch Zeit.« Die alte Frau schiebt ihren Kopf zur Tür herein. »Zwei Tage bist du nicht zur Arbeit erschienen – was soll Milan denn denken? Sein Vater hätte dem Bengel so etwas nicht durchgehen lassen!« Die letzten Worte hat sie an ihre Schwiegertochter gerichtet, die nun aufsteht und ihre Schürze richtet. Die Augenbrauen der Großmutter ziehen sich drohend zusammen. »Hat er dir denn wenigstens erzählt, wo er sich herumgetrieben hat?«
»Morgen bin ich wieder fit«, wirft Janek hastig ein, während er zwischen den Frauen hin- und herschaut. »Da kann ich Onkel Milan dann in Ruhe erklären, was geschehen ist.«
Skeptisch mustert die alte Frau ihren Enkel, der in Jogginghose und mit verstrubbeltem Haar vor ihr im Zimmer steht. Janek kann ihr die Gedanken geradezu von der Stirn ablesen: wie sie überlegt, ob sie selbst nachhaken sollte, was er wohl getrieben hat, oder ob sie warten soll, bis er es seinem Onkel erzählt, um den dann auszuhorchen. »Wenn du schon jedem verkündest, dass du nur für wenige Monate bei Milan arbeiten willst, dann kannst du dich während der Zeit wenigstens ins Zeug legen«, hebt sie schließlich an, wohl um dem Gespräch eine neue Wendung zu geben. »Oder willst du dort auch wieder die Flinte ins Korn werfen und alles einfach liegen lassen?«
Janek rollt mit den Augen. Er fühlt sich definitiv nicht stark genug für diese Art von Gespräch. Seine Großmutter stemmt angriffslustig die Arme in die Seiten, bereit für eine längere Diskussion – da schellt die Türklingel durch die Wohnung, wie um ihn aus seiner Bredouille zu retten.
Verwundert wendet sich seine Mutter zur Tür, doch Janek winkt schon ab: »Das müssen Niki und Jirka sein. Ich geh und mach ihnen auf!«
Ehe seine Großmutter noch etwas sagen kann, zieht er sich sein T-Shirt über den Kopf und springt hinaus, um den beiden zu öffnen. Natürlich, es ist Dienstagabend, die Zeit für ihre wöchentliche Pen-&-Paper-Runde. Seine Mutter hat wohl vergessen, seinen Freunden zu sagen, dass er krank ist – umso besser. Auch wenn Janeks Schädel sich immer noch etwas zu schwer für seinen Hals anfühlt, zieht er ein paar Stunden mit Nikola und Jiři doch jederzeit der Befragung durch seine Großmutter vor.
Es dauert eine Weile, bis die drei den Wohnzimmertisch so weit freigeräumt haben, dass sie ihre Spielutensilien darauf verteilen können. Während Janek zusammen mit Nikola die Tischuntersetzer in den Schrank räumt, verstaut Jiři die beiden Blumenvasen auf der Fensterbank – argwöhnisch beäugt von Janeks Großmutter, der das rege Treiben in der Wohnung gar nicht gefällt.
»Wer zu krank ist, um zur Arbeit zu gehen, sollte abends auch keinen Besuch empfangen«, lässt sie von der Seite hören. Wie um ihre Worte zu bestätigen, kommt ihre Katze Anuška hereingetapst und maunzt die Jugendlichen vorwurfsvoll an.
»Du bist krank?«, fragt da Jiři und schaut besorgt zu Janek herüber. »Hast du deswegen nicht mehr geschrieben?«
Mit einem Schulterzucken tut Janek die Worte des Freundes ab. »Es geht schon wieder. Morgen arbeite ich ganz normal.«
Er wirft einen Seitenblick zu seiner Großmutter. Die Versicherung hat den gewünschten Effekt: Die gerunzelte Stirn der alten Frau glättet sich ein wenig und mit einem letzten missbilligenden Schnaufen wendet sie sich ab, um nebenan in der Küche zu verschwinden.
Das gilt allerdings nicht für Anuška, die es sich nun auf dem freigeräumten Tisch gemütlich macht und alle viere in die Luft streckt. Janek will die dicke Katze von der Tischplatte schieben, doch die faucht ihn für den Versuch nur böse an. Also fügt er sich mit einem Seufzen und verteilt die Spielunterlagen um das Tier herum, immer in sicherem Abstand zu ihren Pfoten.
Nikola mustert die Katze misstrauisch. »Müssen wir das Viech wirklich hierbehalten? Letztes Mal hat sie versucht, mir den Finger abzubeißen.«
»Du wolltest sie ärgern, Niki«, erinnert Jiři sie gleichmütig, während er drei Gläser mit Limo einschenkt. »Du hast sie so lange gepikst, bis sie sich gewehrt hat. Was hast du erwartet?«
»Ich wollte nur nachschauen, ob unter all dem Fett noch irgendwo eine Katze steckt.« Auf einen Zug leert Nikola ihr Glas und hält es dem Freund hin, der es seufzend noch einmal füllt. »Man würde doch meinen, wenn sie mit ihrem Tier schon regelmäßig Gassi geht –«
Ein Ellenbogenstoß von Jiři unterbricht ihre Litanei. Er sieht sie scharf an, dann nickt er hinüber zu dem Durchgang, der das Wohnzimmer von der Küche trennt. Von drüben zeigt das leise Geklapper von Geschirr an, dass Janeks Großmutter sich nach wie vor in Hörweite befindet.
