Tolpas vom See - Manfred Rösch - E-Book

Tolpas vom See E-Book

Manfred Rösch

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Beschreibung

Diese spannende Abenteuer- und Kriminalgeschichte, in deren Mittelpunkt der zwölfjährige Tolpas und seine Freunde Dolub und Elfine stehen, spielt im 4. Jahrtausend v. Chr. in einem Pfahlbaudorf am Bodensee. Sie ist inspiriert von neuen archäologischen Ausgrabungen und Forschungen in dieser Region. Im zweiten Teil des Buches erhält der Leser ausführliche Informationen zu den Lebensumständen der Pfahlbauer in der Jungsteinzeit.

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Seitenzahl: 229

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Manfred Rösch

TOLPAS VOM SEE

Eine Geschichte aus der Steinzeit

Books on Demand

Für Holger

Inhaltsverzeichnis

Personen, Ort und Zeit der Handlung

1.Heimkehr der Herde

2.Im Dorf

3.Die Nacht im Wald

4.Ein ereignisreicher Tag

5.Die Bärenjagd

6.Die glänzende Scheibe

7.Der neue Häuptling

8.Der Brand

9.Nach dem Brand

10.Die Verfolgung

11.Elfines Fund

12.Bei Einulf

13.Der Große Rat

14.Das Dunkel lichtet sich

15.Ausklang

Was ihr schon immer über die Pfahlbauer und ihre Zeit wissen wolltet

Personen

Tolpas:                   ein zwölfjähriger Junge

Ainas:                    sein Vater

Gangei:                  seine Mutter

Silvane:                 seine Schwester, zehn Jahre alt

Olba:                      seine Schwester, acht Jahre alt

Dolub:                   sein Freund

Elfine:                   Dolubs Schwester, Tolpas’

                              Freundin

Ulnas:                   ein größerer Junge aus dem Dorf

Benab, Mani:        zwei Mädchen aus dem Dorf

Neidur:                 der alte Häuptling

Malva:                  Neidurs Tochter

Sampas:                Dorfältester, Neidurs Nachfolger

Mulfa:                  Sampas' Frau

Einulf:                  der Druide

Raunar:                 ein Nachbar

Eleka:                   Raunars Frau

Moxas:                 ein fremder Händler

Berub, Zazo:        zwei Jäger

Ort der Handlung:

Ein Dorf am Ufer eines großen Sees im nördlichen Alpen-vorland

Zeit:

Ein Frühsommer zu Beginn des vierten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung

1. HEIMKEHR DER HERDE

Längst war die Abendsonne im Bergwald untergetaucht. Im Süden jedoch lagen ihre Strahlen noch auf den fernen Schneebergen und ließen sie, samt den darüber getürmten Quellwolken, rosa aufschimmern. Das Gewitter der vergangenen Nacht hatte die Luft gereinigt. Weit unten schimmerte grün der See. Im Schatten des Waldes war es bereits dämmrig und kühl. Die Vögel, die in der Mittagshitze verstummt waren, erhoben nun wieder ihre Stimmen.

Im leichten Ostwind flüsterten die Blätter der alten Linde. Unter ihrem grünen Dach, im weichen Moos, lag Tolpas und döste vor sich hin, eingelullt vom süßen Duft der Blüten und dem Summen Tausender Bienen. Im Winter war er zwölf geworden. Er war groß für sein Alter, braungebrannt, schlank und drahtig, mit halblangem lockigem braunem Haar und graugrünen Augen, die gewöhnlich klar und neugierig in die Welt blickten, auch wenn sie jetzt verschlafen blinzelten. Seinen kurzärmligen Kittel aus grobem braunem Leinen hatte er um die Hüften mit einem Lederriemen gegürtet und die langen Zipfel hochgeschürzt und in den Gürtel gesteckt, um sie beim Umherstreifen im Wald nicht an den Dornen zu zerreißen. Er hatte ein kurzes Feuersteinmesser mit hölzernem Griff bei sich, das er in einer Lederscheide am Gürtel trug. Seine bloßen Füße steckten in Bastsandalen, und neben ihm im Moos lag sein spitzer Basthut. Er hatte ihn für alle Fälle mitgenommen, falls Regen aufkommen sollte.

