Tonnensplitter - Johannes Petereit - E-Book

Tonnensplitter E-Book

Johannes Petereit

4,8

Beschreibung

Bleiben Gedanken immer verborgen? Oder können sie manchmal ausschwärmen und einen anderen Menschen erreichen? Und was geschieht, wenn sie wirklich erhört werden? Marian Waenkler ist mit Anfang Dreißig scheinbar auf dem Höhepunkt seines Lebens angekommen. Doch eine außereheliche Affäre wirft ihn unerwartet aus gefestigten Bahnen. Er ist verunsichert, sucht nach Auswegen, Lösungen, Antworten. Aber er fällt tiefer und tiefer. Schließlich zieht er sich wie sein Philosophen-Vorbild Diogenes von Sinope in eine Tonne zurück. Marian begibt sich auf eine innere Reise und versucht ein Gedankenübertragungs-Experiment mit der Außenwelt. Er ahnt nicht, dass er dadurch eine Reihe schicksalhafter Ereignisse in Gang setzt. An der istrischen Adriaküste leidet zur gleichen Zeit Paul Rothschild in seiner Villa an nicht mehr beherrschbaren Halluzinationen. Und beginnt sie aufzuschreiben. Nur wenige Wochen später steht Marian Waenkler vor seiner Haustür ... In seinem zweiten Roman präsentiert Johannes Petereit eine fesselnde Geschichte, die geschickt unsere Einstellungen zu Vorstellung und Wirklichkeit hinterfragt. Mit philosophisch-magischer Erzählkraft entwirft der Autor eine Welt berührender Schicksale, skurriler Begebenheiten und überraschender Wendungen.

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für Kyra

Inhaltsverzeichnis

Teil: Frühling

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Teil: Sommer

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Teil: Herbst

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Teil: Winter und neuer Frühling

20. Kapitel

21. Kapitel

Epilog

1. TEIL

Frühling

1. Kapitel

Lächerlich, krank und unnütz - so kommt es mir vor, je länger ich in dieser Tonne hocke.

Das, was mich ausmachte, verrottet langsam. Es stinkt nach Verwesung. Ich stinke. Aus allen Poren des Körpers und der Seele. Und mit jedem weiteren Tag werde ich mir selbst unsympathischer, rätselhafter, fremder -

Es fing mit Livia an. Vor genau siebenundneunzig Tagen. Sie stand plötzlich vor mir und brannte sich mit maßloser Rücksichtslosigkeit in mein Herz ein.

Sie lächelte: auffordernd.

Ich lächelte: geschmeichelt.

Dann lächelten wir: uns an.

Wie banal und geheimnisvoll zugleich ... Dieses anziehende Lächeln nahm mich vom ersten Augenblick an gefangen.

Ich dachte, dass ich dem Unheil entrinnen könnte und hielt es für logischer, meine rasch aufziehenden Gefühlsstürme nicht zu verdrängen. Ich wollte mich meinen inneren Gewittern stellen, sie begreifen, sie mit Selbstbeherrschung bewältigen, mich schnell von der Leidenschaft läutern.

Versuchte sogar, die katastrophalen Folgen der Entscheidung für eine Affäre mit Livia in all ihren einzelnen Stadien gefühlsmäßig vorwegzunehmen, sie in ihrer Unerbittlichkeit zu durchleben.

Ich spürte sogar das Leid.

Mein Leid.

Bettys Leid.

Livias Leid.

Ganz unmittelbar: Tief bebendes Leid. (Konnte mich schon immer in eingebildeten Gefühlszuständen verlieren.) Doch trotzdem veränderte dies nicht meine Entscheidung für Livia. Und ihr Lächeln.

So nahm ich das Verderben bewusst in Kauf. Selbst Gott ließ es zu. Obwohl ich ihn ein letztes Mal anflehte, ihn anbettelte, ihn zwingen wollte, mich davor zu bewahren.

Aber das ist nicht das Schlimmste. Vielmehr macht mich meine Unbelehrbarkeit sprachlos. Denn selbst nach diesen Geschehnissen, mit der Erfahrung des Danach, würde ich mich wieder so entscheiden. Könnte nichts anders machen. Würde mich von der Leidenschaft erneut mitreißen lassen.

Was bin ich für einer?

Jedenfalls keiner, der sich gegen den unerhörten Zauber einer plötzlichen Leidenschaft entscheiden konnte. Einer, der das Falsche tun musste, um das hoffentlich Richtige für sich zu erreichen. Um ehrlich bei sich anzukommen. Auch wenn es den Untergang nach sich zog. (Bah, grässlicher Sinnschwulst - Ich muss damit aufhören.)

