Tom Dark und die Spur des Geheimbundes - Wolfgang Zaruba - E-Book

Tom Dark und die Spur des Geheimbundes E-Book

Wolfgang Zaruba

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Beschreibung

Tom Dark entdeckte in einer stürmischen Nacht ein grünes Buch. Dies musste einfach ein Zeichen von Hoffnung sein. Denn schon seit Tagen suchte er verzweifelt nach Hinweisen zum Verbleib seines vermissten Freundes Jason und der anderen verschwundenen Kinder. Zu seinem Erstaunen waren die Seiten des gefundenen Buches leer. Er gab jedoch nicht auf und versuchte das Rätsel zu lösen. Noch ahnte er nicht, dass er schon längst Teil einer geheimnisvollen Geschichte war. Mit Hilfe eines verborgenen Wurmloches gelangt er schließlich in eine ferne Welt. Zunächst ist Tom dort allein und muss bereits am Anfang einige Heldentaten vollbringen. Schließlich werden Spuren eines geheimen Ritterbundes, der vor langer Zeit in mysteriöse Kämpfe verwickelt war, immer deutlicher und führen auf eine gefährliche Abenteuerreise in düstere Schattenwelten.

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Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Wolfgang Zaruba

Tom Dark und die Spur

des Geheimbundes

Nachtreisen durchs Wurmloch

(Band 1)

Books on Demand

Für Kristina,Sophia und Caroline

Caroline und Sophia danke ich für die Landkarte, Kristina für das geduldige Durchlesen der vielen Entwürfe, für konstruktive Kritik und Aufmunterungen

Julia Hansen danke ich für die kreative Gestaltung des Umschlagentwurfs und dem Team um Frau Dr. Bremer von BoD für die hilfreiche Unterstützung und gute Zusammenarbeit, für Layout und Lektorat

Inhalt

Vorgeschichte

Kapitel 1

Krummberg am Schwarzen Rotzkopf

Kapitel 2

Der Treffpunkt im Traum und sein jähes Ende

Kapitel 3

Das grüne Buch

Kapitel 4

Verborgene Botschaften

Kapitel 5

Böses Erwachen

Kapitel 6

Durchs Wurmloch nach Fernweh

Kapitel 7

Das Schiffshaus vom alten Kapitän

Kapitel 8

Der Schatten-Dschinni

Kapitel 9

Der Zwerg in der Tropfsteinhöhle

Kapitel 10

Sam Dreibart

Kapitel 11

Dreibarts lange Reise

Kapitel 12

Meisterschaft der Viererrunde

Kapitel 13

Schatten-Gruseln in der Dunkelkammer

Kapitel 14

Auf der Suche nach Freunden

Kapitel 15

Der Gefährte

Kapitel 16

Die Späher von Sargon

Kapitel 17

Leo und der Glücksgeist

Kapitel 18

Der E-Wurm in der Ghost

Kapitel 19

In Toms Hütte

Kapitel 20

Die fünf im Blauen Dreieck

Kapitel 21

Sargons Angriff

Kapitel 22

In der Dunkelkammer und am Glücksbrunnen

Kapitel 23

Das Fest am Schwebefelsen

Kapitel 24

Neuer Ärger

Kapitel 25

Spuren der Verräter

Kapitel 26

Im Trainingscamp der Tribogen

Kapitel 27

Big Bo und die Große Höhle

Kapitel 28

Leo am Abgrund

Kapitel 29

Giftige Feinde

Kapitel 30

Toms Erinnerung kehrt zurück

Vorgeschichte

Seitdem Tom Dark denken konnte, war er auf der Suche nach besonderen Abenteuern. Doch in der Vergangenheit hatte er einen entscheidenden Fehler gemacht, der alles auf den Kopf gestellt und etwas Unheilvolles in Gang gesetzt hatte. Aber das war schon lange her und jetzt merkte er nicht, wie diese unvollendete Geschichte weiterging und dass er im Grunde noch immer mittendrin war. Er hatte nur einige Erinnerungsfetzen, doch die blieben unverbunden und ergaben keinen Sinn. Die Bruchstücke passten nicht zusammen. So blieb alles dunkel und verschwommen.

Einst hatten sich die Kinder sicher gefühlt, denn damals machte ein geheimer Ritterbund durch abenteuerliche Aktionen auf sich aufmerksam. Der »Weiße Bund der fünf Schwerter«, wie er genannt wurde, war im Besitz magischer Kräfte und stets zur Stelle, wenn Kinder Hilfe brauchten. Eines Tages jedoch hörten die Rettungstaten des Bundes schlagartig auf. Alle fragten sich, was geschehen war. Keiner ahnte, welche Kämpfe sich im Hintergrund abgespielt hatten. Nur ein Feldarbeiter hatte in der Dämmerung am Rande des Maisfeldes schwarze Hengste und finstere Gestalten mit wallenden Umhängen gesehen, die aus dem Nichts kamen und wieder verschwanden. Im Dorfkrug gab es daraufhin hitzige Gespräche über dunkle Geisterwesen aus einer anderen Welt, denn so etwas hatten sie hier noch nie gesehen. Von da an hatten die Kinder heftige Albträume von unbesiegbaren, schaurigen Monstern. Tagsüber malten sie sich aus, wie Aliens mit Laserschwertern kommen und über sie herfallen. Diese Stimmung zog sich eine Weile hin, dann legte sich eine lähmende Finsternis über die Landschaft, als wollte sie die schwere Zeit festhalten.

Kapitel 1

Krummberg am Schwarzen Rotzkopf

Tom Darks Großeltern galten als sonderbar. Die Nachbarn tuschelten, wenn sie vorbeigingen, und hielten Abstand. Während die anderen Männer im Dorfkrug Zum Treuen Tropfen Skat spielten, war Toms Großvater zuletzt fast jeden Abend Pfeife rauchend bis weit nach Mitternacht im Sumpf unterwegs. Lange wusste keiner, was er dort verloren hatte oder ihn in den Bann zog. Einige hielten ihn für einen Romantiker der Moorlandschaft, andere taten ihn als Spinner der Nacht ab. Der Rest hielt ihn schlicht und ergreifend für verrückt. In Wirklichkeit jedoch war er auf der Flucht und der Sumpf war sein Unterschlupf. Er hatte herausgefunden, dass dies der einzige sichere Ort für ihn war. Es gab Feinde, die ihn verfolgten und alles gegeben hätten, um sein Versteck zu finden.

Einmal nahm Großvater Dark seinen Enkel mit in die Sümpfe. Die gruselige Nacht klebte an Toms Fersen wie ein endloser Spuk. Zuletzt war sein Großvater immer alleine in das heimtückische Moor gegangen. Eines Nachts ging er wieder dorthin, verschwand im Dunkel und kam nicht wieder zurück. Tom schwor sich, nie wieder das Gebiet zu betreten, denn die Leiche seines Großvaters wurde nicht gefunden.

Wehmütig sah Tom noch immer seinen Pfeife rauchenden Großvaters vor sich und hatte den Duft des Rauches in der Nase, der ein bisschen nach Birne und Vanille roch. Dieser Geruch vermischte sich mit dem Geruch der Sümpfe und diese Mixtur blieb als Erinnerung in seiner Nase. Zurück blieb auch die Sehnsucht nach den unheimlichen Orten mit ihren schaurigen, unerklärlichen Dingen, die er mit seinem Großvater teilte. Aber auch dessen Spürsinn und Jagdfieber waren Tom in Fleisch und Blut übergegangen.

In den letzten Monaten wurde das Leben in Krummberg am Schwarzen Rotzkopf von grauenvollen Dingen heimgesucht. Eine bleierne Stille lag über der Stadt. Nach dem Verschwinden von Großvater Dark in den Sümpfen hatte sich eine Lawine aus Spukgeschichten ausgebreitet, die jetzt mit den neuen Ereignissen wieder ins Rollen kam. Heute war die Lage besonders bedrohlich und bedrückend. Tom Dark konnte nicht mehr ruhig schlafen. Er spürte, wie sich eine gefährliche Schlinge um seinen Hals zog und ihm die Luft wegblieb, denn die letzten Vorfälle hatten ihn ohnmächtig und ratlos gemacht.

