Toskanische Verdammnis - Camilla Trinchieri - E-Book

Toskanische Verdammnis E-Book

Camilla Trinchieri

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Beschreibung

Wer erstach den Barkeeper des noblen Hotels Bella Vista? Der perfekte Urlaubskrimi für Italien-Fans.

An einem späten Oktobermorgen im beschaulichen Örtchen Gravigna in der Toskana sind Ex-Cop Nico Doyle und sein Freund, Maresciallo Salvatore Perillo, gerade beim Frühstück, als sie zurück auf die Wache gerufen werden: Der achtzigjährige Cesare Rinaldi, Barkeeper im Hotel Bella Vista, wird seit drei Tagen vermisst.

Nicos treuer Hund OneWag findet am nächsten Tag eine tödliche Spur: Bei einem Auto nimmt er einen Geruch wahr und schlägt an. Im Kofferraum liegt Cesares Leiche, mit Messerstichen in der Brust. Der Besitzer des Autos ist Nicos Freund Jimmy, Inhaber seiner Stammbar All’Angolo. Warum sollte Jimmy Cesare töten, und was hat die junge Hotelmanagerin Laura Benati mit dem Fall zu tun? Maresciallo Perillo braucht erneut Nicos Hilfe, um den Fall zu lösen …

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Cover

Titel

Camilla Trinchieri

Toskanische Verdammnis

Kriminalroman

Aus dem amerikanischen Englisch von Ruth Keen

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Murder on the vine bei Soho Press, New York.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4979.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel VerlagAnton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023Copyright © 2022 by Camilla TrinchieriAlle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagfoto: serts/Getty Images, München

eISBN 978-3-458-77655-0

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Eine Vorbemerkung

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Danksagung

Nachbemerkung der Übersetzerin

Verzeichnis der handelnden Personen

Informationen zum Buch

Toskanische Verdammnis

Eine Vorbemerkung

Viele Menschen bewohnen meine toskanischen Krimis. Manche, wie Nico, Perillo und Daniele, bilden die Grundpfeiler der Serie. Andere, wie Tilde, Nelli und Stella, sind für die drei von existentieller Bedeutung, führen aber auch ihr eigenes Leben. Sie sind Teil einer Welt, die ich mir erschlossen habe, und sie wohnen in Gravigna, Greve und anderen Dörfern. Dort sind sie verankert, ganz wie die Leute, die diese Geschichten betreten und sie wieder verlassen: Manche erscheinen ganz unvermittelt und hoffen auf ihren Auftritt. Ich lasse sie herein, damit auch ich an dieser Welt teilhaben kann, die in meinen Gedanken langsam Gestalt annimmt, und ich wünsche mir, dass sie auch für Sie zum Leben erwacht. Ich weiß – all die vielen fremden Namen, die man sich merken muss, man könnte glatt den Überblick verlieren. Bitte verzagen Sie nicht: Für dieses dritte Toskana-Abenteuer habe ich ein Personenverzeichnis erstellt, das Sie am Ende des Buches finden; vielleicht ist es hilfreich. Ich hoffe, diese neue Reise macht Ihnen Spaß.

Vielen Dank

Camilla Trinchieri

Eins

Gravigna, ein kleines Dorf in den Chianti-Hügeln der Toskana

Ein Sonntag Mitte Oktober, 10:35

Barfuß, in Jogging-Shorts und einem verwaschenen Yankees-T-Shirt saß Nico Doyle auf dem Balkon des kleinen Bauernhauses, in dem er zur Miete wohnte, und aß eine letzte Scheibe Toast. Endlich war die drückende Sommerhitze milderen Tagen und kühlen Nächten gewichen. Die drei Schwalben, die sich zwischen den Holzbalken der Balkon-Überdachung angesiedelt hatten, waren bereits zu ihrem langen Vogelzug nach Südafrika aufgebrochen; zurück blieben nur ihre leeren Nester, die im Frühling wieder gefüllt werden würden.

Vor ihm lag ein freier Tag. Tilde erwartete ihn erst zur Abendessenszeit im Sotto Il Fico. Als er seinen Blick über die ihn immer noch überwältigende Szenerie schweifen ließ, spürte er, wie aller Kummer vergangener Zeiten von ihm abfiel. Die Farben eines italienischen Herbstes waren eher gedämpft – sie erschienen in unterschiedlichen Schattierungen gelber, brauner, grauer und blassgrüner Töne. Italienischer Ahorn konnte sich nicht mit jenem atemberaubend leuchtenden Rot messen, das typisch für das Herbstlaub Neu-Englands war. Die einzig kräftige Färbung boten in einiger Entfernung die Zypressen mit ihrem tiefen Dunkelgrün.

Eine strahlende Sonne ließ die Blätter an den in der Nähe stehenden Olivenbäumen, die seinem Vermieter gehörten, silbern glitzern. Hinter dem Hain erstreckten sich ordentliche Reihen von Ferriello-Reben, deren Blätter vergilbt und deren Trauben bereits per Hand abgeschnitten worden waren. Die Olivenernte würde Ende des Monats beginnen. Letztes Jahr hatte Nico sich seinem Vermieter und den Saisonarbeitern angeschlossen. Auf einer uralten Holzleiter balancierend hatte er Zweige gerüttelt, hartnäckige »Kletten« abgerissen und die unterhalb der Bäume ausgebreiteten schwarzen Netze mit den grünen Früchten vollgeschüttet. Er freute sich darauf, auch in diesem Jahr mithelfen zu können. Sein Lohn bestand aus zwei Flaschen des besten Olivenöls, das er je gekostet hatte.

Aus dem Wald hinter dem Bauernhaus drangen Gewehrschüsse. Die Jagdsaison war eröffnet und die sonst so friedlichen Wochenenden dröhnten vom ständigen Widerhall der Gewehrsalven. Der Lärm veranlasste Nico, sein Gegenüber an dem kleinen Balkontisch anzuschauen; dort saß Perillo, Maresciallo dei Carabinieri des Greve-in-Chianti-Reviers, und trank seinen dritten Espresso. Sie hatten sich vor knapp über einem Jahr kennengelernt, als Nico von einem einzelnen Schuss, gefolgt vom Jaulen eines Hundes, aufgeschreckt in den Wald gerannt war. Er hatte den Hund adoptiert und ihm den Namen »OneWag« gegeben. Nun schlief OneWag gerade zu seinen Füßen. Und der Maresciallo war ein Freund geworden.

»Ich habe Sie nie danach gefragt«, sagte Nico. »Jagen Sie?«

Perillo schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was daran Spaß machen soll.« Er war ohne Voranmeldung bei Nico hereingeschneit. Nico war überrascht, ihn so früh an einem Sonntagmorgen vor seiner Tür zu sehen, hatte ihn aber mit einem freundlichen Lächeln willkommen geheißen und ihm sofort Frühstück angeboten. Nicos Hund hatte ihn mit einem Schwanzwedeln begrüßt und ausgiebig an seinen Schuhen geschnüffelt.

Perillo schob seinen leeren Teller zur Seite und griff nach seinen Zigaretten. »Sehr anständig, mich zu empfangen und mir etwas zu essen anzubieten. Zwar waren es nicht die Spiegeleier mit Speck, die Sie mir mal versprochen hatten« – Perillo klopfte eine filterlose Zigarette aus der Schachtel –, »aber ich muss zugeben, so ein Toast mit einer dicken Schicht Ricotta und Akazienhonig schmeckt auch ganz ausgezeichnet.«

Nico bückte sich und hob eine Schüssel voll neuer Kartoffeln auf, die neben OneWag am Boden stand. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie kommen.« Das ernste Gesicht des Maresciallo hatte Nico kurz vermuten lassen, dass etwas Schlimmes geschehen war, aber Perillo hatte sein Frühstück verzehrt, ohne ein Wort zu sagen. Nico wusste, was immer seinem Freund auf der Seele lag, er würde früher oder später damit herausrücken.

»Was haben Sie mit all den Kartoffeln vor?«, fragte Perillo. Nico versuchte sich immer wieder neue Rezepte für das Restaurant von Tilde auszudenken, der Cousine seiner verstorbenen Frau. Was für ein seltsames Hobby für einen ehemaligen Kriminalkommissar, dachte Perillo, aber als unbezahlte Kraft in einem Restaurant zu arbeiten war ja noch seltsamer.

»Ich schäle sie und werde mich hüten, Sie zu bitten, mir dabei zu helfen«, sagte Nico.

»Was für eine unfaire Bewertung unserer Freundschaft.« Perillo zog eine zusammengerollte Zeitung aus der hinteren Tasche seiner Jeans. »Aus reiner Nächstenliebe lege ich Ihnen für die Schalen diese noch ungelesene Zeitung zu Füßen.«

»Sehr großzügig, Maresciallo.«

Perillo lehnte sich zurück und drehte seine Zigarette zwischen den Fingern hin und her. Er war nicht gerade bester Laune, schon seit Wochen nicht. Es war Ivanas Idee gewesen, Nico aufzusuchen und mit ihm zu sprechen. Als Amerikaner, der ihm auch noch ein paar Jahre voraushatte, würde Nico eine andere Sicht der Dinge beisteuern.

OneWag unter dem Tisch betrachtete die ausgebreitete Zeitung. Er hob die Schnauze und schnüffelte. Die Zeitung verströmte offenbar einen warmen Geruch, denn der kleine Hund ging näher und machte sich darauf breit.

»Ehi, Rocco, runter da.« Perillo ruckelte an einer Zeitungsecke, um den Hund zu verscheuchen. Er hatte OneWag einen Namen gegeben, den er aussprechen konnte. Schlau, wie er war, hörte der Hund auf beide Namen. Jetzt bedachte er den Maresciallo mit seinem Kenne-ich-dich?-Blick und rührte sich nicht vom Fleck. Papier war wesentlich wärmer als die Fliesen.

