Toskanische Sünden - Paolo Riva - E-Book
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Toskanische Sünden E-Book

Paolo Riva

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Beschreibung

Der Dolce-Vita-Commissario kehrt zurück "Vollmond der Streitigkeiten"? Über den Aberglauben seiner Mitbürger im beschaulichen Montegiardino kann Commissario Luca nur den Kopf schütteln. Bis ein Toter am Ufer des Arno liegt. Alle zehn Jahre geschieht in den Hügeln der Toskana ein Naturschauspiel: Der Vollmond steht dann so hell am Himmel, dass er zum Greifen nah erscheint. Wunderschön sieht das aus – doch den älteren Bürgern von Montegiardino schwant Schlimmes, denn traditionell geht sich am Morgen nach diesem Schauspiel das ganze Städtchen an die Gurgel. Dieses Mal aber hat das katastrophale Folgen: Erst rast ein Markthändler ungebremst einen Hügel hinab und kommt dabei fast ums Leben, dann wird ein Bürger der Stadt tot aus dem Fluss gezogen. Er wurde brutal erschlagen. Was haben die beiden Fälle miteinander zu tun? Commissario Luca ermittelt unter Hochdruck, in seiner idyllischen Stadt, in der sich auf einmal alle spinnefeind sind.

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Paolo Riva

Commissario Luca

Toskanische Sünden

Bella-Italia-Krimi

Hoffmann und Campe

Mercoledì – Mittwoch
La luna piena dei conflitti – Der Vollmond der Streitigkeiten

1

Commissario Luca schreckte aus dem Schlaf hoch und setzte sich abrupt im Bett auf. Sein Zimmer war erstaunlich hell, obwohl der Himmel vor seinem Fenster schwarz war. Es musste noch tief in der Nacht sein.

Da – da war es wieder. Das Geräusch, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte.

War das ein Knall? Klang fast wie ein Schuss.

Mit einem Satz war er aus dem Bett und tapste mit nackten Füßen über den kalten Steinboden. Wie spät es wohl war? Commissario Luca warf einen schnellen Blick auf die leuchtenden Zeiger der Uhr im Flur. Vier Uhr morgens.

Wie immer, wenn etwas ungewöhnlich war, ging er zuerst ans andere Ende des Flurs und öffnete leise die Tür zum Kinderzimmer. Unwillkürlich musste er lächeln. Seine Tochter lag in ihrem weißen Bett unter dem Moskitonetz, die Bettdecke hing halb auf dem Dielenboden, und sie sah ganz ruhig und friedlich aus – natürlich, ein Knall, und sei er noch so laut, würde doch Emma nicht aus ihrem tiefen Schlaf reißen. Leise schloss Luca die Tür wieder.

Da – er zuckte tatsächlich kurz zusammen: wieder dieser Knall. Aber Moment mal – ein Schuss war das ganz sicher nicht gewesen. Sein Herz zog sich zusammen. Luca ging zu dem Schuhschrank aus alten Weinkisten, griff nach seinen Gummistiefeln und schlüpfte hinein. Er musste reichlich komisch aussehen: unten die dunkelblauen Stiefel, darüber nur eine Boxershorts und das alte Fußballtrikot vom AC Florenz, das er immer zum Schlafen trug. So trat er hinaus in die Nacht – eine äußerst eigentümliche Nacht. In den allermeisten Nächten war der Himmel hier oben auf dem Hochplateau ganz dunkel, sodass sich über ihrem alten Hof eine Kinoleinwand auftat, die Tausende und Abertausende hell blinkender Sterne zeigte. Doch heute war da eine einzige Lichtquelle, und die strahlte so hell, dass die Sterne in den Hintergrund traten: Der Vollmond schien der Erde so nah zu sein, als wollte er gleich herniedersinken, seine Krater und Gebirge waren so deutlich zu erkennen, wie Luca es noch nie gesehen hatte – er konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern. Wow, es war wirklich ein hinreißendes Bild. Sogar die Zikaden schienen verwirrt, sie zirpten immer noch, als wäre es Tag, dabei hielten sie sich sonst rigoros an die Ruhezeiten, die ihnen die Natur eingebläut hatte – aber nein, nicht bei diesem Mond.

Wieder knallte es, dass man wirklich hätte meinen können, es sei ein Schuss gefallen, aber nein, Luca wusste inzwischen, was das war. Schnurstracks stapfte er durch das Gras, auf dem der Tau im Mondlicht glitzerte, öffnete das Gatter und betrat die feste Erde. Nein, Matteo hatte sich niedergelegt wie stets, ihm ging es gut. In der Nacht hielt er sein Schläfchen immer im Liegen. Er rührte sich nicht, leises Schnarchen drang zu Luca. Aber dort, weiter hinten, standen die beiden anderen grauen Riesen im Licht des Mondes. Und dann sah er, wie sich der rechte der beiden aufbäumte. Luca wurde es schwer ums Herz. Das Knallen – war Husten. Ach je. Er ging näher und sah, dass Sergio seinen Compagnon geradezu besorgt anblickte. Immer wieder stupste er den hustenden Esel mit seiner Schnauze an. Schon hatte Silvio den nächsten Anfall, hustete wild, und es klang ganz trocken, kam tief aus der Kehle. Luca trat zu dem Tier mit den hübschen braunen Augen und legte ihm sanft die Hand aufs Maul.