Habe häufig an Livia in den vergangenen Tagen gedacht. Ihre Gesichtszüge konnte mein Gedächtnis nicht lange halten. Sie existiert nur noch verschwommen. Doch die lustvolle Verstörung, die sie in mir ausgelöst hat, ist längst nicht verschwunden. Sie bezirzt immer noch schadenfroh meine kränkliche Entschlusskraft.

Ja, es ist wirklich lächerlich, krank und unnütz ...

Nicht eine Sekunde habe ich mich früher für diesen Quatsch interessiert: dieses Nachdenken über alles. Ich komme mir vor wie Rumpelstilzchen, der um ein Feuer aus Erinnerungen, Wünschen, Trieben und Schuld hüpft ... Das lag so weit weg von mir. Brachte mich nie weiter. Deshalb sollte alles in mir schweigen. Ich wollte hören. Tief und aufmerksam.

Und?

Jetzt kann ich nicht mehr raus aus dieser verrosteten Tonne. Abgetaucht in blecherne Einsamkeit. Verloren und total zersplittert im Hirn, aber auch irgendwie heimisch hier geworden.

Wissen Sie, das Leben hier drinnen wandelt sich in eine dumpfe Unwirklichkeit. Alles geschieht da draußen. Es lärmt und fließt jenseits des Bahndamms. Vor allem nachts krachen unzählige Güterzüge vorbei und lassen die Gleise beim Abbremsen spitze Schreie ausstoßen.

Vor einigen Tagen erschienen mir die Bahngleise noch so verlockend, fast fordernd und machtvoll. Ich hätte mich feierlich in dieses letzte Bett legen können. Es wäre so wunderbar einfach gewesen.

Innerhalb der Tonne ist Ruhe. Das Unbehagliche prallt einfach ab. Obwohl es hier höllisch kalt werden kann, oft auch stickig und die Schnecken ihre Schleimbahnen ziehen, fühle ich mich wohl. Man ist in ein außerweltliches Vakuum eingeschlossen. Dieses fatale Bündnis zwischen Aussichtslosigkeit und Zerstörungswillen verliert in der Tonne zunehmend an Kraft.

Aber denken Sie jetzt nicht, dass ich vor dem Leben fliehen wollte. Oder mich hier drinnen feige verstecken wollte. Oder mit mir fertig war - gescheitert und aller Kräfte beraubt, um mich rechtzeitig zu entsorgen.

Nein, nein!

Oder vielleicht doch?

Entschuldigen Sie bitte diese Unordnung in meinem Kopf. Ich würde es Ihnen auch aufschreiben. Sogar in gutem Stil. Alles, was Sie in diesem Augenblick über mich erfahren, ist reine Gedankenübertragung. Ja: Gedanken, die sich nicht mehr an das Schweigegelübde halten können, überschwappen und meine inneren Schutzdämme überspülen. Sie müssen raus. Vielleicht erreichen sie irgendeinen, der sie gerade empfängt und zu Papier bringt. Mir gelingt das nicht mehr.

Also werde ich laut denken müssen: Ich denke Sie an! Mit aller Kraft! Das wäre der Beweis, dass Telepathie tatsächlich funktioniert.

Ha, viel grandioser als die Mondlandung.

Vielleicht gelingt mir auch irgendwann das Sprechen wieder. (Sofern ich was Brauchbares über meine Lippen bringen kann.)

Und wo fange ich an?

Bei Livia?

Sinn macht es wahrscheinlich, noch etwas früher anzufangen, auch wenn Livia alles in Gang gesetzt hat. Begonnen hat es eigentlich, als mich Richard mit Diogenes von Sinope bekannt gemacht hatte, meinem spöttelnden Tonnenvorbild. Ein Mann der Tat.

Doch versteht das einer?

Also: Schön von Anfang an!

Zuerst einmal brauchen Sie einen Namen, eine Vorstellung von mir. Schließlich müssen Sie wissen, von wem diese verirrten Gedanken stammen. Außerdem stellt der Name eine Beziehung her.

Aber ich will nicht Ihr Mitleid, auch nicht Ihr Urteil oder sonst irgendetwas. Das will ich gleich klarstellen.

Hören Sie einfach, was geschehen ist.