Tom wohnte im nebelverhangenen Runzelpfad Nr. 13. Unter dem Nummernschild hatte sein Vater auf Drängen der ganzen Familie ein kleines Brett angebracht, worauf -3 mit dem Symbol einer Schlange stand. So hofften die Darks, den Einfluss der Unglückszahl 13 bannen zu können. Ihr Haus war das letzte Haus in einer abgelegenen Sackgasse. Dahinter begann das gefürchtete Moor- und Sumpfgebiet, aus dem meist dichter Nebel kroch, der um die mittlerweile krummen Häuser schlich wie Gruselgespenster auf Entdeckungsreise. Vielen Bewohnern war die Gegend nicht geheuer, nicht wenige glaubten, hier würde es spuken und seltsame Dinge würden geschehen. Kaum einer traute sich in diese Straße. Aber Tom fühlte sich wohl an diesem Ort. Wenn er durch den Nebel ging, hatte er stets das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen. Der Runzelpfad hatte in der Tat etwas Magisches. Als wochenlang einige Straßenlaternen mehrmals nachts ungewöhnlich lange aufflackerten und die Hunde schrecklich jaulten, als hätte ihnen jemand auf den Schwanz getreten, schien genau diese Magie auf sich aufmerksam machen zu wollen.

Die Uhren waren längst auf Winterzeit umgestellt. Dunkle Wolken hatten sich über den Feldern aufgetürmt und zogen über die Stadt. Dicke Regentropfen prasselten auf die Dächer der roten Backsteinhäuser. In den engen Gassen und Gullys staute sich das Wasser. Das Sturmtief passte zur Stimmung der Menschen. Viele waren an die Schlagzeilen aus der Zeitung und die Horrorbilder aus dem Fernsehen gewöhnt, aber die letzten Ereignisse waren auch für die härtesten Kerle unfassbar. Mit allem hatten sie in Krummberg gerechnet, nur nicht mit einer solch heimtückischen Nacht-und-Nebel-Aktion. Auf einer Geburtstagsfeier war es passiert. Plötzlich war wie aus dem Nichts eine Windhose durch den Garten gefegt, gefolgt von einer dichten Nebelwand. Es dauerte nur einige Minuten, Kinder schrien fürchterlich, keiner konnte sehen, was geschah. Nur einige schwarze Hengste und dunkle Gestalten, deren wallende Umhänge vom Wind und dem Galopp der Pferde Ehrfurcht gebietend hin und her schwangen, waren im Nebel zu erkennen. Erst als dieser sich verzogen hatte, wurde das ganze Ausmaß des Grauens deutlich: Alle 20 Kinder und Jugendlichen des Festes waren verschwunden. Zurückgeblieben war ein halb verkokeltes Schild mit einem Warnhinweis:

Stopp!

Rückt die restlichen Schwerter raus!

Sonst werden alle Gefangenen getötet.

Wer hat den Schwarzen Schlüssel?

Kapitel 2

Der Treffpunkt im Traum und sein jähes Ende

Unter den Vermissten war auch Toms guter Freund Jason. Zunächst wollte er gar nicht auf das Fest gehen, weil ihm so komisch zumute war. Doch seine Eltern hatten ihn gezwungen, denn sie wollten die befreundeten Eltern des Jungen, der Geburtstag feierte, nicht enttäuschen.

Jason, Leo und Tom waren immer ein unschlagbares Dreigestirn gewesen. Sie hatten die verrücktesten Dinge miteinander gemacht, hatten immer viel zu lachen gehabt und waren unzertrennlich gewesen. Sie waren stets gemeinsam auf Entdeckungsreisen gegangen. Eines Tages hatten sie bei einem Stadtbummel in der Gasse des Unbekannten das Antiquariat vom verwirrten Heinrich besucht und darin eines der letzten Exemplare eines alten Buches über Magie und Träume gefunden. Keiner hatte bisher den verborgenen Schatz, der sich in diesem Buch versteckte, entdeckt. Zu sehr waren die Menschen mit anderen Dingen beschäftigt.

Für die drei Jungen war diese Entdeckung jedoch wie der Fund einer Goldgrube. Sie wollten unbedingt in geheimnisvolle, fremde Räume vordringen. Träume galten als geisterhafte Gebilde, die sie nicht steuern und beeinflussen konnten. Aber damit wollten sie sich nicht zufriedengeben. Womöglich gab es eine unbekannte Hintertreppe in dieses Reich der Träume. Voller Spannung lasen sie sich abwechselnd aus dem Buch vor. Bereits nach den ersten Seiten war ihnen klar, dass dies kein gewöhnliches Buch sein konnte. Auf den letzten zwölf Seiten zogen sie eindringliche Bilder in den Bann und ließen sie anschließend nicht mehr los. Sie stießen auf ein Bilderrätsel mit Symbolen, deren Botschaft sie verstehen mussten. Immer wieder tauchte die Zahl Zwölf auf und es war von einer eingeschworenen Gemeinschaft die Rede. Schließlich kamen sie darauf, dass sie auf das Ziffernblatt der Uhr drücken mussten, die in der Mitte eines Traumbildes zu sehen war. Die Zeiger standen auf zwölf Minuten nach zwölf. Sie probierten es aus, aber nichts geschah.

Sie versuchten weiter, das Rätsel um die Zahl Zwölf zu lüften. Schließlich hatte Tom einen seiner Lichtblicke, die dummerweise nur fern der Schule funktionierten. Er fand heraus, dass sie zwölf Tage vor dem neuen Jahr alle ihre Daumen übereinander auf das Ziffernblatt im Bild legen mussten. Es war offenbar ein magischer Fixpunkt mit besonderer Wirkung, vorausgesetzt, alles war am rechten Platz. In der folgenden Nacht sollten sie auf ihre Träume achten.

Die Zeit des Wartens war kaum auszuhalten, so gespannt waren sie. Sie folgten den Anweisungen aus dem Buch, trennten sich und gingen ins Bett. Und während sie schliefen, geschah etwas Wundersames: Tom, Leo und Jason konnten sich im Traum sehen und zusammen sein. Sie schwebten durch einen Wald und sahen ein von den Strömungen der Nachtluft geschwungenes Haus mit witzigen Türmchen, die Lichtsignale aussandten wie Leuchttürme. Vor dem Haus lauerten zwei magische Wächter und beobachteten die drei Jungen. Sie waren vogelartige Wesen, sogenannte Traugoyles, die für absolute Sicherheit sorgten. Nur wegen der im Traumbuch beschriebenen Geste der Verbundenheit erhielten Tom, Leo und Jason Einlass.

Langsam öffneten sie die Tür und staunten über den geheimnisvollen Charakter, den der einzige Raum ausstrahlte. Er war fast leer, nur drei schwebende Sessel sowie ein runder Tisch und ein offener Kamin mit frech tanzenden Feuerzungen befanden sich darin. Hier konnten sie sich treffen und miteinander reden. Auf diese Weise waren sie nachts nie mehr alleine. Dieser Ort wurde zu ihrem magischen Treffpunkt, in den keiner eindringen konnte. Er war sicherer als jeder meterdicke Bunker. Ihr Suchen war belohnt worden. Sie hatten eine absolut lehrer- und elternfreie Zone entdeckt. Einen Ort, den es eigentlich nicht gab. Das war perfekt.