»Dio mio, mein Armer, was hast du denn?«

Wieder hustete Silvio, und zwar so stark, dass sein mächtiger Körper regelrecht durchgeschüttelt wurde.

»Dich hat es ja richtig erwischt. Ist dir die Nacht zu kalt?«

Der Esel antwortete naturgemäß nicht, sondern blickte sein Herrchen lediglich hilfesuchend an. Luca kraulte ihn eine Weile zwischen den Ohren, dann sagte er:

»Ich rufe nachher, wenn die Sonne aufgeht, gleich den Tierarzt an, versprochen. Auch wenn’s schwerfällt: Ruht euch aus, so gut es geht, ja?«

Er wusste, dass Sergio kein Auge zumachen würde, solange es seinem Freund nicht gut ging – während Matteo seelenruhig seinen Schönheitsschlaf hielt. Es war wirklich bemerkenswert, wie charaktertreu die Esel sich blieben. Luca ging wieder zum Haus zurück, doch kaum stand er in der Tür, hielt er inne und schlug sich mit der Hand an die Stirn. Stupido, schalt er sich, er wusste es doch eigentlich – Dottore Terrosi war auf seiner alljährlichen Kreuzfahrt. Ausgerechnet jetzt. Wo doch die Esel sonst nie krank waren. Aber was sollte es, musste er also eine andere Lösung finden.

Luca betrachtete die Uhr im Flur erneut. Nun war es schon halb fünf. Er würde sicher noch mal einschlafen. Andererseits: Der Morgen hier oben hatte seine ganz eigene Magie. Er zuckte die Schultern. Was sollte es? Also trat er in die große Küche, füllte die alte Espressokanne mit Wasser, gab Kaffeepulver ins Sieb und stellte sie auf den Herd. Er drückte den kleinen Knopf und drehte den größeren. Schon zündete die Gasflamme, und sofort spürte er die Wärme, die von dem alten Herd ausging. Er liebte dieses Haus, das sein Elternhaus war. Von dem Herd hatte er sich bei der Renovierung nicht trennen können, schließlich hatte früher, als er noch ein Kind war, seine Mutter darauf allabendlich ihre Pasta gekocht. Während sein Papa vor der Tür den Grill anheizte, auf dem als secondo dann wahlweise eine bistecca oder ein frischer Fisch vom Fang des Tages an der Küste briet.

Luca liebte es, in diesen Erinnerungen zu schwelgen, auch wenn sie ihn stets wehmütig machten. Seine Mutter war gestorben, kurz bevor er Giulia kennengelernt hatte. Sie hatte so viel verpasst. Seine große Liebe. Und ihre gemeinsame Tochter. Papa hatte beide kennengelernt und sowohl Lucas Frau als auch seine Enkelin vergöttert. Er hatte sogar, ohne zu murren, dann und wann das heimatliche Idyll in Montegiardino verlassen, um seine Kinder in Venedig zu besuchen. In Venedig. Inmitten all der Touristenmassen. Es war seinem Vater sehr fremd gewesen, aber er hatte es getan, um Luca und seiner kleinen Familie nah zu sein.

Er war vor vier Jahren gestorben. Ein Jahr bevor …

Der Commissario konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen.

Auf dem Herd bollerte die Kaffeekanne bereits, und dieses Geräusch des Morgens beruhigte Luca ein wenig.

Er nahm sich eine kleine Tasse aus dem alten Bauernschrank, dann goss er den tiefschwarzen caffè hinein. Schließlich öffnete er wieder die Tür zum Garten und trat hinaus. Er hatte keine Lust, sich an den Tisch auf der Terrasse zu setzen, stattdessen ging er zuerst zum Hühnerhaus, das neben dem Eselgehege stand. Gleich würde der stolze Hahn wach werden, deshalb machte Luca die Tür ganz leise auf und warf aus dem Eimer schon zwei Handvoll Körner in den Sand. Jetzt im Morgengrauen kam der Fuchs bestimmt nicht mehr.

Dann trat er an den Rand der Weide und sah ins Tal. Unter ihm ergoss sich das Panorama der südlichen Toskana. Da war der Fluss, der Arno, der hier gar nicht flach und langweilig war wie im Centro von Florenz, sondern kurvenreich und wild über die gewaltigen Steine floss. Darüber ging die Steinbrücke, die Montegiardino schon im Mittelalter zu einem wichtigen Handelszentrum gemacht hatte. Schließlich die roten Dächer der alten Häuser. Jetzt, im Frühjahr, drang der Rauch noch aus den Schornsteinen, weil die Menschen im Städtchen die Wärme gewohnt waren – und deshalb schnell froren. So war dieses Bild das reine Idyll, kleine Rauchwölkchen inklusive.

Und dann kam noch das i-Tüpfelchen: als sich nämlich auf der gegenüberliegenden Hochebene die Sonne Zentimeter für Zentimeter über die Bergkuppe schob. Dort lagen die Höfe der wichtigsten Bauern der Stadt, auch jener von Maria, der alten Dame, die auf dem Markt unten im Tal Obst, Gemüse und Kräuter feilbot. Auch die Olivenhaine der Familie Garaviglia erstreckten sich dort, jener Familie, deren Leben vor gerade einmal einem halben Jahr in ernster Gefahr gewesen waren. Doch Luca hatte es geschafft, diese Gefahr abzuwenden; es war eine schwierige Zeit, über die alle im Städtchen sich beinah spinnefeind geworden wären – aber Montegiardino hatte sich, nachdem die Mörder gefunden waren, schnell wieder zusammengerauft, ja man konnte sogar meinen, es war darüber noch enger zusammengewachsen.

