Tot im Teich - Willem van Schie - E-Book

Tot im Teich E-Book

Willem van Schie

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Beschreibung

Sie lag Tot im Teich und das seit Jahrhunderten. Erst bei Baggerarbeiten im Museumsteich fand man ihre skelettierten Überreste. Das anfängliche wissenschaftliche Interesse an dem Fund wurde in den Hintergrund gedrängt, als ein alter, weltfremder Pastor behauptet, dass es die Leiche einer Heiligen sei. Er beansprucht die Gebeine für sich und sein Gefolge. Obendrein erscheint etwas später eine sektenähnliche Gemeinschaft, die die Geschichte der angeblichen Heiligen als Vorbote des Weltuntergangs betrachtet und sich im Museum darauf vorbereiten will. Die Situation eskaliert und die Museumsdirektorin beauftragt ihre Mitarbeiterinnen Edda Devries und Dr. Lucy Prickelmann, die wahre Identität der Leiche schnellstmöglich zu klären, um die absurden Behauptungen entkräften zu können. Zusammen mit ihrem ehemaligen Kollegen Jerome unternehmen sie daraufhin eine abenteuerliche Zeitreise, die sie in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges führt.

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für Noah

Alle Personen in diesem Buch sind meiner Phantasie entsprungen.

Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Weder das Freilichtmuseum, in dem diese Geschichte spielt, noch das Personal dieses Museums existieren in der Wirklichkeit.

Entgegen früheren Behauptungen existiert Bielefeld nun doch, spielt aber in dieser Geschichte keine Rolle. Überhaupt keine!

Inhaltsverzeichnis

Was bisher geschah...

Mittwoch 24. September

Montag 13. Oktober

Dienstag 14. Oktober

Januar 1633

Mittwoch 15. Oktober

Januar 1633

Donnerstag 16. Oktober

Januar 1633

Freitag 17. Oktober

Samstag 18. Oktober

Sonntag 19. Oktober

Montag 20. Oktober

Februar 1633

Dienstag 21. Oktober

Mittwoch 22. Oktober

Donnerstag, 23. Oktober

Februar 1633

Freitag 24. Oktober

Samstag 25. Oktober

Sonntag 26. Oktober

Montag 27. Oktober

März 1633

Dienstag 28. Oktober

März 1633

Mittwoch 29. Oktober

1633

Donnerstag 30. Oktober

Freitag 31. Oktober

Samstag 1. November

Sonntag 2. November

Montag 3. November

Dienstag 4. November

Mittwoch 5. November

Donnerstag 6. November

Freitag 7. November

Samstag 8. November

Sonntag 9. November

Montag 10. November

Dienstag 11. November

Mittwoch 12. November

EPILOG

Nachtrag

Was bisher geschah...

Ziemlich viel, liebe Leserinnen und Leser, sogar sehr viel. Normalerweise kann in unserem beschaulichen Freilichtmuseum eine umgekippte Kaffeetasse oder ein schief hängendes Bild das Leben schon durcheinander bringen, aber was in den letzten vierzehn Monaten passiert war, sprengte alles. Es war wirklich eine aufreibende Zeit für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums. Jahrelang passierte so gut wie gar nichts - was eigentlich in einem Museum normal ist, denn es ist ein Ort der Geschichte und des Rückblicks – und dann hielt im letzten Jahr plötzlich die Gegenwart Einzug. Und zwar auf eine äußerst unangenehme Weise. Eigentlich tut die Gegenwart das immer, aber an einem Ort, wo sich alles um die Vergangenheit dreht, führt das zu einem regelrechten Raum-Zeit Paradoxon.

Es war Ende Mai des vergangenen Jahres, als man eine Leiche entdeckte, die über eine Woche mit drei Schaufensterpuppen im Altenteil des Bierumerweinhofes gesessen hatte. Sie saß, als Bäuerin verkleidet, am Kaffeetisch der größten Hofanlage des Museums. Eine wahrhaft grausame Entdeckung.

Das zweite Ereignis, dass die Museumswelt erschütterte, war durchaus erfreulicher Natur: Anfang dieses Jahres konnte die Museumsdirektorin, Frau Dr. Meyer-Weidenlust, eine historische Sensation präsentieren. Ein bedeutsamer Fund war in den Besitz des Museums gelangt und wurde unter großem Interesse der Öffentlichkeit vorgestellt.