Missmutig stößt Nikola die Luft aus, wobei sie der Katze einen abschätzigen Blick zuwirft. »Aber es ist doch wahr …«
Mit einem Räuspern unterbricht Janek das Geplänkel der beiden. »Also, Leute, weiter geht’s.« Er schaut auf die engbeschriebenen Blätter in seiner Hand. »Ich bitte um mehr Ernsthaftigkeit! Wir nähern uns schließlich dem großen Finale …«
Mit einem Schlag ist Nikolas Aufmerksamkeit wieder gefesselt. »Jawoll! Ich werde meine Blutsbrüder auf gar fürchterliche Weise rächen!« Um ihre Worte zu unterstreichen, klopft sie auf den Figurenbogen, der vor ihr auf dem Tisch liegt. Es ist die Beschreibung von Gar’Aach, einem heißblütigen Ork, der sich auf der Jagd nach der finsteren Nekromantin Ballámial befindet, die seinen Stamm ausgelöscht hat.
Jiři lässt ein Schnauben hören. »Mit deiner fürchterlichen Rache solltest du warten, bis wir sie geschnappt haben. Wie ich Janek kenne, wird er uns die Sache nicht leicht machen.« Vielsagend nickt er zum Ende des Tischs, wo Janek gerade eine neue Landkarte hervorzieht. Es ist die Zeichnung einer schroffen Bergkante, auf der verschiedene kryptisch anmutende Spuren eingetragen sind.
Janek grinst bei dieser Bemerkung in sich hinein. Jiři hat natürlich recht; er hat nicht vor, den beiden Weggefährten ihren Aufstieg einfach zu machen. Schlimm genug, dass oben Ballamiál und der finale Kampf gegen die Zauberin warten. Als Spielleiter wird Janek schon dafür sorgen, dass sich ihre gemeinsame Kampagne noch eine Zeit lang hinziehen wird.
»Also«, sagt er noch einmal, während er die Karte in sicherem Abstand von Anuška auf dem Tisch ausbreitet. »Der Wirt der Herberge hat euch verkündet, dass auf der Spitze des Bergs Vitnur seit einigen Tagen sonderbare Lichter zu sehen sind. So habt ihr euch nun entschlossen, gemeinsam den Aufstieg zu wagen. Um deine Schwester aus den Klauen der Nekromantin zu erretten«, bei diesen Worten sieht er Jiři an, »und um den Mord an deinen Blutsbrüdern zu rächen«, damit nickt er Nikola bedeutungsschwer zu. Janek räuspert sich. »Aber wisset, dass dieser Aufstieg kein leichter sein wird! Es gilt, dem finsteren Felsen zu trotzen und –«
»Moment, das Bild da kenn ich doch!«
Verdrießlich schaut Janek bei dieser Unterbrechung auf.
Nikola pocht mit ihrem Finger auf die Karte und sieht ihn dabei grinsend an. »Das ist das Plakat aus deinem Zimmer, oder? Das mit dem Berg!«
»Stimmt! Jetzt, wo du es sagst …« Mit schräggelegtem Kopf mustert auch Jiři die Zeichnung. »Es ist nicht ganz genau nachgezeichnet, oder? Die Spitze ist etwas anders, und –«
»Das ist der finstere Berg Vitnur«, beharrt Janek leicht verschnupft. »Und wenn ihr Ballámial finden wollt, solltet ihr die Angelegenheit vielleicht etwas wichtiger nehmen und euch mehr Gedanken darum machen, wie ihr die Spitze erreichen wollt.«
Natürlich hat Nikola recht: Er hat das Poster vom Berg Tuolpagorni in Lappland, das in seinem Zimmer hängt, als Vorbild für die Zeichnung verwendet. Es war ihm als das Einfachste erschienen. Bei keinem anderen Berg kennt er sich mit den verborgenen Gebirgspfaden und Steilwänden so gut aus wie beim Tuolpagorni – unschätzbares Wissen, wenn er die Kampagne noch ein wenig weiter ausdehnen will. Nur dass die beiden seinen Trick so schnell erkennen, damit hatte er nicht gerechnet.
»Sag mal«, hebt Jiři jetzt an und die dicke Falte zwischen seinen Augenbrauen kündet von nichts Gutem. »Dieser Berg in Lappland – du willst da doch nicht wirklich hin, oder? Ich meine, nicht auf Dauer …« Sein Finger weist auf die Zeichnung. »Was würdest du denn tun, wenn du den Berg bestiegen hast? Wieder zurückkommen und dir einen neuen Job suchen?«
»Ach Quatsch«, fährt Nikola ein, »wenn er es geschafft hat, lebt er dort oben zusammen mit den Samen in so einem Gåhtie-Haus und wir werden ihn nie wiedersehen.«
Ihre Worte sind theatralisch gesprochen, aber in ihren Augen funkelt es spöttisch. Janek zieht eine Schnute. »Und warum eigentlich nicht?«, fragt er mit vorgerecktem Kinn.
»Weil du es nicht so weit schaffen wirst«, erklärt Nikola schulterzuckend. »Sei nicht böse. Du weißt doch selbst, dass du nicht gut darin bist, Sachen zu Ende zu bringen.«
Janek schenkt seiner Freundin einen finsteren Blick. Natürlich, weder Nikola noch Jiři glaubt ernsthaft, dass er seinen Job einfach hinschmeißen und nach Norwegen ziehen wird. Nun, er wird sie schon noch eines Besseren belehren.