Anfangs gruselte es sie vor dieser Entdeckung, doch irgendwann gewöhnten sie sich an den nächtlichen Flug ins Traumhaus. Obwohl der einzige Raum nur spärlich ausgestattet war, hatte er mehr Stil und Charakter als alle Zimmer, die sie je gesehen hatten. In ihm steckte so etwas wie die Magie der drei unverfälschten Seelen, denn nur hier an diesem sicheren Ort konnten sie so sein, wie sie wirklich waren. Nirgendwo sonst fühlten sie sich so frei und gleichzeitig geschützt. Sie hüteten dieses Geheimnis wie einen kostbaren Schatz. Leo hatte gar die Hoffnung, endlich Wege zu finden, wie er seine Albträume beeinflussen könnte. Er überlegte sich, wie er kleine Beschützerwesen losschicken könnte, die für Ordnung sorgten. Bissige Monster hätten so keine Chance mehr, weil sie sofort von seiner traumhaften Schutztruppe verfolgt würden. Dann könnte er nachts endlich Ruhe finden. Das waren wirklich schöne Aussichten. Sie fühlten sich alle wie junge Traumforscher.

Die anderen Kinder spürten, dass die drei etwas Sonderbares verband, doch keiner ahnte, was es war. Nichts konnte die Freunde auseinanderbringen, sie hielten wie Pech und Schwefel zusammen.

Doch mitten in dieser fabelhaften Zeit passierte dann das Unvorstellbare, das jeden Atemzug von Tom schwerer werden ließ. Jason wurde zusammen mit den anderen Kindern aus ihrer Mitte gerissen. Alle Kinder blieben verschollen. Leo und Tom bekamen Bauchkrämpfe, als sie davon hörten. Sie fühlten sich, als wäre ein Teil von ihnen gewaltsam herausgerissen worden. Sie suchten Jason überall, doch nach Tagen gaben sie auf. Auf das Schild mit dem Warnhinweis konnten sie sich keinen Reim machen.

Es gab gute Gründe, warum Tom die Zusammenhänge nicht erkennen konnte. Er hatte etwas Bedeutsames aus seiner Erinnerung verbannt. Erst viel später konnte er den verlorenen Faden wieder aufnehmen. Aber es brauchte seine Zeit. Einige Wunden mussten zunächst verheilen.

Und noch etwas war verloren gegangen: ihre Fähigkeit, nachts ihr Traumhaus aufzusuchen. Es war aus und vorbei mit den gemeinsamen Treffen im Schlaf. Unaufhörlich versuchten sie, das Ritual zu wiederholen, indem sie beide Daumen aufeinander auf das Ziffernblatt der Uhr aus dem alten Buch drückten. Aber nachts im Traum tat sich nichts. Sie konnten sich nicht zu zweit treffen und auch Jason nicht mehr sehen, geschweige denn ihn fragen, wo er sich befindet. Sie überlegten sich unentwegt, was passiert sein könnte. Aber sie fanden keine Antwort. Sie hatten nur die vage Vermutung, dass es etwas mit der Verbindung zwischen ihnen dreien zu tun haben musste. Jasons Verschwinden hatte scheinbar auch die magische Wirkung der Träume gelöscht.

Tom suchte krampfhaft nach einer Spur in seinem Kopf, aber in ihm herrschte nur Chaos. Er fühlte sich wie hinter festen Mauern angekettet, abgeschnitten von einer geheimnisvollen Geschichte.

Alle waren verstört. Nach Einbruch der Dunkelheit wagte sich niemand mehr auf die Straße. Keiner konnte ahnen, dass sie Teil einer mysteriösen, düsteren Geschichte waren, in die erst nach und nach Licht kommen sollte. Die betroffenen Eltern waren nach dem Verschwinden der Kinder erst erschüttert und dann wie gelähmt. Viele vermuteten, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Verbrechen handelte. Die wildesten Spekulationen machten die Runde.

Im Treue Troppe, wie die Bewohner ihren Dorfkrug liebevoll nannten, qualmten sich die Leute die Lunge aus der Seele, stopften ihre Bäuche mit Handkäs voll und betranken sich so mit prickelndem Stöffche, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnten und nur noch dummes Zeug faselten. Bei manchen Bewohnern blühte die Erinnerung an den früheren Geheimbund wieder auf. Mit seiner Existenz war das Leben der Kinder im Ort absolut sicher gewesen. Verbrecher hatten sich kaum getraut, den Heranwachsenden Leid zuzufügen. Das war jedoch Vergangenheit, und keiner wusste, wie die alte Sicherheit zurückkehren könnte oder wie sie die Kinder ausfindig machen und retten könnten.

Während die anderen Jungen über neu entdeckte Pickel in ihrem Gesicht jammerten, die einem Weltuntergang gleichkamen, hatte Tom Wichtigeres im Sinn. Wo die anderen aufhörten zu denken, weil sie gebannt in den Spiegel starrten, fing Toms Forscherdrang erst an. Das war sein Vorteil, den jedoch bisher keiner erkannt hatte. Er schwor sich, dass niemand es in Zukunft wagen sollte, ihn zu unterschätzen. In ihm schlummerten Schätze, von denen andere nicht einmal träumen konnten.

Kapitel 3

Das grüne Buch

Tom schaute mit leerem Blick aus dem Fenster, um irgendwo in der Ferne, am Horizont, einen Hoffnungsschimmer zu entdecken. Vielleicht hatte er einen genialen Einfall oder es kam wenigstens eine gute Nebelfee vorbei, um ihm einen Hinweis über den Verbleib von Jason zu geben.

Der Sturm, der den ganzen Abend draußen gewütet hatte, hatte sich inzwischen gelegt. Tom war müde vom Grübeln und wollte schlafen gehen. Doch die unruhigen Gedanken ließen ihn lange nicht los. Schließlich siegte aber seine Müdigkeit. Es war eine sternenklare Nacht. In einigen Tagen würde Vollmond sein. Doch der Mond schien schon jetzt grell auf die ansonsten dunkle Erde herab. Selbst der heulende Schäferhund Raubar aus dem Nachbarhaus, der jedes Mal spürte, wenn es den Menschen schlecht ging, verstummte. Plötzlich schoss ein Lichtkegel mit ungeheurer Geschwindigkeit in den Garten der Familie Dark. Als er den Boden berührte, zischte es laut.

Tom wurde aus dem Schlaf gerissen. Er schüttelte sich und zitterte am ganzen Körper. In null Komma nichts saß er senkrecht im Bett. Verwirrt starrte er in den dunklen Raum. Im nächsten Moment fegte ein aufbrausender Wind durch sein gekipptes Fenster. Der dunkelblaue Vorhang bewegte sich hin und her. Gleißende Blitze durchzuckten den Nachthimmel, direkt gefolgt von ohrenbetäubendem Donner. Solche Gewittergeräusche hatte er noch nie gehört, es war, als kämen sie nicht von dieser Welt. Plötzlich ertönte ein dumpfer Schlag, vermutlich in der Nähe seines Fensters. Sein Atem stockte. Regungslos spitzte er die Ohren und wartete auf weitere Zeichen. Da…, war da etwas? Ein Schatten tauchte aus dem Nichts auf, danach ein pulsierendes Licht. Unmittelbar darauf klopfte es an seinem Fenster. Kleine Pause. Dann erneut dieses Klopfen. Gebannt wartete Tom auf weitere Ereignisse. Er traute sich nicht aus seinem Bett heraus, saß wie erstarrt da. Dann war plötzlich alles wieder ganz ruhig. Der Wind hatte sich gelegt.