Der kühlere Lufthauch brachte ihn zu sich. Er richtete sich auf und musterte aufmerksam die Umgebung. Vor ihm öffnete sich eine Lichtung. Dort, wo zwischen den vermodernden Gerippen umgestürzter Baumriesen frisches, saftiges Grün spross, weideten, halb versteckt zwischen hohen Stauden, friedlich die Rinder, die er heute mit seinem Freund Dolub zu hüten hatte. Dabei wurden sie von drei kräftigen Hunden unterstützt. Die Rinder waren der wertvollste Besitz der Sippe, und die beiden Jungen hatten die Aufgabe, sie vor Bär, Wolf und Luchs zu schützen und am Abend sicher in den Pferch beim Dorf zurückzutreiben.

Dolub war auch schon zwölf und hoffte, bald in den Kreis der Männer aufgenommen zu werden. Jetzt wurde es Zeit zur Heimkehr. Sie mussten sich sputen, denn die Tiere sollten vor Einbruch der Dämmerung die Berge verlassen haben. In der Dunkelheit war es hier zu gefährlich, vor allem weil in dieser Gegend seit einiger Zeit ein großer alter Bär sein Unwesen trieb. Tolpas ließ einen langen Pfiff durch die Finger gellen. Dolub kauerte auf der anderen Seite der Lichtung am Stamm einer Buche und schnitzte lustlos mit seinem Feuersteinmesser an einem Stecken herum. Er war etwas kleiner und stämmiger als Tolpas und hatte glattes, schwarzes Haar. Seine Kleidung unterschied sich kaum von der seines Freundes. Als er Tolpas pfeifen hörte, steckte er sein Messer ein, warf den Stock beiseite und antwortete mit einem ebensolchen Pfiff. Die Hunde stimmten mit freudigem Kläffen ein. Dolub sprang auf und trabte über die Lichtung zu Tolpas hinüber. Geschickt wich er den umgestürzten Bäumen und dornigen Sträuchern aus. Die Rinder, kleine, zottige Tiere, ließen sich durch die aufgekommene Unruhe nicht bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Fressen, stören. Sie wussten aus langer Erfahrung, dass dieses Vergnügen gleich zu Ende sein sollte, und stopften sich darum das Kraut noch gieriger zwischen die Backenzähne.

„Endlich!“, rief Dolub schon von weitem. „Mich fressen bald die Mücken auf, und mein Magen knurrt wie ein hungriger Wolf. Schauen wir, dass wir nach Hause kommen und auch etwas zwischen die Zähne kriegen! Ich hasse dieses Kühehüten. Es ist so schrecklich langweilig.“

„Dafür ist es nicht so anstrengend wie auf dem Acker oder im Holz, und man hat seine Ruhe“, meinte Tolpas. „Aber mit dem Essen hast du recht. Mir geben sie auch nie genug mit. Meine Mutter denkt wahrscheinlich, was meinen Schwestern reicht, ist auch für mich genug. Los, lass uns die Herde zusammentreiben, und dann nichts wie weg!“

Mit Hilfe der Hunde trieben sie die trägen, aber gutmütigen Tiere am Rande der Lichtung zusammen.

„Gut, dann machen wir uns jetzt auf den Heimweg!“, brummte Dolub.

„Zuerst müssen wir zählen, ob alle da sind.“

Tolpas hatte einen Holzstab bei sich, in den Kerben eingeschnitzt waren. Er war nicht als Wanderstab gedacht, und die Kerben auch nicht einfach als Zierde. Jede einzelne stand für ein Tier der Herde. Die beiden ließen ihre Augen von Tier zu Tier wandern, und Tolpas’ Daumennagel wanderte dabei von Kerbe zu Kerbe. Als sie aber die letzte Kuh fixiert hatten, war noch eine Kerbe übrig.

„Verflixt, die braune Bess fehlt!“, schimpfte Tolpas. „Sie hat sich wieder mal verdrückt, und die Hunde haben geträumt. Jetzt geht die Sucherei los, und zu Hause essen sie ohne uns.“

„Lassen wir die dumme Kuh doch einfach über Nacht hier. Morgen wird sie schon wieder auftauchen“, schlug Dolub vor.