»Es ist der Berg Vitnur«, stellt er mit betonter Ruhe fest. »Aber wenn ihr kein Interesse mehr daran habt, ihn zu besteigen, dann könnt ihr gerne zurück in eure Spelunken ziehen und das Abenteuer aufgeben.« Er greift nach dem Papier und tut so, als wollte er die Karte vom Tisch nehmen. Dabei stößt er gegen Anuška, die mit einem wütenden Maunzen auffährt und ihm die Krallen in den Arm treibt.
Fluchend fährt Janek auf. »So ein verdammtes Mistvieh!« Er reibt sich über den Arm, auf dem drei dunkelrote Kratzer zu sehen sind.
Wie zur Antwort faucht ihn die Katze noch einmal an, dann springt sie vom Tisch, wobei sie die Karte des Bergs und die beiden Figurenbögen mit sich reißt. Mit hochaufgerichtetem Schwanz stolziert sie zur Küche hinüber, wo gerade Janeks Großmutter aus dem Durchgang tritt.
»Was habt ihr schon wieder angestellt?«
Die alte Frau bückt sich nach der Katze und streicht ihr über den Rücken, ohne dabei den Blick von den drei Jugendlichen zu lassen. Als sie die Kratzer auf Janeks Arm sieht, schüttelt sie den Kopf.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du Anuška in Ruhe lassen sollst. Ob du die letzten Tage nun krank warst oder nicht, das gibt dir nicht das Recht, deine Laune an dem armen Tier auszulassen!«
»Aber ich habe doch gar nicht …« Janek sieht den drohenden Ausdruck in ihren Augen und seufzt. »Ist ja gut. Ich wollte sie nicht ärgern.«
Noch eine Sekunde lang mustert sie ihn durchdringend, dann nickt sie und marschiert hinüber zu ihrem Zimmer. Anuška folgt ihrem Frauchen mit erhobenem Kopf, ohne der Gruppe um den leergefegten Tisch noch einen Blick zu gönnen.
Mit einem Stöhnen lehnt Janek sich auf dem Stuhl zurück. Jiři hat sich schon hinabgebeugt, um die verstreuten Zettel wieder aufzusammeln, während Nikola Janeks Großmutter stirnrunzelnd hinterherschaut. Als die Tür zu dem Schlafzimmer der alten Frau schließlich zuschlägt, wendet sie sich an Janek.
»Also, was war die letzten Tage los? Wovon hat deine Großmutter da geredet?«
Janek zögert. Unsicher greift er nach den Papieren vor sich auf dem Tisch und tut so, als müsse er die Unterlagen neu sortieren. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, über die Sache draußen am Felsen mit niemandem zu reden – nicht, solange er selbst nicht weiß, was dort genau geschehen ist. Aber nun, da Nikolas und auch Jiřis Blicke fragend an ihm hängen, fällt es ihm schwer, eine Ausflucht zu finden.
So seufzt er auf und sieht den beiden offen ins Gesicht. »Ich war am Sonntag draußen an der Hochfeste – an der Steilwand, die hinten zur Moldau abfällt. Ich wollte nur ein bisschen bouldern.« Janek beißt sich auf die Lippe. Ein bisschen bouldern – so kann man es wohl nennen. Dass er dabei hoch über dem Fluss ohne jede Sicherung geklettert ist, verschweigt er wohlweislich.
Auch wenn Jiřis skeptischer Blick darauf schließen lässt, dass der seine Umschreibung gut genug zu deuten weiß. »Und was ist dann passiert?«
Janek hebt die Schultern. »Ich weiß es nicht genau. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen – jemanden. Oben bei Libušes Bad. Das kann natürlich nicht sein – es führt ja kein Weg zu den Ruinen hinauf. Und da bin ich wohl unvorsichtig geworden … Ich bin abgerutscht und im Fluss gelandet.«
Vorsichtig schaut er auf. Wenn er es so ausdrückt, klingt die ganze Sache schon viel weniger wahnwitzig und lebensgefährlich, als sie sich angefühlt hat. Aber leider sind seine beiden Gäste zu gut darin, zwischen seinen Worten zu lesen. Nikola starrt ihn mit offenem Mund an, während auf Jiřis Stirn eine steile Falte erschienen ist.
»Das ist nicht dein Ernst – du bist in den Fluss gefallen? Hast du eine Ahnung, wie gefährlich das ist?« Unwillkürlich sieht sich sein Freund zum Flur um. »Und du hast deiner Mutter nichts davon erzählt?«
Noch einmal zuckt Janek mit den Schultern. »Es ist ja nichts weiter passiert. An der Schützeninsel bin ich wieder an Land gekommen, und dann habe ich mich eben auf den Heimweg gemacht.« Seine Miene verfinstert sich. »Ich hoffe nur, dass mein Roller noch dort steht.«
»Und was hast du dort oben nun gesehen?«
Überrascht hebt Janek den Kopf. Nikola betrachtet ihn mit großen Augen, in ihrem Blick ein Glänzen, das an Unheil denken lässt.
Er beißt sich auf die Lippe. »Ich … weiß es nicht genau. Ich dachte, ich hätte dort oben ein Frauengesicht gesehen – so was wie eine Vision. Sie hat mich zu sich gelockt. Und dann bin ich eben gefallen.« Beiläufig zieht er eine Grimasse, so als wäre ein Sturz in die Moldau das übliche Risiko eines Sonntags an der Hochfeste.
