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Paolo Riva

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Beschreibung

Unter der Sonne Italiens sucht eine Kleinstadt einen Mörder. Commissario Luca hat seinen Job in Venedig an den Nagel gehängt und arbeitet nun im größtmöglichen Idyll: Montegiardino, ein Städtchen, das sich am Flusslauf des Arno in die sanften Hänge der Toskana schmiegt. Hier herrscht das Dolce Vita und den Höhepunkt von Lucas Polizistenleben bildet der gelegentliche Auffahrunfall vor der Grundschule. Da wird an einem trubeligen Markttag mitten auf der zentralen Piazza eine Olivenbäuerin angeschossen. Luca will nicht glauben, dass es die braven Bürger von Montegiardino aufeinander abgesehen haben. Hat die Mafia ihre Finger im Spiel? Als weitere Schüsse fallen, beginnt Luca, das vermeintliche Idyll mit anderen Augen zu sehen.

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Paolo Riva

Commissario Luca – Flüssiges Gold

Bella-Italia-Krimi

Hoffmann und Campe

A me un paese di sole

una casa leggera

un canto di fontana giù nel cortile.

E un sedile di pietra

e schiamazzo di bimbi.

Un po’ di noci in solaio

un orticello

e giorni senza nome

e la certezza di vivere.

 

Ein Dorf in der Sonne,

ein einfaches Haus,

der Gesang eines Brunnens unten im Hof.

Und ein Sitz aus Stein.

Und Lärm von Kindern,

ein Garten und Tage ohne Namen

geben mir die Gewissheit zu leben.

 

David Maria Turoldo

Prolog

Die Zikaden sangen so laut, als wären sie zu Tausenden, als müssten die Bäume unter ihrer Last zusammenbrechen. Renzo Pellegrini wunderte sich, dass er sie in dieser lauen Nacht so deutlich wahrnahm. Normalerweise hörte er sie gar nicht mehr.

So war das, wenn man fast achtzig Jahre seines Lebens hier verbracht hatte, auf der hohen Ebene über Montegiardino. Doch heute Nacht, mit dem großen Mond, dessen dunkle Flecken so gut zu sehen waren wie selten, weil der Himmel sternenklar war, heute Nacht also lauschte er genau hin.

Er wollte in alldem ein Zeichen erkennen. Ein gutes Zeichen für die kommenden Wochen. Endlich, nach all den Jahren des Haderns und Sichverstellens, hatte er sich entschieden, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Seitdem ging es ihm so gut wie zuletzt wohl nur, als er noch jung gewesen war.

Denn es war doch so: Je älter man wurde, desto verengter wurde der Blick aufs eigene Dasein. Desto schwerer wogen die Probleme – und auch die Ängste wegen des Wissens um die eigene Vergänglichkeit. Doch auf einmal, mit einer Entscheidung, hatte sich das alles aufgelöst. Es war richtig, was die Philosophen sagten: Man war nie zu alt, um das Ruder herumzureißen.

Seine Füße knirschten auf dem schmalen Sandweg, und sein Blick ging von Baumkrone zu Baumkrone, so bewusst und selbstgewiss, wie es die vielen Jahrzehnte in diesem Metier mit sich brachten. Er nickte zufrieden, als er die Früchte sah. Dieser Baum hier war so voll davon, dass ihm die Äste fast bis auf den Kopf hingen. Die Oliven hatten vor drei Tagen begonnen ihre Farbe zu verändern. Aus dem dunklen Grün war ein hellgrüngelbes Schimmern geworden. Die Früchte waren prall, und er konnte ihren Saft schon förmlich sehen, auch ohne sie zu berühren. Es würde ein herrliches Jahr werden, die Witterung war ideal gewesen.

Wer wusste schon, wann der Herr einen abberief – wenn dieses aber sein letztes Jahr auf Erden sein sollte, wäre es von einer besonders reichen Ernte gekrönt, das wusste er. Doch derzeit fühlte es sich so an, als hätte er den Herrn auf seiner Seite. Der wusste wahrscheinlich Entscheidungen zu schätzen, die aufgrund der eigenen Moral getroffen wurden.

Der alte Mann blickte hinunter ins Tal und auf die wenigen Lichter in den Häusern unten in der Stadt, es war kaum noch jemand wach zu dieser späten Stunde. Die Bewohner von Montegiardino feierten gern – und sie tranken und schwatzten gern. Aber sie waren auch fleißige Bauern und Kaufleute, die an Wochentagen pünktlich zu Bett gingen.

Renzo Pellegrini hatte seine Runde fast vollendet – so langsam wurde es kälter, und ihn fröstelte. Durch den Schatten der Bäume wollte er eben zum Haus zurückkehren, als er ein Geräusch hörte, eine Art lautes Knirschen.

»Hallo?«, rief er, doch es kam nichts zurück, also rief er noch mal: »Hallo, ist da jemand?«

Sicher nur ein Waschbär, dachte er, oder ein Fuchs. Dennoch beschleunigte er seine Schritte. Gerade als er auf die Lichtung trat, in deren Mitte der Brunnen des Anwesens stand, hörten die Zikaden mit einem Mal auf zu zirpen. Renzo stoppte. Um ihn herum herrschte absolute Stille. Es wunderte ihn zwar nicht, denn es gab diesen Effekt, wenn die Temperatur in der Nacht unter eine bestimmte Grenze fiel: Dann hörten sie einfach auf mit ihrer Dauerbeschallung. Aber er spürte die Gänsehaut auf seinen Armen. Er war in Panik. Von jetzt auf gleich. Wie konnte das sein? Sie würden es nicht wagen. Nicht ihn, er war das Zünglein an der Waage.

Renzo Pellegrini besann sich, atmete tief ein, riss sich los vom Blick in die Bäume, doch gerade als er weitergehen wollte, knirschte es hinter ihm erneut. Er drehte sich ruckartig um.

»Du?«, rief er ungläubig. »Was willst du denn hier?«

Mercoledì – Mittwoch Un nuovo giorno – Ein neuer Tag

1

Leichter Nebel stieg von der tiefgrünen Wiese auf, weil in diesem Augenblick dort hinten, über der Bergkuppe, die Sonne aufging, deren Wärme die dicken Tautropfen auf den Blättern und Gräsern im Nu verdunsten ließ.