So unterschiedlich die Ereignisse auch waren - sie sorgten beide für einen gewaltigen Besucheransturm im Museum. Waren es im letzten Jahr noch vorwiegend sensationslüsterne Gaffer gewesen, so waren es in diesem Jahr sehr interessierte und hoch motivierte Museumsbesucher. Aber egal aus welchen Gründen die Besucher kamen, sie hatten eines gemeinsam: sie zahlten Eintritt! Die Museumskasse war fast jeden Abend prall gefüllt und das laufende Konto zeigte ein erfreulich hohes Guthaben. Sehr zur Freude des Verwaltungsleiters, Herrn Notte, der seit Wochen wie aus dem Häuschen war.

Diese gesunde Finanzlage ermöglichte es der Museumsdirektorin, einige Projekte in Angriff zu nehmen, die jahrelang aus Geldmangel liegengeblieben waren. Eines dieser Vorhaben wollte sie auf der heutigen Dienstbesprechung bekannt geben. Es war in ihren Augen ein einfaches – wenn auch kostspieliges – Projekt und in der Realisierung eigentlich absolut problemlos.

Aber sie wissen wie es ist, liebe Leserinnen und Leser, diese Zeilen wären nie geschrieben worden, wenn es das Wörtchen ´eigentlich´ nicht gegeben hätte. Wenn alles so problemlos verlaufen wäre, wie sich die Museumsdirektorin das vorgestellt hatte, gäbe es jetzt keine erzählenswerte Geschichte. Aber wir wollen der Angelegenheit nicht vorgreifen und hören erst einmal zu, was sie uns auf der Dienstbesprechung zu erzählen hat.

***

Mittwoch 24. September

Frau Dr. Meyer-Weidenlust betrat, wie an jedem vierten Mittwoch im Monat, den Vortragssaal des Museums. Der befand sich im Eingangsbereich des Museums und war eigentlich ein Mehrzweckraum, denn er wurde nicht nur für Vorträge, sondern auch für Ausstellungen, Weihnachtsfeiern und eben diese Dienstbesprechungen genutzt. Der Raum war fantasielos gestaltet, aber um den formellen Charakter des Raumes etwas zu durchbrechen, hatte die Museumsdirektorin angeordnet, dass die Stühle bei einer Dienstbesprechung in einem Halbkreis aufgestellt werden sollen.

Es war mittlerweile elf Jahre her, dass Frau Dr. Meyer-Weidenlust Direktorin des Freilichtmuseums geworden war und die Dienstbesprechungen gehörten zu den ersten Maßnahmen, die sie eingeführt hatte. Sie war damals mit 34 Jahren eine der jüngsten Museumsdirektorinnen in Deutschland und voller Elan. Aber das, was damals noch als Basisdemokratie interessant war, verkam mit der Zeit zu einem Alltagsritual. Die Dienstbesprechungen wurden immer langweiliger.

Allerdings hatte sich seit den schrecklichen Vorfällen im letzten Jahr einiges geändert. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter, die oft zu übertriebener Selbstdarstellung neigten, waren jetzt zurückhaltender und ruhiger geworden. Die Handwerker, die die Dienstbesprechungen früher als Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Frühstück nutzten und dabei öfter einschliefen, waren jetzt aufmerksam. Sie beteiligten sich sogar. Zwar nicht ständig, aber sie blieben immerhin wach. Irmtraud, Frau Dr. Meyer-Weidenlusts Sekretärin, protokollierte eifrig und auch der Depotverwalter, Paul Pottmann, schaffte es seitdem, sich etwas mehr Gehör für die Probleme in seinen Depots zu verschaffen.

Alles in allem war die Stimmung in der Belegschaft gut, das zeigte sich auch bei der heutigen Dienstbesprechung. Alle waren da und gespannt auf die neuesten Entwicklungen, denn die Chefin hat einiges durchsickern lassen. Frau Dr. Meyer-Weidenlust setzte sich vor den Halbkreis und berichtete über das rege Interesse an der aktuellen Ausstellung. Die Besucherzahlen waren immer noch hoch. Gleichzeitig gab es Nachfragen von anderen Museen, ob einzelne Stücke ausgeliehen werden können, oder ob die gesamte Ausstellung irgendwann auf Wanderschaft geht. In wissenschaftlicher und finanzieller Hinsicht eindeutig eine Erfolgsgeschichte. Um das zu untermauern, bat sie Herrn Notte, ihren Verwaltungsleiter, um eine kurze Darstellung der Finanzen.

