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Ärzt:innen sind mit so vielen Facetten des Menschseins und Bereichen der Gesellschaft verbunden wie keine andere Berufsgruppe. Zudem spielen auch in der modernen Medizin gesellschaftliche, philosophische, ethische, (kultur-)geschichtliche und humanwissenschaftliche Fragen eine signifikante Rolle. Des Weiteren ist die Medizin auch immer mehr von ökonomischen Faktoren sowie Management- und Führungsfragen durchdrungen. Als Mediziner:in wirst du dich in deinem Berufsleben nicht (mehr) allein auf die Beziehung zu deinen Patient:innen fokussieren können, denn in einer vernetzten, technisierten und ökonomisierten Welt werden Ärzt:innen mehr und mehr zu Entscheider:innen und Gestalter:innen von Beziehungen, Teams, Workflows und Organisationen in einer mehrdimensionalen Welt. Möglicherweise merkst du erst jetzt, dass dich dein Studium nicht wirklich auf die vielfältigen Kontexte, Aufgaben und Herausforderungen in deinem (Berufs-)Leben vorbereitet hat. In diesem Buch, herausgegeben von zwei Ärzt:innen mit Durch- und Weitblick aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, kommen Autor:innen zu Wort, die Ihren Arztberuf in den verschiedensten Positionen und Kontexten mit Begeisterung und Erfolg ausfüllen – vielfach ohne Kittel und außerhalb der Krankenversorgung. Alle eint, dass sie sich immer als Ärztin oder Arzt verstehen und ihren Weg als Horizonterweiterung begreifen. Das Buch vergrößert deinen Blickwinkel, vermittelt notwendige Kenntnisse und Skills jenseits von Anatomie und Pathophysiologie und eröffnet ungeahnte Sichtweisen. Du wirst den Arztberuf als unglaublich spannend kennenlernen und Veränderungen selbst in die Hand zu nehmen wissen.
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Seitenzahl: 609
Veröffentlichungsjahr: 2024
Jana Luisa Aulenkamp | Thomas Hopfe (Hrsg.)
Toolbook Ärztin:Arzt
Alles, was du unbedingt noch wissen solltest, im Studium aber kaum erwähnt wurde
mit Beiträgen von
N.-B. Adams | L. Agha-Mir-Salim | J.L. Aulenkamp | B. Baeßler | C. Becht | T. Bein | B. Brinkhaus | R. Busse | P.J. Chabiera | J. Deerberg-Wittram | T. Doll | T. Esch | N. Freitag | E. Frick | J.M. Gavrysh | A. Geissler | S. Gepp | B. Gibis | F. von Gierke | A.S. Grewal | K. Heid | J. Heidenreich | M. Henningsen | D. Henzler | J. Hinkelbein | E. von Hirschhausen | J. Jacubeit | L. Jung | S. Jungmann | R. Klakow-Franck | J. Kleine-Borgmann | S.A.I. Klopfenstein | A. Kreitlow | I. Landgraf | M. Lauerer | K. Lewandowski | C. Liu | M. Manke | C. Mayer | L. Mosch | B. Müller | M.U. Müller | M. Müschenich | E. Nagel | D. Negele | P. Neu | D. Nikolic | P. Nohl-Deryk | S. Oertelt-Prigione | M. Philipp | P.P. Pramstaller | R. Prönneke | C.S. Rüegg | S. Salloch | J. Schmidt | M. Schmidt | M. Schmieding | I. Schregel | M. Schütz | M. Seitz | C. Siech | S. Ströhl | M. Stuber | S. Thun | P. Tinnemann | M. Tischler | C.N. Vorisek | J. Wagner | K. Wehkamp | S. Willich
Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Das Herausgeber-Team
Dr. med. Jana Luisa Aulenkamp
Universitätsklinikum Essen
Dr. med. Thomas Hopfe
Berlin
MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
Unterbaumstr. 4
10117 Berlin
www.mwv-berlin.de
ISBN 978-3-95466-912-7 (eBook: PDF)
ISBN 978-3-95466-913-4 (eBook: ePub)
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© MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2024
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Die Verfasser haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Der Verlag kann insbesondere bei medizinischen Beiträgen keine Gewähr übernehmen für Empfehlungen zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen oder für Dosierungsanweisungen, Applikationsformen oder Ähnliches. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website.
Projektmanagement: Dennis Roll, Viola Schmitt, Sarah Ullerich, Berlin
Copy-Editing: Monika Laut-Zimmermann, Berlin
Layout & Satz: zweiband.media, Agentur für Mediengestaltung und -produktion GmbH, Berlin
Coverbild: Overearth (Shutterstock)
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Zuschriften und Kritik an:
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Als Erfahrungswissenschaft durchdringt die Medizin mit naturwissenschaftlichen Methoden Körper und Seele von Individuen und Populationen. Darüber hinaus ist die moderne Medizin tief in Gesellschaft, Philosophie, Ethik, (Kultur-)Geschichte und allen Humanwissenschaften verwurzelt. Zunehmend wird die Medizin auch von Fragen der Ökonomie, des Managements und der Führung durchdrungen.
Als Ärzt:in lernt man die verschiedenen Facetten des Berufes idealerweise im Studium, möglichweise auch erst danach oder zum Teil gar nicht kennen. Um dies besser verstehen und konzeptualisieren zu können, hat das Royal College of Physicians and Surgeons of Canada ein Modell entwickelt, welches Ärzt:innen die Rollen als Expert:in, Teamworker, Health Advocate, Professional, Kommunikator:in, Leader und Scholar zuschreibt. Dieses Rahmenwerk skizziert die Fähigkeiten, die Ärzt:innen benötigen, um den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen, die sie versorgen, gerecht zu werden.
Ein:e kompetente:r Ärzt:in integriert im besten Fall all diese Kompetenzen, der Weg dorthin muss jedoch gelernt werden. Viele junge Kolleg:innen haben allerdings das Gefühl, dass ihr Studium sie nicht wirklich auf die vielfältigen Kompetenzen, Kontexte, Aufgaben und Herausforderungen ihres (Berufs-)Lebens vorbereitet. Auch scheint es, dass die Faszination der Variabilität und Komplexität des Arztberufes gar nicht mehr vermittelt wird.
In diesem Buch, herausgegeben von zwei Ärzt:innen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven, kommen Autor:innen zu Wort, die ihren Arztberuf in den verschiedensten Positionen und Kontexten mit Begeisterung und Erfolg ausfüllen – mit und ohne Kittel oder außerhalb der Krankenversorgung. Allen gemeinsam ist, dass sie sich immer als Ärzt:innen verstehen und ihren Weg als Horizonterweiterung begreifen. Dabei skizzieren wir in diesem Buch Grundlagen, die für junge Kolleg:innen relevant sind, wie einen einfachen Überblick mit den wichtigsten Fakten über die komplexen Regularien sowie politischen und juristischen Herausforderungen in unserem Gesundheitssystem. Darüber hinaus geben wir konkrete Hilfestellungen und Tipps, die dabei unterstützen, sich im System zu orientieren, und zeigen auf, was beispielsweise bei Fortbildungen, Elternzeit und Mutterschutz zu beachten ist. Zudem eröffnen wir den Dialog über verschiedene Facetten der Arbeit und Führung im Team, der Arbeitskultur, der Gleichstellung und der Frage, wie wir diesen Beruf für uns persönlich gestalten können – und wie spannend es sein kann, den ganz persönlichen Weg als Ärzt:in zu finden. Mit dem Buch werden die Leser:innen außerdem inspiriert und angeregt, sich in Exkursen mit vielfältigen Themen wie Karriereperspektiven, Ethik, Spiritual Care, Kunst und Medizin auseinanderzusetzen.
Die Beiträge spiegeln die Vielfalt des Arztberufes und die verschiedenen Meinungen der Kolleg:innen generationenübergreifend wider. So wie das Buch Gestaltungsmöglichkeiten und Perspektiven eröffnet, werden an verschiedenen Stellen reale und wahrgenommene Grenzen des Systems oder des Berufes benannt. Als Herausgebende aus zwei Generationen gab es durchaus unterschiedliche, ja kontroverse Blickwinkel auf verschiedene Themen. Auch darum war es uns ein Anliegen, diese vielfältigen Perspektiven abzubilden und der Leserschaft selbst die Möglichkeit zu geben, auf einer nun wesentlich breiteren und hoffentlich inspirierenden Grundlage den eigenen individuellen Weg zu finden.
Somit trägt das Buch dazu bei, den Blick zu erweitern, und vermittelt notwendiges Wissen und Fertigkeiten jenseits von Anatomie und Pathophysiologie. Du lernst den Arztberuf als unglaublich facettenreich und spannend kennen und kannst Veränderungen selbst in die Hand nehmen.