Commissario Luca blickte sich kurz um und griff dann, als er sah, dass die Luft rein war, in die Tasche seiner Uniformjacke, um sich gleich darauf die erste Zigarette des Tages anzustecken. So gern er darauf verzichten wollte, das war nun mal sein Laster und würde es wohl auch bleiben, solange sich die Freude über den würzigen Geschmack und sein schlechtes Gewissen die Waage hielten.

Er stieg aus dem offenen Citroën Méhari und trat an den Rand der kleinen Landstraße. Vor ihm erstreckte sich das Tal. Luca gähnte kräftig, dann schloss er die Augen und reckte und streckte sich ausgiebig. Warum war er nur wieder erst so spät ins Bett gekommen? Das Buch über die Geschichte des Frauenwahlrechts in England war einfach zu spannend gewesen. Und der Rotwein, den er direkt aus dem Fass seines Freundes Tommaso abgefüllt hatte, der zugleich der beste Winzer der Stadt war, hatte sein Übriges getan.

Er blickte hinab ins Tal, und das Panorama erfüllte ihn mit purer Liebe. Die Schatten dort unten verfärbten sich von Sekunde zu Sekunde mehr von einem matten Grün zu einem strahlenden Gelb, während die Sonne immer weiter emporstieg, gleich würde ihr Licht die Häuser von Montegiardino erreichen. Die kleine Stadt ergoss sich über die Hänge ringsum, wo aus dem samtigen Gelbgrün der Landschaft immer wieder kleine Bauernhäuser und große Höfe auftauchten. Luca konnte jeden der Besitzer mit seinem Namen, seinen Produkten, ja selbst seiner Schuhgröße benennen: Dort vorne, auf der Hochebene, hatte die Rinderzüchterin Violetta ihren Hof, deren Kühe das ganze Jahr auf den satten Wiesen weideten; das Fleisch dieser Kühe wurde deshalb von den Köchen der feinen Restaurants in Florenz und Lucca immer schon sehnsüchtig erwartet. Ganz links, dort, wo die Sonne am Nachmittag am kräftigsten schien, hatte Tommaso seine Steilhänge, auf denen er wunderbare Merlottrauben zur Reifung brachte, aber auch die Vernacciatraube für den frischen und leichten Weißwein, von dem viele Bewohner Montegiardinos schon am Vormittag ein Gläschen in Fabios Bar tranken, ohne am Nachmittag arbeitsunfähig zu sein. Und dort, rechter Hand auf den weiten Ebenen, lagen wie zu einer Perlenkette aufgereiht die Höfe der Olivenbauern, die bis auf jenen der jungen Collagios und der Garaviglias schon seit Generationen von denselben Familien betrieben wurden.

Oben also lagen wie verstreute Inseln die einzelnen Höfe, doch dort unten im Tal wurde die Bebauung dichter, kleine Hütten schmiegten sich an höhere Bauten, und die beiden typischen toskanischen Baustile wechselten sich ab: Es gab die alten Feldsteinhäuser, die mit Lehmmörtel zusammengefügt waren, mächtige Trutzbauten mit dicken Wänden, in denen es im Sommer angenehm kühl und im Winter angenehm warm war. Und immer wieder stachen aus ihrer Mitte die bunten Bauten hervor, die jünger waren, verputzt und gestrichen in den mediterranen Tönen, einem sanften Gelb, einem zarten Rot, einem kräftigen Grün. Alle Häuser schienen auf die Stadtmitte zuzustreben: Unter der gebogenen Steinbrücke floss der Arno in kleinen Windungen immer stromabwärts, das Sonnenlicht verfing sich in den sanften Wellen, und Luca konnte sogar von hier oben die bunten Steine flimmern sehen, die im Flussbett vom Wasser überspielt wurden.

Auf der ans Flussufer grenzenden Piazza Santa Lucia rollten gerade die zwei hellgrünen Lieferwagen an, aus denen die Betreiber in der nächsten halben Stunde die hölzernen Bohlen laden würden, um die Stände für den Markt aufzubauen, der hier an jedem Montag-, Mittwoch-, Freitag- und Samstagvormittag stattfand, im Sommer für die Touristen auch am Samstagabend.

Direkt neben dem Marktplatz erhob sich die Barockkirche Santa Lucia mit ihrem Campanile in den Himmel, das einzige Gebäude der Stadt, das alle anderen überragen durfte. Sie war aus Süßwasserkalkstein gebaut, dem sogenannten Travertino Toscano, der im Westen der Provinz Siena gewonnen worden war, wo es große Steinvorkommen gab.

Luca liebte es, einmal am Tag für einige Minuten in diese Kirche zu gehen, still in der vorletzten der hölzernen Bänke zu sitzen und stumm und ergeben die vierhundert Jahre alten Deckenbilder zu betrachten, die wie ein Himmel unter der Kuppel der Kirche aufgespannt waren. All diese Heiligen, die Freud und Leid erfuhren, immer aber eine große Menschlichkeit ausstrahlten, die diejenige der Bewohner von Montegiardino zu spiegeln schien.

Eben trat Pater Vincenzo aus der Sakristei. In seiner Soutane bewegte sich der kleine und füllige Mann rasch über den Platz, er war noch gut zu Fuß, dabei war er so alt, dass der Kleinstadttratsch besagte, er kenne mindestens einen der zwölf Propheten persönlich. Sein Ziel war die Bar Centrale vis-à-vis der Kirche. Fabio, der Wirt, wischte gerade die Tische vor dem Eingang ab. Noch waren die Stühle auf der kleinen Terrasse leer, doch gleich würden die ersten Markthändler auf einen schnellen Espresso vorbeischauen und dann, wenn der Mercato endlich geöffnet sein würde, auch die Einheimischen, die sich dort so gerne auf einen Schwatz trafen, der durchaus bis zum Mittagessen dauern konnte.

Das hier war Lucas Heimat. Im Sommer, wenn die Bewohner vom ersten Sonnenlicht bis zum späten Abend, bis weit nach der blauen Stunde, ihre Tage draußen verbrachten, unter freiem Himmel aßen, liebten, stritten und ihrem Leben nachgingen. Und im Winter, wenn aus den Schornsteinen der Rauch der Kamine drang und die Markthändler in dicken Mänteln Winterkohl anboten und dicke Rinderknochen für kräftige Brühen sowie den ersten frischen Rotwein des Jahres.

»Du sollst doch nicht rauchen, Papa, dich kann man aber auch nicht einen Moment allein lassen!«

Schon stand Emma hinter ihm und sah ihn mit in die Hüfte gestemmten Händen an. Schnell trat er die Zigarette aus und steckte sie unter vorwurfsvoller Beobachtung in die leere Packung zurück.