„Bist du verrückt?“, antwortete Tolpas. „Du weißt doch von dem Bären, der sich hier herumtreibt. Morgen finden wir bloß noch das Gerippe. Vielleicht nagt er ja jetzt schon an ihren Knochen. Mir wird ganz schlecht, wenn ich mir das vorstelle! Zu Hause reißen sie uns den Kopf ab!“

„Reg dich nicht auf!“, beschwichtigte ihn Dolub. „Wenn der Bär hier in der Nähe wäre, würden die Hunde nicht so ruhig sein. Aber du hast natürlich recht. Wir müssen Bess suchen. Ohne sie brauchen wir uns im Dorf nicht sehen zu lassen. Am besten, wir trennen uns. Einer sucht Bess, der andere treibt die Herde schon mal abwärts. Mit einer Kuh kommt man schneller vorwärts als mit zwanzig. Und wenn wir Glück haben, sind wir gleichzeitig zu Hause und kriegen auch noch was zu essen.“

Gesagt, getan. Sie einigten sich rasch, wer was tun sollte. Tolpas schlug sich mit Wolf, dem klügsten und kräftigsten ihrer drei Hunde, ins Gebüsch, während Dolub mit den beiden anderen die Herde in Richtung Dorf trieb. Der ausgetrampelte Pfad führte immer bergab auf den See zu. Zuerst zog er sich durch Wald und Gebüsch, später wand er sich durch Gestrüpp und brach liegende Felder.

Die Kühe, von den kläffenden Hunden und Dolubs klatschender Haselgerte vorwärts getrieben, trotteten widerwillig den Berg hinunter, wobei sie sich keine Gelegenheit entgehen ließen, hier noch ein Kräutlein und dort noch einen Zweig zu schnappen. Plötzlich gab es ein lautes Hallo: Eine Schar kleiner Mädchen mit Körben voll Himbeeren schloss sich dem Zug an, etwas später auch noch eine Gruppe verschwitzter Männer und Frauen mit Hauen und Äxten. Himbeeren wuchsen im Brachland in großer Menge. Die ersten waren jetzt reif, und die Kinder, die noch zu klein für andere Aufgaben waren, mussten sie pflücken gehen. Unter den Beerensammlerinnen waren auch Silvane und Olba, Tolpas’ kleine Schwestern, und Elfine. Die war Dolubs Schwester und Tolpas’ Freundin.

„Wo ist Tolpas?“, fragten die Mädchen erschrocken.

„Noch im Wald“, antwortete Dolub. „Uns ist eine Kuh davongelaufen. Er sucht sie. Dann kommt er gleich nach. Aber eure Himbeeren sehen wirklich lecker aus. Lass mich mal kosten!“ Ehe Silvane ihren Korb in Sicherheit bringen konnte, hatte er schon hineingegriffen und sich eine Handvoll der duftenden, von der Sonne noch warmen Beeren in den Mund gestopft. Laut schmatzend wischte er sich mit dem Handrücken den roten Saft aus den Mundwinkeln. „Mmm, köstlich! Ich habe selten so süße Himbeeren verspeist! Darf ich noch mal?“

Silvane sprang rasch beiseite. „Du Frechdachs! Sei nicht so gierig! Bei euch auf dem Berg da oben wachsen genug. Da kannst du dir den Bauch vollstopfen! Wer zu faul zum Pflücken ist, hat an meinem Korb nichts zu suchen.“

Dolub lachte. „Kratzbürste! Wenn du so weitermachst, kriegst du später keinen Mann. Mich schon gar nicht.“

„Sei nicht so eingebildet!“, erwiderte Silvane. „Glaubst du vielleicht, dass dich eine will?“

Bei solchen Neckereien verging die Zeit schnell. Langsam näherte sich der Zug dem Dorf. Schon schimmerten die ersten Häuser aus dem Gebüsch am Ufer. Die Erwachsenen kümmerten sich nicht um die Späße der Kinder, sie trotteten schweigend hinter ihnen her. Den ganzen Tag hatten sie mit ihren steinernen Äxten Bäume gefällt, um den Acker für das kommende Jahr vorzubereiten, oder sie hatten auf dem Feld Disteln gehackt. Nun waren sie müde, und der Rücken tat ihnen weh.

Allmählich änderte sich die Umgebung. Die Felder blieben zurück, und ein sumpfiger Buschwald nahm die Heimkehrenden auf. Hier musste Dolub mit der Herde abbiegen. Er brachte seine Schützlinge auf einen freien Platz, der von einem starken Holzzaun umfriedet war. Hier sollten sie, in Ruf- und Sichtweite vom Dorf und von den Hunden bewacht, die Nacht verbringen.