»Und weiter?«, hakt Nikola nach. »Bist du noch einmal zurückgegangen, um nachzuschauen?«
»Nein, ich …« Janek ringt nach Worten – er will den beiden nicht auf die Nase binden, dass ihn sein kleines Abenteuer mehr als zwei Tage lang mattgesetzt hat.
Doch da rettet ausgerechnet Jiři ihn aus der Bredouille. »Bist du wahnsinnig?«, fährt er Nikola an. »Warum willst du, dass Janek zurückgeht? Der bringt es fertig und versucht gleich noch mal, hochzuklettern!« Mit vorgeschobener Lippe schaut er Janek an, als würde er nur darauf warten, dass der sich direkt wieder in die Gefahr stürzt.
Nikola hebt die Schultern. Auf ihrer Stirn zeichnet sich eine schmale Falte ab. »Ich meine ja nur, ich würde es genau wissen wollen. Oder glaubst du wirklich, dass du dich getäuscht hast?«
»Ich …«
Janek schluckt. Allzu genau spiegeln Nikolas Worte seine eigenen Gedanken wider. Je länger er darüber nachdenkt, desto klarer scheint die Erinnerung an jene sonderbare Vision in seinem Kopf aufzustrahlen.
Wieder greift er nach seinen Unterlagen, so als müsse er sich an den verteilten Papieren festhalten. »Das ist doch alles Quatsch. Mir geht es wieder gut, das ist die Hauptsache.« Er schaut auf, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen. »Also, Leute, wie sieht es aus? Werdet ihr euch heute noch an den Aufstieg wagen oder wollt ihr kneifen?«
Mit einem Grinsen breitet Nikola ihre gewaltige Würfelsammlung vor sich aus. »Bei der Ehre Mul’Ulachs, wir werden es der Hexe zeigen! Und wenn ich den Berg mit eigenen Händen abtragen muss.«
Natürlich muss Janek am nächsten Morgen doch noch einmal zu den Felsen an Libušes Bad hinaus. Sein Roller steht ja immer noch dort – wenn ihn in der Zwischenzeit niemand geklaut hat, heißt das. Außerdem hat Janek keine Lust, mit der Metro in die Vorstadt zu fahren, um dann zu Fuß zum Büro zu marschieren.
Also fährt er frühmorgens mit der Straßenbahn bis zur Eisenbahnbrücke, um am Moldauufer entlang zu dem Felsen hinüberzugehen. Ein altes Metallgeländer begrenzt den Gehweg zur Flussseite hin. Beiläufig fahren Janeks Finger über die Brüstung, während sein Blick immer wieder die schmutzig braunen Wellen streift, die tief unter ihm um die Felsen peitschen. Mit einem Mal wird ihm erst klar, was er da überlebt hat … Ein bisschen weniger Glück, und sie hätten ihn irgendwo in Melnik aus dem Fluss gezogen, mit blauen Lippen und der Lunge voller Wasser.
Rasch wendet Janek den Kopf ab und schaut stattdessen zum Felsen, der sich vor ihm über die Autostraße wölbt. Rechts neben der Straße steht der dicke Turm, beinahe freundlich im Morgenschein, und daneben sieht er seinen Roller, den er am Sonntag achtlos gegen das Gestein gelehnt hat. Janek atmet auf: Immerhin, der Roller ist noch da. Zeit, sich das Gefährt zu schnappen und weiterzufahren, um rechtzeitig auf der Arbeit anzukommen.
Er greift nach seinen Straßenschuhen, die folgsam neben dem Roller auf ihn warten, und steckt sie sich in den Rucksack. Daneben liegt die Jacke, ordentlich zu einem Bündel zusammengelegt. Janek streift sie sich über, dann legt er die Hand auf den Lenker – nur um doch noch einmal einen Schritt zurückzutreten und an dem steilen Felsgestein emporzusehen.
Unschuldig ruht der Felsen im Morgenlicht. Hoch oben kann Janek die Ruinen erkennen, leer und unberührt seit wer weiß wie vielen Jahrhunderten. Niemand ist dort oben, natürlich nicht … Mit einem Seufzen schüttelt er den Kopf. Er reißt den Blick los und sieht wieder zur Straße hinüber – um dann mit einem unterdrückten Japsen zurückzuschrecken.
Dort drüben neben dem Turm steht eine helle Gestalt und schaut ihn abwartend an. Ein Mann, wohl einige Jahre älter als er selbst und ganz in Weiß gekleidet. Janeks Herz schlägt unwillkürlich schneller – er ist sich sicher, dass er eben noch allein auf dem Gehweg war. Ist der andere Mann gerade aus dem uralten Turm getreten? Noch nie hat Janek erlebt, dass jemand die Tür geöffnet hätte.
Während er noch darüber nachdenkt, kommt der Fremde auf ihn zu und streckt ihm einladend die Hand entgegen. »Guten Morgen, Janek. Ich freue mich, dass du zurückgekommen bist.«
Unsicher hebt Janek die Hand, mehr aus einem Reflex heraus, als weil er den Gruß wirklich erwidern wollte. Der Griff seines Gegenübers ist fest und warm, auf seltsame Weise vielversprechend. Janek legt den Kopf zur Seite, um den anderen Mann genauer zu mustern. Der ist vielleicht Ende zwanzig, mit welligen dunklen Haaren und einem einnehmenden Gesicht. Eigentlich ist nichts allzu Ungewöhnliches an ihm – bis auf das weiße Leinenhemd, das hier draußen auffallend förmlich wirkt.
Und die Tatsache, dass der Fremde Janeks Namen kennt.