»Wenn du bis Weihnachten aufhörst, dann räume ich das ganze nächste Jahr freiwillig mein Zimmer auf.«

»Das ist gemeine Erpressung«, sagte Luca und ergriff Emma, um sie zu umarmen.

»Siehst du? Und jetzt kann ich dir keinen Kuss geben, weil du nach Rauch riechst. Allein deshalb musst du aufhören.«

Sie hatte ja so recht, seine kluge Tochter.

»Hast du sie gefüttert?«

»Na klar, sie waren alle da, alle drei.«

»Aber nur zwei Äpfel, nicht mehr?«

»Zwei Äpfel für Sergio, zwei Äpfel für Matteo, zwei Äpfel für Silvio. Mehr nicht. Sonst kriegen sie Bauchschmerzen. Weiß ich doch, Papa. Und nun los, ich will nicht zu spät kommen.«

Schon war sie über die Tür in den offenen Wagen gesprungen und schnallte sich an, während Luca um den Méhari herumlief. Der war fast gänzlich weiß, bis auf die dunkelgrüne Banderole, die der Commissario mit einer selbst geschnittenen Schablone aufs Auto gesprüht hatte. Polizia Municipale stand dort aufgedruckt. Es war ganz sicher das einzige Polizeifahrzeug Italiens, das früher als Strandauto auf dem weißen Sand von Saint-Tropez unterwegs gewesen war – mit seinen runden Scheinwerfern und der herunterklappbaren Windschutzscheibe war es ein echter Hingucker. Luca hatte es Serge, dem alten Franzosen, abgekauft, der am Rande der Stadt einen Hof unterhielt, auf dem er Hunde für die Trüffelsuche züchtete. Der Commissario hatte immer ein Auto haben wollen, wie es Louis de Funès in seinen Filmen fuhr, und da das Wetter in Montegiardino stets sehr mild war, konnte er fast das ganze Jahr offen fahren, für den Dezember blieb ihm dann ja immer noch das Dach, auch wenn es nur aus einer Plastikplane bestand.

Er ließ den Motor an, und sofort erklang das Radio, das Emma hartnäckig auf RTL102.5 zurückstellte, sodass laute Popmusik die Luft erfüllte. Der Commissario wollte es leiser drehen, doch als er sah, wie seine Tochter die Arme in die Luft streckte und zum schnellen Takt eines ihm unbekannten Songs bewegte, begann er zu lächeln, entkuppelte in den Leerlauf und ließ den Méhari immer schneller rollen und die weiten Kurven hinunter ins Tal nehmen. Auch er, der sonst nur klassische Musik oder die Nachrichten bei Rai 1 hörte, genoss das Zucken der Bässe. Die wilde Fahrt gab ihm das Gefühl, fliegen zu können. »Schneller!«, rief Emma zwischendurch, »schneller!«, und er ließ die Bremse ganz los und sah, wie die Stadt ihnen förmlich entgegenraste. Ihr Lachen und sein Lachen, was für ein Morgen!

Schon kam das Ortsschild in den Blick, von dem irgendein Witzbold die Buchstaben G, I, A und R abgekratzt hatte, sodass aus MONTEGIARDINOMONTEDINO geworden war. Er hatte die neuen Buchstaben vor einem Monat bei der Straßenbehörde in Florenz bestellt und seitdem bestimmt achtmal über eine halbe Stunde in der Warteschleife des Amtes gehangen, um herauszufinden, wo seine vier handgroßen Buchstaben denn blieben. Bella Italia eben.

Aber es war nun nicht gerade so, dass er in Hektik verfallen wäre angesichts dieses Problems: Niemand in diesem Städtchen verfiel jemals in Hektik. Der Stress der Großstadt war so weit weg wie Smog, Fabrikschornsteine und Menschen, die einen umrannten, weil sie mit den Augen auch im Gehen fest am Handybildschirm klebten. Es ging gemütlich zu in Montegiardino, gemütlich und idyllisch – und das hieß auch, dass sich Commissario Luca statt mit Mord und Totschlag eben mit Auffahrunfällen beschäftigte, mit Touristen, die allzu viel Bleifuß hatten, oder mit einer entlaufenen Bullenherde auf dem Monte Torrini oberhalb der Stadt. Damals, als er von hier in die große Stadt geflohen war, wäre ihm dieses Jobprofil ein Graus gewesen, heute aber konnte er es sich nicht anders wünschen – nach all dem, was geschehen war.

»Papa, wir sind im Ort, und du bist Polizist«, sagte Emma vorwurfsvoll und zeigte mit ihrem Finger auf den Tacho.

Er war wirklich tief in Gedanken gewesen. Sofort bremste Luca und ließ den Wagen bis ins Zentrum ausrollen. Kurz vor der Piazza Santa Lucia bog er nach links ab, wo es auf altem Kopfsteinpflaster durch die enge Via Aldo Moro eine kleine Anhöhe hinaufging. Oben befanden sich der Sportplatz der Fußballer, die Tennisplätze der Gemeinde und direkt daneben das moderne Gebäude, das in seinem rechten Trakt die Vorschule und im linken die Grundschule von Montegiardino beherbergte. An der Fassade wehte stolz die italienische Trikolore nebst der europäischen Flagge.

Vor der Schule winkten schon Emmas Mitschülerinnen, die den lauten Motor des Méhari sofort erkannten. Luca bremste direkt vor dem Portal.

»Allora, ich wünsche dir einen zauberhaften Tag, mein Schatz.«

»Danke, Papa, auch für unsere Schulwegdisco, das war lustig.«

»Bis heute Nachmittag.«

»Ciao!«

Sie stieg aus, griff nach ihrem Rucksack, warf ihn sich über die Schulter und winkte ihm noch mal zu, dann hüpfte sie mit wippendem blonden Pferdeschwanz davon. Sie sah ihrer Mutter so ähnlich. Die strahlenden dunkelblauen Augen, die Grübchen in den Wangen, die wilden Sommersprossen, die erschienen, sobald die ersten Strahlen des Frühsommers auf ihre Haut fielen.