In diesem Augenblick wurden die Bäume in den Olivenhainen in ein tiefes Gold getaucht. Die Sonne hatte es geschafft, und nun dauerte es nur noch wenige Sekunden, bis auch Luca von der aufgehenden Sonne in der Nase gekitzelt wurde. Sofort spürte er die Wärme auf der Haut. Nun war der richtige Moment: Er führte die Tasse zum Mund, atmete den starken Kaffeegeruch ein und trank einen Schluck, der würzige Geschmack legte sich auf seine Zunge und belebte ihn sofort.

Was für ein Morgen, dachte er und lächelte kopfschüttelnd.

Das hier war das Paradies. Der perfekte Ort für Emma und ihn.

Auch wenn die Umstände, wegen derer sie hierhergekommen waren, ganz sicher nicht paradiesisch gewesen waren.

2

»Papa … Papa …«

»Ja, Emma, was denn …« Er war nicht genervt, er war einfach nur hundemüde. Luca bekam die Augen nur mühsam auf, seine Tochter hüpfte auf dem Bett herum, ihre kleinen nackten Füße hinterließen Kuhlen auf der Matratze.

Er musste nach dem caffè um fünf während der Lektüre im Sitzen noch mal eingenickt und dann wirklich zur Seite gekippt und tief eingeschlafen sein, wie er überrascht feststellte. Und hätte Luca gewusst, was ihn im Laufe des kommenden Tages erwarten würde – er wäre wohl einfach im Bett geblieben.

»Papa, nun wach schon auf. Ich muss zur Schule.«

»Ist ja schon gut …«, sagte er und mühte sich aus dem Bett.

Emma umarmte ihn von hinten und drückte sich fest an ihn. »Ich freu mich so!«, rief sie. »Am Freitag ist Noemis Geburtstag – und heute sprechen wir darüber, wer ihr was schenkt. Ihre Mama bäckt eine riesige Torte, also frühstücken wir alle zusammen Kuchen in der Schule – und dann ist am nächsten Tag das Fest bei ihr zu Hause, und dann können wir alle richtig lange aufbleiben, weil ja danach Sonntag ist. Toll, oder?«

»Ja, das ist ja wirklich toll – Kuchen zum Frühstück, kann ich auch ein Stück?«

»Na klar, ich meine …«, Emma grinste, »Signora Friuli würde bestimmt große Augen machen, wenn du mit in die Klasse kommst.«

»Ah ja … Na, dann lieber nicht«, murmelte Luca, der wusste, was Emma meinte. Und der froh war, dass sie mittlerweile sogar Witze darüber machen konnte, dass er wohl der begehrteste Junggeselle der Gemeinde Montegiardino war – auch für Emmas Mathelehrerin.

»Also kein Frühstück für dich?«, fragte er.

»Nei – ei – ein«, sagte Emma klar und deutlich, »los jetzt, ich will nicht zu spät kommen!«

Luca schaffte es in knapp zehn Minuten, zu duschen und sich die blaue Uniform der Stadtpolizei von Montegiardino anzuziehen – eine Uniform, die exakt von einem Mann im Ort getragen wurde: von ihm selbst. Er war der einzige Polizist in der kleinen Stadt, sein direkter Vorgesetzter war der Bürgermeister, sein Büro lag im herrlichen Rathaus vis-à-vis der alten Kirche.

Als sie weitere drei Minuten später im Auto saßen, fragte Emma: »Sag mal, Papa, hab ich das geträumt, oder hat es heute Nacht ganz laut gedonnert?«

Hatte sie es also doch gehört.

»Nein, geträumt hast du das nicht, aber es war kein Gewitter. Ich muss mich da gleich drum kümmern, wenn du in der Schule bist. Es ist Silvio. Der Arme hat einen schlimmen Husten.«

»Silvio?« Ihr sonst so fröhliches Gesicht bekam Sorgenfalten. »Echt?« Sie liebte die drei Esel so sehr, sie war dem kleinen Rudel zur Anführerin geworden. »Aber das ist komisch, ich war vorhin bei ihnen, ich habe sie ja gefüttert, da war alles in Ordnung.«

»Ich weiß auch nicht, vielleicht ist ihm heute Nacht zu kalt geworden. Ich werde nachher einen Tierarzt anrufen. Ich will auf Nummer sicher gehen. Er hat gehustet wie eine alte Dampflok.«

»Silvio ist doch keine alte Lok!«, sagte Emma entrüstet. Ihre Haare flatterten in dem offenen Citroën Méhari im Wind. Gerade als Luca antworten wollte, klingelte sein Telefon. Er fingerte in der Tasche seiner Uniformhose.

»Papa, guck nach vorne«, mahnte Emma tadelnd.

»Sì?« Er hatte sich das Telefon ans Ohr geklemmt und hörte die Stimme von Maria. Eine ungewöhnliche Anruferin, normalerweise sahen sie sich ja jeden Tag – warum sollte sie ihn also anrufen? Heute war Markttag in Montegiardino und sie doch bestimmt längst dabei, ihr Obst und Gemüse unter die Leute zu bringen – vielleicht sogar ihre Steinpilze, die einfach eine Wucht waren. Niemand wusste, wo sie sie fand, und die Hausfrauen und Köchinnen von Montegiardino hätten gemordet, um es herauszufinden. Im September zauberte die kleine Frau mit dem nicht zu tilgenden Lächeln für ihre liebsten Stammkunden sogar Trüffel unter ihrer Theke hervor.