Jana Aulenkamp und Thomas Hopfeim Mai 2024
Für alle Kolleginnen und Kollegen und die, die welche werden (J.L. Aulenkamp)
Für Laura (T. Hopfe)
IGesellschaft, Gesundheitssystem und Gesundheitswirtschaft
1Bau und Funktion des Gesundheitssystems (am Beispiel Deutschland)Reinhard Busse
2Das Gesundheitssystem als Wirtschaftsfaktor in Deutschland – Zahlen, Daten, FaktenEckhard Nagel
3Gesundheitspolitik und die großen Gesundheitsreformen – wer bestimmt, wie wir arbeiten?Pascal Nohl-Deryk
EXKURS:Medizin und PolitikJohannes Wagner
4Recht in der Praxis – juristische Fragen zum BerufseinstiegChristine Becht
5Wie kann echte Weiterbildung funktionieren? Handlungsvorschläge für eine effektive WeiterbildungMaximilian Philipp
IIMeine Rolle als Arzt:Ärztin – Arbeiten und Leben gestalten
1Arzt:Ärztin, Familie und JobMadeleine Stuber
2Breaking the glass ceiling – Gleichstellung in der KlinikLaura Jung, Annika Kreitlow und Sophie Gepp
EXKURS:Schreiben und Schrift – Enhancements für die ArztkarriereKlaus Lewandowski
3Forschung – ja oder nein? Ärztliche Perspektive auf die ForschungNadine Freitag
4Was eine gute Weiterbildungsstätte auszeichnetCarolin Siech
EXKURS:Mediziner:innen von morgen – 12 WünscheEckart von Hirschhausen
5Ambulant arbeiten – ist das eine Option für mich?Bernhard Gibis
EXKURS:Plötzlich Arzt:Ärztin – Notfallversorgung ohne Notfallkoffer und EquipmentJochen Hinkelbein und Niels-Benjamin Adams
6Freiwilliges Engagement neben dem (Vollzeit-)Job – ist das möglich? Was kann ich tun?Max Tischler
EXKURS:Schwangerschaft, Familie und Beruf – geht das? Rechtliche Tipps und RegelungenPeter Jan Chabiera und Melissa Seitz
7Aktiv in der Bevölkerungsmedizin – Facharzt:ärztin für öffentliches GesundheitswesenPeter Tinnemann
EXKURS:Neue Aufgaben bewältigen – die Triage für das alltägliche LebenAmandeep Singh Grewal
IIIArzt:Ärztin als Teamplayer und Führungskraft
1Styles and Skills in LeadershipAngela Geissler
2Engagement in der Medizin – Herausforderungen und MöglichkeitenJana Luisa Aulenkamp
3Gesunde Führung, nachhaltige Führung, salutogenetische FührungJonathan Martin Gavrysh und Clara Mayer
EXKURS:„Unternehmen Krankenstation“ – Stationsärzt:innen als Gestalter:innenClaudio S. Rüegg
4Kleine Einführung in das Management in Organisationen und UnternehmenDjordje Nikolic
EXKURS:Medizindidaktik in der StudierendenausbildungMattis Manke
5Wie du mit Design Thinking die Zukunft der Medizin gestalten kannstSven Jungmann
6Start up! Der Arzt als GründerJohannes Jacubeit
IVMedizin und Gesundheit im Kontext von Philosophie, Weltanschauungen, Werten
1Planetare Gesundheit oder: Warum wir nicht das Klima retten, sondern unsFriederike von Gierke
2Warum überhaupt Medizingeschichte?Mathias Schütz
EXKURS:Arzt und selbst schwer krank – ein ErfahrungsberichtThomas Bein
3Liebe zur Weisheit – eine ganz kurze MedizinphilosophieSabine Salloch
EXKURS:Der Arzt als JournalistMartin U. Müller
4Zwischen Wirtschaftlichkeit und guter Medizin – Ethik als Management-Herausforderung für die OrganisationKai Wehkamp
5Sicherheitskultur – alle reden davon, aber was ist das?Beate Müller
EXKURS:Spiritual Care auf Krankenschein?Eckhard Frick
EXKURS:Das ärztliche AdjuvanzJulian Kleine-Borgmann
6Sterben und Tod – die Provokation für das ärztliche SelbstverständnisRainer Prönneke
VVon der guten Medizin – Evidenz und Qualität
1Der gute ArztMichael Schmidt
EXKURS:Medizin zwischen Patientenwohl und Ökonomisierung?Eckhard Nagel
2Der Patient bestimmt, was gute Medizin ist – Value-based Healthcare oder Medizin orientiert sich am PatientennutzenJens Deerberg-Wittram
EXKURS:Einmal Medizin und zurück – vom Patientenarzt auch zum Systemarzt werdenPeter P. Pramstaller
3Integrative Medizin und Gesundheit – Konstrukt einer modernen MedizinBenno Brinkhaus und Tobias Esch
EXKURS:Medizin und Musik – Betrachtungen eines Arztes und DirigentenStefan Willich
4Nicht alle Patient:innen sind gleich – geschlechtersensible MedizinSabine Oertelt-Prigione
EXKURS:Der psychiatrische Notfallkoffer – Erkennen und Management von psychiatrischen NotfällenPeter Neu
5Qualitätssicherung in der MedizinRegina Klakow-Franck
EXKURS:Medizin und Kunst – Arzt und Bildender KünstlerKlaus Heid
VIMedizin und Gesundheit im Kontext von Technologie und Transformation
1Was ist digitale Medizin?Maike Henningsen
EXKURS:Ärzt:in als (Medizin-)Informatiker:inSophie A.I. Klopfenstein, Carina N. Vorisek und Sylvia Thun
2Ärzt:innen in der digitalen TransformationJeremy Schmidt und Malte Schmieding
3Digitale BildungLina Mosch und Louis Agha-Mir-Salim
EXKURS:Künstliche oder natürliche Intelligenz – wer stellt bessere Diagnosen?Julius Heidenreich und Bettina Baeßler
4Vom Sprechzimmer ins Metaverse – der mobile, smarte und digitale PatientMarkus Müschenich
EXKURS:Free Open Access Medical Education (FOAMed) – alternativer Wissensaustausch und WeiterbildungThorben Doll
5Die Zukunft hat begonnen – Gesundheitsversorgung in ChinaChenchao Liu
6Arztpraxis digital – eine ErfolgsstoryIrmgard Landgraf
Regelmäßig erlebe ich babylonische Sprachverwirrung, wenn ich Personen bitte, mir ihr Gesundheitssystem zu erläutern. Noch schlimmer ist es, wenn internationale Gruppen sich ihre Systeme erzählen und dann jeweils das andere System der Gruppe erklärt werden soll: eigentlich ein Paradox – da haben Ärztinnen und Ärzte (mindestens) 6 Jahre Medizin studiert und arbeiten im System, aber es zu erklären, fällt ihnen unheimlich schwer. Kein Wunder, es erklärt auch niemand so richtig. Dabei kann man „Gesundheitssysteme“, ihren „Bau“ (beim menschlichen Körper wäre das die „Anatomie“) und ihre „Funktion“ (die „Physiologie“) auch ganz einfach verstehen. Das will dieser Beitrag machen.
Beginnen wir mit einer Definition (in diesem Fall der Weltgesundheitsorganisation): „Ein Gesundheitssystem ist die Gesamtheit aller öffentlichen und privaten Organisationen, Einrichtungen und Ressourcen in einem Land, deren Auftrag darin besteht, unter den dortigen politischen und institutionellen Rahmenbedingungen auf die Verbesserung, Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit hinzuarbeiten. Die Gesundheitssysteme umfassen sowohl die individuelle als auch die bevölkerungsbezogene Gesundheitsversorgung, aber auch Maßnahmen, mit denen andere Politikbereiche dazu veranlasst werden sollen, in ihrer Arbeit an den sozialen wie auch den umweltbedingten und ökonomischen Determinanten von Gesundheit anzusetzen.“ Sie sehen schon, das ist sehr breit – und für die Beschreibung etwa des deutschen Systems im Ausland wenig geeignet. Beschränken wir uns also auf das, was wir eher als das „Gesundheitswesen“ im engeren Sinne verstehen – und vereinfachen es noch etwas weiter, indem wir den Öffentlichen Gesundheitsdienst und den Langzeitpflegesektor (also das, was in Deutschland von der Pflegeversicherung abgedeckt wird) vernachlässigen.
Vorweg etwas, was Sie wissen sollten, auch weil es im Ausland viele wissen: Deutschland war weltweit das erste Land, welches 1883 mit dem Ziel der Absicherung einer breiten Bevölkerungsschicht ein System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einführte. Bis heute wird das deutsche Gesundheitssystem mit der GKV als ihrem konstitutiven Kern nach dem damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck als „Bismarck-Modell“ bezeichnet. In ihrem mehr als 140-jährigen Bestehen wurde die GKV zu einem umfänglichen sozialen Sicherungssystem ausgebaut und den jeweiligen politischen und sozialen Herausforderungen ihrer Zeit angepasst. Dabei sind wesentliche Hauptmerkmale bis heute erhalten geblieben: die ausgesprochen stark ausgeprägten Selbstverwaltungsstrukturen sowie die ungewöhnliche Koexistenz von GKV und privater Krankenversicherung (PKV) zur vollständigen Absicherung im Krankheitsfall.
Alle Akteure und die Beziehungen zwischen ihnen unterliegen der Regulierung durch Gesetze, Verordnungen, Richtlinien, Rahmenverträgen etc. Die Regulierung ist im Gesundheitswesen notwendigerweise ausgeprägter als in anderen Sektoren, da hier wirtschaftspolitische Ziele wie die Förderung unternehmerischen Handelns (besonders ausgeprägt etwa bei der Arzneimittel- oder Medizintechnikindustrie, aber auch bei Leistungserbringern wie Krankenhäusern oder Praxen) mit Zielen der Sozialpolitik (etwa finanzieller Absicherung im Krankheitsfall) und der Bevölkerungsgesundheit (z.B. Zugang zur Versorgung, effektive und qualitativ hochwertige Leistungen) zu berücksichtigen sind, die sich oftmals widersprechen.
Am einfachsten ist es, für die Beschreibung und Analyse der wichtigsten Komponenten der Organisation und Finanzierung eines Gesundheitswesens sich dieses als Dreieck zu denken (s. Abb. 1), um das herum die wesentlichen Akteure angeordnet sind: die Bevölkerung in ihren Rollen als Versicherte bzw. Patienten unten links, die Leistungserbringer (in Form von Arztpraxen, Krankenhäusern, Netzwerken der Integrierten Versorgung, Apotheken etc.) unten rechts und – als dritte Partei – die Zahler bzw. Finanzintermediäre, in Deutschland in Form von gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherungsunternehmen an der Spitze des Dreiecks. Zwischen diesen Akteuren bestehen unterschiedliche, aber klar definierte Beziehungen: Zugang und Versorgung zwischen Patienten und Leistungserbringern (unten), der Versicherungsvertrag und die sich daraus ergebenden Rechts und Pflichten zwischen Versicherten und Krankenversicherer (links) sowie der Versorgungs- und Vergütungsvertrag zwischen den Zahlern und den Leistungserbringern (rechts). In die Mitte platziert ist der Regulierer, d.h. diejenige Institution, die die Spielregeln setzt, d.h. wer die Akteure sind und wie die Beziehungen zwischen ihnen aussehen.
Neben den allgemeinen Elementen eines Gesundheitssystems wird dabei auch das Nebeneinander von GKV und PKV berücksichtigt. Die Verwendung der kursiven Schriftart zeigt an, welche Elemente für beide Versicherungsformen gelten (s. Abb. 1).
Abb. 1 Schematische Darstellung der Kernelemente und ihrer Beziehungen zueinander im deutschen Gesundheitssystem
Fangen wir unten links an (und bewegen uns von dort im Uhrzeigersinn): In Deutschland existiert eine allgemeine Krankenversicherungspflicht, d.h. die Bevölkerung, welche im Gesundheitssystem als Versicherter oder Patient agiert, ist gesetzlich verpflichtet sich gegen den Krankheitsfall und hierdurch entstehende Kosten zu versichern – entweder in der GKV oder in der PKV.