Wie um seinen Vorteil auszugleichen, neigt der Mann nun den Kopf. »Mein Name ist Lucián. Es freut mich zu sehen, dass du deinen kleinen Unfall am Sonntag so gut überstanden hast.«
Seine Art ist freundlich und sein Gebaren mehr als höflich. Und doch ist da etwas an dem Kerl, das Janek nicht gefällt. Ein spöttisches Funkeln im Auge, ein Grinsen am Rand seiner Lippen – so als würde er sich die ganze Zeit insgeheim über Janek lustig machen. Und sich nicht einmal die Mühe geben, es wirklich zu verbergen.
Zögernd zieht Janek seine Finger aus dem Griff seines Gegenübers und weicht einen Schritt zurück. »Mein Unfall … Woher weißt du davon?« Sein Blick fährt hoch zu dem Fels, wo die Ruinen immer noch verlassen über dem Fluss thronen. Wieso ist er eigentlich gefallen? Er erinnert sich an einen Lichtreflex, der ihn geblendet hat. War es wirklich nur eine Spiegelung auf den Wellen oder steckt am Ende mehr dahinter?
Sein Gegenüber – Lucián – scheint seinen Blick hinauf zum Felsen anders zu deuten. Ein ehrerbietiger Ausdruck streift seine Züge und er senkt den Kopf. »Die Fürstin hat dich dort oben gesehen. Dein Mut und deine Tollkühnheit haben ihren Gefallen gefunden. Sie würde sich freuen, dich auf der Feste zu begrüßen.«
»Die Fürstin? Du – du meinst …« Unwillkürlich beginnt Janek zu stammeln, als wäre er ein kleiner Junge, dem ein besonderes Geschenk in Aussicht gestellt wurde. Dabei ist es doch mehr als albern – das hier ist schließlich keine Märchenstunde. Er schüttelt den Kopf, um seine Gedanken zu klären. »Ich verstehe nicht ganz …«
Lucián seufzt auf, so als wäre er es nicht gewohnt, mit derart unverständigen Gesprächspartnern zu arbeiten. Noch einmal neigt er vor Janek den Kopf, dieses Mal in einer Geste, in der kein Spott zu sehen ist.
»Wir würden uns freuen, wenn du uns die Ehre deines Besuchs zuteilwerden lässt.«
Da ist etwas an seiner Stimme – irgendetwas ist anders als noch eine Minute zuvor. Janek kann den anderen Mann immer noch nicht leiden, aber in dessen letzten Worten hat ein fremder Ton mitgeschwungen, der ihn ins Innerste getroffen hat. Wie von fern meint er, den Duft nach frischem Flieder in der Nase zu spüren. Jäh erscheint ihm die Vorstellung, der Einladung zu folgen, nicht mehr ganz so abwegig.
»Was … was meinst du damit?« Zweifelnd sucht Janek den Blick seines Gegenübers. »Wo soll ich diese Fürstin denn besuchen? Und wann?«
Schon ist auf Luciáns Zügen wieder das unverbindliche Lächeln zu sehen, begleitet von einem spöttischen Funkeln in seinen Augen. »Es freut mich, dass du die Einladung annehmen willst«, erwidert er, als wäre Janeks Besuch bereits ausgemachte Sache. »Heute Abend wird Fürstin Libuše eine private Runde empfangen, in der Martinsrotunde auf der Hochfeste. Es wäre wunderbar, wenn du uns Gesellschaft leisten würdest.«
Noch einmal greift der Fremde nach Janeks Hand – dieses Mal nicht, um sie zu schütteln, sondern um ihm einen Schlüssel aus ziseliertem Metall in die Finger zu legen. Mit großen Augen schaut Janek auf den zierlichen Schlüssel, dann hebt er den Blick wieder. Mit einem Mal scheint sein Herz doppelt so schnell zu schlagen.
»Fürstin Libuše? Du meinst, wie in den alten Geschichten?« Er nickt hinauf zu den Ruinen oben auf dem Fels. »Wie in Libušes Bad?«
»Eben sie.« Noch einmal verziehen sich Luciáns Lippen zu einem Lächeln. »Wir erwarten dich heute Abend, Janek.«
Damit dreht er sich um und öffnet die Tür zu dem breiten Turm – offenbar ist sie wirklich nicht abgeschlossen. Ehe Janek reagieren kann, verschwindet Lucián in dem alten Gemäuer, und mit einem hohlen Klang fällt die Gittertür wieder ins Schloss.
Janek bleibt auf dem Felsplateau stehen, in der einen Hand den Lenker seines Rollers und in der anderen den kleinen Metallschlüssel, den der fremde Mann ihm gegeben hat. Noch einmal schaut er hinauf zu den Ruinen, doch natürlich ist dort oben nichts zu sehen. Dann geht er hinüber und rüttelt probeweise an dem eisernen Tor des Turms – es ist verschlossen. Das Schlüsselloch ist einfach und grob; dies hier ist sicher nicht das Schloss, zu dem der Schlüssel in seiner Hand gehört.
Dunkel hallen Luciáns Worte in seinem Kopf wider: Heute Abend wird Fürstin Libuše eine private Runde empfangen, in der Martinsrotunde auf der Hochfeste. Natürlich kennt Janek die dicke Rotunde oben im Park, auch wenn er den altertümlichen Bau noch nie betreten hat. Er stößt die Luft aus, unsicher, was er aus der ganzen Sache machen soll. Dieser seltsame Kerl hat ja nicht einmal daran gedacht, ihm eine Uhrzeit zu nennen.