Mein Name ist Marian Waenkler. Zweiunddreißig Jahre alt. Unverkennbar nordisches Erscheinungsbild. IT-Spezialist. Verheiratet. Kinderlos. Krisengeschüttelt.

Ehrlich gesagt, hasse ich es, in meiner Vergangenheit rumzuwühlen. Rückblick auf Unwiederholbares. Wird überbewertet ...

Verdammt. Wenn es tatsächlich möglich sein sollte, dass irgendeiner meine Gedanken empfängt, muss ich in zusammenhängenden, nachvollziehbaren Sätzen und vor allem schön langsam denken - also nochmal: Aus meiner Sicht wird der Rückblick auf Unwiederholbares üüübeeerrbeeeweeerrrteeet.

Realschule oder Gymi, Ausbildung oder Studium, auswandern oder bleiben, heiraten oder nur in Partnerschaft leben, Betty oder Livia, weitermachen oder aufhören - Es gibt einfach zu viele Alternativen und den starken Hang nach Bequemlichkeiten. Die Fülle von Alternativen scheint mir überhaupt das Drama meines Lebens zu sein. Mir wäre allerdings die Erkenntnis lieber, dass wir uns von den grenzenlosen Wahlmöglichkeiten in unserem Leben nur davon abhalten lassen, uns mit dem Eigentlichen auseinanderzusetzen. Mit dem, was uns an unverwechselbarer Möglichkeit mitgegeben ist. Man muss sich über seinen persönlichen Weg klar werden. Das Leben ist schließlich keine freiwillige Angelegenheit.

Wir werden als kreischendes, hilfloses Etwas in einer ganz bestimmten Zeit, mit ganz bestimmten Fähigkeiten und mit einer ganz bestimmten Aufgabe in die Welt befördert. So prahlen jedenfalls die, die so sehr vom Glück überschüttet werden, dass sie darin ersaufen und überhaupt keine Gelegenheit erhalten, mal richtig auf die Fresse zu fliegen. Vielleicht habe ich mich deswegen in diese muffige Tonne verfrachtet - um meinen vorgegebenen Weg zu finden. Aber auch, um in diesem Fass ein wenig auf dem Strom des Glücks zu treiben. Aber ist diese Ansicht nicht spirituelles Gesülze von Feiglingen?

DIE FREIHEIT DER ENTSCHEIDUNG, denk-schreie ich dem entgegen. Doch dann kommen gleich wieder die ganz Schlauen mit ihrem Moral-Gefasel und Verantwortungs-Blabla. Dass wir uns mit unserem Verhalten als vernunftbegabte Wesen vor Gott, aber zumindest vor anderen und vor uns selbst verantworten müssen.

Erbärmlicher Quatsch!

Ist mir doch völlig freigestellt, ob ich voll Reue zu Betty zurückkehre. Oder an Livias vollen Lippen knabbere. Oder mich jetzt bis zur Besinnungslosigkeit mit Schnaps vollkippe. Oder gleich meinen voll außer Kontrolle geratenen Kopf auf die Schiene lege. Oder, oder, oder ... Je nach Standpunkt kann immer alles voll richtig sein oder nie.

Von wegen Verantwortung. Für wen denn mehr? Für andere? Wenn ja, mehr für Betty oder mehr für Livia? Oder doch in erster Linie für mich selbst? Ist mein Tonnendasein denn verantwortbar? Bin ich in dieses faulige Hamsterrad geraten, weil ich hier sein muss? Oder weil ich hier sein will? Will ich das hier wirklich?

Oh, oh, oh ...

Blödsinnige Gedankengrütze ist das. Wenn ich mich auf diese modrigen Pfade begebe, bringt mich das keinen Schritt weiter. Ich muss mich irgendwie von diesen eingefressenen Vorstellungen lösen. Klare Beschränkung auf das In-Mich-Hineinhören, um zu meinem Standpunkt zu kommen. Der nur für mich gilt. Immerhin trieb mich dieser Anspruch in die Tonne und nicht auf die Weltmeere.

Meine Güte, ich finde es ziemlich anstrengend mit mir. Ich weiß nicht mehr, ob das so gut ist. Bestimmt haben Sie da draußen auch schon abgeschaltet oder halten sich verzweifelt die Ohren zu. Was soll das auch bringen?

Ich glaube, ich breche das Tonnenexperiment ab ...

(Erstmal aus der Decke nach draußen ... Mist. Muss es gerade jetzt anfangen zu pissen? Sieht nicht gut aus da oben. Schwarze, stufenförmige Wolken quellen bedrohlich über mir. Lieber zurück in die Tonne, bis das Unwetter vorbei ist.)