Alle Bürger, die in einem bezahlten Beschäftigungsverhältnis stehen (und andere Gruppen wie Rentner oder Arbeitslosengeldbezieher) und deren jährliches Arbeitsentgelt unterhalb der Versicherungspflichtgrenze bzw. „Jahresarbeitsentgeltgrenze“ (JAE; 69.300 Euro in 2024) liegt, beziehen ihren Krankenversicherungsschutz obligatorisch durch die GKV. Nicht- bzw. geringfügig erwerbstätige Familienangehörige sind kostenlos mitversichert. Personen, deren Arbeitsentgelt von vornherein über der JAE liegt bzw. die zuvor in der GKV versichert waren, sowie Selbstständige können als freiwillige Mitglieder in der der GKV verbleiben – oder stattdessen eine Krankheitsvollversicherung durch die PKV abschließen. GKV- und PKV-Versicherte können ihre Krankenkasse respektive ihr Krankenversicherungsunternehmen frei wählen. 2023 waren rund 88% der Bevölkerung in einer der 96 gesetzlichen Krankenkassen versichert, während etwa 10% ihren Krankenversicherungsschutz durch eines von 44 privaten Krankenversicherungsunternehmen erhielten. Neben der Versicherung in GKV oder PKV gibt es für einige Personen- oder Berufsgruppen (z.B. Gefangene, Berufssoldaten oder Geflüchtete) spezielle Absicherungen, über die knapp 2% der Bevölkerung versichert sind. Laut Schätzung des Mikrozensus (zuletzt von 2019) liegt der Anteil der Bevölkerung, der über keinerlei Krankenversicherungsschutz verfügt, bei unter 0,1%.
Krankenkassen und private Krankenversicherungen stellen die Zahler im Gesundheitssystem dar (obere Spitze des Dreiecks), welche als Finanzintermediäre zwischen den Versicherten und den Leistungserbringern agieren, sodass direkte Zahlungen von Patienten an Leistungserbringer wie z.B. Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, Apotheken oder Heilmittelerbringer eher die Ausnahme – und im deutschen System vergleichsweise gering ausgeprägt – sind.
Für die Leistungserbringung (untere rechte Ecke des Dreiecks) und deren Vergütung werden im System der GKV in der Regel sogenannte Kollektivverträge geschlossen. Diese werden zwischen Vertretern der Krankenkassen und Vertretern der niedergelassenen Ärzte durch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) auf regionaler Ebene bzw. den Krankenhäusern auf lokaler Ebene ausgehandelt. Das bedeutet, dass Umfang und Bezahlung der Leistungserbringung in einer Region (in der Regel in einem Bundesland) gleich sind. Im deutschen GKV-System werden dabei ganz unterschiedliche Vergütungsverfahren genutzt: so zahlen Krankenkassen den KVen Kopfpauschalen, die die allermeisten Leistungen der von den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte abdecken. Die KVen müssen mit diesem Geld bei der Vergütung der individuellen Ärztinnen und Ärzte auskommen, weswegen Kappungen wie die sogenannten Regelleistungsvolumina, d.h. maximal pro Versicherten abrechenbare Summen, angewendet werden. Für stationäre Leistungen wird eine Kostenerstattung für das pflegerische Personal am Krankenbett mit diagnosebezogenen Fallpauschalen etwa im Verhältnis 20:80 kombiniert. Zukünftig sollen sogenannte Vorhaltepauschalen als drittes Element hinzukommen.
Private Krankenversicherer schließen hingegen keine Verträge ab, sondern erstatten ihren Versicherten die entstandenen Kosten (bzw. den Teil, der versichert ist). Eine Eigenheit des deutschen Gesundheitssystems ist es, dass trotz der unterschiedlichen Organisation und Finanzierung von GKV und PKV die Leistungserbringung i.d.R. durch dieselben Anbieter erfolgt, d.h. dass Krankenhäuser und Ärzte sowohl GKV- als auch PKV-Patienten behandeln.
Ein weiteres Merkmal des deutschen Gesundheitssystems bzw. der GKV ist die begrenzte staatliche Kontrolle und die weitgehende Delegation der Regulierung an die Organe der Selbstverwaltung, welche sich aus Vereinigungen von Zahlern und Leistungserbringern zusammensetzen. Oberstes Selbstverwaltungsorgan ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), in welchem Vertreter des GKV-Spitzenverbands, der Kassen(zahn)ärztlichen Bundesvereinigung, der Deutschen Krankenhausgesellschaft sowie der Patienten und unabhängige Mitglieder vertreten sind. Während das Parlament den gesetzlichen Rahmen festlegt, entscheidet der G-BA über die detaillierte Ausgestaltung u.a. des GKV-Leistungskatalogs und der Qualitätssicherung und gibt hierzu Richtlinien heraus (Mitte des Dreiecks in Abb. 1).
Deutschland gibt in absoluten Zahlen, und relativ gemessen als Bruttoinlandsprodukt (BIP), sehr viel für das Gesundheitswesen aus. 2022 waren es knapp 500 Milliarden Euro, was einem Anteil von rund 13% des BIP entspricht – und pro Einwohner rund 6.000 Euro. Damit nimmt Deutschland die Spitzenposition unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) ein und liegt unter den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) hinter den USA auf Platz 2.
Die ambulante Versorgung durch Ärzte in Praxen und teils Medizinischen Versorgungszentren unterscheidet sich organisatorisch und finanziell stark von der Krankenhausversorgung, was zu einer noch immer andauernden Trennung von ambulantem und stationärem Sektor geführt hat. Beide Sektoren zeichnen sich jedoch über ein hohes Aktivitätsniveau aus. Patienten haben freie Arztwahl zwischen ungefähr 150.000 – zumeist niedergelassenen – Ärzten in der ambulanten Versorgung, wovon ca. 42% in der hausärztlichen und 58% in der fachärztlichen Versorgung tätig sind.
Der deutsche Krankenhaussektor ist im internationalen Vergleich groß. Im Jahr 2021 standen in knapp 1.900 Krankenhäusern insgesamt rund 480.000 Betten – d.h. 580 Betten pro 100.000 Einwohner – zur Verfügung. Obwohl die Bettenkapazität seit 2000 um rund 15% zurückgegangen ist, ist diese Quote nach Bulgarien die höchste in der EU. Doch nicht nur hinsichtlich der Infrastruktur, sondern auch mit Blick auf die Aktivität im Krankenhaussektor weist Deutschland weit überdurchschnittliche Zahlen auf.
Die Zahl stationär behandelter Fälle ist zwischen 2004 und 2016 um 16% gestiegen und lag 2021 dann wieder auf dem Niveau von 2004, nämlich bei rund 200 Fällen pro 1.000 Einwohner. Immer mehr – inzwischen über die Hälfte – dieser Fälle werden nicht eingewiesen, sondern von den Krankenhäusern direkt aus den Notaufnahmen stationär aufgenommen. Besonders problematisch ist auch die Tatsache, dass viele Patienten in Krankenhäusern behandelt werden, die dazu technisch nicht adäquat ausgestattet sind und/oder nicht über genügend Fachpersonal verfügen. So verfügen nur jeweils rund 500 Krankenhäuser über eine Koronarangiografie oder eine Schlaganfalleinheit, obwohl Patienten mit Herzinfarkt bzw. Schlaganfall in über 1.000 Krankenhäusern stationär versorgt werden. Dass Deutschland unter diesen Umständen zu den Ländern gehört, in denen die Rate an Herzinfarktpatienten, die während ihres Krankenhausaufenthaltes versterben, überdurchschnittlich hoch ist, darf daher nicht verwundern.
Gute Qualität ist aber auch eine Frage der personellen Ausstattung: Schaut man sich die Entwicklung des ärztlichen und pflegerischen Krankenhauspersonals an, so zeigt sich eine deutliche Diskrepanz. Zieht man 2003 – das Jahr, in dem in Deutschland diagnosebezogene Fallpauschalen als Krankenhausvergütung eingeführt wurden – als Referenzjahr heran, so ist die Anzahl an Ärztinnen und Ärzten gemessen in Vollzeitäquivalenten um mehr als 50% gestiegen, wohingegen die Anzahl der Vollzeitäquivalente im Pflegedienst um „lediglich“ 17% gestiegen ist. Obwohl somit eine hohe Zahl an medizinischem Personal gegeben ist, ist die Quote der Ärztinnen und Ärzte pro Bett angesichts der hohen Anzahl an Krankenhausbetten dennoch relativ gering, und die Quote an Pflegefachpersonal pro Bett ist im EU-Vergleich eher niedrig, obwohl sie pro Kopf der Bevölkerung nach Finnland und Irland am dritthöchsten ist.
Das Wichtigste in Kürze
Sich mit dem Bau und der Funktion von Gesundheitssystemen zumindest rudimentär auszukennen, sollte für jede Ärztin und jeden Arzt selbstverständlich sein. Ein klares Framework und internationale Vergleiche für ausgewählte internationale Vergleiche sind dabei ein guter Anfang. So lässt sich auch vermeiden, auf Fake News wie „Das Gesundheitswesen ist kaputtgespart worden“ hereinzufallen – oder diese gar selbst zu verbreiten.
Prof. Dr. med. Reinhard Busse, MPH FFPH
Reinhard Busse hat Public Health studiert und habilitierte 1999 in Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er ist Professor für Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin und ist Co-Director des European Observatory on Health Systems and Policies sowie Fakultätsangehöriger der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesundheitssystemforschung, Versorgungsforschung, Gesundheitsökonomie sowie Health Technology Assessment (HTA).
Die gesellschaftliche Bedeutung eines nachhaltigen und funktionierenden Gesundheitssystems lässt sich in seiner Gesamtheit schwer fassen und ist auch bei konservativer Abwägung kaum zu überschätzen. Die aktuelle Corona-Pandemie hält uns diese Bedeutung präsent vor Augen. Jedoch ist es zu Beginn der Überlegungen hilfreich, sich die konkreten Ziele eines Gesundheitssystems aus gesellschaftlicher Sicht zu vergegenwärtigen (Murray und Frenk 2000).