Janek zuckt mit den Schultern, dann steckt er den Schlüssel in seine Jeanstasche. Das Ganze mag so sonderbar klingen, wie es will, jetzt und hier hat er andere Probleme. Er sollte sich dringend auf den Weg machen, wenn er pünktlich zur Arbeit erscheinen will. Also steigt er auf den Roller und startet das Gefährt – zum Glück war die Batterie vor seinem kleinen Ausflug voll geladen. Unter dem steinernen Bogen hindurch fährt er nach Süden, in Richtung der Vorstadt, wo das Büro seines Onkels liegt.
Im Büro sitzen die anderen schon längst an ihren Computern, als Janek endlich eintrifft. Sein Onkel führt ein kleines Unternehmen; zwei schmale Räume in einem alten Bürobau, genutzt von ihm selbst und zwei Angestellten, von denen einer gerade in Elternzeit ist. Janek ist nicht wirklich zu spät dran, aber eben so knapp, dass alle Augen an ihm hängen, als er nun die Tür zum Arbeitszimmer öffnet.
»Da ist der Rumtreiber ja«, begrüßt ihn der tiefe Bass seines Onkels. »Na, wieder mal zwei Tage krankgefeiert?«
Die Worte lassen Janek gekränkt zurückschrecken, doch da sieht er das Funkeln in Milans Blick. Der lacht laut auf und winkt ihn zu sich.
»Keine Sorge, deine Mutter hat mir schon Bescheid gesagt. Du hast zwei Tage das Bett gehütet, hat sie erzählt? Gut, dass du wieder auf den Beinen bist.«
»Ja, ich … Es ging mir nicht gut.« Janek weicht dem Blick seines Onkels aus, während er sich an seinen Rechner rechts neben Milan setzt. Petra, die ihm gegenüber arbeitet, schaut ihn über den Bildschirm hinweg fragend an, aber sie sagt nichts. Offenbar hat seine Mutter gerade genug angedeutet, um ihm weitere Nachfragen zu ersparen.
Ein dankbares Seufzen dringt aus Janek hervor, während er seinen Computer hochfahren lässt.
Aber natürlich hat er die Rechnung ohne seine Tante gemacht. Mit einem Schlag schwingt die Tür zum Rechnungsbüro auf, als Tante Hana jetzt hereinplatzt und Janek mit großen Augen mustert. »Janek, was treibst du nur! Ilona hat erzählt, du wärst am Sonntag völlig fertig nach Hause gekommen? Was war denn los?«
»Ich …« Unsicher sieht Janek seine Tante an, die sich vor seinem Schreibtisch aufgebaut hat, die Arme fordernd in die Seiten gestemmt. Aus dem Augenwinkel kann er sehen, wie Petra die Situation amüsiert mustert, auch wenn die erfahrenere Kollegin sich hütet, der Chefin Kontra zu bieten.
Dafür kommt ihm Onkel Milan zu Hilfe. »Ach was, lass den Jungen doch!«, fährt er seiner Frau in die Parade. »Er wird schon keinen Unfug getrieben haben. Es ist ja nicht so, als würde unser Janek auf Sauftouren durch die Bars der Stadt ziehen, um dann zwei Tage lang seinen Kater auszuschlafen.«
Unbemerkt von seiner Frau wirft er Janek dabei einen wissenden Blick zu, so als würde er genau so etwas vermuten.
Janeks Wangen werden heiß, als er die Worte seines Onkels hört, doch er traut sich nicht, etwas darauf zu sagen. Währenddessen schaut Tante Hana von ihm zu seinem Onkel und wieder zurück, als wäre sie unsicher, was sie von dem Spruch halten soll.
Endlich schüttelt sie den Kopf und sieht Janek mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Du weißt schon, dass es hier anders laufen muss als letztes Jahr in der Schule? Du kannst nicht jede zweite Woche blaumachen, nur weil du meinst –«
»Ich bin sicher, dass er es weiß.« Milan unterbricht ihre Rede mit freundlichem, aber bestimmtem Ton.
Unterdessen sitzt Janek auf seinem Platz und weiß nicht, ob er es wagen soll, selbst etwas zur Unterhaltung beizusteuern.
Noch einmal schaut Hana zweifelnd zu ihm herüber, dann stößt sie die Luft aus und hebt die Schultern. »Wie auch immer. Du erklärst ihm den Martinek-Auftrag, der gestern hereingekommen ist?«
Sie wartet die Reaktion ihres Mannes nicht ab; kopfschüttelnd dreht sie sich um und marschiert zurück zu ihren Rechnungen.
Janek sieht ihr nach, bis die Tür zum Büro zugefallen ist, dann wendet er sich mit kleinlauter Miene zu Milan um. »Es war nicht wegen … Also, ich war nicht krank, weil ich am Sonntag in irgendeiner Bar …« Unwillkürlich gleitet seine Hand in die Hosentasche, wo er die metallene Form des Schlüssels unter den Fingern spürt.
»Ist schon in Ordnung«, fährt Milan da ein. Der Blick, mit dem er Janek mustert, ist warm. »Ich weiß ja, dass du manche Dinge lieber für dich behältst. Darin bist du wie dein Vater – aus Jan hat man auch nie etwas herausbekommen können.« Ein melancholisches Lächeln streift über seine Züge. Er seufzt kurz, dann hebt er mit einem knappen Schulterzucken wieder an: »Was immer du am Sonntag getrieben hast, ist schließlich deine Sache, ob es Hana nun gefällt oder nicht. Oder auch deiner Großmutter.« Dabei zwinkert Milan ihm vertraulich zu.