Als Tom sich etwas von dem Schreck erholt hatte, die Starre sich löste und sein Puls wieder normal war, stieg er hastig aus seinem Bett. Ziellos lief er im Zimmer hin und her. »Autsch«, jammerte er da plötzlich auf. Er war auf einen spitzen Gegenstand getreten. Im schimmernden Mondlicht, das durch die Vorhänge schien, konnte er kaum etwas sehen. Er schob die Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster. In vollen Zügen atmete er die frische Luft ein. Sein Kopf wurde klarer. Nichts regte sich. Nur ein flackerndes Licht verlor sich langsam im Nebel. Gedanken an frühere Zeiten kamen auf. Er wunderte sich, dass der Schäferhund nun so still war, hatte er doch die letzten Nächte durchgeheult. Nach den ungewöhnlichen Ereignissen der vergangenen Monate fühlte sich in Krummberg keiner mehr sicher. Deswegen zögerte Tom. Sollte er alleine nach draußen gehen und nachsehen, was los war? Einfach ins Bett gehen und weiterschlafen konnte er nicht. Es herrschte Totenstille. Vielleicht hatte doch eine gute Fee ein Einsehen mit ihm gehabt und eine Nachricht hinterlassen.

Er nahm all seinen Mut zusammen, ging nach unten und schlich sich durch die Terrassentür in den Garten. Hoffentlich musste er nicht bis in die Sümpfe gehen. Die Gegend hatte er seit dem Verschwinden seines Großvaters gemieden, auch wenn es ihn immer wieder dorthin gezogen hatte. Er versuchte leise zu sein, um seine Mutter nicht zu wecken. Mit einer Taschenlampe wollte er auf dem feuchten Rasen nach Spuren suchen. Zunächst konnte er nichts Auffälliges erkennen, doch dann zeigte sich im Licht ein schwarzer Kreis, der in den Rasen eingebrannt schien. Es roch nach verbranntem Gras und Metall.

Voller Ekel rümpfte Tom seine Nase. Das runde Loch im Rasen war nicht viel größer als der Umfang eines Fußballs. Darin lag ein kleines grünes Buch. Nach kurzem Zögern hob er es vorsichtig auf und ging zurück ins Haus und in sein Zimmer.

Wie seltsam! Als er das Buch aufschlug, waren darin nur leere Seiten. Anscheinend wollte ihn jemand reinlegen, ihm Angst machen oder zum Narren halten. Verärgert und enttäuscht legte er das Buch auf seinen Nachttisch.

So aufregend das alles auch war, der Blick auf die Uhr, die halb vier zeigte, und die Tatsache, dass er nur noch dreieinhalb Stunden bis zum Aufstehen hatte, trieben ihn in den Schlaf. Morgen war auch noch ein Tag, um weitere Nachforschungen anzustellen. Auf Anhieb konnte er ohnehin nicht klären, warum die Seiten im Buch leer waren.

Tom war ein unruhiger Junge, vielfach unterschätzt und von Lehrern für talentfrei gehalten, zudem eigensinnig bis in die Haarspitzen. Schmale Lippen, leicht lockige, schwarze Haare bis knapp über die Ohren, die mal mit blauen, mal mit dunkelroten Strähnen aufgepeppt wurden. Manche hielten ihn für mager, was ihn ziemlich nervte. Einige nannten ihn Spargeltarzan, weil er so dünne Beine hatte. Auch wurde er deswegen schon mit einem Storch verglichen. All das machte ihn aber nicht mehr wirklich wütend.

Er gehörte zu jenem Typ Abenteurer, der den Dingen auf den Grund gehen wollte. Spukgeschichten und rätselhafte Dinge zogen ihn in den Bann, seitdem sein Großvater durch die Sümpfe gezogen war, bis er verschwand. Abschalten konnte er schlecht. Andererseits konnte er äußerst geduldig und aufmerksam sein. Er nahm mehr Dinge wahr als andere, allerdings konnte er manchmal keine Ordnung in seinem Chaos finden. Auch sein Vater war eines Tages abgetaucht und wurde seitdem vermisst.

Seine Dreierbande mit Leo und Jason war wie eine Ersatzfamilie gewesen, auf die er sich hundertprozentig verlassen konnte. Es gab so viele verrückte Jungen da draußen, warum musste es ausgerechnet Jason erwischen, dachte Tom immer wieder. Die Welt war nicht gerecht, und der Wahnsinn lauerte in jeder verdammten Ecke. Vor allem hatte er begriffen, dass man etwas Vertrautes jederzeit leicht verlieren konnte. Seine blutjunge Seele wurde auf eine harte Probe gestellt. Seine Familie war ein einziger Scherbenhaufen. Jetzt blieben ihm nur noch seine Mutter und sein Freund Leo, der ebenso fassungslos und betrübt war.

Leo Hackedom, auch Hacker genannt, war Spezialist in Sachen Computer und hatte selbst schon erste Programme geschrieben. Leo war fast 13, genau wie Tom und Jason, und lebte in einem Kinderheim. Nach den grauenvollen Ereignissen zog er sich zunehmend in seine Computerwelt zurück. Selbst Tom hatte große Mühe, ihn von seinem bunten, lauten Flimmerkasten wegzuholen. Es schien, als würde er sich mit den Spielen seinen Kummer von der Seele schießen wollen. Bei genauerem Hinschauen sah er jedoch aus, als habe er resigniert.

Am nächsten Morgen hatte sich wie gewohnt dichter Nebel über den Runzelpfad gelegt, der auffällig glitzerte, als hätte es in der Nacht Sterne geregnet. Eigentlich war Tom eine Nachteule und er liebte es, bis spät in den Tag hinein zu schlafen, doch sein Wecker riss ihn aus allen Träumen. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und mühte sich durch die neblige Luft. Der schrille Ruf seiner Mutter durchzuckte seine müden Glieder: »T-o-o-m, aufstehen, sieben Uhr!«

Jetzt war er wach. Der Morgenmuffel musste in die Gänge kommen. Jeder Tag begann mit dem gleichen Theater, erst dieser grausame Wecker und dann seine Mutter mit ihrem Geschrei. Dabei wäre er so gerne zu Hause geblieben, um sich das grüne Buch näher anzuschauen.

Er dachte an die Schule. In den letzten Wochen hatte er Ärger mit einem gewissen Wörlitz gehabt. Der Streit mit ihm war eine willkommene Ablenkung gewesen. Jetzt bloß nicht unangenehm auffallen, sagte er sich und beschloss kurzerhand, das Buch mitzunehmen. Dann suchte er seine beliebig im Raum verteilten Klamotten zusammen, steckte das Buch in den Hosenbund und klemmte es am Gürtel unter seinem Pullover fest. Waschen und Zähneputzen verliefen im Schnelldurchgang. Er polterte geräuschvoll die Treppe herunter und schlürfte widerwillig einige Löffel mit Cornflakes. Seine Mutter wollte ihm noch einen dieser halb nassen Küsse verpassen, auf die er verzichten konnte. Tom war auch zum Glück bereits aus der Tür gehastet.

Sie rief ihm hinterher: »T-o-o-m, du hast dein Pausenbrot vergessen.« Ihre Worte hallten wie ein Echo nach, gleich einem Lasso, das jeden Wilden einfing. Jetzt eilig einen Konter starten, sonst war er gefangen. »Habe eh keinen Hunger«, rief er zurück und lief eilig auf die Straße, um den Bus nicht zu verpassen.

Gut so, gerade noch entkommen. Als er in den Bus stieg, spürte er dicke Luft auf sich zuströmen. Schon seit Tagen herrschte in den öffentlichen Verkehrsmitteln eine angespannte Stimmung. Er musste an Wolle Wörlitz vorbei, dem besten Beat-Boxer weit und breit. Er hatte sich einige Rettungsringe angefuttert, seit er auf einer Reise zwei Kumpels verloren hatte. Von vielen wurde er verehrt, für andere war er eine Reizfigur mit einem dieser frechen Gesichter, das man spontan als Boxsack benutzen möchte. Er war der Kopf einer Jugendgang. Sie sahen sich als Endzeitrocker, voller Untergangsstimmung. Im Keller einer alten Fabrik war ihr Proberaum. Dort konnten sie sich austoben und sich überflüssige Gedanken aus dem Kopf schreien.