Zu den grundlegenden Zielen der Medizin und eines Gesundheitssystems gehört die Wiederherstellung und Erhaltung sowohl der individuellen als auch der bevölkerungsweiten Gesundheit. Des Weiteren gilt der Auftrag, dass eine Versorgung mit adäquaten Gesundheitsleistungen für die Bevölkerung sichergestellt ist – auch im Sinne einer Absicherung für noch nicht eingetretene Krankheitsrisiken – sowie Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention angeboten werden.
Neben den primär an der medizinischen Versorgung orientierten Zielen erfüllt ein Gesundheitssystem noch anderweitige gesellschaftsrelevante Funktionen. So kann über den Weg der Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit ein solidarfinanziertes Gesundheitswesen als eine der Grundvoraussetzungen einer gerechten Gesellschaft verstanden werden (Nagel 2020). Auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten, wie bei der Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen, kann die Gesundheit eine zentrale Rolle einnehmen (Burden et al. 2017). Damit diese an das Gesundheitssystem gestellten Ansprüche erreicht werden, sind wirtschaftliche Ressourcen notwendig, deren Finanzierung und Verteilung bisweilen eine besondere Herausforderung darstellen.
Beispielhaft soll hier nochmals auf die Corona-Pandemie verwiesen werden. Hier hat sich gezeigt, dass eine funktionierende und gleichsam auf Vorhaltung notwendiger Kapazitäten ausgerichtete Gesundheitsversorgung maßgeblich zur Bewältigung einer pandemischen Krise beiträgt. Auch wenn sich gerade zu Beginn der Ausbreitung des Virus in Deutschland durch die Schocksituation Defizite und Schwachstellen aufgezeigt haben, konnte durch die im Vergleich zu anderen Ländern existierende relative Resilienz des deutschen Gesundheitssystems die Funktionstüchtigkeit relevanter Wirtschaftsbereiche unterstützt werden.
An dieser Stelle wird bereits erkennbar, weswegen man auch bei einem Gesundheitssystem von einem Wirtschaftsfaktor sprechen kann. Allein durch seine Größe stellt die Gesundheitsversorgung einen nicht unbedeutenden Wirtschaftsfaktor dar. Dies ist z.B. durch die hohe Anzahl der im Gesundheitswesen Beschäftigten als auch aus der Höhe der öffentlichen Ausgaben ersichtlich. Des Weiteren wird durch das Gesundheitswesen Wertschöpfung generiert, indem es Güter und Dienstleistungen aus anderen Wirtschaftsbereichen nachfragt und durch die Erhaltung der Gesundheit der Bevölkerung einen positiven Einfluss auf die Wirtschaftsleistung ausübt.
Im Folgenden wird auf die medizinische Versorgung innerhalb des sogenannten ersten Gesundheitsmarkts in Deutschland fokussiert. Dieser umfasst die Gesundheitsversorgung, die durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) oder Private Krankenversicherung (PKV) einschließlich Pflegeversicherung finanziert wird (Bundesministerium für Gesundheit 2021). Umfasst sind die Leistungsbereiche der ambulanten (zahn-)ärztlichen Versorgung, die akutstationäre Versorgung, die Versorgung in Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen sowie ambulanten und (teil-)stationären Pflegeinrichtungen. Privat finanzierte Produkte und Dienstleistungen rund um die Gesundheit, auch als sogenannter zweiter Gesundheitsmarkt bezeichnet, werden nicht betrachtet. Um die Bedeutung des deutschen Gesundheitswesens als Wirtschaftsfaktor zu beschreiben, ist zunächst eine Einordnung vorzunehmen. Dabei wird unter einem Wirtschaftsfaktor ein Bereich oder Zweig der Wirtschaft verstanden, der für die Prosperität der Gesamtwirtschaft eines Landes ein mitbestimmender Aspekt ist. Dabei wird der Fokus auf die Finanzierung, für die Patientenversorgung relevante Strukturen und Akteursbeziehungen sowie die zugehörigen Ressourcen gelegt.
Bezüglich seiner Grundstruktur der Finanzierung basiert das deutsche Gesundheitssystem auf dem sogenannten Bismarck-System. Dies bedeutet, dass sich die Finanzierung im Kern auf Sozialabgaben stützt, welche von Versicherten und Arbeitgebern geleistet werden. Dieser Charakter impliziert das dem deutschen Gesundheitssystem immanente Solidarprinzip. Demgegenüber steht das sogenannte Beveridge-Modell. Hier erfolgt die Finanzierung vordergründig auf Steuerbasis. Als Beispielland hierfür kann Großbritannien angeführt werden. Die beiden hier skizzierten Formen der Finanzierung von Gesundheitssystemen stellen Grundtypen dar. Daneben existieren weitere Formen, bei denen z.B. Charakteristika der Organisation der Versorgung (stärker national oder stärker regional) oder die Höhe privater Zuzahlungen (out of pocket-Zahlungen) variieren.
Unter Berücksichtigung der Implikationen dieser Finanzierungspezifika auf die Organisation bzw. den institutionellen Charakter der Leistungserbringung und Geldflüsse ist festzuhalten, dass die Leistungserbringung in Deutschland durch Organisationen der sogenannten Selbstverwaltung koordiniert und mitgestaltet wird. Die Selbstverwaltung besteht in Deutschland aus Vertretern der ambulant (zahn-)ärztlichen Versorgung, den gesetzlichen Krankenkassen sowie den Krankenhäusern. Hinsichtlich der Leistungserbringer existiert im Krankenhausmarkt z.B. eine Trägervielfalt aus öffentlichen, gemeinnützigen sowie privaten Einrichtungen. In Großbritannien hingegen fungiert der staatliche National Health Service als zentraler Leistungserbringer.
Abbildung 1 zeigt ausschnitthaft, von der Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems ausgehend, die skizzierten Akteursbeziehungen, welche im Kontext der Versorgung bzw. Produktion von Gesundheitsgütern relevant sind. Dieses Zusammenspiel aus Staat, Kostenträgern, Leistungserbringern und Patient:innen bzw. Versicherten ist für das deutsche Gesundheitssystem charakteristisch.
Abb. 1 Grundlegende Akteursbeziehungen im deutschen Gesundheitssystem (Simon 2021, S. 91); 7., überarbeitete und erweiterte Auflage 2021 © 2005/2007/2010/2013/2016/2017 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern © 2021 Hogrefe Verlag, Bern
Auf Grundlage der vorgenommenen Einordnung werden nachfolgend ausgewählte Basisdaten des deutschen Gesundheitssystems berichtet und bewertet. Ziel ist es, anhand der Kennzahlen einen Zugang zur Relevanz des Gesundheitswesens als bedeutender Wirtschaftsfaktor zu bereiten. Der gewählte Ansatz der systematischen Analyse eines Gesundheitssystems folgt hierbei den Prämissen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung (Lauerer et al. 2019).
Als erstes wird der Blick auf die Höhe der Ausgaben für Gesundheitsversorgung in Deutschland gelegt. Um bei dieser Analysedimension bereits den Schwerpunkt auf die gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Gesundheitswesens zu richten, wird die Kennzahl des Anteils der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrachtet. Im Jahr 2019 entfielen 11,7% des BIP auf Gesundheitsausgaben. Dies entsprach nahezu 411 Milliarden Euro. Im internationalen Vergleich belegt Deutschland hierbei eine vordere Platzierung. Im Vergleich zu weiteren öffentlichen Gütern, wie z.B. Forschung oder Bildung, ist festzustellen, dass die Gesundheitsversorgung hier eine exponierte Stellung einnimmt (s. Tab. 1).
Tab. 1 Ausgewählte Kennzahlen als Anteil am BIP in Deutschland (OECD 2022; Statistisches Bundesamt 2023a; Statistisches Bundesamt 2023b)
Als zweites erfolgt die Analyse der Beschäftigtenanzahl im Bereich der medizinischen Versorgung. Im Jahr 2020 waren 4,6 Millionen Menschen in den Sektoren der ambulanten und (teil-)stationären Versorgung sowie Pflege beschäftigt. Dies bedeutet, jede(r) zehnte Beschäftigte in Deutschland ist in der medizinischen Versorgung tätig (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2021). Im Vergleich zur Automobilindustrie und dem Maschinenbau, die in Deutschland als zwei gesamtwirtschaftlich besonders wichtige Industriezweige gelten, ist die Anzahl der Beschäftigten im Bereich der medizinischen Versorgung deutlicher höher. Dies verdeutlicht die Bedeutung des Gesundheitswesens als Beschäftigungsfeld (s. Tab. 2). Zudem prognostizieren die demografische Entwicklung sowie der medizinische Fortschritt auch in Zukunft einen weiteren Anstieg des Bedarfs bzw. der Nachfrage nach medizinischer Versorgung.
Die in Tabelle 1 dargestellten Werte sollten nicht nur isoliert als Ausgabenblöcke, die für die Gesundheitsversorgung in Deutschland anfallen, tituliert und interpretiert werden. Vielmehr sind die monetären Posten zugleich als Investitionen zu verstehen. Diese Sichtweise ergibt sich daraus, dass sämtliche Ausgaben für die Gesundheitsversorgung dem Ziel dienen sollen, aus Mikroperspektive die Gesundheit eines individuellen Behandelten sowie aus Makroperspektive die Gesundheit einer gesamten Bevölkerung wiederherzustellen und/oder aufrecht zu erhalten. Die Gesundheitsausgaben stellen dabei den monetären Faktoreinsatz dar, der in Kombination mit den in Tabelle 2 geschilderten Beschäftigtenzahlen im Bereich der medizinischen Versorgung die „Produktion“ des abstrakten Guts Gesundheit ermöglicht. Nur wenn die geschilderten beiden Komponenten monetärer Faktoreinsatz in Form von Gesundheitsausgaben und der personelle Faktoreinsatz, hier quantifiziert in Form der Beschäftigten, zusammenwirken, kann Gesundheit „produziert“ werden. Dabei stellt das Gut Gesundheit eine wichtige Voraussetzung und einen Befähiger für die Wirtschaftsleistung einer Bevölkerung bzw. eines Landes dar.