»Was gibt es denn, Maria?«

»Na, Commissario, ich denke, es wäre besser, wenn du herkommst. Unser Wetterphänomen scheint uns auch dieses Jahr in seinen Folgen nicht zu enttäuschen.«

»Hä? Was ist los?« Luca verstand nur Bahnhof.

»Komm zum Mercado und sieh selbst. Es macht gar nichts, wenn es schnell geht. Ich habe keine Lust, dass Alberto dem Neuen den Schädel einschlägt. Mit seinem Steinbutt.«

Der Fischer sollte einem Neuen den Schädel einschlagen? Mit einem Fisch? Was, zum Teufel …?

»Ich bin auf dem Weg, ich setz nur schnell Emma an der Schule ab, dann komme ich.«

»Sehr gut, Commissario. Ich werde mal versuchen, die Lage mit einem Eimer kaltem Wasser zu beruhigen.«

Luca trat das Gaspedal durch, und der kleine Wagen, den schon Louis de Funès in den Saint-Tropez-Filmen gefahren hatte, beschleunigte. Der Commissario hatte ihn umspritzen lassen, als er die Stelle in Montegiardino antrat. Nun war er nicht mehr sonnengelb, sondern strahlend weiß lackiert, und die auf einer dunkelgrünen Banderole prangende Aufschrift Polizia municipale wies ihn als Dienstwagen des Commissarios aus. Und da das Wetter hier auch im Oktober und November noch wunderschön war, brauchte Montegiardinos Polizist kein geschlossenes Fahrzeug – für Dezember und Januar reichte es, wenn er die Plastikplane darüberzog.

Und jetzt, kurz vor Ostern, war es zwar morgens noch recht frisch, nachher aber würde es ein strahlend schöner Tag werden, das spürte Luca, der das Wetter in diesem Tal so gut kannte, weil ihm schon sein Vater oben auf der Ebene vor vierzig Jahren beigebracht hatte, die Zeichen zu lesen: wie schnell die Tautropfen am Morgen von den Halmen wegtrockneten, wie tief die Bussarde flogen oder eben wie hoch, und – am wichtigsten – wie die Wolken aussahen, dort oben am hellblauen Firmament.

Jetzt allerdings hatte er für Wetterbeobachtung keine Zeit mehr, denn die sonst so ruhige Maria hatte wirklich ernst geklungen.

Offenbar war auch seine Tochter in Gedanken, wie Luca mit einem Seitenblick feststellte, sie hatte nicht die Hände in den Wind gestreckt, hatte nicht einmal den schrecklichen Popsender RTL 102,5 eingeschaltet, den sie immer auf den fünf Minuten Schulweg hörte – was Luca dann einen grässlichen Ohrwurm bescherte, der ihn den ganzen Tag über begleitete. Heute sah sie nachdenklich aus dem Fenster. Der Commissario legte seine Hand auf ihre kleine Hand und sagte leise: »Emma, mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um Silvio.«

»Ja?«

»Habe ich dich jemals angelogen?«

Emma lächelte ihn an. »Nur als du gesagt hast, dass das Nutella alle ist – und dann war da noch ein großes Glas im Schrank.«

»Das war keine Lüge!«, protestierte Luca. »Ich hatte es wirklich vergessen.« Auch er musste lächeln. »Du hast Silvio wirklich sehr gerne, was?«

Emma nickte entschieden und sagte: »Er ist so schön verrückt, Papa. Matteo und Sergio, na ja, die sind auch toll, aber es sind Esel. Und Silvio hat so viel Spaß und macht so viel Quatsch, manchmal denke ich, er wäre mein Bruder.«

»Einen sehr haarigen Bruder hast du da.«

»Mama hat auch so viel Quatsch gemacht.«

Sie sagte es ganz leise. Er merkte, wie auch er selbst direkt mit der Traurigkeit rang. Es stimmte. Giulia hatte ständig Unsinn im Kopf gehabt – was ihrer kleinen Familie eine stete Dosis Fröhlichkeit verpasst hatte. Mit der Zeit hatten Emma und Luca gelernt, Giulia in guter Erinnerung zu behalten – und ihr Leben, so gut es ging, weiterzuleben. Aber an manchen Tagen war es, als würde Giulia von oben im Himmel besonders dicke Gedankenfäden schicken – und dann waren all die Traurigkeit und die Rührung und das Vermissen wieder da. Heute war wohl ein solcher Tag. Luca hatte gelernt, diese Augenblicke zu nehmen, wie sie waren: traurig-schön. Deshalb ließ er ihnen beiden diesen schweigsamen Moment, bevor er wenig später um die Ecke hinterm Rathaus bog, die kleine Anhöhe nahm und mit quietschenden Reifen vor der Schule bremste.

»Ich wünsch dir einen richtig schönen Tag, cara. Such ein tolles Geschenk aus, das besorgen wir dann heute Nachmittag in Siena, okay?«

»Oh ja, grazie, Papa.«

Sie stieg aus, und Luca nahm sich die Zeit, ihr zu winken, als sie oben am Eingangsportal angekommen war und sich noch einmal nach ihm umdrehte. Dann fuhr er an, wendete, rollte langsam an der Schule vorbei, um dann den Hügel hinabzurasen. Gott sei Dank war er der einzige Polizist in Montegiardino und somit auch der Einzige, der Geschwindigkeitskontrollen durchführte. Mit Ausnahme der Carabinieri aus Siena, aber die mussten sich vorher bei ihm anmelden.