Der Seitenhieb lockt Janek ein Grinsen auf das Gesicht. Es ist gar nicht so schwer, sich vorzustellen, dass Milan einst als Junge genauso vor der alten Frau gekuscht hat, wie Janek es jetzt tut.
Milan nickt unterdessen zu dem gerahmten Foto hinüber, dass zwischen ihnen auf dem Tisch steht. Es zeigt Janeks Cousin Pavel, wie er mit stolzgeschwellter Brust vor seinem Schulgebäude posiert und irgendeine Auszeichnung emporhält. »Manchmal wünsche ich mir, unser Pavlík würde seine Wochenenden auch einmal mit etwas anderem als Arbeit und Lernen verbringen.«
»Ist heute nicht seine letzte Prüfung?«, fährt da Petra von der anderen Seite des Tischs ein. »Mathematik, hatte er gesagt, oder? Ich habe im Radio etwas dazu gehört. Es hieß, dass sie nach den letzten Jahren –«
Ihr Blick trifft auf den von Janek und sie verstummt. Wahrscheinlich fällt ihr gerade wieder ein, warum Janek vor ihr am Computer sitzt und Webseiten erstellt, anstatt zusammen mit seinem Cousin an der Abiturprüfung teilzunehmen.
»Ist schon okay«, gibt Janek lahm von sich. »Pavlík wird sicher ein super Abi machen.«
Beiläufig bemerkt er, dass seine Hand immer noch in der Hosentasche steckt und die Form des Schlüssels nachfährt. Es ist ja nicht so, als würde er seinen Cousin um den Abiturstress beneiden – wirklich nicht. Dass er selbst letztes Jahr die Schule geschmissen hat, war die beste Entscheidung, die er je getroffen hat. Schließlich hat er nicht vor, den Rest seiner Tage in einem engen Büro vor dem Computer zu verbringen, um hoffnungslos veralteten Kleingewerben bei der verspäteten Digitalisierung zu helfen. Er hat den Job bei seinem Onkel nur angenommen, um sich etwas Geld zusammenzusparen – bis er weiß, was er wirklich mit seinem Leben anstellen will.
Janek seufzt auf. Beinahe muss er sich zwingen, die Finger aus der Tasche zu ziehen, ehe er sich zu seinem Onkel umwendet. »Es gibt einen neuen Auftrag, hat Hana gesagt? Was soll ich da machen?«
An diesem Tag arbeitet Janek länger als gewöhnlich. Bis in den Abend hinein sitzt er neben Milan im Büro und kümmert sich darum, der Firma Martinek eine neue Webseite für ihr KFZ-Unternehmen zu erstellen – begleitet von seinem Onkel, der für die simple Aufgabe eine geradezu kindliche Begeisterung aufbringt.
»Schau dir das an – die Seite, die die Jungs benutzen, ist noch aus den frühen Neunzigern! Na, denen können wir aber etwas Besseres zusammenklopfen!«
Janek nickt, während seine Finger über die Tastatur wandern. Dabei bemüht er sich, den Gedanken an den Schlüssel in seiner Hosentasche tief in seinem Kopf zu vergraben. »So etwa?« Er dreht seinen Monitor zur Seite, sodass Milan den ersten Entwurf für das neue Design begutachten kann, den er zusammengestellt hat.
»Oh ja! Das sieht gar nicht so schlecht aus!«
Die Überraschung in Milans Stimme lässt Janek für einen Augenblick die Stirn runzeln, doch dann nimmt er die Worte als das, was sie gemeint sind: ein ehrliches Lob.
Milan sieht ihn von der Seite an, mit diesem Blick, den er für besondere Momente aufbewahrt. »Es ist wirklich ein Jammer, dass du so bald wieder aufhören willst. Im Herbst, hattest du gesagt?«
»Im Juli oder August.« Janek schaut auf den Bildschirm, als er die Worte ausspricht, doch auch so kann er Milans nachdenkliches Nicken erahnen. Verlegen wendet er den Kopf und sieht seinen Onkel an. Er weiß immer noch nicht genau, was Milan von seinen Plänen hält, im Spätsommer nach Norwegen zu fahren, um den Tuolpagorni zu besteigen. Irgendetwas sagt ihm, dass sein Onkel ebenfalls nicht daran glaubt, dass er es wirklich tun wird. Aber wenn dem so ist, dann hat er seinen Unglauben immerhin noch mit keiner Geste zum Ausdruck gebracht.
Warm liegt Milans Blick auf ihm, mit einer Mischung aus Verständnis und Mitgefühl. »Ein Jammer«, meint er. »Wir könnten dich wirklich dauerhaft hier gebrauchen. Du verstehst etwas von dem, was du da tust.« Er schaut hinüber zum Fenster und schüttelt den Kopf. »Sieh dir das an, es wird schon dunkel. Wir sollten für heute wohl Schicht machen. Oder willst du etwa die ganze Nacht im Büro verbringen?« Ein leises Lächeln legt sich auf Milans Züge. »Soll ich dir was sagen? Du erinnerst mich wirklich an deinen Vater. Wenn der sich einmal in eine Aufgabe verbissen hat, hatte er auch nichts anderes mehr im Sinn.«
Die letzten Worte reißen Janek aus seiner nachdenklichen Stimmung. Hastig suchen seine Finger nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. »Du hast recht«, stellt er fest und steht auf, »ich mache mich lieber auf den Weg, bevor es noch ganz dunkel wird.« Ohne die Reaktion seines Onkels abzuwarten, packt er seine Sachen zusammen und verlässt das Büro.