Tab. 2 Anzahl Beschäftigte nach Branche in Millionen (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2021; Statistisches Bundesamt 2023d; Statistisches Bundesamt 2023c)
Neben ihrer gesellschaftlichen Bedeutung leisten die Einrichtungen der medizinischen Versorgung einen wichtigen Beitrag zur volkswirtschaftlichen Entwicklung: nämlich als inhärenter Teil der Wirtschaft inklusive der Verflechtung mit anderen Wirtschaftsbereichen. Beispielsweise sind für den Erhalt und Betrieb von Krankenhäusern Zulieferungen und Leistungen von Unternehmen aus anderen Wirtschaftszweigen vonnöten, z.B. aus dem Baugewerbe, Medizintechnikbranche oder der Gastronomie. Somit wird auf Grundlage der Leistungserbringung an der behandelten Person in anderen Bereichen der Wirtschaft weitere ökonomische Wertschöpfung generiert. Diese wertschöpfenden Effekte werden auch durch Trends und Entwicklungen der Gesellschaft – wie durch den medizinisch-technologischen Fortschritt oder den demografischen Wandel – akzentuiert und tragen dazu bei, dass der Bedarf und die Nachfrage an den Leistungen und Gütern der Gesundheitswirtschaft steigen (Czypionka et al. 2018). Ebenso können gesamtwirtschaftliche Auswirkungen eines Gesundheitssystems auf die Wirtschaftsleistung abgeleitet werden. Diese ergeben sich aus den positiven Einflüssen einer gesunden Bevölkerung auf gesamtwirtschaftlich relevante Indikatoren, wie z.B. die allgemeine Produktivität (Suhrcke et al. 2006). Im Folgenden sollen diese nachfrageseitigen, wertschöpfenden Wirkungen der Einrichtungen der medizinischen Versorgung am Beispiel von Krankenhäusern verdeutlicht werden. Des Weiteren wird das Gesundheitssystem, welches über eine gesunde Bevölkerung positive Auswirkungen auf volkswirtschaftlich relevante Kennzahlen ausübt, als mittelbarer Wirtschaftsfaktor dargestellt.
Direkte, indireke und induzierte Wertschöpfungseffekte
Die direkten Effekte des Gesundheitssystems auf die Gesamtwirtschaft sind zum einen Resultat der nachfragewirksamen Ausgaben für Güter, Dienstleistungen und Investitionen der Einrichtungen der medizinischen Versorgung selbst. Hierbei kommt es zu einer Erhöhung der Produktion und der damit einhergehenden Bruttowertschöpfung, ebenfalls bedingt durch eine Erhaltung von Arbeitsplätzen der Beschäftigten und Zahlung von Arbeitnehmerentgelten. Diese Erhöhung der Nachfrage führt auch zu indirekten Wertschöpfungseffekten bei den Zulieferern, da diese wiederrum Güter und Dienstleistungen bei anderen Zuliefernden und Wirtschaftsunternehmen nachfragen. Darüber hinaus ergeben sich bei den beschäftigen Personen im Gesundheitssystem, als auch indirekt bei den Zulieferern, induzierte Effekte, indem ein Teil der gezahlten Löhne und Gehälter für private Konsumzwecke verwendet wird. Durch den erhöhten Konsum wird wiederrum Wertschöpfung generiert, welcher die volkswirtschaftliche Entwicklung fördert.
Beispiel für Wertschöpfungseffekte im Gesundheitssystem
Wenn beispielsweise in einem Krankenhaus eine Hüftgelenks-Endoprothesen-OP durchgeführt wird, dann führt dies zu direkten, indirekten und induzierten Wertschöpfungseffekten in anderen Wirtschaftszweigen. Durch den Erwerb der Prothese wird direkt Wertschöpfung in dem Medizintechnikunternehmen generiert, welches das Produkt hergestellt und an das Krankenhaus verkauft hat (direkter Effekt). Dasselbe gilt natürlich für weitere zuliefernde Unternehmen, von denen von Krankenhäusern für die Patientenversorgung verschiedenste Güter nachgefragt werden: z.B. Nahrungsmittel, Heil- und Hilfsmittel, Arzneien etc. Diese Unternehmen fragen ihrerseits Güter in anderen Unternehmen nach: z.B. benötigt das Medizintechnikunternehmen Materialen für die Herstellung der Endoprothese (indirekter Effekt). Solche nachfrageseitigen Effekte generieren nun weiterhin ökonomische Wertschöpfung, bis der Effekt nach und nach „versickert“. Des Weiteren erhalten das ärztliche und pflegerische Personal für die Durchführung der OP ein Gehalt, welches im alltäglichen Konsum (wie z.B. für Lebensmittel, Miete) ausgegeben wird und wiederrum Wertschöpfung in anderen Unternehmen generiert (induzierter Effekt). Ebenso erhalten die Mitarbeitenden in den zuliefernden Unternehmen des Krankenhauses einen Lohn, den sie für den privaten Konsum aufwenden (indirekt induzierter Effekt). Auf diese Weise generiert ein Krankenhaus auf verschiedenen Wegen, auch in Wirtschaftsbereichen außerhalb des Gesundheitssektors, wirtschaftliche Wertschöpfung.
Das allgemeine Gesundheitsniveau einer Bevölkerung ist von mehreren Faktoren abhängig. Zum einen trägt die Gesundheitsversorgung und die Verfügbarkeit von medizinischen Leistungen im großen Maße zur Erhaltung der allgemeinen Gesundheit einer Bevölkerung bei (Cutler und McClellan 2001). Zum anderen sind hier noch andere bekannte gesundheitssystemrelevante Faktoren zu nennen, welche zu einer Erhöhung des Gesundheitszustandes und der Lebenserwartung beitragen: z.B. Fortschritte und allgemeine Verbesserungen in der Hygiene, Ernährung und Anhebung des Bildungsniveaus (Fogel 2004). Diese Faktoren nehmen in der Regel mit steigendem wirtschaftlichen Wohlstand einer Gesellschaft zu, sodass auch die Gesundheit in der Bevölkerung wächst. Darüber hinaus weisen neuere Erkenntnisse darauf hin, dass Fortschritte in der Gesundheitsversorgung, die zu einer Verringerung von Krankheit und einer Erhöhung der Lebenserwartung führen, nicht nur zu einer Verbesserung der Lebensqualität, sondern auch zur Steigerung der Wirtschaftsleistung selbst beitragen (McKee und Kluge 2018; Suhrcke et al. 2006).
Aus ökonomischer Sicht spielt die Gesundheit durch die Ausbildung der körperlichen und kognitiven Fähigkeiten für den Aufbau des sogenannten Humankapitals eine entscheidende Rolle. Dabei sind in der Regel gesunde Arbeitnehmer:innen auch produktiver, was auch auf moderne wissensbasierte Volkswirtschaften zutrifft, da u.a. bestehende Technologien effizienter genutzt und die Arbeitnehmer:innen sich gegenüber strukturellen Veränderungen schneller anpassen können (Bloom und Canning 2009). Empirisch ist ein Zusammenhang zwischen individuellem Einkommensverlusten infolge einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu beobachten (Jäckle und Himmler 2010). Dabei ist schon seit längerem bekannt, dass insbesondere psychische Erkrankungen, Atemwegserkrankungen und Krankheitsbilder des Muskel-Skelett-Systems zu Produktivitätsverlusten führen (McDaid et al. 2019; Goetzel et al. 2004). Die durch die morbiditätsbedingten Produktivitätsverluste verursachten (indirekte) Kosten können dabei um ein Vielfaches höher sein als die direkten Krankheitskosten, welche zur Behandlung der Grunderkrankung aufgewendet werden.
Aktuellen Schätzungen zufolge führen Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes insgesamt jährlich bis zu 158,3 Mio. Arbeitsunfähigkeitstagen in Deutschland, was 2020 zu Bruttowertschöpfungsausfällen (Verlust an Arbeitsproduktivität) von 32,5 Mrd. € geführt hat (BAuA 2022).
Dabei vollziehen sich die potenziellen Auswirkungen schlechter Gesundheit auf das Arbeitsangebot vor allem durch krankheitsbedingte Frühverrentungen. Arbeitszeiten von Arbeitnehmer:innen können sich dabei auch reduzieren, wenn nahe Angehörige gepflegt werden müssen (Husain 2010). Empirische Untersuchungen aus den USA zeigen, dass sich Personen mit einem niedrigen Gesundheitsstatus bis zu zehnmal häufiger frühzeitig pensionieren lassen als Personen, die einen durchschnittlichen Gesundheitsstatus aufweisen (Bound et al. 2010). Ähnliche Zusammenhänge sind auch für Länder der Europäischen Union beobachtbar (Hagan et al. 2009).
Wie sich gezeigt hat, ist das Gesundheitssystem als Wirtschaftsfaktor nicht zu unterschätzen. In seiner Gesamtheit ist das Gesundheitswesen mehr als die Summe seiner Teile und nimmt auf vielfältige Weise Einfluss: zum einen durch die Bereitstellung des Gutes Gesundheit als auch zum anderen durch Einflussnahme auf andere gesellschaftsrelevante Bereiche – wie der Wirtschaft. Die vorherigen Ausführungen haben sich dabei vor allem auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der medizinischen Versorgung konzentriert. Jedoch generieren auch andere Teilbereiche der Gesundheitswirtschaft – z.B. Krankenversicherungen, öffentliche Verwaltung, Medizintechnikunternehmen – wirtschaftliche Wertschöpfung und tragen durch die Zahlung von Arbeitnehmerentgelten, die Sicherstellung von Arbeitsplätzen und die Nachfrage von Gütern und Dienstleistungen zum wirtschaftlichen Wachstum bei.