Er schaute ihr noch eine Weile nach, wie sie ihre Freundinnen umarmte, bevor alle gemeinsam im Gebäude verschwanden. Dann wendete er in der Einfahrt und fuhr wieder hinunter in die Stadt. Das Rathaus befand sich in einem alten Palazzo auf der Piazza Lungarno am Ufer des Flusses, eins der ehrwürdigen Rathäuser, wie es sie in beinahe allen toskanischen Gemeinden gab – in Florenz natürlich in größerem Maßstab und in Montepulciano, San Gimignano und hier in Montegiardino eben in kleinerem: ein strenger Bau, der Wehrhaftigkeit ausstrahlte, mit trutzigen Zinnen und halbrunden Sprossenfenstern, obenauf ein Turm, dessen große Uhr zu Lucas immenser Verwunderung seit seinem Amtsantritt nicht einen Tag auch nur eine Minute hinterherhinkte. Hier also befand sich das Municipio mit dem Rat der Stadt, und genau hier hatte auch Commissario Luca sein Büro.

Er parkte das Auto auf dem für ihn vorgesehenen Stellplatz, schloss nicht ab, was sich bei dieser Bauart sowieso erübrigte, und wollte gerade das Gebäude betreten, als hinter ihm eine Fahrradklingel ertönte.

»Ah, Luca«, hörte er den Mann sagen, der längst von seinem Chef zu seinem Freund geworden war. »Buongiorno, mein Lieber, was machen die Esel?«

Luca wandte sich um und lächelte Vittorio Martinelli freundlich an.

»Dottore, buongiorno. Na, wenn wir nicht aufpassen, fressen sie uns die Haare vom Kopf.«

»Aber nicht dass Sie mich gleich nach einer Gehaltserhöhung fragen, Commissario.«

Der Bürgermeister lachte und ließ Luca den Vortritt, hinein ins Rathaus. Der Mann war eine Erscheinung, weil er den kurzen Weg von seiner Stadtwohnung zur Arbeit selbst in seinem fortgeschrittenen Alter auf dem Rennrad zurücklegte und weil er dabei dennoch die feinste Tradition der italienischen Modeschöpfer beherzigte: Egal ob in der Limousine, auf der Vespa oder auf dem Fahrrad – Hauptsache, der Anzug saß. Und bei Martinelli saß er wie angegossen: Das dunkelblaue Tuch harmonierte perfekt mit dem weißen Guglielminotti-Hemd und dem gleichfarbigen Einstecktuch, am Revers steckte winzig, aber wirkungsvoll die Trikolore.

»Nun, was steht heute bei Ihnen an, Dottore?«, fragte Luca, als sie zusammen die breite Marmortreppe emporstiegen. Martinellis Büro lag im linken Flügel der Beletage, während der Gemeindepolizist ein kleines Zimmer unterm Dach zur Verfügung hatte, mit offen liegenden Steinen und Balken und herrlichen Dachschrägen, die er längst lieben gelernt hatte. Dass es hier im Sommer unerträglich heiß wurde, kam ihn nur zupass, so hatte er die perfekte Ausrede dafür, seine Arbeitstage ab dem späteren Vormittag nach draußen zu verlegen – denn er war ohnehin am liebsten nah am Bürger, wie die Menschen des Städtchens sagten, egal ob in Fabios Bar oder auf dem Fußballplatz der Gemeinde, wo er mit den Herren Ü40 bei Montegiardino Calcio kickte.

»Ach, ich habe zwei Bürgergespräche wegen der Umgehungsstraße um die nördliche Siedlung. Anschließend werde ich kurz zum Markt gehen, denn es kursiert das Gerücht, es würde schon frische Steinpilze geben. Zu dieser Zeit im Jahr, das ist doch kaum möglich, oder, Commissario?«

»Es hat zweimal geregnet in der letzten Woche«, antwortete Luca. »Wer weiß, vielleicht hatte Maria tatsächlich schon Glück.« Er sah auf die Uhr und blickte durch die Buntglasfenster hinaus in den sonnigen Tag.

»Und dann muss ich am Nachmittag nach Siena fahren, eine weitere beschwerliche Sitzung mit den Herren von der Bahngesellschaft. Als würden wir in diesem Jahrhundert noch einen Bahnanschluss bekommen – nun, die Hoffnung stirbt zuletzt.«

»Dann wünsche ich Ihnen einen glimpflichen Tag, Dottore«, sagte Luca. »Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.«

»Was haben Sie denn vor, Commissario?«

»Ach, nur das Übliche. Es ist Markttag, da gibt es viel zu tun. Und ich wollte später mal die Bauern der Umgebung abklappern, um zu sehen, ob alles für die Herbsternte bereit ist.«

Außerdem war er gespannt, ob endlich die Buchstaben für das Ortsschild angekommen waren, aber das behielt er lieber für sich. Der Bürgermeister verabscheute die Sesselpupser in der großen Stadt, und Luca wollte nicht, dass Martinelli ein Donnerwetter durchs Telefon losließ, das es ihm dann schwerer bis unmöglich machte, jemals wieder irgendetwas von der Straßenverkehrsbehörde zu bekommen. Manchmal war Druck von oben gut, aber meistens war ihm die Diplomatie vorzuziehen, besonders im niemals zu gewinnenden Kampf mit italienischen Behörden. Choose your battles wisely – wähle deine Schlachten weise. Dieses Motto wusste Luca stets für sich zu nutzen.

»In Ordnung, Commissario, auch Ihnen einen guten Tag.«

Martinelli ging in den linken Flügel, und Luca stieg die Treppe weiter empor, aber nur so lange, bis der Bürgermeister aus dem Blickfeld verschwunden war und er eine Tür klappen hörte. Dann drehte er um, eilte wieder hinunter und trat hinaus auf den Vorplatz. Der Dottore war aber auch wirklich immer bestens informiert. Nur gut, dass er außerdem meist schwer beschäftigt war. Wenn die Neuigkeit von Marias frühem Steinpilzfund erst einmal durchs Städtchen schwappte, war es aussichtslos, auch nur noch einen Porcino-Krümel zu erwischen. So ging der Commissario schnurstracks am Fluss entlang, auf dem zwei Enten mit der Strömung spielten, indem sie sich immer schneller treiben ließen, um sich dann wieder in die Gegenrichtung zu drehen und mit aller Kraft gegen die kleinen Wellen anzuschwimmen. Es sah nach purem, zweckfreiem Spaß aus. Kurz vor der Brücke überquerte er die kleine Straße und betrat die Piazza Santa Lucia, die mittlerweile von einem idyllischen Dorfplatz zur Haupteinkaufsmeile von Montegiardino geworden war – einer sehr bunten Meile, zugegeben. Hier reihte sich Stand an Stand, hölzerne Böcke, überspannt mit roten und grünen Markisen, und schon zu dieser frühen Stunde drängten sich dazwischen vor allem die Damen des Ortes auf der Suche nach den besten Delikatessen für ein spätes Mittagessen.