Wie war es Tolpas inzwischen ergangen? Begleitet von Wolf, dem Hund, hatte er die Lichtung verlassen und war in den Wald eingedrungen. Immer tiefer kämpfte er sich in das grüne Dickicht, das mit jedem Schritt undurchdringlicher wurde. Unter dem Schirm der hohen Bäume war es schon dämmrig. So sehr Tolpas seine Augen auch anstrengte, er konnte keine Spur von der ausgerissenen Bess entdecken. Wolf mit seiner scharfen Nase kam ihm zu Hilfe. Er sprang hierhin und dorthin, und schließlich gelang es ihm, die Witterung der Kuh aufzunehmen. Nun ging es zielstrebig vorwärts: Wolf, die Nase dicht am Boden, voran, Tolpas hinterher. Etwas unheimlich war ihm schon zumute, so allein im düsteren Wald, weitab vom Dorf und seinen Freunden. Ihn fröstelte. War das der Hunger oder die Kühle im schattigen Dickicht? Oder vielleicht Angst? Er versuchte, sich Mut zu machen, indem er sich sagte, dass weder der Bär noch ein anderes Raubtier in der Nähe sein konnte. Sonst wäre Wolf ganz gewiss nicht so unbekümmert vorangepirscht. Außerdem waren Jäger aus dem Dorf schon den ganzen Tag unterwegs, um den gefährlichen Bären zu stellen und unschädlich zu machen. Sicher hatten sie ihn längst aufgespürt und ihm das Fell abgezogen. Wenn er aber noch am Leben wäre und hier in der Nähe, dann könnten auch die Jäger nicht weit sein. Also keine Gefahr!

Absolute Stille umgab ihn. Außer dem leisen Rascheln und Knacken der eigenen Schritte und Wolfs Hecheln war nichts zu hören. Sie erklommen einen Hang, liefen über eine Kuppe und dann wieder hinunter in eine sumpfige, mit Erlen und Weiden bestandene Senke. Wolf kläffte aufgeregt. Tolpas hielt inne, gebot dem Hund Ruhe und lauschte. Auch Wolf spitzte die Ohren. Tatsächlich! Aus dem Waldsumpf kam ein klägliches Muhen. Mit Riesensätzen rannten die beiden weiter und drangen in den Morast ein. Bis über die Knöchel versanken sie in dem schwarzen Brei. Tolpas versuchte, von einem hochragenden Grashorst zum nächsten zu springen, doch er strauchelte immer wieder, rutschte ab und landete im Sumpf. Endlich erreichten sie die Kuh. Ihr war es ebenso gegangen wie Tolpas: Sie war bis über die Fesseln eingesunken und in Panik geraten, und nun stand sie da und wusste weder ein noch aus.

„Dummes Tier!“, rief Tolpas, völlig außer Atem. Doch dann beruhigte er die arme Bess mit freundlichen Worten, band ihr einen Strick um den Hals und führte sie vorsichtig aus dem Sumpf. Wolf half nach besten Kräften. Endlich fühlten sie wieder festen Boden unter den Füßen. Das Schlimmste war geschafft. Die Kuh hatte genug Abenteuer erlebt für diesen Tag und sehnte sich nach dem sicheren Pferch und ihren Artgenossen. Bereitwillig passte sie sich daher der raschen Gangart an, die der hungrige Tolpas eingeschlagen hatte. Für Wolf war das ohnehin kein Problem. Bald waren sie wieder an dem Weideplatz, wo die Suche begonnen hatte, und konnten von dort aus den Weg zum Dorf einschlagen, den vor ihnen Dolub mit der Herde genommen hatte. Erst am Pferch holten sie ihn ein. Dolub hatte seine liebe Not mit den widerspenstigen Tieren, die sich nicht ins Gatter treiben lassen wollten. Zu zweit ging es nun leichter. Dabei erzählte Tolpas, wie und wo er die vorwitzige Bess gefunden hatte. Dann schlossen sie den Pferch und eilten den anderen nach. Die Hunde blieben gehorsam zurück, um die Herde zu bewachen. Sie kannten ihre Aufgabe und wussten, später würde jemand herauskommen und ihnen zu fressen bringen.

Das Dorf bestand aus einigen Dutzend kleiner hölzerner Häuser, die unmittelbar am Seeufer auf mannshohen Pfählen über den Grund ragten. Jetzt, bei sommerlichem Hochstand des Sees, konnte man die am weitesten landwärts liegenden eben noch trockenen Fußes erreichen. Zu den anderen gelangte man über Stege, die etwa in Höhe der Fußböden zwischen den Häusern angelegt waren. Wer die Stege nicht benutzen wollte, holte sich nasse Füße oder musste gar schwimmen.