Das Gesundheitssystem
Für einen Leitfaden durch das Labyrinth des deutschen Gesundheitssystems sowie die Darstellung unterschiedlichster Beziehungen und Berührungspunkte diverser Bereiche der Gesundheitsversorgung eignet sich das unten angeführte übersichtliche und informative Nachschlagewerk von Eckhard Nagel. Für eine internationale Perspektive und für den Vergleich mit der Funktionsweise und Struktur anderweitig organisierter Gesundheitssysteme, dient die stetig aktualisierte Serie „Health System Reviews“ des European Observatory on Health Systems and Policies. Für die Einordnung der internationalen Perspektive kommt der Beitrag zur vergleichenden Gesundheitssystemforschung von Lauerer et al. 2019 infrage:
Nagel E (Hrsg.) (2013) Das Gesundheitswesen in Deutschland: Struktur, Leistungen und Weiterentwicklung, 5. Auflage, Deutscher Ärzteverlag Köln
European Observatory on Health Systems and Policies: Health system reviews (HiT series). URL: https://eurohealthobservatory.who.int/publications/health-systems-reviews?publicationtypes=e8000866-0752-4d04-a883-a29d758e3413&publicationtypes-hidden=true (abgerufen am 16.11.2023)
Lauerer M, Negele D, Nagel E (2019) Grundlagen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung. In: Robin Haring (Hrsg.): Gesundheitswissenschaften. Springer Berlin, Heidelberg
Wirtschaftliche Wertschöpfung des Gesundheitssektors
Für eine Gesamtschau und Darstellung der Branche „Gesundheitswirtschaft“ im volkswirtschaftlichen Kontext ist die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz herausgegebene Publikationen zur gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung von Nutzen. Hier werden die für das Gesundheitswesen relevanten Zahlen zur Einschätzung der Bruttowertschöpfung angeführt, regionalökonomisch für die einzelnen Bundesländer ausgewertet und offengelegt:
Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023) Gesundheitswirtschaft – Fakten & Zahlen. URL: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Textsammlungen/Branchenfokus/Wirtschaft/branchenfokus-gesundheitswirtschaft.html
BAuA (2022) Volkswirtschaftliche Kosten durch Arbeitsunfähigkeit 2020. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund. URL: https://www.baua.de/DE/Themen/Arbeitswelt-und-Arbeitsschutz-im-Wandel/Arbeitsweltberichterstattung/Kosten-der-AU/Kosten-der-Arbeitsunfaehigkeit_node.html (abgerufen am 16.11.2023)
Bloom DE, Canning D (2009) Population Health and Economic Growth. In: Spence AM und Lewis MA (Hrsg): Health and Growth. World Bank, Washington, DC, 53–76
Bound J, Stinebrickner T, Waidmann T (2010) Health, Economic Resources and the Work Decisions of Older Men. Journal of Econometrics 156 (1), 106–129
Bundesministerium für Gesundheit (2021) Gesundheitswirtschaft im Überblick. URL: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/gesundheitswesen/gesundheitswirtschaft/gesundheitswirtschaft-im-ueberblick.html#:~:text=Der%20Kernbereich%2C%20auch%20erster%20Gesundheitsmarkt,PKV%20)%20einschlie%C3%9Flich%20Pflegeversicherung%20finanziert%20werden (abgerufen am 16.11.2023)
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2021) Gesundheitswirtschaft – Fakten & Zahlen. Ergebnisse der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Daten 2020, Berlin. URL: www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Wirtschaft/gesundheitswirtschaft-fakten-und-zahlen-2020.html (abgerufen am 16.11.2023)
Burden BC, Fletcher JM, Herd P et al. (2017) How Different Forms of Health Matter to Political Participation. The Journal of Politics 79 (1), 166–178
Cutler DM, McClellan M (2001) Productivity Change in Health Care. American Economic Review 91 (2), 281–286
Czypionka T, Schnabl A, Lappöhn S et al. (2018) Gesundheitswirtschaft Österreich: Ein Gesundheitssatellitenkonto für Österreich (ÖGSK). URL: https://irihs.ihs.ac.at/id/eprint/4657/ (abgerufen am 16.11.2023)
Fogel RW (2004) The escape from hunger and premature death, 1700–2100. Europe, America, and the Third World. 1. Auflage. Cambridge University Press, Cambridge
Goetzel RZ, Long SR, Ozminkowski RJ et al. (2004) Health, absence, disability, and presenteeism cost estimates of certain physical and mental health conditions affecting U.S. employers. Journal of Occupational and Environmental Medicine 46 (4), 398–412
Hagan R, Jones AM, Rice N (2009) Health and retirement in Europe. International Journal of Environmental Research and Public Health 6 (10), 2676–2695
Husain MJ (2010) Contribution of Health to Economic Development: A Survey and Overview. Economics 4 (1), 20100014
Jäckle R, Himmler O (2010) Health and Wages. Journal of Human Resources 45 (2), 364–406
Lauerer M, Negele D, Nagel E (2019) Grundlagen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung. In: Haring R (Hrsg): Gesundheitswissenschaften. Springer, Berlin, Heidelberg (Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit), 779–790
McDaid D, Park A-L, Wahlbeck K (2019) The Economic Case for the Prevention of Mental Illness. Annual Review of Public Health 40, 373–389
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Murray CJ, Frenk J (2000) A framework for assessing the performance of health systems. Bulletin of the World Health Organization 78 (6), 717–731
Nagel E (2020) Gesundheit und Gerechtigkeit. In: Decken K von der und Günzel A (Hrsg): Staat – Religion – Recht. Festschrift für Gerhard Robbers zum 70. Geburtstag. Staat – Religion – Recht. 1. Auflage, Baden-Baden. Nomos, 47–62
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Suhrcke M, McKee M, Stuckler D et al. (2006) The contribution of health to the economy in the European Union. Public Health 120 (11), S994–1001
Prof. Dr. Dr. med. habil. Dr. phil. Dr. theol. h.c. Eckhard Nagel
Eckhard Nagel war von 2010 bis 2015 Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Essen und ist heute Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften sowie Sprecher des „MedizinCampus Oberfranken“ der Universität Bayreuth. Zudem ist er Aufsichtsratsvorsitzender bei Vivantes und Ärztlicher Direktor der Sonderkrankenanstalt für Kinder und Jugendliche vor und nach Organtransplantation „Ederhof“ sowie Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen (DGIV). Seine enge Zusammenarbeit mit China findet Niederschlag in der Gastprofessur an der Tongji Medizinischen Fakultät der Huazhong Universität für Wissenschaft & Technologie und als deutscher Präsident des Tongji Klinikums, Wuhan, China. Von 2001 bis 2008 war der habilitierte Transplantationschirurg Gründungsmitglied und Vorstand des Nationalen Ethikrats und von 2008 bis 2016 des Deutschen Ethikrats. Seit 2001 ist er Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages; 2005 und 2010 war er dessen Präsident.
Weitere Co-Autor:innen:
Dennis Henzler, M.Sc., Universität Bayreuth, Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften
Dr. rer. pol. Daniel Negele, Universität Bayreuth, Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften
Dr. med. Ida Schregel M.Sc., Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf
Die Frage aus dem Titel klingt zunächst vielleicht etwas hoch gegriffen. Wieso sollte ich mich in meiner ärztlichen Autonomie, Diagnosestellung und Behandlung einschränken lassen? Schließlich bin ich doch eigentlich nur meinen Patienten verpflichtet?
Aber dann wird ein Medikament nicht von der Krankenkasse übernommen oder ein Therapieplatz ist nicht verfügbar und der nächste Termin für die Diagnostik liegt in weiter Ferne. Plötzlich setzen Rahmenbedingungen uns doch Grenzen oder zumindest Leitplanken für unser ärztliches Handeln die wir schnell beginnen mitzudenken. Daher lohnt es sich zu hinterfragen woher diese Rahmenbedingungen kommen und wer sie gestaltet.
Denn in der Theorie ist es doch einfach: ein Patient ist krank und sucht daher einen Arzt zur Behandlung auf. Der Arzt behandelt dann nach bestem Wissen und Gewissen. Für die (Arbeits-)Leistung möchte sie bezahlt werden und fordert also ein Honorar vom Patienten. So überschaubar war die Arzt-Patienten-Beziehung lange Zeit und ist sie, mit gewissen Einschränkungen, auch heute noch, zum Beispiel bei der privaten Abrechnung.
Weil ein Unfall oder eine Krankheit unerwartet und existenzbedrohend hohe Kosten verursachen kann und dieses Risiko von den wenigsten Personen korrekt eingeschätzt wird, ist es sinnvoll sich dagegen abzusichern. In Deutschland gilt eine Krankenversicherungspflicht. Deshalb treffen wir meist eine Dreiecksbeziehung zwischen Empfänger (z.B. Patient), Erbringer (z.B. Arzt) und Erstatter (Krankenkasse) einer Gesundheitsleistung an.
Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) als Sozialversicherung ist tatsächlich eine deutsche Erfindung. Reichskanzler Otto von Bismarck erließ 1883 das Krankenversicherungsgesetz wodurch Arbeiter und Angestellte unterhalb einer Verdienstgrenze pflichtversichert waren. Im Rahmen der Sozialversicherungseinführung erfolgte auch eine Pensions-, Invaliden- und später auch Unfallversicherung. Auch wenn das politische Kalkül hinter dieser Innovation wohl auf das Einhegen der damals erstarkenden Sozialdemokratie abzielte, wurde doch das weltweit erste soziale Krankenversicherungssystem geschaffen, welches in vielen Facetten auch heute noch Bestand hat. So wurde beispielweise bereits damals eine Aufteilung der Beiträge zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber bestimmt.
Die wichtigsten Gesundheitsreformen
Im weiteren Fließtext kennzeichnen Boxen die wichtigsten Gesundheitsreformen der vergangenen Jahre. In fast jeder großen Reform wurden verschiedene Dinge gleichzeitig reformiert, der Inhalt im Kasten nimmt jeweils Bezug zu den ein oder zwei prägnantesten Änderungen.
Die gesetzliche Krankenversicherung ist nach dem Solidarprinzip konzipiert. D.h. alle tragen nach finanzieller Leistungsfähigkeit und nicht bspw. nach Versicherungsrisiko (anders bspw. in einer Haftpflichtversicherung) ihren Beitrag. Gleichzeitig gilt das Bedarfsprinzip, die erhaltene medizinische Versorgung richtet sich nicht nach eingebrachten Beiträgen, sondern (im Idealfall) nach der medizinischen Notwendigkeit.
In der privaten Krankenversicherung, für die man sich ab einer gewissen Verdienstgrenze entscheiden kann, gilt hingegen ein Äquivalenzprinzip, also die Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung. Anhand verschiedener Risikomerkmale wird der individuelle Versicherungsbeitrag kalkuliert. In der PKV können einzelne Versorgungsleistungen nicht im Versicherungsumfang enthalten sein. Eine Basisversorgung ist immer gesichert.
Mit dem Krankenversicherungsgesetz von 1883 wurde aber keine Krankenkasse für alle eingeführt, vielmehr wurden bestehende Organisationen weiterentwickelt und andere neu geschaffen. So wurde aus den sog. Gesellenbruderschaften der verschiedenen Handwerksberufe, welche auch vorher bereits diverse Sozialfunktionen übernommen hatten, dann die heutigen Innungskrankenkassen (IKK). Andere Arbeiter und Angestellte wurden von ihren Betrieben in Betriebskrankenkassen (BKK) versichert. Personen die bei keiner anderen Kasse versichert wurden, wurden dann den neu gegründeten Ortskrankenkassen (AOK) zugewiesen. Alternativ zur Pflichtzuweisung konnte man damals, wenn man schon freiwillig krankenversichert war, diese als Ersatz wählen, daher der noch heute bestehende Name Ersatzkassen.