Der Verwaltungsleiter setzte sich gerade und genoss den Moment. Zurecht, denn meistens musste er Ende September einen Ausgabenstopp verkünden, weil das Budget erschöpft war, aber jetzt war genau das Gegenteil der Fall. Er erwähnte die überdurchschnittlichen Einnahmen der letzten Monate, ohne allerdings konkrete Zahlen zu nennen, aber man konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass sie sehr hoch sein mussten. Einige Wartungs- und Unterhaltsprojekte waren bereits in Arbeit oder standen kurz vor der Vollendung. Zwei neue Stellen für Reinigungskräfte waren ebenfalls genehmigt und das Einstellungsverfahren lief bereits. Trotzdem stünde noch genug Geld für neue Projekte zur Verfügung.

„Und damit sind wir auch beim Hauptthema für heute“, sagte Frau Dr. Meyer-Weidenlust und dankte Herr Notte für seine Darstellung. „Wir haben es geschafft, eine Wassermühle unserer Gebäudesammlung hinzuzufügen. Es ist eine alte Kornmühle aus dem Südoldenburger Raum. Der Ursprung der Mühle geht zurück auf das Jahr 1633. Sie wurde öfter umgebaut und schließlich 1963 stillgelegt, aber – und das ist unser Glück - nicht entrümpelt. Sie wurde nur ausgefegt und verschlossen. Alle Mahlgänge und Getreidereinigungsmaschinen sind noch vollständig erhalten und in einem relativ guten Zustand. Das Wasserrad ist allerdings abgängig, es muss ersetzt werden. Und das werden wir auch tun, denn es ist unsere Absicht, die Mühle wieder betriebsfähig aufzubauen, damit wir unsere Ausstellung über die handwerklichen Tätigkeiten der vergangenen Jahrhunderte um das Müllerhandwerk erweitern können. Die Mühle hat ein unterschlächtiges Wasserrad und dazu brauchen wir einen Mühlenteich. Wir werden daher unseren Museumsteich zum Mühlenteich umgestalten, indem wir eine Verbindung zum Flüsschen ´Ipse´ schaffen. Wir werden einen Teil des Flusses zu unserem Mühlenteich umleiten und hinter der Mühle als kleinen Bach wieder zur Ipse führen. Ein kleines Sperrwerk an der Mühle wird den Wasserstand regulieren. Verhandlungen mit den Behörden über die wasserrechtliche Genehmigung werden bereits geführt. Wir haben Experten gebeten, eine Machbarkeitsstudie zu erstellen und die sehen überhaupt keine besonderen Probleme für die Umsetzung der Mühle in unser Museum.

Nur unser Museumsteich macht ein kleines Problem. Weil hier jahrzehntelang nichts gemacht worden ist, muss er jetzt komplett entschlammt werden. Wir beabsichtigen, ein Bauunternehmen zu beauftragen, das die Arbeit Ende Oktober – Anfang November durchführen soll. Leider wird das zu etwas Unruhe im Gelände führen, denn es muss schweres Material wie Bagger und LKW eingesetzt werden, aber da wir in dieser Zeit erfahrungsgemäß weniger Besucher haben, werden wir das schon meistern.“

„Was passiert eigentlich mit dem Schlamm?“ wollte der Tischler wissen, „Ist das Sondermüll, müssen da besondere Vorkehrungen getroffen werden?“ Der Tischler war seit drei Monaten Sicherheitsbeauftragter des Museums und nahm seine Aufgabe ernst.

„Nein, wir gehen davon aus, dass der Schlamm nicht belastet ist, weil der Teich eigentlich ein Naturgewässer war.“ Frau Meyer-Weidenlust war angenehm überrascht über das Engagement des Tischlers und noch mehr über die Frage als solche, denn ihre Experten hatten schon letzte Woche eine einleuchtende Erklärung geliefert. „Der Teich war früher ein Schlatt, ein stehendes Gewässer, das vom Regenwasser gespeist wurde. Bei der Urbarmachung des Geländes ist dieses Schlatt als Museumsteich in die Planung mit aufgenommen und nur in den Abmessungen etwas angepasst worden. Insofern gehen wir davon aus, dass der Schlamm ein reines Naturprodukt ist.“

„Kann man den nicht als Dünger verkaufen?“, fragte Notte, der schon wieder ein Geschäft witterte. Als Verwaltungsleiter war er natürlich immer darauf bedacht, das optimale für das Museum herauszuholen und wenn es etwas zu verkaufen gäbe; warum nicht?