»Ciao, Commissario!«, rief Alberto mit seinem tiefen Bass und winkte mit den tropfenden Händen, »ich habe herrliche Doraden reinbekommen, soll es heute Abend Fisch geben?«

Er hatte den ersten Marktstand am Platze. Am Gesicht des betagten Fischhändlers war gut zu erkennen, dass er noch vor wenigen Jahren selbst hinausgefahren war aufs nächtliche Mittelmeer. Nun aber, wo die Haare verschwunden, der dichte weiße Bart aber geblieben war, hatte er sich aufs Verkaufen des Fanges verlegt, den seine Tochter Frederica allmorgendlich drüben in San Vincenzo anlandete. Er selbst ging nur noch im Arno Welse, Karpfen und, wenn er Glück hatte, auch Lachsforellen angeln, die in der Stadt als besonderer Leckerbissen galten.

»Hm, heute muss ich passen«, antwortete Luca und lächelte den alten Herrn freundlich an. Er verehrte den Fischer für seine Freundlichkeit und seine Kennerschaft, was die frischesten Produkte des Meeres anging.

»Ha, ich weiß, wo Sie hinwollen, Commissario«, flüsterte Alberto augenzwinkernd und wies unter seinen Stand. »Ich war schon dort. Sie müssen sich beeilen.«

Luca beschleunigte seinen Schritt, winkte der Frau im Macelleria-Wagen nur flüchtig zu, sie war wohl eine Aushilfe, die gerade dabei war, ein dickes Schweinekotelett vom Knochen zu schlagen. Dann ließ er den Käsestand links liegen und beäugte fasziniert die längste Schlange des Marktes: Es waren Dutzende Käufer, die geduldig vor einem Tisch warteten, auf dem mehrere Flaschen Olivenöl standen, die ganz anders aussahen als die Massenware aus dem Supermarkt, Flaschen aus durchsichtigem Glas mit einer bauchigen Form, durch die das satte Goldgrün des Öls besonders stark zur Geltung kam. Das Logo war sehr kreativ in Retrooptik gehalten, und das Produkt hieß so schlicht wie genial: Superpower-Olio. Hinter dem Tisch schnitt die junge Chefin frisches Ciabatta in kleine Stücke und reichte es den Kunden zum Probieren der Öle auf großen Tellern. Es war ein Phänomen: Seitdem Sara und Davide Garaviglia sich aus Mailand aufgemacht hatten, hier in Montegiardino biologisches Olivenöl zu produzieren, galten sie als absoluter Geheimtipp. Dabei hatte der Hof ihres lange verstorbenen Großvaters, den sie bewirtschafteten, ewig leer gestanden. Es war einfach ein Glücksfall für den Ort, befand Luca, der um die Schlange einen weiten Bogen machte und schnurstracks zu den Auslagen des Obst-und-Gemüse-Stands ging, der auf dem Markt den größten Raum einnahm. Es war ein wahres Paradies der Farben: Lila Artischocken leuchteten mit den gelben, grünen, roten und fast schwarzen Tomaten um die Wette, die roten Zwiebeln aus Certaldo lagen neben den riesigen Zitronen aus Amalfi, den hellgrünen Trauben und Feigen aus der Region und dem tiefgrünen Basilikum, das Maria in ihrem feinen Kräutergarten auf der Hochebene über der Stadt selbst zog. Doch so genau Luca den Stand auch maß – Pilze sah er keine. Er trat unruhig von einem Bein aufs andere, weil auch hier ein paar Menschen anstanden und die ihm unbekannte Dame, die eben an die Reihe kam, sich die Mühe machte, jedes Salatblatt einzeln zu prüfen. Auf sie folgte Signore Aleardi, ein Veteran des Zweiten Weltkriegs, der mit seinen fast hundert Jahren mühsam Centstück für Centstück aus dem Portemonnaie kramte, um am Ende Maria selbst das Geld zählen zu lassen. Als sie dann aber die Summe beisammenhatte, wollte der Signore doch lieber noch mal überprüfen, ob alles seine Richtigkeit hatte.

»Scusi, Commissario, aber Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«, sagte er, als er sich umdrehte und mit seinen gläsernen Pupillen die Uniform des Polizisten begutachtete. »Sehr schick sehen Sie wieder aus. Nicht so adrett wie wir damals, aber immerhin, sie ist gebügelt.«

»Ich habe wohl geahnt, dass ich Sie heute treffe, Dottore«, sagte Luca verbindlich und wartete, bis der Alte seine Einkäufe verstaut und sich auf den Weg zur Macelleria gemacht hatte, wo er das gleiche Schauspiel aufführen würde. So war dieser Markt: ein wahres Theater der Bürger, an manchen Tagen eine Komödie, an anderen eine Tragödie. Selbstverständlich bevorzugte Luca die ersteren Tage.

»Mein Lieber«, begrüßte Maria ihn, und Luca ließ den Blick noch einmal über den Stand schweifen. »Was kann ich für dich tun? Der Cima di rapa ist ganz frisch, er ist saugut.«

Ja, Luca liebte Marias Stängelkohl, aber er war doch wegen der Pilze hier. Da sie ihm schon etwas anderes anpries, war er wohl wirklich zu spät. Traurig schüttelte er den Kopf, doch dann sah er, wie sie zu strahlen anfing und ihn anzwinkerte.

»Ich wusste doch, dass du auf jeden Fall herkommst«, sagte sie und senkte dabei ihre Stimme, um sicherzugehen, dass kein anderer Kunde ihr Gespräch mitbekam, »deshalb habe ich natürlich etwas zurückgelegt. Für den Bürgermeister – und für meinen besten Polizisten.« Sie griff unter die Theke und holte eine schlichte braune Papiertüte hervor, die randvoll gefüllt war. Sie reichte sie Luca, der sie öffnete. Augenblicklich strömte der Duft des Waldes heraus, und der Commissario blickte auf die prächtigen dunkelbraunen Pilze, die so groß und fest waren, wie es nur wenige Exemplare gab. Es war noch Erde an den Stielen, ganz anders als bei den nüchternen Steinpilzen, die irgendwo gezüchtet worden waren. Dies hier war pure Natur.

»Wo hast du die bloß um diese Jahreszeit her?« Er hätte zu gern ihr Geheimnis gewusst.