Blauer Rauch von Kochfeuern quoll aus den Türöffnungen und Dächern. Er floss zu einer wirbelnden Wolke zusammen, die von der Brise über die offene Wasserfläche auf die untergehende Sonne zu getrieben wurde, wo sie langsam aufstieg und sich dabei allmählich auflöste.

Tolpas schwang sich die breite Leiter zum Laufsteg hinauf und beugte sich von dort zurück, um seinen Schwestern die Körbe mit den Himbeeren abzunehmen, die sie ihm emporreichten. Dann liefen die Geschwister auf dem federnden und schwankenden Steg zu ihrem Haus. Es gehörte zu denen, die am weitesten zum See hin lagen.

Tolpas steckte den Kopf zur offenen Tür hinein. Im Halbdunkel kauerte seine Mutter Gangei vor dem Feuer, das in der Mitte des Raumes glühte, und rührte in dem großen irdenen Topf, der an Schnüren über der Feuerstelle hing. Es duftete verlockend nach Weizenbrei mit Leinsamen und Früchten.

„Mama, wir sind zurück!“, rief Tolpas. Die Mutter drehte sich um. Ihre vom Herdrauch geröteten Augen strahlten, als sie ihre Drei erblickte.

„Ach, Kinder! Schön, dass ihr da seid. Setzt euch! Das Essen ist gleich fertig.“

Rund um die Feuerstelle waren Felle ausgebreitet. Während sich die drei hungrigen Kinder darauf niederließen, fragte Silvane: „Wo ist Papa?“

„Im Wald“, antwortete die Mutter. Ein flüchtiges Lächeln zuckte um ihre Lippen. Doch die Sorgenfalten auf ihrer Stirn und die Angst in ihren Augen waren nicht zu übersehen. „Die Jäger sind noch nicht zurück. Ihr wisst ja, wie das ist. Im letzten Winter, als es auf die Büffel ging, waren sie fünf Tage und Nächte fort. Wisst ihr noch, wie froh wir waren, als sie zurückkamen und so viel Beute mitbrachten, dass sie kaum alles schleppen konnten? Was haben wir damals für Fleisch gegessen!“

„Ja, mein Bauch ist fast geplatzt“, erinnerte sich Silvane.

„Diesmal ist es aber ein Bär, und noch dazu ein besonders gefährlicher“, warf Tolpas ein. „Drei Schafe und ein Kalb hat er schon gerissen.“ Die Mutter nickte.

„Ja. Sie müssen ihn endlich fangen. Sonst frisst uns das Untier noch die ganze Herde auf. Unsere Männer sind gute Jäger. Sie werden ihn töten. Und sie werden bald zurückkommen, glaubt mir! Vielleicht sind sie morgen, wenn ihr aufwacht, schon da.“

Damit beendete die Mutter das Gespräch. Sie setzte eine große Tonschale, in die sie dampfenden Brei aus dem Kochtopf geschöpft hatte, auf den Fußboden. Alle fassten sich an den Händen, dankten der Fruchtbarkeitsgöttin und wünschten einander guten Appetit. Dann griff jeder nach seinem Holzlöffel und machte sich über das Essen her. Als die Schüssel leer war, zogen sich die Mädchen in die Schlafecke zurück, wo ein Lager aus Fellen, Decken und moosgefüllten Säcken auf sie wartete.

Inzwischen hatte sich die Abenddämmerung über den See gesenkt. Das Dunkel im Haus wurde nur von den Flammen des Herdfeuers durchbrochen, die hin und wieder aufzuckten. Die Mutter rumorte noch mit ihren Küchengeräten. Die Dunkelheit störte sie nicht. Mit sicheren Griffen räumte sie alles an seinen Platz. Tolpas stand auf.

„Ich gehe noch eine Weile an die frische Luft.“

„Bleib nicht so lange!“, rief die Mutter ihm nach, als er durch das fahlgraue Rechteck der Türöffnung nach draußen verschwand. Das Dorf lag im schwindenden Licht wie ausgestorben. Seine Bewohner waren seit dem Morgengrauen auf den Beinen gewesen. Nun kauerten sie müde in ihren Häusern und schickten sich an, schlafen zu gehen.

Tolpas ließ wieder seinen gellenden Pfiff ertönen. Dann lehnte er sich ans Geländer und wartete. Es dauerte nicht lange, da hörte er auf dem Steg das leise Trappeln bloßer Füße. Einen Augenblick später tauchten Dolub und Elfine neben ihm auf.