Ich habe tatsächlich jede Handlung in Gedanken weiter formuliert, obwohl ich das Gedankenübertragungs-Experiment beenden wollte: Konnten Sie das eben miterleben? Mein Raus- und Zurückkriechen bei bedenklicher Wetterlage? Nun ja, ein bisschen kann ich mit der Gedankenflutung noch weitermachen.

Da fällt mir gleich dieser abgefahrene Schriftsteller ein. Betty hatte mir mal ein Buch von ihm empfohlen, als ich Bücherlesen noch für sinnvoll hielt. Große Kunst angeblich. Und dieses Buch ist eine echte Zumutung in meinen Augen. Unglaublich, dass so etwas zur Weltliteratur gehören soll. Ständig kreuzen sich an diesem einen Juni-Tag die Wirklichkeiten und Gedanken der irischen Männlein und Weiblein, das mir nur schwindlig wurde. Das ist nur was für verkorkste Intellektuelle. Den möchte ich sehen, der die knapp tausend Seiten an einem Tag liest, um die Geschichte in Echtzeit zu erleben.

Deshalb erneut die Klarstellung: Ich denke möglichst verständlich und ohne Umwege. Sie empfangen möglichst aufmerksam und unvoreingenommen.

Gut ...

Bisher fanden Sie in meinen Gedankenaussendungen lediglich Andeutungen und Bruchstücke. Sie brauchen genauere Angaben und Charakterisierungen, glaube ich. Ich darf nicht zu assoziativ, nicht zu sprunghaft und ungefiltert denken.

Ich muss mich mehr disziplinieren! Immerhin ist das alles Neuland für Sie. Und für mich. Vielleicht sollte ich mehr szenisch, also in Theaterdimensionen denken.

Ja, genau: Verrecken in der Tonne - Das Drama um Marian Waenkler in drei Akten.

Es gibt einen durch und durch subjektiven und verschrobenen Erzähler. Aber das wissen Sie schon. Der Tonnenschauplatz bildet die Rahmenhandlung für die Rückblenden, zu denen auch der Erzähler gehört. Phantastisch! Aber vielleicht sollte ich zunächst die Akteure vorstellen:

Marian Waenkler, Erzähler und Ehebrecher

Bettina Still, seine Gattin, genannt Betty, studierte Germanistin und Lokalredakteurin beim Breemsbeker Käseblatt

Livia, die Geliebte Marians (der noch nicht einmal ihren Nachnamen kennt)

Richard Still, der Großvater von Bettina, fünfundneunzigjähriger Kriegsveteran und weiser Ratgeber der Hauptfigur (Er machte mich mit Diogenes bekannt.)

Ach ja, zu guter Letzt: Geist des Diogenes von Sinope, dessen Zitate das Stück intellektuell aufwerten sollen

Über die Nebenfiguren habe ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht. Ein wenig kreative Freiheit muss schon sein, liebe Zuhörer und Mitdenker. Die Handlung beruht zwar auf wahren oder halbwahren Erinnerungen. Allerdings werde ich nicht umhin kommen, den Stoff hinsichtlich seiner relevanten und uninteressanten Aspekte dramaturgisch zu überdenken. (Das habe ich von Betty.) Wenn es zu stark ins Miniaturhafte abdriften sollte, mischen Sie sich ruhig ein!

2. Kapitel

Erster Akt: DIE KRISE.

(Das Wohnzimmer von Marian und Betty. Soeben wurde das gemeinschaftliche Abendessen begonnen.)

An jenem Abend brach es durch. Ich konnte mich nicht länger verstellen und den treuen Ehemann mimen. Jeder Bissen drückte im Hals. Betty merkte mir an, wie ich mich mit dem Essen quälte:

„Hast du keinen Hunger?“

„Doch ...“, brummte ich.

„Ich habe heute den Landrat interviewt. Es ging um geplante Kürzungen in der Behindertenhilfe. Natürlich sei das alles ein großes Missverständnis. Und der Herr Landrat beeilte sich zu versichern, dass es nur um die Umverteilung von Geldern gehe, die zielgenauer eingesetzt ... werden ... Marian?“

„Was? Ach so, der dicke Landrat, ja ...“ Es kostete mich unendlich viel Kraft, ihr zuzuhören.