»Ist schon in Ordnung«, sagte Nico. »Dann wird er eben unter Kartoffelschalen begraben. Das hat er nun davon.«

»O Sole Mio«, schallte es aus der Wildlederjacke, die über Perillos Stuhllehne hing. Er langte nach dem Handy, schaute erst, wer der Anrufer war, und wischte dann über das Display. »Vince, habe ich dir nicht gesagt, dass ich mir den Vormittag freinehme?« Perillo stellte auf Lautsprecher.

»Ja, das haben Sie, Maresciallo, aber eine Signorina Benati besteht darauf, dass ich Sie anrufe.«

»Und warum?«

»Ihr Barkeeper ist seit drei Tagen verschwunden.«

»Nimm die Details auf, sag ihr, wir kümmern uns darum, und schick sie heim.«

»Sie weigert sich aber zu gehen, bevor sie mit Ihnen gesprochen hat. Sie ist die Managerin des Hotels Bella Vista und behauptet, Sie hätten sich letzten September kennengelernt.«

»Natürlich, jetzt erinnere ich mich. Biete ihr einen Kaffee aus der Bar an. Ich bin in einer halben Stunde da.« Er schob sein Handy wieder in die Jackentasche.

»Nichts Ernstes, hoffe ich«, sagte Nico.

»Als wir das letzte Mal nach jemandem suchten, stellte sich heraus, dass die vermisste Frau beschlossen hatte, einen Ehezwist beizulegen, und zwar, indem sie eine Woche allein nach Paris fuhr. Hoffen wir mal, dass das hier nichts Ernsteres ist.« Perillo beäugte die Zigarette und hielt sie noch ein paar Sekunden in der Hand, um sie dann zurück in die Schachtel zu schieben.

Nico bemerkte es, sagte aber nichts. Er hatte noch nie erlebt, dass Perillo, als starker Raucher, der er war, eine Zigarette wieder weggesteckt hatte.

»Ich habe mir überlegt, ob es nicht vielleicht besser wäre, mit dem Rauchen aufzuhören«, verkündete Perillo, als hätte er Nicos Gedanken gelesen.

Nico ließ eine geschälte Kartoffel ins Sieb fallen und griff nach einer neuen. »Ausgezeichnete Idee.«

Perillo starrte weiter auf die Zigarettenschachtel. »Dazu gehört Mut.«

Genauso viel Mut, wie er anscheinend braucht, seine Sorgen offen anzusprechen, dachte Nico. »Aber wesentlich weniger, als einen Mörder dingfest zu machen.«

Perillo beugte sich vor und ließ seine Ellbogen auf die Knie fallen. »Das letzte Mal habe ich es ziemlich vermasselt.«

»Sie haben den Schuldigen gefunden.«

Perillo schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Mann geworden, den ich nicht mag.«

Eine kühne Aussage für einen Kerl, der äußerst selbstbewusst, manchmal sogar wichtigtuerisch auftrat. Nico ließ das Schälmesser ins Sieb fallen und schaute Perillo in die Augen. »Und was für ein Mann ist das?«

»Einer, der zu viel isst und zu viel raucht, der sich Sorgen über das Alter macht.« Perillo starrte auf seine Füße. »Mir ist meine Antriebskraft abhandengekommen, ich trete auf der Stelle, bin voller Zweifel und erkenne mich selbst nicht mehr.«

»Da, wo ich herkomme, nennt man das eine Midlife-Crisis.«

»Sie kennen das?« Perillo wartete die Antwort nicht ab. »Haben Sie sich auch so wertlos gefühlt?«

»Nicht wertlos, nur anders. Ich durchlief tatsächlich eine Phase, in der mir meine körperlichen und geistigen Veränderungen zu schaffen machten, aber dann wurde Rita krank. Ich merkte sehr bald, was für ein Glück ich hatte, einfach am Leben zu sein.«

Die Vorstellung, dass Ivana etwas zustoßen könnte, ließ Perillo erschauern. Sie war seine Erdung. »Ich komme mir vor wie ein Schwächling.«

»Jedes Mal, wenn mich mein schütter werdendes Haar oder irgendein neues Wehwehchen deprimiert«, entgegnete Nico, »sage ich mir, wie verdammt fantastisch es ist, dass ich mehr oder weniger noch alle fünf Sinne beisammenhabe.«

Perillo schaute über den Olivenhain und die dahinterliegenden Felder. Er dachte an Ivana, die bald von der Messe heimkommen und anfangen würde, das Sonntagsessen zu kochen, und die ihn erwartete. Er dachte an Signorina Benati, die jetzt auf dem Revier saß und ihn erwartete. Nico hatte recht: Was er hatte, war doch gut. Eine wunderbare Frau, die es immer noch mit ihm aushielt, eine Arbeit, der er gern nachging, und einen guten Freund wie Nico. Das müsste er sich vor Augen halten, wenn sich wieder die Zweifel regten, was bestimmt geschehen würde, das wusste er. »Danke, Nico. Das hat mir Mut gemacht.« Perillo stand auf. »Sagen Sie ehrlich – den letzten Mordfall habe ich doch gar nicht so schlimm verbockt, oder?«

Nico ergriff das Messer und nahm sich eine Kartoffel vor. »Keineswegs. Sie haben mit großer Hartnäckigkeit und Intelligenz ein Team geführt.« Das war leicht übertrieben. Der Hartnäckige war Daniele gewesen, Perillos rechte Hand. »Die drei Musketiere, hat uns Ivana nicht so genannt?«

Man sah Perillo die Erleichterung an. »Einer für alle. Alle für einen. Danke noch einmal für das Frühstück und die Aufmunterung. Ich muss zurück nach Greve.«

»Gern geschehen. Ich habe vielleicht nicht jedes Mal Speck im Kühlschrank, aber immer ein offenes Ohr.«

»Ich verlass mich drauf. Ich finde selber hinaus. Ciao, Rocco.«

OneWag ließ sich zu einem Schwanzwedeln herab.

Während die Sonne weiter stieg und ihr Licht über dem Olivenhain ausbreitete, wandten sich Nicos Gedanken einem unbeschwerten Thema zu – einer Überraschung für seine Familie im Sotto Il Fico: dünne Kartoffelscheiben unter einer Schicht Wurstbrät, Zwiebelscheiben, Parmigiano, darüber ein wenig Rosmarin und ein Schuss Olivenöl.

Laura Benati erhob sich von der Bank vor dem Büro des Maresciallo, als Perillo ins Revier stürmte. Er war ein kleiner, stämmiger Mann mit einem schönen Gesicht, einer kräftigen Nase, einem dicken schwarzen Haarschopf und interessanten dunklen Augen. Als sie ihn zum ersten und gleichzeitig letzten Mal gesehen hatte, war er uniformiert in ihrem Hotel erschienen und hatte ihr Fragen über einen Mann gestellt, der in Gravigna ermordet worden war. Aus Sorge, seine Anwesenheit könne die Gäste beunruhigen, hatte sie sich bemüht, ihn so schnell wie möglich loszuwerden, und ihm sogar ein Lügenmärchen aufgetischt. Jetzt war sie diejenige, die seine Hilfe brauchte. Sie hoffte, er würde netter sein als sie damals.

Laura hielt Perillo die Hand hin, als er auf sie zutrat. »Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie gekommen sind.«

Perillo ergriff die Hand und begutachtete die junge Frau einen Moment. Sie war Ende zwanzig, mit einem wunderschönen, bleichen Gesicht und runden Wangen. Letztes Jahr hatte sie das wellige blonde Haar offen getragen und etwas sehr Hübsches angehabt. Warum erinnerte er sich an solche Einzelheiten, aber nicht an ihren Vornamen? Heute trug sie ein nüchtern-dunkelblaues Kleid; ihr Haar war zu einem straffen Knoten zusammengebunden. Perillo kehrte wieder in die Gegenwart zurück und schüttelte ihr endlich Hand. »Ah, ja, Signorina Benati, ich erinnere mich gut.«

»Es tut mir leid, Ihren Sonntag gestört zu haben, aber wie mich die Erfahrung lehrt, ist es immer am besten, sich an die Chefetage zu wenden, wenn man ein Problem hat.«

»Absolut«, sagte Perillo lächelnd, dem sein sanft gestreicheltes Selbstwertgefühl guttat. Er öffnete die Tür zu seinem Büro und bedeutete ihr, vor ihm einzutreten.

Laura sah sich in dem großen Zimmer um. Es gab dort nur drei Stühle – einen Metallstuhl im rückwärtigen Bereich neben einem Computer, einen hölzernen, mit Armlehnen versehenen Bürostuhl hinter einem großen, tintenbeklecksten Schreibtisch aus Holz in der Mitte des Raumes und unmittelbar davor einen Stuhl mit gerader Rückenlehne, auf dem sie jetzt Platz nahm.

Perillo war ihr gefolgt. »Sie möchten eine Vermisstenanzeige aufgeben«, sagte er, während er sich auf seinen Lehnstuhl setzte. »Richtig?«

»Ja. Cesare ist seit drei Tagen verschwunden. Er hat nicht –«

Perillo unterbrach sie mit erhobener Hand, während er sich aus einer Schreibtischschublade einen Notizblock griff. »Ich bitte um etwas Geduld, Signorina Benati. Mein Computer-Protokollant, Brigadiere Donato, schwelgt an diesem Sonntag gerade in der Kunst von Florenz. Daher obliegt es mir, Ihre Angaben zu notieren.« Dem Kaugummi kauenden Vince traute er nicht zu, alle Einzelheiten korrekt aufzuschreiben, und Dino war lähmend langsam.