„Gehen wir noch schwimmen?“, fragte er sie. Die beiden nickten schweigend. Sie huschten seewärts den Steg entlang bis zu dessen Ende dicht neben dem Haus des Druiden, wo an der Anlegestelle die Boote vertäut lagen. Dunkel, glatt und still lag der See vor ihnen. Der Vollmond hatte sich über den fernen Horizont erhoben und goss sein bleiches Licht über die schwarz glänzende Fläche.

Die Kinder warfen ihre Kittel auf den Steg und sprangen kopfüber in das hier mannstiefe, kühle Wasser. Mit gleichmäßigen Zügen schwammen sie hinaus in den See. Das frische Nass, nun wärmer als die kühle Nachtluft, umschmeichelte ihre Haut und spülte die Mühen des Tages von ihnen ab. Hinter ihnen perlte das aufgewühlte Wasser weiß im Mondlicht. Am Horizont war das Abendrot purpurnem Dunkel gewichen. Am gegenüberliegenden Ufer konnte man einen Haufen feiner Lichtpunkte erkennen: die Feuer einer anderen Siedlung. Aus dem Ufergebüsch kam der Ruf eines Käuzchens. Ein Zug großer Vögel rauschte über die schwimmenden Kinder hinweg. Tolpas ließ sich auf dem Rücken treiben und versuchte, sie auszumachen, doch es war schon zu dunkel. Fern aus dem Bergwald drang ein markerschütternder Schrei herüber. Es klang wie der Todesruf eines großen Tieres. Die Kinder fröstelten.

„Wir sollten umkehren“, mahnte Elfine.

Sie schwammen zurück, kletterten auf den Steg und schüttelten sich wie nasse Hunde. Sie waren gerade wieder in ihre Kleider geschlüpft, als sie flackernde Lichter über den Steg auf sich zu kommen sahen.

„Die Fischer“, stellte Tolpas fest.

Sechs Männer mit brennenden Fackeln, Netze über die Schultern gehängt, kamen näher. Sie erwiderten den Gruß der Kinder.

„Hoffentlich habt ihr mit eurem Geplantsche nicht die Fische erschreckt und uns den Fang verdorben“, sagte einer missmutig. „Kinder haben um diese Zeit längst zu schlafen”, murrte ein anderer. Dann stiegen je zwei der Männer in einen Einbaum, sie lösten die Leinen und stießen vom Ufer ab.

„Guten Fang!“, riefen die Kinder ihnen noch nach, als die Boote leise plätschernd auf den nächtlichen See hinausglitten. Rasch wurden sie kleiner; ihre Konturen verschmolzen mit der Dunkelheit, und bald waren nur noch die Fackeln als kleine, flackernde Lichtpunkte über dem Wasser zu erkennen.

„Gehen wir schlafen!“, sagte Tolpas. „Gute Nacht!“

„Gute Nacht, bis morgen!“, antworteten Dolub und Elfine.

Jeder verschwand in seinem Haus. Nun herrschte Stille im Dorf, abgesehen vom leisen Plätschern des Wassers an den Pfählen, vom Quaken der Frösche im Röhricht, vom gelegentlichen Schrei eines Nachtvogels und vom Schnarchen aus dem einen oder anderen Haus.

2. IM DORF

Unmerklich lichtete sich am östlichen Himmel die Schwärze der Nacht. Das Frühkonzert der Vögel setzte ein: zuerst mit vereinzelten Stimmen, dann im vollen Chor. Während sich die heimkehrenden Fischerboote, nun ohne brennende Fackeln, mit reichem Fang dem Ufer näherten, wälzte sich im Dunkel des Hauses Gangei schlaftrunken von ihrem Lager. Leise tappte sie zum Feuer, warf eine Handvoll Haselnussschalen und trockene Späne auf die Asche und schichtete kleine, dürre Äste darüber. Sie stocherte die Asche auf, beugte sich dann tief hinunter zum Boden und blies vorsichtig hinein.

Unter der Asche glomm schwach die Glut auf, die sich von gestern gehalten hatte. Sie erfasste die Nussschalen und die Späne, und bald loderte, von Zweigen und Ästen genährt, ein kräftiges Feuer. Das mühsame Neuanfachen mit Holzstab, Reibschale und Zunder blieb Gangei heute früh zum Glück erspart.