„Also diese Kugel von Landrat ist wirklich ein Phänomen“, empörte sich Betty. „Wie schmierig der sich als Gutmensch inszenieren kann, spottet jeder ... Marian? Was ist los? Wenn du nicht essen willst, ist das deine Sache, aber ich gebe mich nicht mehr mit Wortbrocken zufrieden. Seit Tagen bist du schon so.“

Ich wiegelte ab: „Es läuft zurzeit nicht so optimal - in der Firma.“

„Gibt es Probleme?“

„Nicht direkt mit der Firma. Die Systemerneuerungen sind fast abgeschlossen.“

„Mit deinem Chef?“, bohrte sie weiter. „Was bedrückt dich?“

„Lass nur, Betty. Ich bin momentan einfach nicht in bester Stimmung. Bisschen abgespannt und müde. Wird schon wieder. Du musst dir keine Sorgen machen! Wirklich.“

Ich ergriff reflexartig ihre Hand, umschloss sie und drückte sie sanft, aber nicht, um sie zu beruhigen. Es war der hilflose Versuch, Betty auf Abstand zu halten, ihr zu signalisieren, nicht tiefer in mich hineinzuleuchten.

Doch ich spürte, dass ich meine Tür nicht länger verschlossen halten konnte. Betty ist viel intelligenter, gebildeter und feinfühliger als ich.

Indem sie ihre Hand aus meiner löste, meine Wange streichelte und mich liebevoll anblickte, entriegelte sie problemlos meine Sicherheitsschlösser und setzte erfolgreich die letzte Alarmanlage vor den Eingängen zu meinem Selbst außer Kraft: „Ich weiß, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Aber wenn dich etwas belastet, bin ich auch in Sorge. So verstehe ich unsere Ehe, Marian.“

Ihre Augen - die wundervollsten Augen, in die ich jemals geblickt habe. Sie wäre mir an der Uni damals vor elf Jahren nie aufgefallen mit ihrer schmalen, fast knochigen Figur. Doch in ihrem ovalen, von dünnsträhnigem Haar hell umwehten Gesicht glänzen die wohl dunkelsten und formschönsten Augen des gesamten Planeten. Sie leuchten einen aufmerksam und interessiert an. Allerdings schimmert in ihnen, kaum bemerkbar wie ein flüchtiger Nebel, Geheimnisvolles und tief Verborgenes auf. Diese Gegensätzlichkeit verleiht ihnen dieses verführerische Funkeln. Und diesen Augen sollte ich nun einen entsetzlichen Kummer zumuten.

„Diese ständigen Routinen nerven mich, Betty. Leidest du nicht manchmal auch unter der betonharten Einförmigkeit des Alltags, die so seltsam erschöpft?“

„Ja, schon. Hin und wieder. Aber ein verlässlicher Alltag ist mir wichtig! Aufstehen, arbeiten, Zeit mit dir, joggen, Wochenende, Urlaub ...“

Ich musste kurz schmunzeln: „Wie gut, dass ich wenigstens an dritter Stelle komme in deiner Aufzählung.“

„Marian, das Leben besteht nun einmal aus wiederkehrenden Abläufen und braucht auch einen festen Rhythmus. Der gibt Halt.“

„Und wenn Halt sich zu Festhalten entwickelt?“

Ihre Augen schreckten auf, obwohl sie ganz ruhig weiterredete. Ich spürte, wie ausgeliefert ich ihr in diesem Moment war. Ein letztes Mal versuchte ich, ihr auszuweichen: „Mmh, ich kann es nicht so richtig in Worte fassen. Und bevor ich jetzt Dinge sage, die missverstanden werden könnten, sollten wir lieber das Thema wechseln: Was außer Brot brauchen wir denn sonst noch?“

Ihre Augen wurden immer unruhiger - hofften, bangten, wussten: „Ich dachte immer, die Midlife-Crisis fängt bei Männern erst mit Vierzig an. Du willst wohl überall der Erste sein. ... Bleibt mir nur zu hoffen, dass du zu Typ drei gehörst.“

„Wer oder was ist denn Typ drei?“

„Es gibt meines Wissens nach nur drei Möglichkeiten, diese Krise zu überstehen: Typ eins stürzt sich in eine Affäre mit einer vollbusigen Jüngeren. Typ zwei wird Alkoholiker. Und Typ drei verwirklicht längst vergrabene Jugendträume. Gemeinsam ist ihnen allen ihre Unvernunft.“

... auch das noch: Jetzt tropft es hier rein. Obwohl ich erst vorhin den Riss abgedichtet habe. Wie ist Diogenes nur mit schlechtem Wetter umgegangen? Hat bestimmt nicht so rumgejammert wie ich. Wenn das so weiterschüttet, werde ich aufgelöst wie ein Stück Seife.