Wolle konnte seinen Mund wieder nicht halten, verzog sein Gesicht und hielt sich angeekelt die Nase zu: »Puh, das Lauchgesicht verbreitet schlechte Luft! Ihr müsst ein Nachsehen mit ihm haben, sein Freund, der arme Jason, ist verschwunden. Es gärt in ihm und am Ende kommen,… puh, ihr wisst schon, was ich meine, raus. Haltet etwas Abstand.«

Seine Mitläufer, die er um sich geschart hatte, rümpften ebenfalls die Nasen, wichen zurück und grinsten blöd.

Tom versuchte cool zu bleiben und sich nicht provozieren zu lassen, die Lage in Krummberg am Schwarzen Rotzkopf war schon genug aufgeheizt. Der heftige Streit zwischen Tom und Wolle vor einigen Wochen war längst Vergangenheit, aber in ihren Hinterköpfen noch nicht verblasst. Beide waren ausgerastet. Es folgte eine wilde Prügelei, am Ende gab es blutige Nasen und unzählige blaue Flecke. Diese Aktion blieb nicht ohne Folgen. Beide mussten eine Woche lang dem Hausmeister beim Streichen von Wänden und bei der Pflege der Gartenanlagen helfen. Die Mitschüler amüsierten sich köstlich darüber. Jetzt mussten sie auch noch in ihrer Freizeit die Schule besuchen.

Tom war in letzter Zeit ohnehin nicht nach Schule zumute. Sein Abenteuerdrang und sein detektivischer Spürsinn sehnten sich nach wichtigeren Dingen als danach, langweilige Klassiker zu lesen oder Vokabeln zu büffeln. Manchmal hatte er das Gefühl, jede Begabung sei spurlos an ihm vorbeigerauscht wie der Halley‘sche Komet an der Erde. Doch vage spürte er, dass die Zeit der Befreiung schon kommen würde.

Locker hatte er sich nun an dem Dicken vorbeigeschoben. Wolle beließ es bei abfälligen Gesten und kleinen Beat-Box-Einlagen. Alle schienen sich krampfhaft zusammenzureißen.

Als alle später im Klassenraum über Matheaufgaben und schwierigen Texten saßen, holte Tom heimlich das kleine grüne Buch unter seinem Tisch hervor, drehte es und strich tastend über das Papier. Doch Frau Grimmilch hatte leider einen siebten Sinn, was Störenfriede anging. Diese Verweigerer ihres Unterrichts hasste sie zutiefst, die ließen ihr die Galle überlaufen. Und so kam es, wie es kommen musste. Räuspernd und mit giftiger Miene rief sie in Toms Richtung: »Tom Dark!«

Als Tom seinen Namen hörte, zuckte er zusammen und erschrak. Warum konnte die Giftspritze ihn nicht in Ruhe und seine dringenden Untersuchungen machen lassen? Er war verärgert, auch weil alle so ahnungslos waren. Er hatte schließlich sein eigenes Forschungsprogramm. Und in dem waren Spiel, Abenteuer und harte Arbeit vereint. Das gab es hier an diesem verkopften Ort schon lange nicht mehr. Der Stoff kam einfach nicht in seinen Gehirnzellen an. Neuronal feuerte es schon lange nicht mehr in ihm, dabei hätte es so spannend sein können, wenn sie nur mit den richtigen Inhalten gefüttert würden.

»Ist dir meine Stunde zu langweilig? Zeig mal, was du unter deinem Tisch hast. Es scheint interessanter zu sein als mein Unterricht«, fuhr die Grimmilch fort.

Tom wollte sich weigern, das grüne Buch herauszurücken. Doch in dem Punkt war Frau Grimmilch gnadenlos. Macht und Kontrolle waren ihre Spezialfächer. Zunächst drohte sie wie eine endlos züngelnde Giftnatter, dann näherte sie sich mit stampfenden Schritten, die an ein gepanzertes Nashorn erinnerten. »Her damit, sonst nehme ich es dir ganz ab«, befahl sie gebieterisch.

Tom blieb nichts anderes, als den versteckten Gegenstand zu zeigen. Überrascht nahm Frau Grimmilch das Buch entgegen. »Was haben wir denn da? Ich dachte, du hättest ein elektronisches Spielzeug unter der Bank. Wie man sich täuschen kann. Seit wann interessieren dich Bücher, Tom? Ist mir da etwas entgangen?« Ihre Worte fühlten sich an wie blanker Spott und Hohn, die Toms lädierte Seele umkreisten wie Giftschwaden, gebraut aus ätzender Buchstabensuppe.

Wolle Wörlitz kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen, auch die anderen grinsten, kicherten oder pressten die Hand vor den Mund, um dann lauthals zu prusten. Nur Tom hätte ausrasten können. Am liebsten hätte er seine Klassenlehrerin verdampfen lassen oder pulverisiert oder in einen breiigen Zustand verwandelt. Aber dazu fehlten ihm im Moment die Zaubermittel. Vielleicht waren sie ja in dem Buch versteckt. Nur die Aussicht, das Buch ganz abgenommen zu bekommen, hinderte ihn daran, auszuflippen.

Frau Grimmilch blätterte darin. Als sie nur leere Seiten sah, schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß, du hast in letzter Zeit einiges mitgemacht. Brauchst du etwa Hilfe? Bücher und du, das ist wie ein Paar falsche Schuhe. Aber warum leere Seiten? Sind sie ein Spiegel deiner Seele? Oder willst du das Buch etwa mit eigenen Worten füllen? Vielleicht ein Tagebuch? Das wäre allerdings gar nicht so schlecht. Dann kannst du deine Gedanken etwas sortieren und deinen Kummer in Worte fassen. Damit habt ihr Jungen ja oft Probleme. Die Sprache ist eben nicht euer liebstes Turngerät. Ihr haut euch die Sorgen lieber aus dem Bauch raus. Stimmt’s oder habe ich recht?«

Vor so viel zynischer Wahrheit musste Tom einfach kapitulieren. Bei der ganzen Peinlichkeit wäre er eh am liebsten im Boden versunken. Er fühlte sich wie eine arme Sau, die durchs grölende Dorf getrieben wurde, wobei alle anderen sich köstlich und gnadenlos amüsierten. Doch er fing sich langsam und hisste die weiße Fahne, indem er verlegen grinste und nickte. Und seine Lehrerin hatte schließlich Erbarmen mit ihm. Sie schlug vor, dass er sein Buch in die Schultasche stecken sollte. Wenn sie ihn noch einmal dabei erwischen würde, wäre es allerdings fort.

Frau Grimmilch war befriedigt, hatte sie doch ihren Auftritt und die Lacher auf ihrer Seite gehabt. Tom war zerknirscht, aber auch etwas erleichtert, dass er noch im Besitz des geheimnisvollen Buches war. Die ganze Aktion hätte auch anders ausgehen können.

Kapitel 4

Verborgene Botschaften

Seine Neugierde ließ ihm dennoch keine Ruhe. In der Pause verschwand er auf die Toilette, um dort die Seiten genauer zu prüfen. Leider fand er immer noch keinen Hinweis, geschweige denn einen Text. Als endlich Schulschluss war, beeilte sich Tom mehr als sonst, nach Hause zu kommen. Nach dem Mittagessen ging er in sein Zimmer unter dem Vorwand, seine Hausaufgaben zu machen. Erneut nahm er das Buch zur Hand. Wie und vor allem warum war es in ihren Garten gekommen? Er blätterte durch die Seiten und fand schließlich etwas. Merkwürdig, bis heute Morgen in der Schule war da nichts gewesen. In großen schwarzen Buchstaben stand dort jetzt:

Verborgene Botschaft… Suche nach den Wörtern…

Er blätterte weiter, schüttelte ratlos den Kopf, weil er sonst nur die leeren Seiten sah. Was konnte das bedeuten? Warum sollte ihm jemand auf diesem Wege eine Botschaft zukommen lassen? Oder war alles nur ein blöder Scherz? Aber irgendetwas musste ja dran sein, schließlich hatte er letzte Nacht das grelle Licht gesehen und etwas gehört. Und dann der schwarze Kreis und der merkwürdige Wind. Vielleicht war dies ein erster Hinweis auf den Verbleib von Jason und den anderen Kindern.