Die starke Fokussierung auf Berufsgruppen sieht man exemplarisch auch bei der größten deutschen Krankenversicherung der Techniker Krankenkasse, übrigens eine Ersatzkasse.
Aufgrund der Berufs- und Betriebsfokussierung entstanden über 20.000 Krankenkassen, deren Anzahl sich im Verlauf der Zeit aber reduzierte, 1970 waren es bspw. noch 1.815 gesetzliche Krankenkassen.
Da diese immer noch weitgehend nach Berufen und Regionen getrennt waren, hatten die Kassen mit einer sehr unterschiedlichen Krankheitslast (Morbidität) und dadurch bedingten Ausgaben zu tun, welche eine Schieflage zwischen den Krankenkassen erzeugte.
Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) ist auch unter dem Namen „Lahnstein-Kompromiss“ bekannt und sorgte für die Einführung der freien Krankenkassenwahl und den Wettbewerb zwischen Krankenkassen. Damit aber nicht vor allem die Krankenkassen mit vorwiegend junger gesunder Mitgliederstruktur profitieren, wurde ein Ausgleichsmechanismus zwischen den Krankenkassen geschaffen, der Risikostrukturausgleich, welcher nach bestimmten Kriterien der Versicherten die Finanzlage ausglich. Außerdem wurde u.a. die Budgetierung eingeführt und Zuzahlungen erhöht.
Aufgrund stetig steigender Ausgaben und der oben benannten finanziellen Schieflage der GKV war die Bundespolitik stets um Kostendämpfung im Gesundheitswesen bemüht. Ab 1993 trat dann eine wettbewerbsorientierte Politik (zunächst zwischen den Kassen) hinzu, die aber auch die Kosten senken sollte.
Durch das GSG kam es zu wettbewerbsbedingten Fusionen und damit zu einer deutlichen Reduktion der Anzahl an gesetzlichen Krankenkassen, sodass es zu Beginn des Jahres 2024 noch 95 Krankenkassen gab.
Diese verteilen sich auf AOKen (11), BKKen (70), IKKen (6), die Ersatzkassen (6) und die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau, sowie die Knappschaft-Bahn-See. Die meisten Personen sind aber nicht bei BKKen, sondern mit rund 38% der Versicherten bei einer der Ersatzkassen, bzw. mit rund 37% bei AOKen versichert. Insgesamt sind knapp 90% der Bevölkerung bei der GKV versichert.
Neben eigenen Positionen der Krankenkassenlager, vertreten bspw. durch den AOK-Bundesverband oder den Verband der Ersatzkassen, sind alle Krankenkassen per Gesetz seit 2007 gemeinsam im GKV-Spitzenverband organisiert. Dieser vertritt die Belange der Kassen auf Bundesebene.
Die PKVen werden auf Bundesebene durch den PKV-Verband vertreten.
Anfang des 20. Jahrhundert sahen sich die Ärzte durch Einführung der Pflichtversicherung plötzlich nicht mehr nur mit den einzelnen Patienten konfrontiert, sondern auch mit Krankenkassen. Denn diese konnten damals festlegen wer mit ihnen und auch zu welchen Bedingungen abrechnen darf (Vertragsmonopol). Konsequenterweise wurden also Verträge geschlossen, die vor allem den Versicherten und Kassen zugutekamen. Die Unzufriedenheit der Ärzteschaft wuchs und führte 1900 zur Gründung eines politischen Ärzteverbundes zur Wahrung der Standesinteressen durch Hermann Hartmann, dem heute nach ihm benannten Hartmannbund. Der Bund schaffte es Verträge für seine Mitglieder mit einzelnen Krankenkassen auszuhandeln und ein Gegengewicht zu den Krankenkassen zu bilden.
Insgesamt überwog aber weiter der ärztliche Unmut und führte zur Planung eines Generalstreiks. Diesen konnte die Regierung abwenden, in dem sie auf das sog. Berliner Abkommen zwischen Kassen und Ärzten drängte, welches erstmals Rahmenbedingungen für die Verträge zwischen Ärzten und Kassen festlegte und den Ärzten Mitspracherecht bei der Zulassung zur Kassentätigkeit gab.
In den Folgejahren kam es dennoch zu weiteren Auseinandersetzungen und als 1929 die Weltwirtschaftskrise auch Deutschland hart beutelte, war der Staat nicht mehr gewillt, den Fehden zwischen Ärzten und Kassen zuzusehen, während die Bürger andere Sorgen hatten. 1931 wäre es beinahe zu einer Verstaatlichung mit fest angestellten Ärzten bei den Krankenkassen gekommen. Unter diesem Druck auf die Ärzteseite entstand dann Kompromissbereitschaft, welche in der Gründung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) als ärztliche Selbstverwaltungsorgane mündete. Diese sollten zwischen dem Vertragsverhältnis zwischen Kassenarzt und Krankenkasse stehen und im ‚Reichsausschuss Ärzte und Krankenkassen‘ die Bedingungen für die Behandlung verhandeln. Die drohende Verstaatlichung wurde so abgewendet, das Zugeständnis der Ärzteschaft war dafür der Verzicht auf Streiks.
Heute gibt es 17 KVen auf Länderebene (in NRW gibt es 2, eine für Nordrhein und eine für Westfalen-Lippe), sowie deren Dachorganisation die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Die KVen vertreten u.a. die Interessen der Vertragsärzte, stellen aber auch die flächendeckende wohnortnahe Versorgung sicher und verhandeln mit dem GKV-Spitzenverband u.a. die Vergütung der ärztlichen Leistung.
Nur wer Vertragsarzt einer KV ist, darf im ambulanten Bereich GKV-Patienten behandeln. Ohne diese sog. „Kassenzulassung“ kann man zwar eine Praxis gründen, aber nur privat abrechnen. Die Aufnahme einer vertragsärztlichen Tätigkeit ist nicht überall und jederzeit möglich. Die KVen bestimmen wie viele Ärzte einer Fachrichtung sich in einem bestimmten Gebiet niederlassen können (Bedarfsplanung). Dies orientiert sich an der Zahl der Bevölkerung, sowie weiteren Risikomerkmalen. Manche Gebiete können daher für eine Zulassung gesperrt sein.
Das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) von 2015. Einer der Hauptreformansätze des GKV-Versorgungsstärkungsgesetz war die Sicherstellung der ambulanten Versorgung. Dazu wurde u.a. der G-BA beauftragt die Bedarfsplanungsrichtlinie weiterzuentwickeln und u.a. die Morbidität mit einzubeziehen. In Regionen mit Überversorgung sollte diese reduziert werden und Ärzte in unterversorgten Regionen eine bessere Vergütung erhalten. Zusätzlich wurde mit dem GKV-VSG ein Innovationsfond zur Förderung von innovativen Versorgungsprojekten und Versorgungsforschung aufgelegt.
Wer eine Zulassung erfolgreich beantragt und dann niedergelassen tätig wird, ist Mitglied der KV. Auch angestellte Fachärzte sind Mitglieder der KV. Analog zu den KVen gibt es die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen (KZVen).
Die Entwicklung von Krankenkassen und KVen ist stark miteinander verwoben, in einem ähnlichen Zeitrahmen entwickelten sich aber auch die Ärztekammern. 1873 fand der erste Deutsche Ärztetag statt. Zuvor gab es viele verschiedene ärztliche Vereine in Deutschland. Diese sollten nun in einem Ärztevereinsbund versammelt werden. Gleichzeitig begannen einzelne Bundestaaten im Kaiserreich Ärztekammern zu gründen. Die erste 1865 in Baden, 1871 in Bayern und dann 1887 in Preußen. Hier sieht man schon den Unterschied zum Hartmannbund. Während dieser ein ärztlich gegründeter Verbund ist, sind die Ärztekammern staatlich vorgegeben.
In Deutschland sind mehrere Berufe, auch mehrere Heilberufe, „verkammert“. Hier muss nochmal kurz ausgeholt werden. Vielleicht habt ihr schon mal gehört: „Der Arztberuf ist seiner Natur nach ein freier Beruf.“ Das stimmt insofern, als dass er gesetzlich auch als freier Beruf festgelegt ist. Aber was bedeutet das? Grundlage für einen freien Beruf ist eine besondere berufliche Qualifikation (z.B. Medizinstudium) und dann die persönliche, eigenverantwortliche und fachliche Erbringung von Dienstleistungen höherer Art (z.B. Behandlung) im Interesse der Auftraggeber (also der Patienten und nicht z.B. der Krankenkassen) und der Allgemeinheit. Häufig geht damit eine Selbstständigkeit einher (z.B. bei Arztpraxen), muss aber nicht.
Ein Kammerberuf ist nun ein Beruf mit besonderen Zugangsregelungen (in unserem Fall die Approbation). Diese Zugangsbeschränkungen sollen sicherstellen, dass alle, die diese Berufsbezeichnung tragen, eine gewisse fachliche Qualifikation vorweisen können und der Arztberuf bestimmten Qualitätsanforderungen genügt – im Gegensatz z.B. zum Heilpraktiker-Beruf.
Wird eine Approbation erteilt, besteht eine Pflichtmitgliedschaft in der Ärztekammer. Diese bestehen auf Bundesland-Ebene (Ausnahme NRW), manchmal auch auf Regionalebene, wie bspw. in Baden-Württemberg. Die Ärztekammern dienen aber nicht nur der Verwaltung, sondern zum Beispiel auch der Entwicklung und Überwachung einer Berufsordnung (verhält sich ein Mitglied unärztlich?), der Entwicklung der Weiterbildungsordnung und Abnahme von Facharztprüfungen und natürlich der Vertretung der ärztlichen Interessen.
Die Bundesärztekammer ist hingegen keine Kammer im Sinne einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, sondern ein Zusammenschluss der Landesärztekammern als nichteingetragener Verein.