Vielleicht kann ich dieses verflixte Loch doch noch ... irgendwie ... muss wohl auch den rechten Socken hergeben ... Geschafft!

Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Aber mir bricht gerade die Bühne der Rahmenhandlung zusammen.

Ja, Bettys kummervolle Augen. Ich vermute, dass sie genau wusste, was mit mir los war. Sie konnte sich jedoch nicht der Wahrheit stellen. Genauso wenig wie ich. Wir mussten das schützen, was wir uns in den gemeinsamen Jahren aufgebaut hatten. Und deshalb die Verletzungen maßvoll gestalten.

Wie absurd das klingt. Aber so fühlte ich in diesem Moment. Betty vielleicht auch. Ich konnte ihr nichts von Livia erzählen, obwohl ich unbedingt wollte. Daher ging ich auf ihr Spiel mit den drei Typen ein.

Ich beschaffte mir aus unserem Weinvorrat eine Flasche edelsten Rotweins und verteilte ihn gerecht auf zwei Gläser, an denen ich nacheinander großzügig nippte, ohne mit ihr zu teilen. Betty lächelte dankbar. Ich spürte, wie sehr sie in dieser demütigenden Situation um eine würdevolle und gelassene Haltung rang.

„Da du schon immer Typ zwei warst und eine hinreißend schöne und intelligente Ehefrau an deiner Seite hast, bin ich wahnsinnig gespannt darauf zu hören, welche Jugendträume du dir jetzt zu erfüllen gedenkst.“

„Voll im Klischee: Ich wollte schon immer auf einem Frachtschiff für ein oder zwei Jahre anheuern, dort gegen freie Kost und Logis simple Hilfsarbeiten verrichten und so über die Weltmeere schippern.“

Und das war nicht an den Haaren herbeigezogen, deshalb konnte ich auch so überzeugend darüber sprechen und Bettys Hoffnung nähren.

„Und du meinst, das geht so einfach?“, fragte sie schnippisch mit verschränkten Armen. Ich erzählte ihr etwas über die Feststellung der Seetauglichkeit, das Seefahrtsbuch und die Auswahl brauchbarer Helfer am Hafen, die noch genügend Rosinen im Kopf übrig haben.

Betty lehnte sich dann auf den Tisch und durchdrang mich mit einem fordernden Blick: „Fühlst du dich eingeengt? Brauchst du mehr Freiräume?“

Ich bemühte mich, ihrem Blick standzuhalten und blinzelte ihr ein Ja zu, das sie mit einem Ich will dich nicht verlieren! erwiderte.

„Was hältst du davon, wenn wir am Wochenende nach Hamburg fahren? Zum Hafen? Du sollst wissen, dass ich dir nicht im Weg stehen möchte, aber an deiner Seite bin. So dicht oder so abseits, wie du es im Moment zulassen kannst. Und willst.“

„Hamburg ist eine gute Idee, Betty.“

Ich fuhr nach Hamburg. Aber ohne Betty. Ich schämte mich nicht mal. Ich erzählte ihr, dass ich Zeit für mich allein brauche und deshalb allein nach Hamburg fahren wolle.

Eine miese Lüge.

In Hamburg traf ich mich mit Livia, um mit ihr das erste gemeinsame Wochenende verbringen zu können. Bettys Vorschlag kam genau zur richtigen Zeit. Die Sache mit Livia lief da schon knapp drei Wochen.

Mir ist es bis heute ein Rätsel, warum ich so handelte. Ohne ein Hauch von Mitgefühl für meine Ehefrau, die mich niemals hängen lassen würde, die mich wirklich liebt, die mich zu verstehen versucht und plötzlich nichts mehr von mir erwarten konnte.

Und wir führten auch keine schlechte Ehe. Wir sprachen viel miteinander, reisten regelmäßig über die Kontinente, hatten erstaunlich guten Sex und nie Geldsorgen. Auch den Kinderwunsch hatten wir nach den zwei Fehlgeburten, die Betty tapfer wegsteckte, im Einvernehmen aufgegeben. Alles perfekt. Verdammt noch mal.

Was zur Hölle fehlte mir?

Sank in meiner Werteskala das eigentlich Perfekte plötzlich auf die Stufe der Mittelmäßigkeit ab?