»Wenn ich dir das verrate«, antwortete sie lächelnd, »muss ich dich anschließend umbringen.«

»Aber dann gäbe es ja keinen mehr, der den Mord aufklärt.«

»Ich glaube, die Stadt würde dich rächen.«

»Nur nicht, wenn du allen Bewohnern Steinpilze als Schweigegeld zahlst.«

»Da könntest du recht haben«, sagte Maria lachend.

»Oh nein, ich bin zu spät, oder, Maria?« Luca hörte die Stimme hinter sich und war hin- und hergerissen zwischen Freude und Aufregung. Er war ganz und gar nicht auf dieses frühe Aufeinandertreffen vorbereitet. Doch er hatte keine andere Wahl, also wandte er sich um und begrüßte die Frau, die genau hinter ihm stand und deren von roten Locken gerahmte grüne Augen fröhlich zwinkerten, sodass er gar nicht anders konnte, als zu lächeln – sie machte ihm einfach immer gute Laune. Sie trug ein weißes T-Shirt zu einer dunkelblauen Jeans, ihre helle Haut zeigte Spuren von Sommersprossen.

»Ciao, Dottoressa«, sagte er und machte den Schritt auf sie zu, sie hielt ihm die Wange hin, und er küsste sie zur Begrüßung, links, rechts, die einfachste Sache der Welt, und doch hielt er bei ihr immer eine Millisekunde länger inne, um ihr leichtes Parfum zu riechen und sich für den Rest des Tages daran erinnern zu können.

»Commissario«, sagte die Dottoressa, und ihre Stimme hatte etwas Anklagendes, aber der Commissario hörte sogleich die kaum versteckte Ironie, »Sie haben mir doch nicht etwa die letzten Steinpilze weggekauft?«

»Pst«, zischte Maria, »nicht so laut, sonst rennen die Leute mir gleich den Stand ein. Chiara, ich wusste doch nicht, dass du kommst, ich dachte, du machst den ganzen Vormittag Hausbesuche.«

»Na klar, mache ich ja auch, aber mein erster Patient war Sergio, und der hat mir sofort erzählt, dass du gestern im Wald warst. Und da musste ich diesen Abstecher machen.«

»Meine Liebe«, sagte Maria traurig und hielt ihr die offenen Hände entgegen, »es ist alles weg. Aber ich gehe bald wieder, vielleicht regnet es ja die nächsten Nächte ein bisschen.«

»Na gut«, sagte Chiara und blickte zu Boden.

»Ach komm«, sagte da Luca, der ihre Enttäuschung nicht länger mit ansehen konnte, und hielt ihr seine Tüte hin, während Maria, die die Situation erfasst hatte, sich dezent dem nächsten Kunden zuwandte. »Lassen Sie uns doch teilen, dann haben Sie etwas zum Abendessen, Dottoressa.«

Noch immer siezten sich die beiden, was in Montegiardino absolut unüblich war. Doch obwohl sie sich seit Jahren kannten, war diese Barriere der Höflichkeit nie eingerissen worden.

»Das kann ich nicht annehmen, Commissario, es reicht doch gerade mal für Sie beide …«

»Ich bestehe darauf«, sagte Luca und hielt ihr immer noch die Tüte hin.

»Kurz dachte ich, Sie würden mich zum Essen einladen, bei den Kochkünsten, die Ihnen nachgesagt werden – aber so ist es natürlich auch gut.«

Er betrachtete sie und überlegte, ob sie einen Scherz gemacht hatte; es durchfuhr ihn, und er sagte: »Aber natürlich, Dottoressa, Sie sind herzlich eingeladen …«

»Nein, nein«, sagte sie strahlend und machte eine wegwerfende Geste, »das war doch nur ein Scherz … also …«, sie nahm ihm seine Tüte aus der Hand und füllte die Hälfte ihres Inhalts vorsichtig in eine kleine Papiertüte, die Maria ihr ganz nebenbei gereicht hatte. »So ist es genug für Sie und Ihre Tochter, und ich habe auch ein wenig von dieser Delikatesse. Herzlichen Dank, Commissario. Und nun muss ich weiter, der Vormittag ist vollgepackt. Grazie, Maria, grazie, und buona giornata.«

Und schwups war sie entschwunden, und Luca sah nur noch ihre roten Locken, die hier und da zwischen den anderen Marktbesuchern aufblitzten. Großer Gott, war diese Frau eine Wucht!

»Luca?«

»Äh, ja?«

»Möchtest du sonst noch etwas? Vielleicht doch etwas Cima di rapa?«

»Oh, verzeih, Maria, nein, das ist alles«, sagte er und griff zum Portemonnaie.

»Lass mal gut sein, das machen wir irgendwann. Wenn du verstehst, was ich meine.«

Natürlich verstand er. »Danke dir, Maria. Buona giornata.«

Luca ging zurück in Richtung Fleischerstand, nun brauchte er nur noch ein wenig Speck. Er hoffte, dass Signore Aleardi schon alles erledigt hatte, sonst würde es dauern. Luca atmete auf, als er sah, dass der Stand leer war – und mit zusätzlicher Erleichterung stellte er fest, dass wieder Bruno den Thekenplatz der ihm unbekannten Frau eingenommen hatte.

»Guten Morgen, Carissimo«, sagte er freundlich, doch der Fleischer nickte nur, als sei er in Gedanken, dann erst straffte er sich und fragte seltsam distanziert:

»Ja … ähm, was brauchst du heute?«

»Den besten Speck, den du hast. Einen breiten Streifen. Hast du was Gutes?«

»Come no, Commissario! Natürlich. Vom besten Bauern Südtirols. Es kommt nicht viel Gutes aus dem Norden, aber Speck können sie dort. Hier …«, er säbelte im Takt seiner Worte von einem herrlich fetten Stück einen Streifen ab und packte ihn in sein bedrucktes Papier.

»Nun lass mal das Geld stecken, es passt schon. Aber …«

Jetzt reichte es Luca mit dem Gestammel.

»Mensch, Bruno, nun sag schon, was los ist. Hast du aus Versehen deinen Gehilfen mit dem Bolzenschussgerät niedergestreckt?«

»Nein, nein«, wehrte der Fleischer erschrocken ab. »Nein, aber ich habe da etwas mitbekommen. Hast du das Gerücht etwa noch nicht gehört?«

Luca war verwundert. »Also, ich weiß, dass Maria in den Pilzen war.«

»Ach wirklich? Maria war in den Pilzen? Sie hat mir gar nichts davon gesagt.«

Mist, dachte Luca. Der Markt war eine echte Gefahr für alle schwatzhaften Menschen.