»Mit einem Bandgerät ginge es schneller«, erklärte Laura in einem entschiedenen Tonfall.

Perillo reagierte gereizt. Daniele versuchte ihn ständig zu überreden, Verhöre aufzuzeichnen, aber Aufnahmen könnten geschnitten oder gelöscht werden, das Gerät könnte seinen Geist aufgeben. Außerdem ertrug er den verzerrten Klang seiner Stimme nicht. Er hielt seinen Stift über dem Notizblock gezückt: »Name der vermissten Person?«

Geduld, ermahnte sich Laura. Ihr absolut vernünftiger Vorschlag war auf taube Ohren gestoßen. »Cesare Rinaldi. Sie erinnern sich bestimmt an ihn. Sie hatten ihn letztes Jahr verhört. Er ist der Barkeeper des Hotels. Am Freitag ist er nicht zur Arbeit gekommen. Aber er hat noch nie einen einzigen Tag gefehlt, seit ich vor acht Jahren anfing, im Hotel zu arbeiten.«

Perillo erinnerte sich an den alten Mann mit den listigen Augen, an sein schmales, wohlgeformtes Gesicht und an das weiße, zu einem Pferdeschwanz gebundene lange Haar. Das Gespräch mit Cesare hatte bei ihm damals den Eindruck hinterlassen, dass der Barkeeper mehr wusste, als er sagte. »Er ist eindeutig ein Mann, der ganz in seinem Job aufgeht. Wenn ich mich recht entsinne, arbeitete er schon als Jugendlicher im Hotel.«

Laura rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Es tut mir leid, das stimmt nicht.«

»Hatten Sie mir das nicht so gesagt?«

»Ihre Anwesenheit im Hotel hatte mich nervös gemacht, und ohne groß zu überlegen habe ich Ihnen erzählt, was Cesare immer zu seinen Gästen sagt. Er beeindruckt sie gern mit der Hingabe an seinen Job. Das bringt dickes Trinkgeld.«

»Einen Maresciallo anzulügen ist nie besonders schlau, besonders nicht bei einer Mordermittlung.«

»Ich weiß. Bitte verzeihen Sie.«

Perillo starrte sie durchdringend an. Ihre Lüge warf kein gutes Licht auf sie. Sie senkte den Blick. Er setzte wieder den Stift an.

»Bitte geben Sie mir eine detaillierte Beschreibung – Alter, Augenfarbe, Haarfarbe, Körpergröße, Statur et cetera.«

»Es steht alles hier.« Laura reichte Perillo einen Umschlag, den sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Ich habe es aufgeschrieben, um Zeit zu sparen. Ich habe auch ein Foto von Cesare dazugelegt.« Sie biss die Zähne zusammen; sie war wütend auf sich und voller Schuldgefühle. Nicht wegen der Lüge, sondern weil sie so lange gewartet hatte, bis sie aufs Revier gekommen war. Und was, wenn er einen Herzanfall hatte oder gestürzt war, wenn er sich den Kopf verletzt hatte und jetzt in einem Graben lag, unfähig, sich zu bewegen?

Perillo zog das gefaltete Blatt aus dem Umschlag. Das Foto landete mit dem Gesicht nach unten auf dem Schreibtisch. Er drehte es um. Cesare schaute ihm lächelnd entgegen, den Arm um eine ebenso glückliche Signorina Benati gelegt. Beide hielten Prosecco- oder Champagnergläser in der Hand. Im Hintergrund war ein Blumengarten zu sehen. »Sie haben gefeiert?«

Ein wehmütiger Schatten fiel über Lauras Gesicht. »Seinen achtzigsten Geburtstag, letztes Jahr. Wir haben für ihn im Garten hinter dem Hotel eine Party ausgerichtet.«

Perillo drehte das Foto um und legte es auf seinen Schreibtisch. Das offensichtliche Glück des vermissten Mannes stimmte ihn unbehaglich. Perillo wusste, dass er sich nicht freuen würde, achtzig geworden zu sein. Er faltete das Blatt auseinander und kniff die Augen zusammen, um es lesen zu können. Älterwerden war demütigend und furchterregend. »Vielen Dank, Signorina Benati. Das war sehr umsichtig.« Alle körperlichen Merkmale Cesares waren aufgeführt, selbst, was er getragen hatte, als sie ihn das letzte Mal sah. Keine Ehefrau, weder eine Partnerin noch einen Partner. Ein Neffe, Pietro Rinaldi, war der einzige Verwandte. Dessen Telefonnummer stand neben seinem Namen. Cesare ist ein Einzelgänger, hatte sie zum Schluss geschrieben.

Laura rutschte auf den Rand des Stuhls und beugte sich so weit zu Perillo vor, wie der Schreibtisch es zuließ. »Können Sie bitte Ihre Leute losschicken, ihn zu suchen? Ich fürchte, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist.«

Perillo erkannte in ihrem Gesicht Zuneigung und Sorge. War Signorina Benati einfach eine mitfühlende Seele, oder liebte sie diesen alten Mann?, fragte er sich. Möglicherweise hatte Cesare einige Spuren hinterlassen, die sie nicht richtig interpretierte. Im Pariser Fall hatte der Ehemann nicht verstanden, warum die besten Kleider seiner Frau weg waren. »Erzählen Sie mir zuerst, was Sie unternommen haben, um ihn zu finden, damit wir keine Zeit verlieren.«

»Cesare tritt immer nachmittags um vier seinen Dienst an. Als er am Freitag um fünf noch nicht erschienen war, habe ich ihn angerufen. Er antwortete nicht und ich hinterließ eine Nachricht. Ich übernahm die Bar und rief ihn jede halbe Stunde an. Ich wurde immer ärgerlicher, dann wütend. Es ist noch nie passiert, dass er nicht zur Arbeit kam, und ich hatte keinen Ersatz für ihn parat. Als ich um Mitternacht die Bar schloss, war ich müde und dachte, er hätte sich den Tag vielleicht freigenommen, um sich abzuregen.«

»Abzuregen?«

»Am Donnerstagabend hatte es in der Bar einen Zwischenfall gegeben. Cesare hat ein Tablett mit Drinks über einem Hotelgast verschüttet. Der Gast beschwerte sich dann bei mir, behauptete, Cesare hätte es mit Absicht getan und sich nicht entschuldigt. Ich entschuldigte mich daraufhin in Cesares Namen und in dem des Hotels, erließ ihm die deftige Rechnung, die er in der Bar gemacht hatte, und damit hatte sich die Sache.«

»Haben Sie sich Cesares Version der Geschichte angehört?«

»Ich habe es gar nicht versucht. Ich wollte ihm etwas Zeit lassen. Dieser Gast ist einer dieser arroganten Männer, die meinen, sie könnten Angestellte mit einem Fingerschnipsen herumkommandieren. Ich musste es mir schon ein paarmal verkneifen, ihn anzublaffen.«

»Der Name dieses Gastes?«

Sie zögerte. Sie hätte nicht schlecht über ihn reden dürfen.

Perillo hielt den Blick auf sie gerichtet. »Ich bezweifle, dass ich ihn behelligen muss, aber nur für den Fall.«

Laura nickte. »Dottore Eugenio Vittori. Er ist ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann und kommt seit Jahren zu uns.«

»Danke«, sagte Perillo. Zwischenfall mit Dottore Vittori, schrieb er in sein Notizheft und fragte sich, ob der Titel des Mannes rechtmäßig erworben war. Zu viele Männer setzten gern eine Ehrenbezeichnung vor ihren Namen, um sich Prestige zu verleihen. Er schaute auf. »Bitte fahren Sie fort.«

»Als Cesare gestern Nachmittag noch immer nicht aufgetaucht war, fuhr ich zu seinem Haus.«

Perillo kniff die Augen zusammen und blickte wieder auf die Liste mit den Angaben, die Signorina Benati ihm gegeben hatte. »Also in die Via Vigneto 18?«

»Ja. Es liegt vom Hotel nur ein paar Kilometer die Straße entlang. Sein Motorrad war nicht da. Ich hatte schon beim Hotel danach geschaut. Manchmal läuft er lieber heim und lässt es über Nacht stehen.«

»Wissen Sie, was für ein Modell es war?«

»Es steht auf dem Blatt, das ich Ihnen gegeben habe. Eine 1972er Ducati 750 ‌GT.« Wie sehr er dieses Motorrad liebte. Oft fand sie ihn noch vor Dienstbeginn auf dem Parkplatz des Hotels, wie er jedes Rädchen und Schräubchen dieser altertümlichen Kiste polierte. Pietro hatte ihr das Modell genannt, als sie Cesares Haus durchsuchten. »Es ist 'ne Menge wert. Hoffentlich hat er's nicht demoliert«, hatte er hinzugefügt.