Und wenn ja, warum?

Oder andersherum: Entwickelte ich plötzlich überzogene Vorstellungen, die zwangsläufig mit meiner Lebenswirklichkeit kollidieren mussten?

Oder hatte ich einfach nur einen richtigen Knall?

Ich musste oft über Bettys Vermutung nachdenken, dass ich in eine sogenannte Midlife-Crisis geraten sei. Doch psychologische Begriffe und Klischees haben mich noch nie interessiert. Die sollen meiner Meinung nach nur für volle Therapiepraxen sorgen.

Ich war nicht unglücklich in meinem Leben und noch längst nicht am kritischen Bilanzieren. Durch die Begegnung mit Livia wurde ich mit einem inneren Aufbegehren konfrontiert (Das Auf müssen Sie noch in Klammern setzen!), das mich völlig aus der Bahn geworfen hatte, mich erschütterte und wegrutschen ließ.

Sinnkrise. (Wenn Sie unbedingt einen geläufigen Begriff von mir hören wollen, dann den.)

Du bist noch nicht angekommen!, pochte es jede Nacht vor dem Einschlafen in meinem Kopf. Natürlich kam in mir immer wieder die Frage auf, ob meine Ehe mit Betty nicht ein schlimmer Fehler gewesen sei und ob es überhaupt Liebe zwischen uns gegeben habe, wenn Livia mit ihrem Lachen auf einmal in jedem meiner Gedankengänge üppig und prachtvoll aufblühte.

Hier in der Tonne, eingegrenzt auf mich selbst, erlaube ich meinem Gewissen längst nicht mehr, mich so hinterlistig zu täuschen, um sich hinter einem Vorhang schlüssig klingender Argumente vor seiner ureigenen Aufgabe zu verstecken. Denn nichts anderes hatte es getan. Es ließ mich im Stich, rüttelte und zerrte nicht an mir, als ich es am nötigsten hatte. Sondern bestärkte mich auf unverschämte Weise in dem Glauben, dass Betty nur ein großer Irrtum sein konnte, weil alles in mir nach Livia schrie. Der Vorhang ist nun zerrissen und vermodert hoffentlich neben der Tonne.

Mein Gewissen bekommt eine zweite Chance.

3. Kapitel

Zweiter Akt: DER BETRUG.

(Hamburg. Ein Musikclub in St. Pauli. Weit nach Mitternacht. Die Cocktails schmecken ...)

„Die Band ist erstaunlich gut“, brüllte mir Livia ins Ohr. Mir waren die breitbeinig posierenden Musiker auf der Bühne völlig gleichgültig. Mich störte auch nicht, dass der sägende Lärm in diesem sauerstoffarmen Club längst die Grenze des Erträglichen überschritten hatte. Mein einziges Interesse in diesem Augenblick galt, Livias pulsierendem Körper nah zu sein, ihre Stimme zu hören, ihren vibrierenden Mund an meinem Ohr zu spüren.

„Was meinst du? Endlich mal wieder guten geradlinigen Rock ohne nervige Keyboard-Sounds. Die finde ich total überflüssig, nebenbei bemerkt. Schlagzeug und Bass spielen recht dynamisch und immer auf den Punkt. Sind wahrscheinlich Profis.“

Ich nickte und schob meine verliebten Lippen in ihre linke Ohrmuschel: „Du scheinst viel von Musik zu verstehen.“

„Ja, etwas. Hab mal Gitarre gelernt. Aber in der Schülerband fehlte immer jemand, der den Bass zupfen konnte. Also bin ich frühzeitig auf Bass umgestiegen und dabei geblieben.“

Wenn Livia nicht in mein Ohr schrie, starrte ich gedankenverloren auf ihren elegant gezeichneten Mund - wie er sich manchmal leicht öffnete und allein durch das zarte Anheben seines rechten Winkels ein betörendes Lächeln erzeugte, dem ich mich bereitwillig ergeben musste.

„Du spielst Bass?“, fragte ich verwundert.

„Ich weiß. Das ist eigentlich kein typisches Mädchen-Instrument, allerdings vielseitiger als man denkt. Und eine Zeit lang konnte ich mich als Bassistin vor Angeboten anderer Bands kaum retten.“

Ich überschüttete sie mit bewundernden Blicken und wollte mich mit ihr in einem sorglosen Liebesrausch verlieren. Beim Betrachten dieses lebensfrohen, von kleinen Grübchen verzierten Lächelns befand ich mich plötzlich in einem ewigen Augenblick.