Während er auf seinem Roller am Flussufer entlang zurück in die Stadt fährt, spürt Janek die Form des Schlüssels überdeutlich in seiner Jeans. Er hat immer noch nicht entschieden, was er von der Einladung halten soll. Dieser Mann, der ihn am Morgen vor dem Felsen angesprochen hat … Was für eine seltsame Begegnung. Wenn der Schlüssel nicht wäre, wäre Janek versucht, das Ganze als einen verspäteten Fiebertraum abzutun.
Vor ihm springt eine Ampel auf Rot und im letzten Augenblick kann er abbremsen. Über sich sieht Janek den dunklen Umriss der Hochfeste, die sich rechts von der Moldau erhebt. Was für ein Unsinn – dort oben gibt es nichts als langweilige Rasenflächen, auf denen die Prager Eltern ihre Kinder zum Sonntagsspaziergang ausführen, und ein paar altmodische Standbilder. Noch einmal fährt seine Hand über seine Jeans. Wenn da nicht dieser sonderbare Schlüssel wäre …
Die Ampel schaltet wieder auf Grün. Noch einen Moment zögert Janek, dann stößt er die Luft aus. Mit einem hastigen Schulterblick zieht er den Lenker seines Rollers nach rechts und biegt in die Seitenstraße hinein, um von Süden her zur Hochfeste hinaufzufahren.
Die weiten Prachtstraßen, die hinauf zur Feste führen, liegen frei in der Abenddämmerung. Es ist schon nach acht. Die Sonne ist hinter den Hügeln versunken; die letzten Touristen sind gerade dabei, die Parkanlage zu verlassen. Niemand geht um diese Uhrzeit mehr zur Hochfeste – niemand außer Janek, der mit seinem Roller langsam über die Pflasterstraßen fährt.
Unsicher schaut er sich zwischen den hohen Gebäuden um, die die Straße zu beiden Seiten säumen. Es ist lange her, dass er das letzte Mal auf der Hochfeste war. Früher sind seine Eltern oft mit ihm hier oben spazieren gegangen – es war so etwas wie eine Familientradition. Aber seit sein Vater gestorben ist, hat Janek die weite Anlage nicht mehr besucht.
Janek hält kurz an, um seine Jacke in der Abendluft enger um sich zu raffen, dann fährt er durch das barocke Tor, das das Gelände der Hochfeste nach Süden hin begrenzt. Leopoldstor, so heißt das Bauwerk. Dahinter kommen die weiten Gärten mit ihren wuchernden Bäumen und irgendwo dazwischen wird sich die Martinsrotunde verbergen. Suchend wandert Janeks Blick zwischen den Linden hin und her. Nun muss es ihm nur noch gelingen, das alleinstehende Gebäude im Abendlicht zu finden.
Die Straße, auf der er fährt, macht einen weiten Bogen nach rechts – und Janek muss breit grinsen, als er sieht, was sich hinter der Kurve verbirgt. Nein, es wird wohl kein Problem sein, die Rotunde zu entdecken. Hell erleuchtet steht sie auf einem Mäuerchen über der Straße, wie eine übergroße Laterne, die alle Motten der Umgebung zu sich locken will. Jetzt hört Janek auch die Musik, die von dem Bauwerk ausgeht: Geigenklänge und Gesang wehen zu ihm herüber, gedämpft durch die dicken Steinmauern.
Janek schiebt den Roller die letzten Meter zu der Rotunde, beinahe als hätte er Sorge, dass man ihn hier draußen bemerken könnte. Ein sterblicher Eindringling, der sich dem Fest der Feenkönigin nähert … Was für eine alberne Vorstellung. Schließlich ist er ein geladener Gast zu dieser – nun, was auch immer das hier für eine Zusammenkunft sein mag. Wie um sich seiner Berechtigung zu versichern, greift Janek in die Hosentasche und zieht den Schlüssel heraus. Dann schließt er seinen Roller an einem der Baumstämme fest und geht zu dem Gebäude hinauf.
Wie ein stämmiger Turm steht die Rotunde zwischen den Bäumen am Wegesrand, die runde Form nur durchbrochen durch den Erker, der sich rechts an das Massiv anschließt. Die hellen Fenster hoch über ihm sehen aus wie Kirchenfenster – und wahrscheinlich ist dieser Eindruck gar nicht so falsch: Janek hat irgendwo gelesen, dass die Rotunde mittlerweile zu einem Kloster gehört und dass immer noch Gottesdienste darin gefeiert werden.
Aber nicht heute Abend, so viel ist sicher. Die Musik, die aus dem dicken Bau schallt, stammt ganz bestimmt nicht von einem Gottesdienst – es klingt eher wie eine Oper, die dort drinnen aufgeführt wird. Dazu sind jetzt Stimmen aus dem Inneren zu hören, die sich ungeachtet der Klänge miteinander unterhalten. Janek beißt sich auf die Lippe. Es kommt ihm immer noch seltsam vor, sich nun in diese Gesellschaft einzuschleichen. Dazu fällt ihm auf, wie unpassend er angezogen ist: Die abgetragene Jeans und die Frühlingsjacke sind sicher nicht die richtige Bekleidung für so einen Anlass. Noch könnte er sich einfach umdrehen, seinen Roller aufschließen und fortfahren, ohne dass irgendjemand von seinem Auftauchen erfahren müsste.