Tom wusste nur allzu gut, dass Jason und Leo genauso fieberhaft nach ihm suchen würden, wenn man ihn gefangen hätte. Plötzlich bekam seine Seele Flügel und sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Er untersuchte die leeren Seiten des grünen Buches genauer, nahm das Papier zwischen die Finger. Es fühlte sich rau an. Spontan nahm er die flache Seite einer Bleistiftspitze und übermalte das Papier grau. Zunehmend wurden erste Buchstaben, dann ganze Wörter sichtbar. Als er die ganze Seite überstrichen hatte, las er mit Herzklopfen den nun sichtbaren Text:

Nachrichten aus den Dörfern des Blauen Dreiecks. Keine Zeit für große Erklärungen. Die Vermissten befinden sich im Höllengrund, dem Meteoritenkrater der finsteren Mächte auf der Insel Wyst. Leider kann ich nicht helfen, bin ein Erwachsener, nur Halbwüchsige können sie befreien. Du musst zu uns nach Fernweh kommen. Das ist weit weg von eurem Planeten, aber durch ein Wurmloch mit ihm verbunden. Dort haben wir Hilfsmittel für dich. Durch die verborgene Tür und mithilfe dieses geheimen Wurmloches gelangst du zu uns. Diese verborgene Tür musst du finden. Die Rätsel der leeren Seiten im Buch müssen gelöst, die verlorenen Wörter sichtbar gemacht werden. So findest du wichtige Spuren. Sam Dreibart.

Als er diese Zeilen voller Aufregung las, entwickelte er neue Zuversicht. Er dachte an Jason und daran, wie er in irgendeiner Unterwelt hockte, womöglich gequält wurde und nicht wusste, wie er jemals nach Hause kommen sollte. Anstatt jedoch Trübsal zu blasen, packte Tom nun das Jagdfieber. Endlich hatte er eine Spur gefunden. Wo konnte die fremde Welt namens Fernweh sein? Dort musste auch das Blaue Dreieck liegen. Von einem Wurmloch hatte er zwar schon einmal etwas gehört, aber nicht auf der Erde. Das war eine absurde Vorstellung. Natürlich wäre es toll, die Grenzen der Raumzeit einfach auszutricksen und wie Supermann durch den Weltraum zu fliegen. Solche unheimlichen Orte übten auf Tom eine magische Anziehungskraft aus. Genauso wie die Gegend um den Runzelpfad.

Gleichzeitig fragte er sich immer wieder, ob ihn nicht vielleicht doch jemand reinlegen und in die Irre führen wollte. Das alles konnte auch eine Falle sein. Vielleicht waren die Kinder genau durch diese Geheimtür verschwunden. Fragen über Fragen schossen ihm durch den Kopf. Wo konnte diese Unterwelt sein und warum konnten nur Kinder die Gefangenen befreien? Und wer war dieser Dreibart, der sich auf einer Seite des grünen Buches angekündigt hatte? Welche Rolle spielte er in dieser ganzen Geschichte? Vor allem aber: Wo war diese verdammte Tür?

Auf jeden Fall musste er der Sache auf den Grund gehen. Er versuchte den Bleistifttrick auch auf den nächsten Seiten. Nichts passierte. Was steckte hinter, unter oder in diesen Seiten und wie sollte er Licht ins Dunkel bringen? Er konnte das Buch drehen, wie er wollte, nichts tat sich, die Seiten blieben leer. Ihm fiel keine Erklärung oder andere Lösung ein. Entnervt legte er das Buch wieder zur Seite, schaute aus dem Fenster und fragte sich, was er da eigentlich tat. Andere würden ihn für verrückt halten, weil er auf leere Seiten starrte und nach verlorenen Buchstaben Ausschau hielt. Sie fanden Bücher an sich schon langweilig und unbedruckte Papierseiten hätten sie vermutlich gleich in den Mülleimer geworfen. Wenn es wenigstens Hieroglyphen wären, die er entziffern könnte. Sie hatten eine tiefere Bedeutung, die sich herausfinden ließ. Aber unbeschriebene Seiten, auf denen er mit immer neuen Mitteln nach verlorenen Buchstaben suchen musste? Welchen Sinn konnte das haben?

Ratlos und ermüdet schleuderte er das Buch in die Ecke. Auch seine wiederholten nächtlichen Bemühungen, Zugang zum geheimen Treffpunkt im Traumhaus zu bekommen, scheiterten. Er fühlte sich wie ein hilfloser Anfänger.

Auch in den nächsten Tagen versuchte er immer wieder, die verborgene Botschaft zu finden, aber es gelang ihm nicht. Am vierten Tag wollte er schließlich aufgeben. Nach einigen verzweifelten Versuchen schossen ihm vor lauter Wut Tränen in die Augen und tropften auf eine leere Seite. Sie verteilten sich rasch und wurden vom Papier eingesogen. Tom wollte seinen Augen nicht trauen: Es kamen Buchstaben zum Vorschein. Dort stand:

Suche Opas Truhe.

Zum ersten Mal seit der verhängnisvollen Nacht, als sein Großvater aus dem Sumpf nicht mehr heimgekehrt war, tauchte eine Spur von ihm auf. Tom zuckte zusammen und zitterte vor Aufregung. Was hatte es mit der Truhe auf sich? Bisher hatte ihm keiner etwas von ihr erzählt. Wo konnte sie sein?

Er sprang auf, stürmte durchs Haus und suchte zuerst im Keller nach ihr. Doch neben den unzähligen Einmachgläsern mit Erdbeeren, Birnen, Mirabellen und Gewürzgurken fand er keinen Gegenstand, der so aussah wie eine Truhe. Lediglich die Kartoffelkiste befand sich noch im Einmachkeller. Darin lagen aber nur Kartoffeln und sonst gar nichts. Der fette Kürbis mit der frechen Fratze vom letzten Halloweenfest saß auf einem Stuhl, als warte er ungeduldig auf seinen nächsten Einsatz.

Wo konnte er noch suchen? Ihm fiel der Dachboden ein, der lange nicht mehr geöffnet worden war. Im Putzschrank fand er den Stab, mit dem die Dachluke geöffnet wurde. Er hakte ihn oben in den runden Eisenverschluss ein, zog einmal heftig daran, bis die Luke, die mit einer starken, aber rostigen Feder befestigt war, mit einem Ruck quietschend aufsprang. Eine Staubwolke wirbelte auf. Er löste den Haken, sodass der untere Teil nach unten schnellte und ihm fast auf die Füße donnerte. Im letzten Moment konnte er sie noch abfangen. Er betätigte den schwer gängigen Lichtschalter, der sich am oberen Ende der Treppe befand. Im nun herrschenden Zwielicht konnte er sehen, dass der Speicher einer Rumpelkammer glich. Vorsichtig schob er die dichten Spinnweben zur Seite und durchforstete Schritt für Schritt alte, verstaubte Kisten und Koffer. Plötzlich stach ihm ein dunkler Mahagonischrank in die Augen. Als er ihn vorsichtig öffnete, knarrten die verrosteten Scharniere fürchterlich. Der abgestandene Mief aus vielen Jahren kam ihm entgegen. Es roch nach vergammelten Mottenkugeln, alten Kleidern, abgetragenen Mänteln und einem Säckchen mit verblasstem Lavendel. Ansonsten fand er nichts darin. Er kramte weiter in den Ecken des Dachbodens. Unter modrigen, mottenzerfressenen Decken stand eine kleine, mit Schnitzereien verzierte Truhe, die mit einem Eisenbeschlag und einem Schloss versehen war. Er ruckelte daran, doch es war fest verschlossen. Wo konnte der Schlüssel sein?