Perillo schaute von seinen Notizen auf. »Und das Kennzeichen?«

»Es tut mir leid, das weiß ich nicht. Pietro auch nicht.«

»Wir finden es schon.« Das war ein Job für Daniele. »Sie gingen ins Haus?«

»Nicht allein. Ich hatte keinen Schlüssel. Ich bummerte gegen die Tür, rief vor den Fenstern nach ihm, klopfte an die Scheiben. Nichts. Dann rief ich seinen Neffen an, Pietro. Er kam, so schnell er konnte, etwa eine Stunde später. Er wohnt in Castellina. Seine Adresse und Telefonnummer stehen auch auf dem Zettel.«

Perillo vergewisserte sich kurz. Er fand die Adresse und Telefonnummer des Neffen auf der Rückseite des Blattes, zusammen mit ihrem Namen und ihren Kontaktdaten. Natürlich, Laura. Er wiederholte den Namen im Kopf, um ihn sich ein für alle Mal einzuprägen. »Fanden Sie irgendwelche Hinweise im Haus? Koffer, die nicht mehr da waren, fehlende Kleidung im Schrank?«

»Es ist ein kleines Haus, zwei Zimmer, Küche, Bad. Es hat nicht lange gedauert, sich darin umzusehen. Im Schrank waren alle Kleider noch da. Die meisten seiner Sachen lagen auf dem Boden oder waren über Stühle geworfen.« Sie hatte den Stapel nicht abgewaschener Teller angestarrt, das ungemachte Bett, die schmutzigen Socken, die im Schlafzimmer am Boden herumlagen. Die Unordnung hatte sie überrascht und ein ungutes Gefühl in ihr ausgelöst; sie fühlte sich an ihr früheres chaotisches Leben erinnert. Cesare hielt die Bar immer penibel sauber. Es kam ihr vor, als wäre sie in das Zuhause eines ihr unbekannten Mannes eingedrungen. »Es war sehr unordentlich im Haus, sah aber nicht aus, als sei alles von fremder Hand verwüstet worden.« Wäre Pietro nicht bei ihr gewesen, hätte sie aufgeräumt. Inzwischen hielt sie Ordnung und wünschte sich dasselbe für Cesare.

»Hatte der Neffe irgendeine Ahnung, wohin sein Onkel verschwunden sein könnte?«

Laura schüttelte den Kopf. »Nein. Pietro sagte, er hätte in letzter Zeit nicht mit seinem Onkel gesprochen. Wir haben dann an die Türen benachbarter Häuser geklopft. Es gibt da nur drei. Niemand wusste etwas. Wir fuhren nach Panzano, wo er immer seine Lebensmittel holt. Der Obst- und Gemüsehändler hat ihm am Freitagmorgen zwei Äpfel verkauft. Mehr hat Cesare in Panzano nicht eingekauft.«

Perillo machte sich eine Notiz über den Obsthändler. Dass er nur zwei Äpfel gekauft hatte, ließ vermuten, dass Cesare wahrscheinlich keine größere Reise plante. »Haben Sie die Nachricht von seinem Verschwinden auch in den Nachbarorten verbreitet? Hier in Greve oder in Gravigna?«

»Darum wollte Pietro sich kümmern und sich in den Bars und Cafés umhören. Ich konnte nicht. Ein Hotel zu führen ist mehr als ein Fulltime-Job.« Sie hob die Hände. »Cesare bleibt eigentlich am liebsten in der näheren Umgebung seines Hauses.«

»Sie schreiben hier, Signor Rinaldi sei ein Einzelgänger. Sie schreiben auch, dass er seit achtunddreißig Jahren hinter der Hotelbar steht. Ich hätte nicht gedacht, dass das eine Arbeit ist, die sich ausgerechnet ein Einzelgänger aussucht?« Perillo war es wichtig, sich ein Bild von dem Mann zu machen.

Laura dachte manchmal, dass irgendetwas in Cesares Leben vor langer Zeit schiefgegangen war, etwas, das schwer auf ihm lastete. »Er liebt seinen Job sehr, aber vielleicht hat ihn gerade das zum Einzelgänger gemacht. Denken Sie nur an die vielen Stunden, in denen ihm die Gäste ihre Probleme erzählen oder sich einfach nur gern reden hören.« Sie zog es vor, das für den wahren Grund zu halten. »Manchmal habe ich ihm gern dabei zugesehen. Er war sehr aufmerksam. Er hat mit seinen Gästen gelacht, sie aufgezogen, Mitleid gezeigt, manchmal gute Ratschläge erteilt. Sie liebten ihn, gaben großzügige Trinkgelder. Aber wenn er nicht arbeitete, wollte er allein sein.« Laura warf einen Blick auf das Foto, das mit dem Gesicht nach unten auf Perillos Schreibtisch lag. Auf dieser Geburtstagsfeier hatte er zu ihr gesagt, ihre Freundschaft sei die einzige, die er im Leben brauche. Sie fand das traurig, aber auch anrührend. Jetzt war Cesare verschwunden. Er brauchte Hilfe. Sie spürte es in tiefster Seele. Er würde nicht einfach einen Job im Stich lassen, den er nach achtunddreißig Jahren immer noch liebte. Er würde sie nicht im Stich lassen. Sie waren Freunde.

»Irgendwelche Hobbys, die ihn fortgelockt haben könnten?«

»Er hat auf seinem Grundstück neben dem Haus ein kleines Weingut. Er witzelte immer, er sei der einzige Toskaner, dem es gelang, Wein auf einer kleinen Insel anzubauen.«

»Welcher Insel?«

»Das hat er nicht gesagt.« Laura beugte sich vor und schaute ihn durchdringend an. »Ich habe Ihnen mehr erzählt, als Sie wissen müssen. Könnten Sie jetzt bitte Ihre Männer losschicken, um ihn zu suchen?«

Perillo ärgerte sich ein weiteres Mal über ihren bestimmenden Ton.

Laura begriff. Acht Jahre des Umgangs mit anspruchsvollen Gästen und einem überarbeiteten Personal hatten sie gelehrt, die Reaktionen eines Menschen schnell einzuschätzen. »Es tut mir leid, Maresciallo, aber ich bin außer mir. Cesare ist ein guter Freund.« Mit nur zwanzig Jahren hatte sie als Assistentin der Besitzerin im Hotel angefangen. Zwei Jahre später war die Besitzerin zurück nach Florenz gegangen und hatte ihr die Leitung übertragen. Cesare hatte sie geduldig an ihre Arbeit herangeführt und ihr jene »lächelnde Langmut« beigebracht, die ihr jetzt abhandengekommen war. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«

Perillo quittierte ihre Worte mit einem Nicken und griff zum Hörer seines Bürotelefons.

Etwas vibrierte, als Daniele Michelangelos Skulptur eines nackten Mannes anstarrte, eines Sklaven, wie ein Schild verkündete. Das Gesicht des Mannes war unfertig, aber sein kräftiger Körper stemmte sich vor, versuchte, sich aus dem groben Marmorblock zu befreien, der ihn umschloss.

»Spürst du nicht seine Verzweiflung?«, fragte Stella.

Was Daniele spürte, war Peinlichkeit, etwas, das er angesichts des nackten David nicht empfunden hatte. Diese Skulptur war sinnlich. Der Sklave schien sich zu winden und Daniele dachte unwillkürlich an Sex. Das Handy vibrierte weiter. Daniele starrte weiter. Er war rot geworden.

»Mir gefällt er viel besser als der David«, sagte Stella. Es war ihr zweiter gemeinsamer Sonntag. Das erste Mal hatte sie Daniele zu den Uffizien mitgenommen, um ihm ihre Kunstwelt zu erschließen. Heute waren sie in der Accademia. Stella hakte sich bei ihm unter. Brigadiere Daniele Donato war ein liebenswerter, zartfühlender Mann. Sie fühlte sich sicher bei ihrem neuen Freund.

Daniele genoss die Wärme von Stellas Arm und bedeckte mit der Hand seine Hosentasche, um das vibrierende Handy zum Schweigen zu bringen.

»Ich glaube, du solltest das Gespräch annehmen«, sagte Stella. »Vielleicht ist es deine Mutter.« Sie wusste, dass sie sich sehr nahestanden.

Daniele holte das Handy hervor und blickte auf das Display. »Es ist der Maresciallo.«

»Dann geh ran. Ich möchte nicht, dass du Ärger bekommst.«

»Mir steht ein freier Tag zu!«

Sie entzog ihm ihren Arm. »Bestimmt ist es wichtig.«

Daniele seufzte und hielt das Handy ans Ohr. »Ja, Maresciallo?«

Perillo widerstrebte es, Daniele herbeizuzitieren, aber seine Notizen mussten entziffert und zusammen mit den Informationen, die Laura Benati ihm gegeben hatte, per Fax versandt werden. Der junge, in gleichem Maße naive wie aufgeweckte Venezianer war zu seiner rechten Hand geworden. »Es tut mir leid. Ich brauche dich hier auf dem Revier. Es gibt eine vermisste Person.«

Als Nächstes wählte Perillo die Nummer von Vince. Keine Antwort. Er schaute auf die Uhr. Fast schon Mittagszeit. Vince war wahrscheinlich losgezogen, um irgendwo seinen ewig expandierenden Magen zu stopfen. Laura zappelte auf ihrem Stuhl, als Perillo es bei Dino versuchte.

»Ja?«, antwortete Dino. Er war ein Mann weniger Worte.