»Was meintest du denn?«

»Es heißt, es geschehe was mit dem alten Pellegrini.«

Luca musste einen Moment überlegen, so weit hinten lag diese Geschichte im Archiv seiner Erinnerung. Doch dann überfiel es ihn wieder, und er spürte sein Herz schneller schlagen.

»Was? Und was genau bedeutet das?«

»Das wusste der Kunde auch nicht. Und jetzt frag nicht, welcher Kunde. Na ja, es scheint, als hätten sich seine Werte über Nacht sehr stark verändert.«

»Zum Schlechten?«

»Keine Ahnung, Commissario. Da musst du die Dottoressa fragen. Es heißt, sie sei auf dem Weg zu ihm. Dabei dachte ich, sie eben noch hier gesehen zu haben. Jetzt hab ich schon Halluzinationen von hübschen Frauen.«

»Hast du nicht. Sie war hier.«

»Merkwürdig, es klang so besonders, diese Nachricht, dass ich mir vorgestellt hab, sie würde sofort hochrasen. Das ist doch Wahnsinn. Wie lange liegt er da jetzt ohne ein Wort? Sechs Jahre? Oder sieben?«

»Acht. Es sind acht Jahre.«

»Acht Jahre? Wirklich. Oh Gott. Acht Jahre ohne eine Regung, ohne ein Wort, ohne die Gewissheit, dass er noch irgendetwas mitbekommt von der Welt. Und diese offenen Augen. Ich war nur ganz am Anfang einmal bei ihm. Aber als ich ihn da gesehen habe, hab ich wirklich Angst bekommen. Mich haben keine zehn Pferde mehr da hochgekriegt. Es ist doch …«

Luca wusste schon, was jetzt kam.

»… als wäre der Teufel in ihn gefahren.«

Der Commissario rang sich ein mitfühlendes Nicken ab, bevor er einen schönen Tag wünschte und weiterging. Er wusste nicht, wie oft ihm diese Wendung hier schon begegnet war. Dass der Teufel in den alten Renzo gefahren sei. Er konnte sie nicht mehr hören. Obwohl: Es stimmte nicht, dass er lange nicht mehr an den Olivenbauern gedacht hatte. Vielmehr war die Geschichte dieser Nacht vor mehr als acht Jahren durchaus etwas, worüber er in stürmischen Nächten grübelte, wenn er wach lag und der Schlaf nicht kommen wollte. Was, um alles in der Welt, war damals geschehen, das dem alten Mann den Verstand geraubt hatte?

Er war zu der Zeit noch nicht der Gemeindepolizist gewesen, deshalb erinnerte er sich nur grob. Auch weil die Akte sehr lückenhaft geführt war. Der Fall war eben kein Fall gewesen – schließlich hatte es kein Verbrechen gegeben, nach allem, was Luca bekannt war. Doch es gab jemanden, der genauer Bescheid wusste. Und so hatte Luca heute – neben dem perfekten Espresso – noch einen Grund, Fabios Bar anzusteuern. Wie immer an Markttagen waren alle Plätze auf der Terrasse besetzt, unter der Markise saßen die Bewohner Montegiardinos an den weißen Tischen, tranken Cappuccino oder einen geeisten Americano, ein Pärchen trank sogar schon den ersten Spritz im Schatten des roten Sonnenschirms. Der Commissario wollte Fabrizia zuwinken, doch die Olivenbäuerin war so vertieft in die aktuelle Ausgabe der hiesigen Tageszeitung La Nazione, dass sie ihn nicht bemerkte. So ging Luca schnurstracks hinein in die enge schlauchförmige Bar, über deren gesamte Länge sich der alte Tresen erstreckte, an dem schon Fabios Vater Fabio senior in den Sechzigern Kaffee serviert hatte. Die alten Logos der Firma Manaresi über dem Tresen verrieten, dass sich seither nicht einmal die Marke der Bohnen, die im Zentrum von Florenz geröstet wurden, geändert hatte.

Während vor dem Laden kleine Grüppchen saßen – Senioren, die miteinander plauderten, Paare, Geschäftsleute, die ihre Konferenz vor die Bar verlegt hatten –, standen hier am Tresen ausschließlich einzelne Männer herum und tranken ihren Espresso: darunter der Anwalt des Ortes, Avvocato Urbino, der Handwerker Giuseppe, den man immer dann rief, wenn irgendetwas nicht mehr funktionierte, und Fabios Sohn, der von seiner Mutter dankenswerterweise einen anderen Namen als seine männlichen Vorfahren erhalten hatte – wenn auch nur Fabrizio, aber immerhin. Sie alle folgten ihm mit ihren Blicken, ein leises Nicken zur Begrüßung, mehr nicht. Das hier war die Bar, und er war der Polizist. Da galt Respekt, auch wenn sie einander schon lange kannten.

»Ciao, Commissario«, rief Fabio mit seinem leichten Lispeln, »bin gleich da.« Er wirbelte hinter der Theke herum wie ein Derwisch, wusch hier schnell ein Glas ab, schäumte dort die Milch für einen Cappuccino auf. Immer saß das silbrige Haar perfekt, genau wie der graue Oberlippenbart akkurat gestutzt war. Er trug eine schwarze Weste zu einem weißem Hemd, dazu eine schwarze Fliege, seit drei Jahrzehnten Tag für Tag dasselbe Outfit. »Allora, wie immer?«

Noch bevor Luca antworten konnte, stand Fabio schon an der La Marzocco-Maschine, die zu dieser Zeit des Tages am besten lief, weil sie am Morgen schon richtig Druck und Hitze bekommen hatte und nun optimal durchgewärmt war. Tranken sie im Rest Italiens ihren Espresso bevorzugt aus Maschinen der Marke Cimbali, die ihren Stammsitz nahe dem verhassten Mailand hatte, so gab es hier in der Toskana kaum eine Alternative zu dem Florentiner Traditionshaus. Fabio mahlte die Bohnen, gab das Pulver in das Sieb, drückte es kräftig an und ließ dann das heiße Wasser aus geringer Höhe in die vorgeheizte Tasse laufen. Dazu ein winziger Löffel Milchschaum, fertig war der Espresso macchiato, von dem Luca an guten Tagen ein halbes Dutzend trank, ohne aufgedreht zu sein.