Sie griff nach einem Krug und ging Wasser holen. Wasser gab es ja im Überfluss gleich neben dem Haus. Als sie wieder hereinkam, waren die Kinder aufgewacht und kauerten, noch benommen vom Schlaf, auf ihrem Lager. Doch da half nichts, sie mussten aufstehen und der Mutter bei der morgendlichen Hausarbeit helfen.

Das Wasser kochte. Gangei nahm den Topf vom Feuer, warf eine Handvoll Eicheln und Gerstenkörner hinein. Beides hatte sie zuvor ankeimen lassen, dann geröstet und fein zerstampft. Kurz umgerührt, und der Frühstückskaffee war fertig – eine Wohltat an so einem kühlen frühen Morgen. Dazu gab es kalten Brei von gestern Abend.

Während sie aßen, sagte die Mutter: „Du sollst heute nicht mit der Herde gehen, Tolpas. Sie kommen beim Laubheuen nicht recht voran und brauchen Hilfe. Die Kühe hütet heute Elfine. Silvane geht mit und noch ein paar Mädchen. Geht aber nicht so tief in den Wald, es ist gefährlich. Den Beerenkorb nimmst du auch mit. Weiter oben wachsen viele Himbeeren. Solange die Herde grast, kannst du welche pflücken. Und du, Olba, gehst mit den Kleinen auch wieder in die Himbeeren.“

Dann hatte die Mutter noch eine Überraschung: Am Abend sollte es Fisch geben. Eben beim Wasserholen habe sie Raukas getroffen, als er vom Fischen heimkam. Er habe sich für die Himbeeren von gestern bedankt und versprochen, ihnen dafür einen tüchtigen Topf voll Barsche aus dem Fang von heute Nacht zu bringen.

Die Jäger waren immer noch nicht zurück. Jeder dachte daran und machte sich Sorgen, aber keiner sprach es aus; das könnte Unglück bringen.

Nach dem Essen machten die Kinder sich fertig. Tolpas schob sich ein Steinbeil in den Gürtel. Sein Messer hatte er ohnehin bei sich. Es war sein ganzer Stolz, und er trennte sich nie davon. Verpflegung brauchte er keine, denn die Stelle, an der sie heute Laubheu machen wollten, war so nahe, dass er mittags ins Dorf zurückkehren konnte. Silvane dagegen durfte die Herde bis zum Abend nicht verlassen, auch wenn sie erst zehn Jahre alt war. Sie hängte sich einen Lederbeutel um, in den die Mutter ihr ein Stück Fladenbrot gesteckt hatte. Dann nahm sie den Beerenkorb und – für alle Fälle – einen kräftigen, zugespitzten Stecken.

Hand in Hand rannten die Kinder über den Steg zum Land. Dort trennten sie sich. Die kleine Olba ging mit den anderen Kindern zu dem Gebüsch an den Hängen oberhalb des Dorfes, das die früheren, nun aber schon seit Jahren brach liegenden Felder bedeckte. Dort wuchsen Himbeeren in Hülle und Fülle. Später im Jahr würden die Dorfbewohner dort auch Brombeeren, Haselnüsse und wilde Äpfel ernten können. Alles stand gut in Frucht und versprach reiche Ernte, falls Unwetter ihnen nicht noch einen Strich durch die Rechnung machten.

Silvane ging mit Elfine und noch zwei anderen Mädchen zur Viehkoppel. Sie fütterten die herbeispringenden Hunde mit Essenresten und ließen die Rinder aus der Umzäunung.

„Bin ich froh, dass ich nicht wieder in die Beeren muss!", sagte Silvane, als sie ein Stück gegangen waren. "Heute haben wir mal eine angenehmere Arbeit als die Jungs”,

„Wart’s nur ab“, neckte Elfine. „Deine Mutter wird dir was erzählen, wenn du heute Abend mit dem leeren Korb nach Hause kommst.“

„Das ist ungerecht. Wenn wir Mädchen Kühe hüten gehen, müssen wir nebenher auch noch Beeren sammeln. Die Jungen dürfen sich auf die faule Haut legen oder spielen.”

„Freu dich doch, dass heute wir mal bei den Kühen sind und Beeren pflücken können. Das strengt nicht an, und satt werden wir dabei auch. Wenn ich daran denke, dass das Getreide bald reif ist! Dann wird es wirklich anstrengend, und das wochenlang.” Silvane wusste, was das bedeutete. Sie seufzte.

„Hoffentlich schicken sie mich nicht so oft zur Nachtwache wie letzten Sommer.”