Sinnlichkeit verdrängte alles - Raum, Zeit und Moral. Meine Lippen wollten sich nur noch mit diesem Mund vereinigen.

Ich küsste sie und war in einem Nirgendwo verloren: „Du schmeckst süß, Livia.“

„Und du säuerlich.“

Sie erhob sich und streckte eine Hand nach mir aus: „Meinst du, du könntest deinen Caipirinha gegen einen Tanz mit mir eintauschen?“

Ich gab ihr ohne Zögern mein Cocktailglas. Sie umschloss mit ihren gleichmäßig geschwungenen Lippen sanft den klebrigen Strohhalm und saugte rasch den letzten Rest des süß-sauren Saftes aus dem Glas.

Wir gingen danach auf die beengte Tanzfläche, schmiegten unsere erregten Körper aneinander und kreisten engumschlungen inmitten einer wild rockenden und kreischenden Menge.

Sie fühlte sich ganz anders an als Betty. Als ich Livia so dicht spürte, an ihren lang gewellten dunklen Haaren roch und meine Hände über ihren kleinen, nussförmigen Po gleiten ließ, presste sie mehrmals auffordernd ihre vollen Brüste gegen meinen Körper. Mir wurde schwindlig vor Erregung.

„Ich glaube, ich werde bald ohnmächtig vor Glück.“

„Komm, schlaf mit mir!“, flüsterte sie mir ins Ohr und griff fordernd zwischen meine Beine.

Das ist genau der richtige Moment für eine Pause. Da es im Theater jedoch keine Werbeunterbrechung gibt und wir uns in einem modernen Schauspielhaus befinden, lassen wir die Akteure leidenschaftlich küssend von der Bühne stolpern und drehen dieses motorisierte Ungetüm um einhundertachtzig Grad.

Erstmal was essen. Ich muss! Auch wenn mir diese ekligen Müsliriegel nach zwei Wochen bereits aus dem Halse hängen.

Sind es wirklich schon ganze zwei Wochen?

Ich bin ganz ehrlich zu Ihnen: Am liebsten würde ich mich jetzt noch einmal in alle Momente der ersten Nacht mit Livia verlieren wollen. Aber ich habe Bedenken. Einerseits könnte ich mit dem Abrufen meiner intimsten Erinnerungen während meines Gedankenübertragungs-Experimentes Voyeure anlocken, die nur gaffen und nicht zuhören wollen. Andererseits befürchte ich, dass eine zu intensive Beschäftigung mit dieser rauschhaften Erfahrung mich an meinem Weiterkommen hindert.

Hatte mir ja schon vor diesem Wochenende in Hamburg erfolglos eingebildet, dass ich mich und meine Gefühle kontrollieren könnte, wenn ich sie in meiner Vorstellungswelt ... Aber an diesen Gedanken durften Sie bereits vor wenigen Minuten teilhaben.

Meine Entscheidung: keine Bettszene. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass Sie an dieser Stelle Ihre eigene Phantasie bemühen müssen.

Zurück zum Stück! Die Bühne hat sich vollständig gedreht und zeigt im Hintergrund die Silhouette des Blankeneser Treppenviertels.

Livia und ich schlenderten in der Morgendämmerung an der Elbe entlang. Ein Frachtschiff schwebte flussabwärts der Nordsee entgegen.

„Es ist einfach unbeschreiblich, was hier gerade zwischen uns passiert“, schwärmte ich. „Ich finde es wunderschön mit ...“

„Ich könnte mit dir jetzt endlos weitergehen“, zwitscherte Livia dazwischen. „Lass uns einfach nicht mehr umdrehen. Das alles hat keine Bedeutung mehr für mich.“

„Die Ewigkeit im Hier und Jetzt wäre mein sehnlichster Wunsch. Weitergehen heißt Veränderung. Das ist das letzte, was ich will. Ich will dich! Jetzt! Hier! Für immer! Es fühlt sich im Augenblick alles so unglaublich richtig an, so dass ich nichts anderes mehr fühlen mag.“

„Du hast Recht. Weitergehen heißt schließlich auch, das Risiko in Kauf zu nehmen, sein Glück zu verlieren.“

„Hast du Angst?“

„Ja“, flüsterte sie. „Ich will dich nicht mehr loslassen und durch eine andere ersetzt werden.“

„Dann lass uns anhalten und zu Salzsäulen erstarren.“