Er passierte das Rathaus, überlegte kurz, seinen Parkplatz zu benutzen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder und fuhr noch das kurze Stück bis zum Markt, der sich auf dem Hauptplatz des Städtchens befand, zwischen Kirche und Bar – der Dreiklang des italienischen Centro.

Luca bremste und stieg aus, ausnahmsweise setzte er sich seine Polizeimütze auf den Kopf. Wenn es schon Ärger gab, dann wollte er auch aussehen wie eine Amtsperson.

Ärger. Hier. In Montegiardino. Hatte er das wirklich gerade gedacht? Hier gab es doch nie Ärger?

Er überlegte, welcher Tag war. Ob Maria ihm einen Streich hatte spielen wollen? Aber nein. Heute war nicht der erste April. Sondern der siebenundzwanzigste März.

Doch als er hinter dem Brunnen um die Ecke bog und die ersten Marktstände sah, war klar: Maria hatte nicht gescherzt. Da stand nämlich Alberto, der alte Fischhändler, dieser Bär von einem Mann, und hatte einen deutlich jüngeren und deutlich kleineren Mann am Schlafittchen gepackt. Seine riesige Pranke hielt ihn am Kragen und schüttelte ihn – und Commissario Luca beschleunigte seinen Schritt.

»Hey, hey, hey, was ist denn hier los?«, rief er schon von weitem. Aus dem Augenwinkel nahm er den fremden Transporter wahr, der die Seite hochgeklappt hatte, die Auslage lag voller Fisch auf kleinen Eisbrocken, laut Kennzeichen kam der Wagen aus Pisa. Merkwürdig.

Alle Augen wandten sich Luca zu, doch Alberto lockerte seinen Griff nicht, stattdessen zog er den jungen Mann noch ein Stück zu sich heran, sodass dessen Beine plötzlich in der Luft baumelten. Er versuchte verzweifelt, sich loszumachen, strampelte mit den Armen und Beinen, aber aller Widerstand war zwecklos, er steckte fest wie in einem Schraubstock.

Luca trat zu den beiden und legte Alberto seine Hand auf die Schulter. Er spürte, wie der Fischer bebte. Nein, dieser Hüne war wirklich keiner, mit dem man sich gerne anlegen wollte. Und gerade war er auf hundertachtzig. Mindestens.

»Was ist hier los?«, fragte Luca.

»Gut, dass Sie kommen, Commissario«, brachte der Fischer mühsam hervor. Reden und den anderen in Schach halten kostete offenbar zu viel Kraft. »Der hier macht mir meinen Stand streitig – und als ich ihn zur Rede stellen wollte, hat er mich ausgelacht.«

»Quatsch!«, stieß der Jüngere hervor. »So ein Quatsch, verdammt, Sie sind doch Polizist, machen Sie, dass dieser Kerl mich endlich loslässt.«

»Sie …«, Luca sah den jungen Mann streng an, »habe ich bisher nicht gefragt, sondern den Bürger meiner Stadt. Also, Alberto, können wir nicht in Ruhe reden? Ich glaube, es wäre besser, wenn dieser Mann seine Füße wieder auf den Boden stellen kann.«

Alberto sah sich um und bemerkte, dass ihn alle auf dem Markt anschauten, die Bürger von Montegiardino genauso wie die Händler von auswärts. Ihre Mienen zeigten alle Spektren von Verwunderung über Neugier bis zu Besorgnis. Da schüttelte sich Alberto, ehe er den jungen Mann losließ und ihm noch einen Schubs gab, der ihn ins Taumeln brachte.

Luca hielt den Mann gerade noch fest und brachte ihn wieder zu einem festen Stand.

»Okay, also, kann mir jetzt hier jemand sagen, was genau los ist?« Hilfesuchend wandte er sich um. »Maria?« Die alte Frau hatte sich hinter ihrem Fruchtstand versteckt und kam erst jetzt wieder hervor. Sie zuckte mit den Achseln.

»Also, wer sind Sie?«

»Mein Name ist Enrico Ennese, ich bin … Nun, ich bin Fischhändler, und ich wollte eben meinen Stand aufbauen, als der da«, er zeigte mit dem Finger auf Alberto, es sollte cool wirken, in seinem Gesicht aber war die pure Angst zu erkennen, »als der mich einfach angegriffen hat. Er hat gefragt, was ich hier mache, und bevor ich antworten konnte, hat er meine Tür aufgerissen und mich rausgezogen, und dann wollte er mich zusammenschlagen.«

»Wenn ich dich hätte zusammenschlagen wollen, dann würdest du jetzt mangels Zähnen kein Wort mehr rauskriegen, Bürschchen, meinst du nicht auch?« Alberto bebte immer noch, sein Gesicht war dunkelrot. Langsam machte sich Luca Sorgen, dass das Herz des Alten mit der ganzen Situation etwas überfordert war.