»Ruf die Präfektur von Florenz an und sag denen, dass wir eine vermisste Person melden; wir faxen ihnen ein Foto und persönliche Angaben. Ich habe sie hier auf meinem Schreibtisch liegen. Lass sie wissen, dass wir später weitere Informationen schicken.« Als Perillo aufgelegt hatte und aufschaute, sah er Lauras fragenden Blick. »Ich versichere Ihnen, dass wir von hier aus alles tun, was in unserer Macht steht, aber es ist die Präfektur von Florenz, die eine Suche nach einer vermissten Person in die Wege leitet. Auch die Feuerwehr wird einbezogen. In ein paar Stunden treffen Suchhunde aus Florenz bei uns ein und fangen an zu schnüffeln.«

Laura lächelte ihn zaghaft an. Es wurde gehandelt … endlich. »Sie werden seine Kleidung benötigen.«

»Ja, je mehr Körpergeruch man den Tieren zur Verfügung stellt, desto besser. Bringen Sie einen Koffer voll. Ich weiß nicht, wie viele Hunde sie uns schicken.«

Laura stand auf. »Ich gehe die Sachen holen. Pietro hat mir die Schlüssel dagelassen.«

Perillo hob die Hand und hielt Laura zurück. »Nur noch eine Frage.« Eine, die kurz in seinem Kopf rumort hatte. »Wie ist Cesares Gesundheitszustand, soweit Sie wissen?«

»Da müssen Sie seinen Arzt fragen. Ich glaube, er geht zu dem in Panzano. Er hat sich bisher nur über morsche Gelenke beklagt.«

»Gedächtnisschwund haben Sie nicht zufällig bemerkt? Dass er plötzlich nicht mehr weiß, wie man einen Cocktail mixt? Manchmal verschwinden Menschen, weil sie vergessen haben, wie sie nach Hause kommen.«

Laura setzte sich wieder auf die Stuhlkante. Konnte es sein, dass Cesare umhergeirrt war und völlig umnachtet immer weiterlief? Ein herzzerreißender Gedanke. »Er ist langsamer geworden. Er sitzt jetzt hinter dem Tresen auf einem Hocker. Früher hat er immer gestanden. Und er ist nicht mehr so geduldig wie früher, aber Gedächtnisverlust ist mir an ihm nicht aufgefallen. Er wiederholt sich nicht oder stellt immer wieder dieselbe Frage, falls Sie das meinen.« Aber sie sprachen auch nicht mehr so miteinander wie früher. Das Hotel war jetzt sehr erfolgreich. Sie hatten beide zu viel zu tun, und wenn die Arbeit getan war, waren sie zu müde. »Selbst wenn er vergessen hat, wie er nach Hause kommt, hätte ihn doch inzwischen jemand gefunden.«

»Das käme darauf an, wohin er sich verirrt hat.« Perillo schaute in Lauras kummervolles Gesicht. »Wir finden ihn, Signorina Benati. Wir finden ihn.«

»Bitte tun Sie das.« Laura stand wieder auf und verließ rasch das Zimmer.

Nico öffnete langsam die Tür zum Sotto Il Fico, ängstlich darauf bedacht, die große Platte, die er in einer Hand balancierte, nicht fallen zu lassen. OneWag machte Sitz und lauerte, ob sie herunterkippen und zerbrechen würde. Die Platte tat ihm den Gefallen nicht und die Tür zum Restaurant schloss sich wieder. Der Hund schnupperte ein letztes Mal dem sich verflüchtigenden Duft kross gebackener Wurst hinterher und lief dann den Hügel hinunter, um zu erkunden, was es im Dorf Neues gab.

»Buonasera, Nico«, sagte Elvira, die auf ihrem angestammten Kommandoposten am anderen Ende des schmalen Raums saß. Sie trug eines ihrer weißen Sonntagskleider. Sie ordnete jedem Tag der Woche ein Kleid in einer anderen Farbe zu. »Wie ich sehe, hast du uns wieder eine deiner Ideen mitgebracht.« Sie klang wenig begeistert.

»Gestern noch eine Idee. Heute schon Wirklichkeit. Dir auch ein Buonasera.« Nico war an Elviras grummelige Art gewöhnt. Sie hatten sich angefreundet, obwohl sie dies wahrscheinlich nie zugeben würde. Ihm war klar, dass sie sich unbedingt als Besitzerin des Restaurants behaupten wollte. In Wahrheit schmiss die ihr verhasste Schwiegertochter Tilde den Laden, mit etwas Unterstützung von Enzo, Elviras angebetetem Sohn. Alter, Einsamkeit, immer weniger Dinge, die Spaß machten, Eifersucht – Nico fand, das war mehr als genug, um einen Menschen grantig zu stimmen. Er bewegte sich zwischen den Tischen auf sie zu, während er die Platte hochhielt wie ein Ober, der in einem feinen Restaurant eine berühmte Spezialität präsentiert. »Ich fresse meinen Hut, wenn dir das nicht schmeckt.«

Elvira brummte: »Du trägst keinen Hut.«

»Ich kauf mir einen.«

»Das solltest du auch in deinem Alter. Dein Haar wird schütter. Was ist das?«

»Eine Art Lasagne, nur mit Kartoffelscheiben statt Pasta.«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung wies sie sein Essen fort. »Gib es Tilde. Sie ist die Köchin. Wie alt bist du?«

Er wurde bald neunundfünfzig. »Ich verrate dir mein Alter, wenn du mir deins verrätst.«

Elvira ergriff ihre Settimana Enigmistica und nahm ein neues Kreuzworträtsel in Angriff. Nico verstand, dass er entlassen war. Er drückte einen schnellen Kuss auf Elviras rabenschwarz gefärbtes Haar und begab sich mit seiner Platte in die Küche.

Als er eintrat, war Tilde gerade dabei, einen riesigen Steinpilz mit einem feuchten Tuch zu säubern. Wie immer trug sie über ihrem Kleid eine perfekt gebügelte Schürze. Ihr langes kastanienbraunes Haar war unter einem grünen Kopftuch zusammengehalten. Sie schaute auf und lächelte. »Du bist früh dran.«

Nico erwiderte das Lächeln und stellte sein Gericht auf die verschrammte hölzerne Arbeitsplatte. »Ciao, Tilde.« Tildes Anblick stimmte ihn immer froh. Er liebte sie, weil sie Ritas vergötterte Cousine war, weil sie ihn mit offenen Armen aufgenommen hatte, als er vor fast anderthalb Jahren nach Gravigna gekommen war, um zu versuchen, in Ritas Heimatort ein neues Leben anzufangen. Er sah zu, wie Tilde zum nächsten großen Steinpilz griff. »Wo werden diese Prachtstücke landen? In einem Risotto oder einer frischen Tagliatelle?« Der Herbst war die Hauptsaison für Porcini – Steinpilze.

»Diese hier sind dafür zu schön. Sie wandern mit einem Dutzend anderen in den Ofen. Ein wenig Olivenöl, Knoblauch, am Ende reichlich mit Petersilie bestreut, und du hast eine Speise für die Götter.« Tilde beäugte Nicos mit einer Folie bedeckte Platte, die auf der Arbeitsplatte stand. »Was hast du mitgebracht?«

»Etwas, das bescheidener ist. Da du ja im Gegensatz zu allen anderen das Restaurant nicht schließt –«

»Die Leute im Ort essen ja auch gern auswärts«, unterbrach ihn Tilde. »Wir werden diesen Winter aber nur abends öffnen. Alba und ich brauchen die Vormittage. Wir wollen jetzt selber Cantuccini herstellen.«

Nico nahm seine Kreation zur Hand. »Ich versuchte dir gerade zu sagen, dass ich mir ein Wintergericht ausgedacht habe, das dir vielleicht gefällt. Darum bin ich schon so früh hier. Gibt's einen freien Ofen?«

»Im Moment noch alle drei.«

Während Nico einen der Öfen anstellte, sagte Tilde: »Ich habe gehört, dass Cesare verschwunden ist, der Barkeeper vom Hotel Bella Vista. Weißt du etwas darüber?«

Nico zuckte mit den Schultern. »Nein.« Seit Perillo den Anruf erhalten hatte, waren erst fünf Stunden vergangen. Wie so oft hatte sich die Nachricht schnell herumgesprochen. Die Gravignesi waren stolz auf ihre ausgezeichnete Gerüchteküche.

»Salvatore hat dich nicht in den Fall einbezogen?«, fragte Tilde. Viele Menschen in Gravigna nannten Perillo beim Vornamen. Er war Stammkunde im einzigen Café des Ortes, der Bar All'Angolo, und als er noch Fahrrad fuhr, war er manchmal mit seinen Radlerfreunden im Sotto Il Fico eingekehrt. Obgleich Perillo sein Freund war, brachte Nico es nicht über sich, einen Maresciallo der Carabinieri beim Vornamen zu nennen. Außerdem sprach man sich zu seiner Zeit bei der New Yorker Kriminalpolizei meistens auch mit Nachnamen an.

»Warum sollte er mich einbeziehen?«, fragte Nico. »Er braucht Suchhunde, nicht mich. Du hast den Vermissten Cesare genannt. Kennst du ihn?«

»Ich habe ihn kennengelernt, als Babbo starb. Er kam zur Beerdigung und erzählte mir, dass sie in der Oberschule zusammen Fußball gespielt hätten. Sie verloren sich aus den Augen, als Cesare nach Deutschland ging, um dort Arbeit zu suchen. Er sagte, es täte ihm leid, sich nie bei Babbo gemeldet zu haben, als er wieder zurückkam. Er schien ein netter Mann zu sein, ein trauriger. Das war jedenfalls mein Eindruck. Ich hoffe, es ist ihm nichts zugestoßen, und dass sie ihn schnell finden.«

Nico prüfte die Ofentemperatur – 205 Grad. Er schob sein Gericht auf die oberste Schiene, glücklich, dass es ihm jetzt endlich gelang, Fahrenheit in Celsius umzurechnen. »Wenn er noch in der Toskana ist, werden die Hunde ihn finden.«

Zwei

Nach seinem Lauf am frühen Morgen und einer kurzen Dusche fuhr Nico am Montag mit OneWag ins Dorf, um wie üblich auf der großen Piazza in der Bar All'Angolo zu frühstücken. Diese Routine hatte sich binnen weniger Wochen eingespielt, als er im letzten Mai nach Gravigna gezogen war. In der lärmenden Betriebsamkeit des Cafés, wo Touristen und Einheimische ihre Espressi und Cornetti genossen, fühlte er sich nicht ganz so einsam. Hier hatte er auch einen Freund gefunden, Gogol, einen Quell endloser Dante-Zitate. Sie trafen sich hier jeden Tag zum gemeinsamen Frühstück, außer sonntags, wenn Gogol zur Messe ging.