Die reifenden Getreidefelder mussten im Sommer Tag und Nacht vor hungrigen Tieren bewacht werden, die sich an dem Korn gütlich tun wollten: vor Wild, Vögeln, Mäusen… Für diese Arbeit wurden neben den Dorfhunden vor allem die halbwüchsigen Kinder eingesetzt.

Die Mädchen erreichten die Bergweide ohne Zwischenfälle. Sie überließen die Herde der Obhut der Hunde und gingen zu den Himbeersträuchern. Sie hatten geglaubt, die Körbe würden im Handumdrehen voll sein, doch so schnell ging es dann doch nicht. Denn die schönsten Himbeeren wanderten natürlich in den Mund. Und schön waren sie eigentlich alle.

Inzwischen waren Tolpas und Dolub zwei jungen Frauen und einem Mann in den Auenwald gefolgt, der das Dorf auf der Landseite umschloss und mit zunehmender Entfernung dichter und höher wurde. Hier ragten mächtige alte Ulmen und Eichen in die Höhe. Unter einem dieser Baumriesen machten sie Halt. Flink wie Katzen kletterten die beiden Jungen den Stamm hinauf, indem sie sich mit den Fingern und nackten Zehen in der rauen Borke festkrallten. Der Mann folgte ihnen. In der Krone angelangt, suchten sie sich einen sicheren Halt. Dann zogen sie ihre Steinäxte aus dem Gürtel und begannen, mit kräftigen und geschickten Hieben armdicke Äste abzuschlagen. Die Frauen sammelten sie ein und zerkleinerten sie zu Stücken von Manneslänge, schichteten diese zu Haufen und schnürten sie zu Bündeln zusammen.

Die Sonne war nur ein winziges Stück weitergewandert, da war von der mächtigen Ulme nur noch ein stummelastiger und fast kahler Stamm übrig, und das Laubwerk der Krone lag in großen Bündeln am Boden. Es sollte getrocknet werden, damit das Vieh im Winter etwas zu fressen hatte.

Die beiden Jungen und der Mann kamen heruntergeklettert. Noch ganz außer Atem, sahen sie den Frauen ein Weilchen bei der Arbeit zu. Dann, nach kurzer Pause, nahmen sie sich den nächsten Baum vor, und weiter ging’s.

Auch unten im Dorf herrschte reges Treiben. Die meisten Erwachsenen und die größeren Kinder waren in Wald und Feld oder auf dem See unterwegs, nur die Alten und ein paar Mütter mit kleinen Kindern waren zurückgeblieben. Doch jeder von ihnen, ausgenommen die Allerkleinsten, hatte seine Aufgabe.

Die Frauen brachten zunächst ihren Haushalt in Ordnung. Das nahm nicht viel Zeit in Anspruch, denn Abfälle und Unrat wurden einfach in den See zu ihren Füßen gekehrt. Fortgeworfen wurde nur, was wirklich nicht mehr zu gebrauchen war, und das war nicht viel. Nach dem Reinemachen kümmerten sich die Frauen um die Lebensmittel. Fische und Früchte verdarben rasch. Man musste sie haltbar machen, um Vorräte für magere Zeiten zu haben. Am landseitigen Dorfrand hängten die Frauen die frisch ausgenommenen Fische in kleine, aus Ton und Steinen gebaute Räucheröfen, in denen grünes Buchenholz über der Glut qualmte. Die Fische für das Abendessen schwammen jedoch noch munter in Senkkästen unter den Häusern und ahnten nichts von ihrem Schicksal.

Die Himbeeren, die nicht frisch verzehrt werden sollten, füllten die Frauen in große Tonkrüge. Sie gossen ein wenig Wasser dazu und ließen das Ganze dann einfach stehen. Nach wenigen Tagen würde es zu gären anfangen, und so entstand ein berauschendes Getränk, das mit Honig gesüßt wurde und besonders bei den Erwachsenen sehr beliebt war.

Die wenigen ganz alten Leute, die für die Arbeit in Wald und Feld zu schwach waren, machten sich im Dorf nützlich, so gut sie konnten. Sie stellten Holzschäfte für Äxte, Rechen und andere Geräte her, schliffen Steinklingen oder verarbeiteten Hirschgeweihe zu allerlei Hacken, Pfriemen oder Nadeln. Andere flickten Netze, webten Leinen oder formten Ton zu Töpfen, Schüsseln und Krügen und was sonst noch an Geschirr gebraucht wurde.