»Du musst dich beruhigen, Alberto«, sagte er und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Luca, du kennst mich«, antwortete der Fischer, »aber so etwas ist mir noch nie passiert. Ich bin seit achtunddreißig Jahren Händler auf diesem Markt. Meine Produkte sind tadellos, lupenrein – so gute Fische haben sie nicht mal in der Markthalle von Florenz. Und nun kommt dieser Typ da, dieser Verbrecher mit seinen stinkenden Fischen – und will mir hier Konkurrenz machen. Das lasse ich nicht auf mir sitzen, verstanden?«

»Aber ich …« Der junge Mann schob sich ein Stück nach vorne, und Luca konnte Alberto nur mit einem beherzten Zugriff davon abhalten, noch einmal auf ihn loszugehen. »Aber ich habe eine Erlaubnis, einen Gewerbeschein. Hier.« Er zog ein zerknülltes Blatt Papier aus seiner Hosentasche. »Hier, Commissario, lesen Sie das.« Luca fasste das Blatt mit spitzen Fingern an, es war nicht nur zerknittert, es war speckig. Er überflog es.

 

Gewerbeerlaubnis für den Markt von Montegiardino – hiermit gestattet der Bürgermeister dem Händler Enrico Ennese aus Pisa den Verkauf von Frischfisch zur Probe, vorerst an vier Mittwochsmärkten in Folge. Die Gebühr von 28 Euro pro Standtag wurde vorab bezahlt. Nach dem Probemonat besteht die Option der Gemeinde zur Verlängerung. Gezeichnet Vittorio Martinelli, Bürgermeister von Montegiardino

 

Luca kannte die Unterschrift seines Chefs, und er kannte das Siegel der Stadt. Beides stimmte. Er räusperte sich.

»Also, ich weiß nicht, warum es so ist, Alberto, aber ich muss dir sagen, dass alles seine Ordnung hat. Dieser Mann hat eine Erlaubnis, auf unserem Markt seinen Fisch zu verkaufen.«

»Aber warum?«, fuhr Alberto auf. »Ich bin hier der Fischhändler, und zwar seit Jahrzehnten! Das macht mir doch jetzt so ein windiger Kerl nicht streitig! Wo kriegst du deine stinkende Ware überhaupt her? Aus China?«

»Hören Sie mal«, wehrte sich der junge Mann, »das ist astreine Ware.«

»Was du nicht sagst!«, rief Alberto wütend. »Da, sieh doch selbst, Luca, da tropft es aus dem Wagen. All das stinkende Wasser. Der hat viel zu wenig Eis dabei, und sieh doch …«, er zog Luca hinter sich her, »sieh doch, wie die Sardinen schon hängen, die sind viel zu alt – und da, die Doraden, die Augen, die sind nicht klar wie bei meinen Fischen, die sind fast rot – wer die isst, der verbringt die Nacht aber nicht im Bett, da gebe ich dir mein Wort drauf.«

Luca betrachtete die Fische in der Auslage, die in der Tat ein trauriger Anblick waren. Auch schmolz das wenige Eis in der heraufziehenden Wärme des Tages schneller, als es einem Hygienekontrolleur lieb sein konnte. Doch der Commissario zog die Schultern hoch und sagte zu Alberto:

»Dieser Signore darf hier stehen. Ich muss dieses Recht durchsetzen. Deshalb empfehle ich dir, ihn nun arbeiten zu lassen. Sonst muss ich dich vom Markt verbannen, auch wenn es mir schwerfällt.«

»Und wenn ich mich weigere zu gehen?«

»Dann würdest du deine Konzession verlieren. Und du weißt, was das bedeuten würde.«

Alberto schwieg betreten. In der Tat, er wusste es. Ein Fischhändler ohne Marktkonzession – das wäre die Garantie für eine rasche Pleite.

Also nickte der alte Fischer, und der junge Mann machte ein triumphierendes Gesicht. »Na, ich wusste doch, dass ich recht habe.« Dann verschwand er schnell ins Innere seines Wagens.

Luca wandte sich wieder an Alberto.

»Hör mal, ich werde mit dem Bürgermeister sprechen. Diese Erlaubnis kann ich mir auch nicht erklären. Gib mir etwas Zeit, einverstanden?«

Alberto nickte wieder, und jetzt sahen seine Augen fast betreten drein.

»Ja, natürlich. Danke, Commissario. Ich verstehe überhaupt nicht, was den Bürgermeister da geritten hat. Aber es stimmt, ich hätte nicht so aus der Haut fahren dürfen wie ein garstiger Pulpo.«

»Ein sehr hübsches Bild, Alberto«, sagte Luca. »Und nun los, die Kunden warten.«

Alberto wandte sich um und sah die Schlange, die sich vor seinem Verkaufsstand gebildet hatte. »Oh«, murmelte er. Der Markt am Mittwoch war nach dem am Samstag der zweitwichtigste der Woche. »Commissario …«

»Hmm?«

»Ich habe ganz frische branzino, ich schenk Ihnen zwei, wenn Sie mögen.«

»Ich komme sowieso noch mal vorbei«, antwortete Luca, »vielen Dank.«

Als er Alberto noch einmal zugenickt hatte und den Weg über den Markt fortsetzen wollte, war es, als teilte sich das Meer vor ihm: Die Bürger von Montegiardino, die neugierig waren, wie es in der DNA dieses Ortes festgeschrieben zu sein schien, taten auf einmal, als gäbe es nichts zu sehen, sie wandten sich ab und kümmerten sich wieder um ihre Besorgungen.