»Ciao, Nico«, sagte Sandro, der gerade dabei war, leere Espressotassen vom Tresen zu räumen und sie in einen schon vollen Drahtkorb zu legen; danach würde alles in den Geschirrspüler wandern. Er wirkte niedergeschlagen. Sandro Ventini, dem das Café zusammen mit seinem Ehemann Jimmy Lando gehörte, stand meistens an der Kasse, gab lächelnd Wechselgeld heraus oder bediente die Kunden. Jimmy machte die Knochenarbeit, betrieb die dampfend heiße Kaffeemaschine und buk die Cornetti. Nico fand die Arbeitsteilung ungerecht, wusste aber, dass er sich da herauszuhalten hatte.

»Ist Jimmy immer noch in Florenz?«, fragte Nico, nachdem die letzten zwei Stammgäste gegangen waren.

Sandro machte sich an Nicos Americano. »Wenn nicht, müsste ich das hier wohl nicht machen.«

Nico war aus purem Egoismus enttäuscht. Denn Jimmys fortdauernde Abwesenheit bedeutete, dass er ein weiteres Mal ohne die heißen, ofenfrischen Vollkorncornetti auskommen musste. Er nahm immer zwei. »Wie ist die Operation seiner Mutter gelaufen?«

»Sie hat's überlebt.« Sandros Bedauern darüber war unverkennbar. »Und jetzt ist er derjenige, der krank ist und eine dicke Erkältung hat. Heute Nachmittag kommt er wieder nach Hause.«

Das Verhältnis zwischen Jimmys Mutter und Sandro war nicht gerade von Zuneigung geprägt. Das war jedenfalls die Meinung des »Rentnerquartetts«, jener vier alten Knaben, die ihre Tage damit verbrachten, auf einer Bank der Piazza zu sitzen und zu tratschen. Jimmys Mutter konnte sich mit einer Ehe zwischen zwei Männern nicht abfinden. »Bestellen Sie ihm gute Besserung«, sagte Nico.

»Was kann ich Ihnen anbieten?«, fragte Sandro. »Möchten Sie eine Ciambella oder lieber eine Bomba?«

OneWag stellte ein Ohr auf. Beides war in tiefem Öl Gebackenes, gefüllt mit Vanillecreme oder Marmelade. Das meiste vom Zuckerguss gewöhnlich auf dem Boden.

»Nur Kaffee, danke.« OneWag warf seinem Herrchen einen enttäuschten Blick zu und sauste zur Tür. Nico vertiefte sich wieder in La Nazione, die florentinische Tageszeitung, die im Café auslag.

Der Hund flitzte durch die Beine von Gogol, der soeben das Café betrat, hinaus auf die Piazza. »›Eile … die jeder Handlung raubt den rechten Anstand …‹«, warnte er.

»Buongiorno, amico«, rief Nico ihm zu. Er freute sich, Gogol zu sehen, und war erleichtert, dass ihn sein Freund mittlerweile nicht mehr aufforderte, die Dante-Zitate zu benennen, die er so gern von sich gab.

»›Abermals der Welt die Sonne aufging‹«, zitierte Gogol, als er sich in seinem mit Kölnischwasser besprühten Mantel auf Nico zubewegte. Dieses Kleidungsstück, das er zu jeder Jahreszeit trug, hatte ihm seinen Spitznamen eingebracht, nach der Novelle Der Mantel des russischen Schriftstellers Gogol. »Wir können uns glücklich schätzen, dass wir uns immer noch in ihr befinden, mein Freund«, fügte der alte Mann hinzu. »Zumindest für heute.« Er hielt inne; seine Augen hefteten sich auf den leeren Tisch. »›Und setze mich mit euch, wenn ihr es wünschet.‹«

Nico war der trotz allem vorwurfsvolle Unterton nicht entgangen; er musste sich ein Schmunzeln verkneifen. »Es tut mir leid, aber der Fleischer hat deine Crostini noch nicht gemacht. Gestern Abend beschloss seine Frau, dass die Touristensaison so gut wie vorbei ist und er Essen und Wein nur noch zur Mittagszeit anbieten soll.« Nico zog den Stuhl neben sich heran. »Ich wünsche durchaus, dass du dich setzt. Kann ich dich zu etwas anderem einladen?«

Gogol spähte konzentriert auf die hinter Glas liegenden Angebote am Ende des L-förmigen Tresens. Nach einer geraumen Weile sagte er: »›Hier muss man jedes Zweifels sich entschlagen.‹ Bitte zwei Ciambelle mit Vanillecreme.« Gogol lüftete die Rockschöße seines Mantels und nahm Platz. »Um zu überleben, muss man sich anpassen, was mich zu der Annahme verleitet, dass sich der vermisste Mann an die Naturgewalten anpassen muss. Gestern Nacht herrschte unfreundliches Wetter. Ich spüre, dass er noch nicht gefunden wurde.«

»Vermutlich nicht. Bei meinem Morgenlauf vorhin habe ich einen Spürhund gesehen.« Das goldene Fell des Retrievers hatte die aufgehende Sonne eingefangen und Nico war einen Moment stehengeblieben, um das Tier zu beobachten. Der Hund hielt den Kopf gesenkt; er bewegte sich wie ein Periskop, das sein Ziel anvisiert. Der Mann, der ihn an einer langen Leine führte, folgte ihm und spornte ihn mit leise geraunten Kommandos an.

Sandro, der mit Gogols Bestellung beschäftigt war, schaute auf, als der Maresciallo in der Tür des Cafés erschien. »Ciao, Salvatore. Gibt's was Neues über Cesare?«

»Noch nicht.« Perillo hielt seinen rechten Arm vom Eingang weg; zwischen Mittel- und Zeigefinger klemmte eine brennende Zigarette. Er trug seine bevorzugte Kluft – Jeans, weißes Hemd, darüber seine heißgeliebte braune Wildlederjacke.

Als Nico ihn sah, wünschte er sich, ebenfalls etwas Wärmeres und Ordentlicheres als ein zerknittertes Baumwollhemd angezogen zu haben. Die Temperaturen waren seit gestern um ein paar Grad gesunken. »Ciao, kommen Sie doch rein«, rief er Perillo zu. Er hatte die Zigarette bemerkt und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.

»Sandro, einen doppelten bitte.« Perillo und hob den Daumen, was bedeutete, dass er ihn mit einem Schuss Grappa haben wollte. »Es ist erst meine dritte Zigarette«, sagte er zu Nico. »Ich war die ganze Nacht wach.« Perillo ließ die halb gerauchte Zigarette auf den Bürgersteig fallen, drückte sie mit dem Absatz aus und ging direkt zum Tresen. Sandro stellte Gogols Ciambelle und Nicos Americano auf ein Tablett. Aus der großen chromglänzenden Kaffeemaschine tropfte schon der Espresso des Maresciallo in eine weiße Tasse. Auf dem Tresen stand die geöffnete Grappaflasche.

»Ich nehme das Tablett zusammen mit meinem Kaffee«, sagte Perillo. »Kennen Sie Cesare Rinaldi?«

Sandro nickte. »Er kam hin und wieder her, als wir vor zehn Jahren den Laden gekauft hatten. Dann saß er immer in der Ecke und schaute uns ungefähr eine Stunde lang bei der Arbeit zu. Er meinte, das würde Erinnerungen an seine Jugendzeit wecken. Offenbar hat er mal ein paar Jahre für den Vorbesitzer gearbeitet. Cesare war kein netter Mensch, aber ich glaube, jeder Vermisste hat es verdient, gefunden zu werden.«

»Was heißt, er war nicht nett?«

»Ich weiß nicht. Man muss es selber erleben. Jemand kommt hereinspaziert und schon leuchtet ein Alarmknopf auf. Bitte sehr.« Sandro stellte die volle Espressotasse aufs Tablett.

»Ja, so etwas gibt es«, sagte Perillo. »Irgendein Urinstinkt, noch aus der Zeit, bevor wir uns vom Tier zum Menschen entwickelt haben. Danke für den Kaffee.«

Behutsam, um nicht den doppelten Espresso zu verschütten, näherte sich Perillo ihrem Tisch. Nico fegte die Zeitung zu Boden, um Platz zu schaffen. Gogol sah zu, wie der Maresciallo das Tablett abstellte und, kaum dass er saß, seinen Kaffee in einem Rutsch herunterkippte. Dieser Mann hatte rein gar nichts Genügsames an sich, urteilte Gogol. Er schob den Teller mit den Ciambelle zu Nicos Freund hinüber. »›Mit neuer Hoffnung speise den schlaffen Mut und sei getrost.‹«

»Wie freundlich von Ihnen, Gogol.« Die Großzügigkeit des alten Mannes überraschte Perillo. Er wusste nicht genau, ob Gogol verrückt oder nur ein wenig speziell war; in seiner Gegenwart fühlte er sich immer etwas unbehaglich. »Vielen Dank. Ich nehme gern eine halbe.« Perillo teilte die Ciambella mit Gogols Gabel und schob den Teller wieder dem alten Mann zu.

»Gibt's was Neues?«, fragte Nico.

»Bis jetzt noch nicht, aber ein Mann verschwindet nicht so einfach.«

»Agatha Christie ist einmal verschwunden«, sagte Sandro, während er den Tresen wischte. »Elf Tage, glaube ich. Jimmy hat all ihre Bücher gelesen. Der Mann macht wahrscheinlich irgendwo Ferien. Die könnte ich auch gut gebrauchen.«

Perillo zog seinen Stuhl näher heran und senkte die Stimme. »Mithilfe seines Fotos überprüfen unsere Leute die Bahn- und Busstationen, die Fluglinien und die Flughäfen von Florenz und Pisa. Wir haben gerade erst angefangen. Bisher hat die Suche in den Krankenhäusern von Florenz nichts ergeben. Mit den Ambulanzen und Arztpraxen sind wir noch nicht durch. Wir wissen allerdings, dass der Mann für sein Alter sehr gesund war, was hoffentlich bedeutet, dass er nicht mit einem Herzinfarkt oder Schlaganfall irgendwo in einem Graben liegt.«

»Was wissen Sie noch über ihn?«, fragte Nico leise.