Tom suchte die nächste Umgebung ab und ertastete alle Ritzen und Vorsprünge. Schließlich entdeckte er eine Holzdiele, die locker war. Er nahm sein Kaugummi, klebte es unter einen Stock, der zwischen einer alten Kommode und der Wand klemmte, und zog die Diele damit langsam hoch.

Da – ein Volltreffer: In einer Spalte lag ein Schlüssel. Tom wusste sofort, dass dies der Schlüssel für das Schloss war. Er nahm ihn und steckte ihn hinein. Er rüttelte und zog so lange daran, bis das Schloss aufsprang.

Toms Herz schlug ihm bis zum Hals. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er die Nähe seines Großvaters. Behutsam hob er den Deckel der Truhe nach oben. Zunächst fand er einen runden Gegenstand, der einem Kompass ähnelte. Dann einige gerade und einige gebogene Pfeifen und einen Tabakbeutel. Der geliebte Vanilleduft stieg ihm in die Nase. Eine süße Brise Kindheit wehte durch seine Seele. Der nächste Gegenstand, den er fand, sah aus wie ein antikes Okular. Darunter lag ein Heft. Das war wahrlich ein großer Fund: Opas Notizbuch! Vielleicht gab es darin eine Erklärung für sein Verschwinden. Mit weit aufgerissenen Augen las Tom:

Lieber Tom,

es tut mir leid, dass ich einfach verschwunden bin, ohne dir Bescheid zu geben. Der Sumpf ist meine Zuflucht geworden, hier bin ich geradezu versackt. Ich habe hier Freunde gefunden, die mir helfen. Stell mir bitte keine Fragen nach dem Warum. Es ist besser für uns beide, wenn dies ein Geheimnis bleibt. Vertraue mir. Der Aufenthalt in den Sümpfen hat noch weitere Vorteile: Die Leichtigkeit ist wieder zurück und meine Knochen schmerzen nicht mehr so sehr. Ich fühle mich wohl zwischen Moorbädern und Schlammpackungen. Einige rebellische Senioren haben hier eine fabelhafte Gemeinschaft im Sumpf geschaffen. Sie hatten es satt, in Altersheimen zu verblöden. Solch einen Ort habe ich schon immer gesucht.

Aber nun zu dir. Ein Freund namens Sam Dreibart hat dir mit dem grünen Buch eine Botschaft übermittelt. Sie ist aus guten Gründen verschlüsselt. Du kannst ihm vertrauen. Wie ich sehe, kommst du gut voran. Tränen können manchmal heilen, das sollten wir nicht vergessen.

Ich habe dir in meiner kleinen Schatztruhe neben der Sumpfkarte etwas Wertvolles hinterlassen. Was aussieht wie ein Okular, ist in Wahrheit eine besondere Lupe, mit der du versteckte Buchstaben sichtbar machen kannst. Sie funktioniert wie ein kleines Supermikroskop. Benutze sie für die nächsten leeren Seiten, die dir begegnen. Hast du die Wörter gefunden, dann streiche über sie und sprich sie aus. Warte ab, was passiert, und erschrick nicht. Wenn du eine Mulde siehst, drücke feste zuerst mit deinem Finger und dann mit deiner Faust darauf. Ausnahmsweise kannst du die Lupe mit nach Fernweh nehmen. Sie ist dein Übersetzer für seltsame Bücher. Ich bleibe in deiner Nähe, versprochen.

Nimm schließlich die letzten Seiten aus diesem Notizbuch und verbrenne sie. Das ist sicherer. Unsere mächtigen Feinde suchen verbissen nach Spuren. Traue keinem, nur dir selbst. Demnächst mehr…

Verwirrt kratzte sich Tom am Kopf. Offenbar war sein Großvater noch am Leben und hielt sich in den Sümpfen versteckt. Eine eigenartige Zuflucht für einen Opa. Und sein Opa war zwar immer schon für besondere Aktionen gut gewesen, aber damit hatte er den Vogel abgeschossen. Während andere sich im Altersheim pflegen ließen, war er im Moor abgetaucht. Entgeistert starrte Tom auf das Notizbuch. Dann riss er aufgewühlt die Seiten heraus, um sie mit in sein Zimmer zu nehmen und dort zu verbrennen. Er nahm die Lupe an sich und steckte sie ein. Die anderen Sachen rührte er nicht an. Am Ende verschloss er die Truhe sorgfältig wieder und legte den Schlüssel unter die Diele in die Ritze zurück.

Langsam stieg er die Leiter herunter. Da sah er plötzlich jemanden aus den Augenwinkeln. Fast wäre ihm sein Herz vor Schreck in die Hose gefallen – hinter ihm stand seine Mutter wie ein aufgescheuchtes Gespenst. Irritiert fragte sie ihn: »Was machst du auf dem Speicher? Du warst seit Urzeiten nicht mehr da oben. Keiner war dort mehr, seitdem dein Großvater verschwunden ist.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und musterte ihn. »Er war damals häufiger auf dem Dachboden, wenn er seine Ruhe haben und die Sterne anschauen wollte. Also, was hast du dort verloren?«

Tom fühlte sich ertappt und stammelte: »Ich? Och nichts, wollte nur mal sehen, ob ich noch Sachen von früher dort finde.«

»Sachen von früher? Was kann da schon sein, dieser alte Plunder. Außer Sperrmüll und Sachen für einen Flohmarkt mit schrulligen antiken Fundstücken gibt es dort nichts. Mach die Luke zu, sonst kommen die ganzen Spinnen ins Haus. Ist ja nicht zu glauben! Dieser Junge raubt mir den letzten Nerv.« Sie schüttelte verärgert den Kopf.

Tom seufzte. »Ja, Mam, Kummer und Sorgen bereiten Söhne nicht nur am Morgen.«

»Mach dich nur lustig über mich. Wirst schon sehen, das bekommt ihr alle später zurück, denk dran«, fuhr sie ihn an.

»Ja, Mam, ich weiß. Da geht wohl kein Weg dran vorbei«, schlaumeierte Tom, schob die Leiter zusammen und grinste, als wüsste er, wovon sie redete. Er ließ die hängende Dachtreppe nach oben knallen, sodass seine Mutter zusammenzuckte und sich die Ohren zuhielt. »‘Tschuldigung, Mam«, sagte er schnell.

»Oh, du…«, regte sie sich auf und stapfte die Treppe hinunter in die Küche, um sich mit einem Stück Schokolade zu beruhigen. Sie schien zu ahnen, dass ihr Sohn etwas im Schilde führte. Tom kehrte zurück in sein Zimmer. Als er sich sicher fühlte, holte er ein Schälchen und Streichhölzer hervor. Er las noch einmal Großvaters Zeilen, um ja nichts Falsches zu machen oder etwas zu vergessen, und zündete dann das Papier an. Er wartete, bis alles abgebrannt war. Dann kippte er die Asche in die Toilette und spülte sie hinunter. Er atmete auf. Die Spuren waren beseitigt. Müde legte er sich ins Bett, schlief ein und hatte die wildesten Träume.

Der folgende Tag verlief weitgehend ruhig, auch seine Mutter hatte wieder bessere Laune. Die dunklen Schatten unter den Augen waren wieder verschwunden. Und sie schlurfte nicht mehr so offensichtlich mit ihren Pantoffeln. Das machte sie immer, wenn sie sich über ihren Sohn geärgert hatte und sie der Kummer plagte. Das sollte er dann über die ganzen Flure hören. Eine regelrechte Qual für die Ohren war das. Heute jedoch war sie froh, dass ihr Sohn nicht mehr so schnell ausrastete und ihr Sorgen bereitete. Er schien ihr ausgeglichener als sonst zu sein. Obwohl sie noch eine Zeit lang wach war und darüber grübelte, was ihr Sohn wieder ausheckte, konnte sie zum Glück nicht darauf kommen, was ihn in den Bann zog. Lange schon hatte Tom nicht mehr vor solch einer großen Herausforderung gestanden.