»Hier, mein Lieber. Bist spät dran heute. Aber ich hab schon gehört, Maria war in den Pilzen.«

Dieses Städtchen war ein Dorf, dachte Luca. Heute nicht zum ersten Mal. Fabio wollte eben wieder entschwinden, doch der Commissario senkte vorher seine Stimme. »Sag mal …«

Sofort war der Barista ganz Ohr. Wenn der Gemeindepolizist etwas wissen wollte, steckte meist mehr dahinter. Er trat näher, griff aber das Handtuch, um die Gläser von der Abtropfwanne zu polieren, so hatte er ein Alibi für ein Gespräch ganz nebenbei.

»Ich war damals noch nicht wieder hier, kannst du mir noch mal in Erinnerung rufen, was mit dem alten Pellegrini passiert ist?«

»Mit Renzo?«

Luca nickte.

Fabio ließ sein Handtuch sinken und beugte sich über den Tresen. Er stützte den Kopf auf seine Hand.

»Stimmt, du warst damals ja noch ganz woanders. Du bist mir so vertraut, als wärst du immer schon hier gewesen … Ich weiß allerdings auch nur das, was die Leute sagen.«

Sein Blick verschwamm, als wühlte er in seinen Erinnerungen.

»Es war in einer Nacht kurz vor der Olivenernte, also vermutlich so Anfang, Mitte November. Er muss draußen unterwegs gewesen sein, als ihn der Schlag traf. Ein Schlaganfall, so haben es jedenfalls die Nachbarn erzählt. Violetta hat ihn am Morgen darauf gefunden, sie war verwundert darüber, dass sie ihn nicht in dem Hain angetroffen hatte wie jeden Morgen, dem Hain neben ihrer Kuhweide. Da hat sie nachgesehen und ihn dort auf dem Boden liegend gefunden. Der alte Arzt, der verstorben ist, kurz bevor du zurückkamst, meinte, er wäre fast erfroren.«

»Aber war er denn krank?«

»Renzo? Ach, i wo, keinen Tag«, antwortete Fabio und schüttelte entrüstet den Kopf. »Im Ernst: Er war nie krank, sein ganzes Leben lang nicht. Ich glaube, wenn es damals schon solche Schrittzähler gegeben hätte wie heute auf dem Handy, der wäre bei Renzos Pensum implodiert. Der war von morgens an und bis spät in die Nacht in seinen Oliven unterwegs, der lebte regelrecht für das Öl. Der hat nie geraucht und fast nicht getrunken. Aber du siehst ja, so ein Ding im Gehirn kann jeden treffen. Als sich das rumsprach, dass es ausgerechnet den fitten Renzo erwischt hat, da haben hier einige wieder angefangen zu rauchen. Aber, Commissario, wieso fragst du mich das denn?«

»Irgendwas geht da vor sich.«

»Bei Renzo?« Es war nicht leicht, Fabio zu überraschen. Doch Luca sah, dass er es geschafft hatte. »Wirklich? Wacht er auf?«

»Ich weiß es leider nicht. Wohl besser, ich fahre mal hinauf.«

»Wohl besser …«, wiederholte Fabio die Worte murmelnd, und in seinen Augen lag etwas Düsteres, was der Commissario nicht recht zu deuten wusste. Er legte einen Euro auf den Tresen.

»Aber komm nicht so spät zurück. Ich habe heute dein Leibgericht zum Mittag«, sagte Fabio, drehte sich mit seinem weißen Stift zur Tafel hinter dem Tresen um und schrieb die magischen Worte auf: Spaghetti alla bottarga.

Luca lief das Wasser im Mund zusammen. Ja, er würde wirklich in zwei Stunden wiederkommen müssen. Fabio servierte täglich von halb zwölf bis zwölf keinen Kaffee, denn das war die Zeit, in der er in der winzigen Küche verschwand, um einen riesigen Topf Pasta zu kochen, die Soße hatte er meist schon früh am Morgen angesetzt. Zwischen zwölf und eins gab es dann dieses eine Gericht in der Bar. Luca liebte diese einfachen Mahlzeiten, ein Ragù oder eine Arrabbiata – die Spaghetti mit den getrockneten Fischeiern von Fabios sardischem Schwager aber waren sein Favorit. Die Vorfreude ließ ihn ganz euphorisch werden, er musste sich regelrecht ermahnen, dass es erst mal noch was zu tun gab. So trat er hinaus in den strahlenden Tag und fand sich auf dem Marktplatz wieder.

Luca ging ein Stück, hörte die Vögel in den Zypressen und Platanen ringsum singen, doch dann blieb er stehen und schüttelte nachdenklich den Kopf. Irgendwie hatte er das diffuse Gefühl, etwas vergessen zu haben. Oder war es vielmehr das Gefühl, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte?

Er nahm den Weg zurück zum Rathaus, es war abgemacht: Gleich würde er hinauffahren zur Dottoressa, um bei Renzo Pellegrini nach dem Rechten zu sehen. An der Einfahrt zum Markt standen zwei Wagen im absoluten Halteverbot. Ein altes Lieferfahrzeug vom Typ Ape in Hellgrün, auf der offenen Ladefläche lagen leere Obstkisten, wild durcheinandergewürfelt. Daneben ein weißer Fiat Ducato, der gerade so auf den Bürgersteig gerumpelt war, dass noch ein Rollstuhl durchpasste. Der Lieferwagen trug die Aufschrift Macelleria di Montegiardino auf der Seite, daneben ein Bild von einem lachenden Schweinchen. Luca schüttelte den Kopf und überschlug im Geiste die Strafgebühr, die der Bürgermeister mit dem Stadtrat festgelegt hatte: Parken auf dem Bürgersteig hundertfünfzehn Euro. Parken in einer Verbotszone hundertfünfzehn Euro. Machte schlappe zweihundertdreißig Euro, pro Fahrzeug, versteht sich. Er ließ den Block mit den Knöllchen dennoch stecken, sie hatten es wohl wieder zu eilig gehabt vorhin beim Ausladen. Eine Hand wusch die andere – und da ging es ihm weder um Speck noch um Steinpilze, eher um das gute Gefühl, den Bürgern seiner Stadt nicht zu viel zuzumuten und das gegenseitige Vertrauen zu fördern. Trotzdem würde er sowohl mit Maria als auch mit Bruno ein ernstes Wörtchen reden müssen. So dürften sie nicht noch einmal parken.