»Ich habe seinen Neffen angerufen, Pietro. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er sich große Sorgen um seinen verschwundenen Onkel macht. Laura Benati scheint sehr an Cesare zu hängen, entweder, weil er ein guter Barkeeper oder ein netter Mensch ist, wenigstens ihr gegenüber. Sie ist wunderbar. Ich bin« – Perillo schaute auf seine Armbanduhr – »in zehn Minuten mit Rinaldis Nachbarn verabredet. Er liefert Enrico ein paar Flaschen seines Olivenöls.« Er biss in seine halbe Ciambella und achtete darauf, dass nichts von der herauslaufenden Vanillecreme danebenging.

»Cesare hat sich verlaufen?« Gogol leckte etwas Creme von seinem Finger. »Er hat ein gutes Herz. Cesare war das Schild, hinter dem ich mich versteckte, wenn es in der Schule brenzlig wurde.«

Nico wusste, dass man Gogol permanent gehänselt hatte.

Perillo schluckte hastig hinunter. »Sie kennen ihn?«

Gogol schüttelte langsam den Kopf. »›Ich fürchte, sein Auge saugt nicht mehr den süßen Schein.‹«

Perillo griff sich unter dem Tisch an die Hoden, eine Geste gegen den bösen Blick. »Falls Sie damit prophezeien wollten, dass der Mann tot ist, dann hoffe ich, dass Sie sich irren. Seinetwegen und um der Signorina Benati willen.«

Gogol schaute Perillo aus traurigen Augen an. »›Was soll ich dir, o süßer Bruder, sagen?‹«

Perillo vermied eine unhöfliche Antwort, indem er den letzten Bissen seiner Ciambella aß. Gogols Bemerkung hatte ihm die Laune verdorben.

»Haben Sie bei der Polizei nachgefragt?«, sagte Nico. »Cesare könnte ja verhaftet worden sein.«

»Carabinieri und Polizei können einander nicht ausstehen. Die Leute in der Präfektur stehen aber mit ihnen in Verbindung.« Perillo lehnte sich in seinem Stuhl zurück, um der vorderen rechten Hosentasche seiner Jeans ein Taschentuch zu entnehmen, das Ivana ihm immer dort hineinsteckte. »Bis jetzt ergebnislos.« Er wischte sich den Mund ab und stand auf. »Danke für die Ciambella, Gogol. Ciao, Nico. Ich zahle später, Sandro.«

Sandro hinter der Bar hob den Daumen und fuhr fort, die Vitrine unter dem Tresen mit Sciacciata und Tramezzini zu bestücken. OneWag war wieder hereingeschlendert und saß jetzt vor dem Tresen; von dort schaute er steinerweichend zu Sandro hoch. Das Telefon, ein wuchtiges, schwarzes Ding, das noch aus den fünfziger Jahren stammte, begann zu bimmeln. OneWag stellte die Ohren auf und wandte sich dem Geräusch zu; das Thema Nahrungsaufnahme war vorübergehend vergessen.

»Dieses schräge Geräusch fasziniert ihn jedes Mal«, sagte Nico.

Sandro füllte die Vitrine weiter mit Panini, die später aufgewärmt und von Eltern gekauft werden würden, bevor sie ihre Kinder von der Schule abholten. Niemand wagte es, ohne einen Imbiss vor dem Schultor aufzukreuzen.

»Soll ich rangehen?«, fragte Nico.

»Ja, bitte. Ich habe nur zwei Hände«, sagte Sandro.

Nico lief schnell zum Telefon hinüber. »Bar All'Angolo.«

»Wo ist Sandro?«, fragte eine ungehaltene Stimme.

»Er kann gerade nicht ans Telefon kommen. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

»Ah, Nico. Ciao. Jimmy hier.«

»Oh, ciao. Ich hatte Sie gar nicht erkannt«, sagte Nico, den es ärgerte, dass ihn sein amerikanischer Akzent jedes Mal verriet.

»Meine Nase ist zu und nun ist mir auch noch das Benzin ausgegangen. Sandro soll mich holen kommen. Bitte sagen Sie ihm, dass ich ein paar Kilometer vor der Abzweigung nach Montagliari stehe.«

»Einen Augenblick.« Nico schaute zu Sandro hinüber, der gerade das letzte Panino arrangierte. »Jimmy braucht Sie.«

»Immer nur, wenn ihm danach ist, und in letzter Zeit … ach, egal.« Sandro schaute grimmig drein, ging zum Telefon und griff nach dem Hörer. »Was ist jetzt schon wieder, Liebster?« Er lauschte mit geschlossenen Augen.

Gogol schaute grinsend auf. Sein Teller war blitzblank geputzt. Ein Klecks Vanillecreme an seinem glattrasierten Kinn war der einzige Hinweis, dass sich noch vor kurzer Zeit Essen auf dem Tisch befunden hatte.

Sandro wandte Nico und Gogol den Rücken zu und senkte die Stimme. Außer ihnen war niemand im Café. »Auftanken ist nicht mein Job. Es ist dein Auto. Ich muss mich um meinen eigenen Wagen kümmern. Jedes Mal, wenn du deine Mutter besuchst, setzt dein Verstand aus und du wirst wieder zu einem Sechsjährigen.«

Nico stieß Gogol an und ließ seine Finger über den Tisch laufen. Gogol verstand und erhob sich langsam von seinem Stuhl. Nico legte das Geld für ihr gemeinsames Frühstück unter seine Kaffeetasse und stand auf. OneWag bellte und rannte zur Tür, in Erwartung neuer Ereignisse.

Sandro drehte sich um und hob die Hand. »Nico, einen Moment, bitte.«

Nico blieb stehen. Gogol brummte seinen üblichen Abschiedsgruß. »Bis morgen, so ich lebe«, und schlurfte in einer Wolke von Kölnischwasser davon.

»Du wirst leben«, entgegnete Nico.

»Jimmy, ich mache das Café jetzt nicht zu. Ich finde schon einen guten Samariter, der dir ein bisschen Benzin bringt. Ciao.« Sandro knallte den Hörer auf und schaute Nico an. »Ich liebe ihn wirklich, aber manchmal könnte ich …«

»Ich nehme an, der gute Samariter bin ich«, unterbrach ihn Nico, der den Rest nicht hören wollte.

»Würden Sie das machen? Einen Monat Frühstück gratis für Sie und Gogol.«

»Das ist nicht nötig. Ich helfe gern und habe auch gerade nichts vor.«

Sandro klatschte in die Hände. »Sie schickt der Himmel. Ich hole Ihnen einen leeren Kanister aus meinem Auto.« Er schlüpfte hinter dem Tresen hervor. »Falls jemand kommt, ich bin in zwei Minuten wieder da.« Sandro eilte hinaus.

Nico wartete neben der offenen Tür. Die Piazza war leer. Letzte Woche war die große Linde, deren Äste hoch über den Bänken hingen, noch voll gelber Blätter gewesen. Jetzt hatten sich diese Blätter wie ein Teppich über den Boden gebreitet. Luciana trat aus ihrem Blumenladen, der nur zwei Türen von der Bar All'Angolo entfernt war. Als OneWag sie erblickte, sauste er los, um ihr Guten Tag zu sagen.

Luciana und OneWag hatten sich schon in seiner Zeit als Straßenhund angefreundet. Sie hielt immer einen Keks für ihn bereit. Er wedelte nur einmal mit dem Schwanz, ließ sich den Kopf kraulen und folgte ihr, als sie auf Nico zuging. Sie trug eines ihrer unzähligen schwarzen Zeltkleider, das jedoch wenig dazu beitrug, ihren massiven Körperumfang zu kaschieren. Das Auffälligste an ihr waren ihre großen, haselnussbraunen Augen und ein kleiner Kopf, der unter dichten hennaroten Locken hervorschaute.

»Buongiorno«, sagte Nico und kreuzte die Arme vor der Brust. Luciana hatte die peinliche Angewohnheit, ihn jedes Mal zu umarmen, wenn er Blumen bei ihr für Ritas Grab kaufte.

»Ciao.« Über ihr fülliges Gesicht breitete sich ein Lächeln. »Ich habe Sandro wegrennen sehen. Wo will er denn hin? Es ist doch Zeit für meinen Morgenimbiss.«

»Zu seinem Auto. Geben Sie ihm zwei Minuten.«

»Ich gebe ihm auch fünf. Sie sollten mir auf eine Schiacciata mit Feigen und Prosciutto Gesellschaft leisten. Die Feigen sind jetzt perfekt und der Prosciutto, wie Sie ja wissen, ist weit und breit der beste.«

Sciacciata, was so viel wie »gepresst« bedeutete, war der toskanische Begriff für das, was Nico als Focaccia kannte. Lucianas Mann Enrico besaß die einzige Salumeria in Gravigna. Ihm gehörte auch die Bäckerei am Dorfrand. Seine Olivenbrote waren stets im Nu ausverkauft. »Ich würde Ihnen sehr gerne Gesellschaft leisten«, sagte Nico, denn sein Magen verlangte nach etwas Nahrung, »aber ich kann nicht. Es tut mir leid. Ich muss etwas Dringendes erledigen.« Vielleicht würde er sich etwas zu essen gönnen, wenn er wiederkam.