Als er später in seinem Zimmer war, nahm er die Lupe in die Hand, öffnete das grüne Buch und die nächste leere Seite. Dann wagte er einen Blick durch das Okular. Doch nichts zeigte sich. Er suchte weiter nach den verlorenen Buchstaben. Millimeter für Millimeter. Da! Endlich! Winzige Wörter erschienen. Er drehte an der Lupe, mit der er in die Tiefe zoomen konnte. Jetzt waren drei Wörter gut lesbar. Langsam und erstaunt las er sie der Reihe nach: »Seltsam, öffne dich.« Das waren also die drei gesuchten Wörter. Er fuhr mit dem Finger über sie und sprach sie aus. Eine lähmende Stille überzog den Raum, der auf einmal mystische Züge bekam. Er wagte nicht zu atmen und starrte erwartungsvoll von einer Wand zur anderen. Da, endlich tat sich etwas neben dem Kleiderschrank. Nach einer kleinen Pause erschienen dort mit einem metallischen Geräusch die Konturen einer Tür. Tom staunte nicht schlecht. Hatte er wirklich mit seinem Finger, seiner Stimme und drei Zauberwörtern die Verbindung zu einer anderen Welt hergestellt? Unfassbar! Vor lauter Verwunderung fiel ihm das Buch aus der Hand. Langsam geriet sein magisches Blut in Wallung. Endlich war die Ferne, nach der er sich immer so gesehnt hatte, nah und erreichbar. Er spürte den Rausch von Freiheit und Abenteuer, der jeden klaren Gedanken vernebelte.

Wow, nicht schlecht, er hatte das Rätsel gelöst. Doch was jetzt? Sollte er durch die Tür gehen oder nicht? Führte sie zu den Helfern oder war sie das Tor ins Verhängnis? Skepsis kam in ihm auf. Wenn er jemandem trauen konnte, dann seinem Großvater. Er befolgte sogar seinen Rat, sein Geheimnis niemandem zu verraten. Obwohl es ihm schwerfiel, Leo nicht einzuweihen.

Tom atmete tief ein und aus und beschloss, bis Mitternacht zu warten, damit seine Mutter nichts merkte. Also schlug er das Buch wieder zu und die Tür verschwand, begleitet von einem Zischen.

Nun begann ein langweiliges Warten. Die Zeit wollte nicht vergehen. In seiner Fantasie malte Tom sich aus, was sich hinter der Tür befand. Doch er durfte sich von seinen Befürchtungen nicht verrückt machen lassen. Er war am Anfang einer bedeutsamen Reise. Ob es in diesem Wurmloch wohl dunkel war?

Kapitel 5

Böses Erwachen

Ein kurzer Gedankenblitz flitzte durch seinen vernebelten, auf Sparflamme laufenden Brummschädel. Er signalisierte so etwas wie »Aufwachen«. Jason wusste nicht genau, ob er sich noch in seinem Körper befand oder anderweitig am Leben gehalten wurde. Er versuchte, seine Augenlider zu öffnen. Sie fühlten sich bleischwer an und ließen sich kaum bewegen. Langsam spürte er, wie das Blut durch seine Ohren rauschte und zunehmend auch sein Gehirn wieder mit Sauerstoff versorgt wurde. Das wäre besser nicht geschehen. Denn jetzt kam unaufhaltsam der Schmerz und mit ihm die Gewissheit, dass er noch in seinem Körper lebte.

Sein Bewusstsein schien tausend Jahre fort gewesen zu sein und jetzt sollte es zurückfinden in diesen malträtierten Schädel und Körper. Und seine Seele? Wo war sie geblieben? Zusammengestaucht in einer dreckigen, verdammten Ecke.

Jasons Zustand war wahrlich als elendig und mitleiderweckend zu bezeichnen. Dringend hätte er Hilfe benötigt. Er spürte, dass er richtig aufwachen musste, um zu erfahren, wo er sich befand. Als er es schließlich geschafft hatte, seine müden Augenlider zu öffnen, blickte er auf ein dunkles Eisengitter. Ein widerlicher, beißender Gestank kam ihm entgegen, der sich mit der sauerstoffarmen Luft zu einer bestialischen Mischung verband. Ist das der Vorkeller zur Hölle, fragte er sich unsicher.

In dem schrecklichen Raum war es so dunkel, dass er gerade mal seine Hände vor dem Gesicht sehen konnte. Er versuchte sich aufzurichten. Einige Knochen knackten, als hätten sie erst jetzt ihren richtigen Platz wiedergefunden. Er schaute sich um und sah oben eine winzige Öffnung, durch die Dämmerlicht und leicht verbrannt riechende Luft in den Raum strömten. Er dachte zunächst an Flucht, doch bei genauerem Hinsehen war ihm sofort klar, dass dies ein auswegloses Unterfangen sein würde.

Jason versuchte seinen Mund zu öffnen, der trocken war wie nach einem staubigen Wüstenritt auf einem Kamel. Er sehnte sich nach einem kühlen Schluck Wasser. Für einen Tropfen auf seiner Zunge hätte er einen ganzen Sack voller Geld hergegeben, wenn er ihn gehabt hätte. Als sich dieser Wunsch zu unerträglicher Gier gesteigert hatte, bewegte sich etwas im finsteren Gang. Eine Gestalt kam auf ihn zu. Je mehr sie sich näherte, desto penetranter wurde der Gestank. Beißender Schweiß strömte in Jasons Nase. Er konnte kaum hinsehen, so schrecklich sah das Wesen aus. Nein, ein Mensch konnte der Bucklige nicht sein, dafür war er zu hässlich, im Gesicht zu behaart und mit Hornhaut versehen. Und sprechen konnte das Wesen offenbar auch nicht, nur einige seltsame Brummlaute polterten aus seinem fiesen Maul heraus, direkt gefolgt von einer harten Welle breiig gewordener Knoblauchzehen, die er wohl gerade in seinem Mund zerkaut hatte.

Doch die ersten Eindrücke schienen zu täuschen. Dieser eklige Mistkerl hatte tatsächlich etwas Gutes in der Hand: einen Becher und ein Stück Brot, die er durch das Gitter schob und auf den Boden stellte, wobei er einen abartigen Brummlaut von sich gab.

Jason war durstig und hungrig. Gierig griff er danach und leerte den Becher Wasser mit drei Schlucken. Die letzten Tropfen sog er verzweifelt in seinen immer noch durstenden Schlund. Danach schnappte er sich das Stück Brot und stopfte es in seinen Mund. Das war gut und gab ihm wieder etwas Kraft. Schleppend fragte er nun das Wesen: »Hey, wo bin ich hier? Was habt ihr mit mir vor?«

Doch die Kreatur verschwand wieder, schwang in der linken Hand lässig eine Dornenkeule und brachte nur einige dumpfe Laute heraus.

»Komm zurück, übel riechender Mistkerl«, rief Jason hinter ihr her. Aber die Kreatur kam natürlich nicht zurück. Leise fluchte Jason vor sich hin: »Eine Dusche gibt’s hier vermutlich nicht.«

Die Gestalt hatte sich inzwischen wieder irgendwo im Gang niedergelassen und schmatzte unaufhörlich. Nach einer Weile waren gequälte Presslaute zu hören, denen unmissverständliche Geräusche folgten. Im Keller verteilte sich in Windeseile der Geruch einer konzentrierten Stinkbombe. Die Qualität der Luft war fortan nicht mehr mit Worten zu beschreiben. Jason versuchte aufzustehen, torkelte schlaftrunken und kraftlos durch den Raum. Plötzlich wurde sein Bewegungsdrang abrupt gestoppt. Was war das? Er war tatsächlich angekettet. »Verdammte Räuberbande, was habe ich euch getan?«, schrie er in den stickigen Keller und rüttelte vehement an den Ketten.