Luca ging lächelnd auf Maria zu, die hinter ihrem Stand gerade eine Tüte mit Raukeblättern füllte und sie auf die Waage legte.

»Na, ein Glück, dass du mich gerufen hast.«

»Das hätte übel enden können, Luca«, antwortete Maria. »Aber ich hatte das Ganze schon kommen sehen.«

Den letzten Satz hatte sie in dem verschwörerischen Tonfall der alten Leute geraunt, der Luca immer wahnsinnig machte. Sicher kam jetzt gleich eine waghalsige Begründung, warum sie den Streit vorausgesehen hatte.

»Weil dir klar war, dass ausgerechnet heute der Bürgermeister einem neuen Händler eine Lizenz erteilt? Ohne mir davon zu erzählen?«

Luca sah, wie sie die Brauen hob, doch er war nicht auf das vorbereitet, was sie ihm kurz darauf zuflüsterte:

»Nein, Commissario, ich vergesse nur immer wieder, dass du ja so lange weg warst, in der großen Stadt. Aber wir Leute von hier, wir wissen, was es bedeutet, wenn er kommt.«

»Wer?« Luca stand kurz davor, fuchsteufelswild zu werden. »Kannst du jetzt mal aufhören mit deinen Andeutungen und mir sagen, wer kommt?«

Maria legte die Tüte auf den Tresen, dann kam sie ihm ganz nahe und flüsterte:

»Na, der Vollmond der Streitigkeiten.«

»Der Vollmond der …« Eigentlich wollte Luca den kurzen Satz nur sinnfrei wiederholen, doch er stockte, als etwas in seinem Kopf aufploppte. »Ach, du je.«

»Du weißt, was das bedeutet?«

Luca grub tief in seinen hinteren Hirnwindungen, aber diese Wendung … Es stimmte, es war eine Wendung, die sowohl sein Vater als auch seine absolut nicht des Aberglaubens verdächtige Mutter manchmal mit angstgeweiteten Augen benutzt hatten.

»Es ist ein Vollmond im Frühling, der sehr … Nein, ehrlich, Maria, ich kriege es nicht zusammen.«

»Es geschieht nur etwa einmal pro Dekade, denn es müssen viele Dinge zusammenkommen: Die Fastenzeit neigt sich dem Ende, Ostern ist nicht mehr weit – und dann, nach einer langen kalten Phase, ein Vollmond, der das Wetter umschlagen lässt, Hitze, Gewitter, derlei, und dieser Mond muss der Erde sehr nah sein, so nah, dass man glaubt, ihn berühren zu können«, sie flüsterte fast, »und diesmal scheint es wieder so weit zu sein. Und du weißt, was dann hier im Städtchen los ist?« Luca schüttelte den Kopf. »Aus irgendwelchen Gründen beginnt es meist schon ein, zwei Tage vorher, dass sich die Leute aus heiterem Himmel anfangen zu streiten. Sonst ganz sanfte Bewohner von Montegiardino werden zu wilden Furien, aus den geringsten Anlässen. Das war doch das beste Beispiel eben – oder hast du Alberto jemals so aufbrausend erlebt? Nein, das«, sie zeigte zischend zum Himmel, »das sind die Vorboten des Vollmondes. Ich weiß noch, vor einundzwanzig Jahren, da war es zum letzten Mal so, da hat Fabio im jugendlichen Leichtsinn einen Gast niedergeschlagen, weil die beiden sich über ein Fußballergebnis in die Haare bekommen haben – ich glaube, es ging darum, ob Siena oder Florenz zuerst absteigt.«

»Na, da hätte ich mich vielleicht auch geprügelt.«

»Machst du dich über mich lustig, Luca?« Sie sah ihn tadelnd an. »Ich sage dir, es ist nicht zum Lachen, ganz und gar nicht. Erst recht nicht, wenn man der Ordnungshüter von Montegiardino ist. Aber …«, sie faltete ihre schwieligen Hände, die noch schmutzig vom Salatpflücken waren, »wir können ja noch beten. Wenn heute Nacht der Himmel von Wolken bedeckt und der Mond nicht zu sehen ist, dann vergehen die Streitigkeiten wie von selbst. Dann passiert gar nichts. So war es vor neun Jahren. Da hatten sich alle schon auf eine gruselige Woche eingestellt, aber es hat plötzlich angefangen zu regnen, und so war es die ganze Zeit dicht bewölkt – und am nächsten Morgen war unser Städtchen so friedlich wie eh und je.«

»Nun ja«, sagte Luca mit einem Blick in den Himmel. »Ich sage das zwar selten, aber wenn ich mir die grauen Wolken dahinten ansehe, dann kann ich nur hoffen, dass sie nicht in den Bergen stecken bleiben, sondern es hierherschaffen.«

»Das hoffe ich auch, mio dio.«

3

»Hmm«, murmelte Luca. Eigentlich hätte er gerne noch einen caffè in Fabios Bar getrunken. Aber er spürte, dass ihm die Frage auf der Seele brannte, und deswegen strebte er zuerst aufs Rathaus zu. Die Verwaltung von Montegiardino war – wie in Italien üblich – in einem sehr repräsentativen Bau untergebracht, das Portal ruhte auf hohen dorischen Säulen, wie man sie in ihrer weißen Schlichtheit überall in der Toskana fand, die Mauern waren aus tiefroten Steinen, und über dem Siegel der Republik und dem Wappen von Montegiardino wehte am langen Fahnenmast eine träge Trikolore in ihren kräftigen Farben, die Luca stets Hunger auf Pasta mit Pesto und frischen Tomaten machten.