Luciana machte einen Schmollmund, aber lächelte schnell wieder. »Kommen Sie nachher im Laden vorbei. Ich habe ein paar Prachtstücke da, die sicher schnell weggehen. Chrysanthemen, so groß wie mein Kopf. Fast auch in der gleichen Farbe – ich wette, Rita hat sowas in New York nie gesehen. Die Astern, die Sie letzte Woche gekauft haben, sind jetzt sicherlich verwelkt.«

Nico meinte, in ihren Augen eine leise Rüge zu erkennen. Seine Besuche an Ritas Grab hatten in letzter Zeit etwas nachgelassen. Im Vorjahr war er noch täglich hingegangen. Seitdem seine Freundschaft mit Nelli inniger geworden war, hatte er versucht, sich in einem Strudel zwiespältiger Gefühle über Wasser zu halten. Jetzt ging er sowohl Rita und Nelli aus dem Weg, was bedeutete, dass ihn nur noch ein einziges Gefühl bedrückte – Schuld. »Betrachten Sie drei dieser Prachtexemplare als verkauft. Ich hole sie später ab.«

»Bravo.« Luciana umarmte ihn trotz seiner abwehrend verschränkten Arme. »Ich suche Ihnen die schönsten aus.«

Nico trat einen Schritt zurück. »Schauen Sie, da kommt er.« Sandro schritt mit einem großen Plastikkanister in der Hand auf sie zu.

»Wem ist denn das Benzin ausgegangen?«, fragte Luciana neugierig.

»Jimmy«, sagte Nico.

»Hier, Nico.« Sandro gab ihm den Kanister und etwas Geld. »Sie wissen, wohin Sie fahren müssen?«

Nico nickte.

»Danke. Sie sind der Schutzheilige der Reisenden.«

»Das ist Christopherus«, sagte Luciana, da sie annahm, Nico sei nicht katholisch. Aber nein, natürlich war er das, bei einem irischen Vater und einer italoamerikanischen Mutter, fiel ihr wieder ein. Ein mit Jimmy verheirateter Sandro hingegen hatte seine Heiligen bestimmt vergessen. »Wo fahren Sie hin?«, fragte sie Nico.

Nico tat, als habe er ihre Frage nicht gehört. Das konnte Sandro ihr sagen, wenn er wollte. »Bis später, ihr beiden.«

Mit dem sicheren Instinkt, dass ein Abenteuer bevorstand, bellte OneWag kurz auf und rannte zu Nicos Wagen.

Jimmy stand neben der geöffneten Motorhaube eines alten, stark zerbeulten grünen Fords, der auf dem linken Seitenstreifen der Straße parkte. Als Nicos Wagen näher kam, wedelte Jimmy mit beiden Armen. Jimmy war ein kleiner, muskulöser Mann Anfang dreißig; er hatte ein rundes, blasses Gesicht mit einem Schlafzimmerblick aus Augen, die so pechschwarz waren wie sein Haar. Nico hupte einmal, um zu zeigen, dass er ihn gesehen hatte, und schaute sich nach einem Parkplatz um. Der Standstreifen auf seiner Seite war wegen Reparaturarbeiten einige Kilometer lang gesperrt. Zum Glück war Jimmy das Benzin mitten auf einem langen, geraden Abschnitt der SR 222 ausgegangen, einer verkehrsreichen Bundesstraße, die Siena mit Florenz verbindet. Nico konnte daher die Straße weit überschauen und lenkte sein Auto schwungvoll über beide Fahrbahnen. Als er ein paar Meter hinter Jimmys Auto zum Stehen kam, sprang OneWag auf Nicos Schoß und drückte die Nase durch den schmalen Fensterspalt.

»Du bleibst hier«, sagte Nico. OneWag fing an zu bellen und zu zappeln, als Jimmy auf sie zukam. Wahrscheinlich freute sich sein Hund, den Cafébesitzer zu sehen, da er ihm hin und wieder etwas übriggebliebenes Gebäck zuwarf, das OneWag dann im Flug aufschnappte. »Hör auf, OneWag!« Der Hund kratzte mit den Pfoten an der Fensterscheibe; sein Gebell wurde immer eindringlicher. »Reg dich ab.«

»Ehi, ciao, Rocco«, sagte Jimmy grinsend; seine Stimme klang nach verstopfter Nase. Er öffnete schwungvoll Nicos Fahrertür. Bevor Nico ihn daran hindern konnte, sprang OneWag heraus. Jimmy breitete die Arme aus und rief Nico zu: »Amerikanische Freunde sind die besten. Ich umarme Sie aber nicht, ich möchte nicht, dass Sie meine Erkältung kriegen.«

Innerlich fluchend, holte Nico den Kanister, der gefüllt ziemlich schwer war, unter dem Beifahrersitz hervor und quetschte sich aus dem engen Fiat 500. Er reichte Jimmy den Kanister, während er OneWag im Auge behielt, der Jimmy ignoriert hatte und jetzt an der Rückseite des Ford schnüffelte.

»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind«, sagte Jimmy. »Ich weiß auch nicht, warum ich immer vergesse, auf die Tankuhr zu gucken.« Er zog ein Taschentuch hervor und schnaubte hinein. »Sandro hat mir schon mit Scheidung gedroht.«

»Das meint er ja nicht ernst.« Nico schaute immer noch auf OneWag, der nun auf den Hinterbeinen stand und am unteren Kofferraumrand des Ford schnupperte.

»Haben Sie Lebensmittel im Kofferraum?«

Jimmy blickte auf den rückwärtigen Teil seines Wagens. »Eine mottenzerfressene Decke, die nicht mal der Dieb, der vor einiger Zeit das Schloss aufgebrochen hat, mitnehmen wollte.«

»Also, irgendwas ist dadrin, und mein Hund will es haben.«

»Sehen Sie ruhig nach. Man muss nur draufhauen, dann springt er auf. Ich fülle derweil den Tank nach.«

Nico trat näher an den Kofferraum heran und nahm einen schwachen Geruch wahr, der ihm in der Kehle steckenblieb. Er bückte sich und hob OneWag auf. »Jimmy, kommen Sie bitte einen Moment hier rüber.«

Jimmy stellte den Kanister auf dem Boden ab und lief wieder zu Nico zurück. »Was ist los?«

»Vielleicht gar nichts.« Er gab ihm den Hund. »Bitte halten Sie OneWag fest. Ich mache jetzt den Kofferraum auf.«

Jimmy presste den sich windenden OneWag fest an seine Brust. »Was, glauben Sie, ist dadrin?«

»Das sehen wir gleich.« Nico schlug mit der Faust auf den Kofferraum. Er sprang ein paar Zentimeter weit auf. Der Geruch war jetzt stärker, jedoch nicht so stechend, dass einem übel wurde. Nico hob die Klappe weiter an und sah eine Plastikplane, die lose über eine klobige Form gebreitet war. Er beugte sich vor. Ein Männerstiefel schaute aus einem Ende der Plane hervor. Er lüpfte das andere Ende mit seinem Kugelschreiber und erblickte den Hinterkopf und Nacken eines Mannes. Der Schuhgröße nach vermutete er zumindest, dass es ein Mann war. Nico drückte zwei Finger auf die Halsschlagader, die das Blut ins Gehirn pumpt.

Jimmy trat näher heran und spähte auf die dunklen Umrisse. »Was ist das?« OneWag winselte und wollte freigelassen werden.

Nico schlug den Deckel wieder zu. »Es tut mir leid, Jimmy. Wir müssen hier auf die Carabinieri warten.« Er nahm Jimmy OneWag ab, flüsterte: »Braver Junge«, und beförderte ihn zurück in sein Auto.

»Was ist in meinem Kofferraum?«, fragte Jimmy mit bebender Stimme.

»Ein toter Mann, fürchte ich.«

Jimmy erbleichte. »Tot? Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher.«

»Nein, Sie veräppeln mich, oder?«, fragte Jimmy lachend. »Ein ganz schlechter Witz.«

Nico zog sein Handy aus der Tasche und wählte Perillos Nummer. »Leider nein.«

Jimmys Magen drehte sich um. »Tot, in meinem Wagen? Wie denn? Wer ist das?« Er zupfte Nico am Ärmel, während dieser Perillo die Lage erläuterte. »Haben Sie das Gesicht gesehen? Ist es jemand, den ich kenne? Oh Gott, bitte lass es niemanden sein, den ich kenne.«

»Ich habe nicht genau hingesehen«, sagte Nico zu Perillo, der Wer ist es? gefragt hatte.

Jimmy warf die Arme hoch. »Scheiße! Verdammt! Ich glaub es nicht.« Er schaute hoch zum klaren, wieder einmal strahlend schönen Himmel. »Lieber Gott, warum ich? Nur, weil ich nicht dazu gekommen bin, das blöde Schloss reparieren zu lassen? Das hab ich nicht verdient. Sandro bringt mich um.« Er zückte sein Handy.

Nico hielt ihn zurück. »Bitte sagen Sie ihm nicht, dass er herkommen soll. Sobald der Maresciallo hier ist, fahre ich Sie in meinem Auto nach Hause.«

Jimmy entwand sich Nicos Griff. »Ich brauche Sandro jetzt bei mir, sofort!«

»Das weiß ich, und auch, dass Sandro sofort hierhereilen würde, aber Maresciallo Perillo möchte keine Zuschauer.«

»Das ist Sandro ganz egal. Er kommt bestimmt. Ich brauche ihn. Salvatore Perillo denkt wahrscheinlich, ich hätte die Leiche da reingetan.«

»Haben Sie?«

»Sind Sie wahnsinnig?« Jimmy ging ein paar Schritte zur Seite und wählte eine Nummer auf seinem Handy.

Um Jimmy etwas Privatsphäre zu lassen, lehnte Nico den Kopf an das Fahrerfenster seines Wagens und redete beruhigend auf den noch immer aufgeregten OneWag ein.

»Er glaubt mir nicht«, sagte Jimmy, der wieder zu Nico zu