Einigen Lesern wird es sicherlich schon aufgefallen sein, dass es bei der Beschreibung der historischen Entwicklung eine „Lücke“ gibt, die hier natürlich nicht ausgespart werden soll.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurden die Standesorganisationen gleichgeschaltet, die Sozialpolitik blieb teilweise intakt. Nach 1945 wurden die zuvor bestehenden Strukturen schrittweise wiederhergestellt (aus dem oben erwähnten Reichsausschuss Ärzte und Krankenkassen wurde dann bspw. der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen), sodass die historischen Abrisse immer noch zum Verständnis für die heutigen Strukturen dienen können, denn im Großen und Ganzen finden wir heute noch Strukturen vor, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind.
Nun fehlt noch das große Feld der stationären Versorgung. Krankenhäuser entwickelten sich sehr früh – in Europa ab dem Mittelalter – wenn auch zunächst v.a. als Armenhaus. Die Pflege wurde von kirchlichen Orden geleistet, daher auch heute noch die durchaus häufige kirchliche Trägerschaft von Krankenhäusern. Im 18. Jahrhundert wurden die Krankenhäuser zu Stätten für medizinische Diagnostik und Therapie, Lehre und Ausbildung. Die deutschen Krankenhäuser und ihre Interessen werden politisch vor allem von der Deutschen Krankenhausgesellschaft, die aus 16 Landeskrankenhausgesellschaften und 12 weiteren Mitgliedsverbänden besteht, vertreten.
Seit den 1970ern erhielten Krankenhäuser zur Finanzierung tagesgleiche Pflegesätze – also für jeden Tag der Behandlung das gleiche Geld. Da diese kostendeckend waren gab es zum einen keinen Anreiz effizienter zu werden, zum anderen lohnte es sich bspw. Patienten bereits am Freitag aufzunehmen, wenn Montag eine OP geplant war. Dies war weder gesundheitlich noch finanziell gut.
Diese Konstellation führte zum GKV-Gesundheitsreformgesetz von 2000, welches ab 2003 die Einführung der DRG-Fallpauschalen vorsah und mit den Details der Umsetzung den G-BA beauftragte. Die Einigung des G-BA wurde dann noch im Krankenhausentgeltgesetz ab 2002 geregelt.
Im DRG-System erhalten Krankenhäuser für bestimmte Diagnosen der Patienten eine fixe Summe, (weitgehend) unabhängig von der Liegedauer. Dies setzt einen Anreiz für mehr Effizienz – und passt, wie in der zweiten Box beschrieben, zu dem politischen Ziel mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen zu etablieren.
Welche Rolle spielen denn eigentlich die Parlamente und Regierungen in der Gesundheitspolitik?
Bund und (Bundes-)Länder haben in der Gesundheitspolitik unterschiedliche Aufgaben. Die der Länder umfassen vor allem die stationäre Versorgung und den öffentlichen Gesundheitsdienst sowie die Umsetzung zahlreicher Bundesgesetze. Ansonsten regeln die Länder im Rahmen der föderalen Aufgabenteilung alles womit sich der Bund nicht befasst hat (also keine Gesetze dazu beschlossen hat). Beschließt der Bundestag ein Gesetz auf einem ihm rechtlich zustehenden Rechtsgebiet, würden etwaige Länderregelungen hinfällig, das nennt man konkurrierende Gesetzgebung.
Der Bundestag hat das aber in den meisten Bereichen der Gesundheitspolitik getan und ist damit der wichtigste Gesetzgeber. Er beschließt z.B. Gesetze zur Finanzierung des Gesundheitswesens, zur Gestaltung des Arzneimittelmarktes oder auch zur Digitalisierung. Das Amt der Bundesgesundheitsministerin ist normalerweise ein Ministeramt, das nicht allzu beliebt ist. Vor allem weil das Gesundheitssystem komplex und die Interessen vielfältig sind (wie dieser Beitrag sicherlich auch zeigt). Dennoch gehen von dort die meisten Gesetzesinitiativen aus, die dann im Bundestag beschlossen werden.
Das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) von 2019 und das Digitalgesetz von 2023. In vielen Gesetzen und Reformen hat der Bundesgesetzgeber versucht, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzubringen, lange Zeit vergeblich. Das TSVG führte nach Jahren des Stillstands eine Mehrheit des Bundesgesundheitsministeriums für die wichtigsten Entscheidungen ein, die bislang in der Hand der Selbstverwaltung lagen. So konnten etwa die eAU-(elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung) und das eRezept im Verlauf nach einigen Verschiebungen eingeführt werden. Auch die ePA (elektronische Patientenakte) soll künftig stärker genutzt werden.
Die Bundesländer haben über den Bundesrat häufig ein Mitbestimmungsrecht, wenn die Regelungen z.B. den Krankenhausbereich betreffen oder sich anderweitig auf die Finanzen der Länder auswirken können. Die Approbationsordnung (übrigens eine Rechtsverordnung und kein Gesetz) wird bspw. auch im Bundesrat diskutiert.
Die Länderparlamente in den Bundesländern entscheiden selbst u.a. über die örtliche Krankenhauspolitik, hierbei vor allem die Krankenhausplanung und Investitionsfinanzierung und den öffentlichen Gesundheitsdienst. Die Landesministerien für Gesundheit umfassen meistens noch Soziales, manchmal auch noch weitere Themenfelder, da der Einflussbereich auf die Gesundheitsversorgung begrenzt ist.
Viel Wirbel und größtenteils Kritik auf Seiten der Krankenhäuser hat der erst kurz vor Drucklegung beschlossene Gesetzentwurf zur Krankenhausreform (Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz – KHVVG) ausgelöst. Durch ein modifiziertes Vergütungssystem und auf Basis von mehr Transparenz im stationären Leistungsgeschehen soll die Krankenhauslandschaft umgebaut werden. Nicht jedes Krankenhaus kann dann jede Leistung anbieten. Durch Spezialisierung und Zentralisierung können bestimmte Eingriffe nur noch an ausgesuchten Kliniken erfolgen, wodurch Routine und Behandlungsqualität steigen sollen. Im Moment befindet sich der Gesetzesentwurf noch im parlamentarischen Verfahren.
Die staatlichen Akteure beschränken sich weitgehend auf eine Rahmengesetzgebung. Darüber hinaus gilt das Selbstverwaltungsprinzip: Der Staat delegiert Aufgaben und Verantwortung an rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts, die Träger des Gesundheitswesens. Diese organisieren sich selbst und sichern in Eigenverantwortung die Gesundheitsversorgung (gemeinsame Selbstverwaltung). Neben den, den jeweiligen Akteuren selbst übertragenen Aufgaben (wie z.B. Vertragsschließung zwischen Kassen und KVen, bzw. Krankenhausgesellschaften, zur Gewährleistung der ambulanten, bzw. stationären Versorgung) sind einige der Akteure im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zusammengeschlossen.
Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) von 2004 wurden die zuvor getrennt bestehenden Bundesausschüsse der Ärzte, bzw. Zahnärzte und Krankenkassen und der Ausschuss Krankenhaus im gemeinsamen Bundesausschuss zusammengelegt. Er übernahm deren Aufgaben mit einer gemeinsamen Struktur und Geschäftsstelle.
Das GMG umfasste eine Reihe weiterer Maßnahmen, u.a. die Einführung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das den Nutzen von neuen Arzneimitteln bewertet. Man kann es kaum glauben, aber vor 2004 gab es keine Fortbildungspflicht für Ärzte, auch diese wurde mit dieser Reform eingeführt.
Das GMG führte außerdem die Praxisgebühr ein, welche 2013 wieder abgeschafft wurde.
Der G-BA ist das wichtigste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung. In ihm sitzen 5 Vertreter auf der Ärzte-„Bank“, zwei von der KBV, zwei von der DKG und einer von der KZBV. „Gegenüber“ sitzen 5 Vertreter auf der Kassenbank, alle werden vom GKV-Spitzenverband ernannt. Die Seiten, die die Gesundheitsleistungen erbringen und diejenigen, die sie bezahlen sind also ausgeglichen. Zudem gibt es drei unparteiische Vorsitzende. Nicht stimmberechtigt, aber mitberatend sind außerdem Patientenvertreter.
Nun könnte man fragen: wo ist denn da die Bundesärztekammer geblieben? Die BÄK ist zum einen keine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Zum anderen sind die ambulanten und stationären Strukturen auf der Leistungserbringerseite ja bereits abgebildet, sodass hier eine Doppelung der politischen Vertretung entstehen könnte. Der G-BA entscheidet über sehr viel, vor allem über alles wozu ihn der Bundestag beauftragt. Das sind u.a. Richtlinien zur ärztlichen Behandlung und zur Qualitätssicherung. Er bewertet aber auch Untersuchungs- und Behandlungsmethoden und befindet darüber welche Methoden in der GKV verwendet werden (Leistungskatalog). Auch die Erstattungsfähigkeit von Arzneimitteln durch die GKV wird durch den G-BA entschieden.
Diese weitreichenden Entscheidungsbefugnisse ersparen es der Bundespolitik sich im politischen Alltag ständig mit medizinischen Detailfragen beschäftigen zu müssen. Zumal eine Entscheidung, bspw. zur Erstattungsfähigkeit eines Arzneimittels in der GKV, ja auch nur für gut 90% der Bevölkerung gelten würde, denn unser Gesundheitswesen ist kein staatliches, sondern ein Sozialversicherungssystem.
Apropos Selbstverwaltung: Ärztekammern und Kassenärztliche Vereinigungen sind keine Gremien von oben herab, sondern können ärztlich mitgestaltet werden, Selbstverwaltung im besten Sinne.
In den Ärztekammern sind alle Ärzte Mitglied. Alle Mitglieder werden in regelmäßigen Abständen zur Kammerwahl aufgerufen und dürfen sich dort auch zur Wahl stellen! In der sog. Kammerversammlung finden sich die Delegierten zusammen um Beschlüsse, z.B. zur Weiterbildungsordnung oder eben auch zu politischen Positionen zu fassen.
In der KV kann jedes Mitglied die Vertreterversammlung mitwählen und sich zur Wahl aufstellen, diese wählt dann den Vorstand. Auf die Interessensvertretung kann man also auch hier aktiv Einfluss nehmen und mitbestimmen!
Pascal Nohl-Deryk
Pascal Nohl-Deryk ist Arzt in Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Er war politisch auf deutscher und europäischer Ebene für Medizinstudierendenvertretungen aktiv. Er engagiert sich u.a. in DEGAM, Hausärzteverband, JADE und bei Bündnis 90/Die Grünen.
„Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ – Rudolf Virchow