Er betrat das Gebäude und stieg die Marmortreppe hinauf. Deren Stufen waren so eingedellt, als wären es seit zweihundert Jahren dieselben – obwohl: Wahrscheinlich war es sogar so.

Die Beletage hieß in Italien traditionell piano mobile, und um eine solche handelte es sich hier – außen waren Verzierungen an den Wänden, drinnen gab es Wandgemälde, und alles strebte auf das letzte und größte Büro zu, jenes, das einen herrlichen Ausblick auf die Stadt und den Fluss bot.

Doch so nobel das alles auch aussah, mondän ging es hier drinnen ganz und gar nicht zu, sondern hemdsärmelig und zupackend, und genau das schätzte Luca sehr. Er sah durch die offene Tür des Nachbarbüros, wo Signora Tedesco gerade telefonierte; ihrer freundlichen Stimme nach zu urteilen, war es ein Privatgespräch. Sie zwinkerte ihm zu, wies auf die geschlossene Tür nebenan und nickte. Also klopfte er an der zweiflügeligen Tür aus Holz einmal an, wartete kurz und drehte den Knauf, genau in dem Moment, in dem Martinelli von drinnen mit seiner dröhnenden und dennoch sehr fröhlichen Stimme »Sì!« rief.

Als Luca eintrat, setzte der Bürgermeister gerade den Fahrradhelm ab. Er hatte leichte Schweißperlen auf der Stirn, und sein Atem ging schwer. Die Funktionskleidung in Signalfarben war schlammbespritzt.

»Commissario, schönen guten Morgen, ich bin auch gerade erst rein, also, ich kann Ihnen was erzählen«, sagte er und klang etwas aufgeregt, jedenfalls aufgeregter als sonst. Der Mann war eigentlich durch nichts zu erschüttern. »Da fahre ich gerade den Berg rauf, und da überholt mich so ein Volltrottel mit seinem kleinen Fiat an der engsten Stelle, Sie wissen schon, da unten beim Schneidermeister, so ein rotes Teufelsgefährt, ein 500er, aber ein alter, ich sage Ihnen – und der schert so knapp vor mir wieder ein, dass es mich fast umreißt. Ich muss irgendwie den Lenker verzogen haben, und plötzlich war da Splitt auf der Straße, und dann hat’s mich aber weggewedelt – also, ich sage Ihnen, wenn ich den erwische!«

Luca machte ein ernstes Gesicht. »Ist denn alles in Ordnung, Dottore? Haben Sie sich verletzt?«

»Nein, nein«, sagte er beruhigend, »Sie wissen ja, Commissario, politisches Unkraut vergeht nicht.«

»Wer fährt denn in Montegiardino einen Fiat 500?«, fragte Luca, aber es war eher eine rhetorische Frage. »Ich werde gleich mal in die Zulassungsakten schauen. Wenn derjenige aus der Stadt kommt, dann schreibe ich eine Verwarnung.«

»Ich habe das Kennzeichen nicht sehen können, es ging so verdammt schnell. Aber wenn Sie in den nächsten Tagen einen Fiat 500 sehen, rufen Sie mich sofort. Dann übe ich Selbstjustiz.« Der Bürgermeister zwinkerte ihm zu. »Aber Sie wollten mich ja offensichtlich sprechen, Commissario. Ah, mögen Sie eigentlich einen caffè? Ich weiß, Sie bevorzugen ja eher den Espresso draußen, aber …«

»Ach Dottore, nein, lassen Sie nur …«, Luca lachte und zwinkerte ihm zu, sie beide wussten, dass der caffè im Büro des Bürgermeisters aus der alten Filtermaschine seiner Sekretärin stammte – und für den Commissario ungenießbar war. »Ich gehe nachher zu Fabio.«

Der Bürgermeister hatte sich endlich aus seiner Fahrradkluft gepellt und ließ sich auf seinen Lederstuhl hinter dem riesigen Holzschreibtisch fallen. »Also, nun erzählen Sie mal, Sie haben doch was auf dem Herzen.«

Luca nahm ihm gegenüber Platz. »Ja, Dottore, ich komme gerade vom Marktplatz, und es gab … nun ja, eine kleine Auseinandersetzung. Es war ein handfester Streit zwischen Alberto, dem Fischhändler, und einem Neuankömmling, der auch Fisch verkaufen wollte. Der junge Mann aus Pisa hat mir seine Genehmigung gezeigt, und damit schien alles in Ordnung zu sein – Ihr Name stand darunter, Dottore, aber ich wollte einmal nachfragen, warum Sie das genehmigt haben. Seit Menschengedenken verkauft Alberto Fisch in Montegiardino, und es hat noch immer für alle gereicht – ich kann mir nicht vorstellen, warum Sie das ändern oder ihm einen Konkurrenten vor die Nase setzen wollten.«

»Eine Auseinandersetzung, soso. Aber es ist doch niemand verletzt worden?«

»Viel hat nicht gefehlt«, erwiderte Luca. »Es stand kurz vorm Handgemenge – Sie wissen ja, Alberto ist ein ordentlicher Hüne, trotz seines biblischen Alters.«

Ein leichtes Lächeln umspielte die Mundwinkel des Bürgermeisters, als er sich vorbeugte und Luca listig zuzwinkerte.