„Das glaube ich nicht“, antwortete seine Chefin. „Leider, denn die Idee wäre nicht schlecht. Wir wissen im Moment noch nicht, was wir mit dem Schlamm machen werden, aber wir haben eine Wiese reserviert, wo er erst einmal zwischengelagert wird, bis wir eine endgültige Entscheidung getroffen haben. Wir müssen dazu noch einiges mit den zuständigen Behörden klären.“

Als Frau Dr. Meyer-Weidenlust feststellte, dass keine weiteren Fragen oder neue Themen anlagen, schloss sie die Versammlung und wünschte allen Kolleginnen und Kollegen einen arbeitsreichen Tag. Sie verließ zusammen mit ihren engsten wissenschaftlichen Mitarbeitern, Dr. de Beau und Dr. Lippmann, sowie Herrn Notte, den Raum – Irmtraud folgte in zwei Meter Abstand, wobei keiner der Herren daran dachte, auch für sie die Tür aufzuhalten.

Edda Devries und Dr. Lucinda Prickelmann gingen nicht direkt wieder zu ihrem Arbeitsplatz in der Verwaltung, sondern beschlossen, sich den Museumsteich und den Standort für die Wassermühle anzuschauen. Sie waren als Kunsthistorikerinnen schon seit Jahren im Museum angestellt und zuständig für verschiedenste wissenschaftliche Tätigkeiten wie Inventarisierung, Digitalisierung, Ausstellungsvorbereitungen und Kaffeekochen. Außerdem waren sie seit langem befreundet und ein eingespieltes Team. Sie waren maßgeblich an der Aufklärung des Mordfalls im letzten Jahr beteiligt gewesen. Es hätte nicht viel gefehlt und Dr. Lucinda Prickelmann – von allen liebevoll ´Lucy´ genannt – hätte im wahrsten Sinne des Wortes einen Abflug gemacht. Es hatte Zeit gebraucht, bis sie die Geschehnisse einigermaßen verarbeitet hatte, aber dank Eddas Unterstützung war sie jetzt wieder voll einsatzfähig. Der einzige Wermutstropfen war, dass ihr langjähriger Kollege und Freund, Jerome Vandenbordeele, nicht mehr dabei war. Der gebürtiger Belgier hatte einen Großteil seiner Jugend in Amsterdam verbracht, bevor er der Liebe wegen nach Deutschland gezogen war. Vor einigen Jahren hatte er im Museum angefangen und auf Werkvertragsbasis immer wieder Projekte begleitet. Nach der Fertigstellung seiner letzten Arbeit – der Feldbahn - war sein Vertrag abgelaufen und nicht wieder verlängert worden. Seitdem kümmerte er sich um seine beiden Enkelsöhne und brachte denen alles bei, was Eltern seit Generationen immer wieder vergessen.

Etwas später standen Edda und Lucy am Museumsteich und überlegten, wo wohl der geeignete Standort für die Wassermühle sein könnte, aber sie mussten sich ziemlich schnell eingestehen, dass sie zu wenig Ahnung von Mühlen und Wasserläufen hätten und für sie die Mühle eigentlich überall stehen könnte. Der Museumsteich war ein fast kreisrunder Teich mit einem Durchmesser von etwa 50 Meter und in gewissem Maße die Keimzelle des Freilichtmuseums. Als Anfang des 20. Jahrhunderts die Idee für ein Museum entstand, hatte man das Gelände rundum das Schlatt als ideal empfunden. Es lag etwas außerhalb der Stadt und hatte einen schönen alten Baubestand. Nur die Wasserfläche musste etwas angepasst, die Bodenverhältnisse verbessert werden. So wurde das Schlatt verkleinert und zum Museumsteich umfunktioniert. Rings herum wurden nach und nach Bauernhöfe aus dem 17. und 18. Jahrhundert aufgebaut. Später folgten dann weitere Gebäude, wie die Kirche und drei Werkstätten aus dem 19. und 20. Jahrhundert.

Der Museumsteich hatte keinen Zu- oder Abfluss und das wurde in den letzten Jahren immer mehr zum Problem bei anhaltender Wärme, denn dann fing der Teich an zu stinken. An besonders heißen Tagen machte sich ein modderiger Geruch breit, und man war gezwungen mit einem Schlauch Frischwasser in den Teich zu sprühen, um den Sauerstoffgehalt ein wenig anzuheben. Diese Maßnahme linderte zwar die Folgen, aber beseitigte die Ursache nicht.

Edda schaute nachdenklich und erinnerte sich an Frau Meyer-Weidenlusts Vortrag von vorhin. „Das soll ein Schlatt gewesen sein?“, fragte sie.

„Gibt es bei euch oben in der Wesermarsch keine Schlatts?“

„Nicht das ich wüsste“, gab Edda zu. „Wir haben Priele, Helmer, Siele, Watt und Moore, aber von einem Schlatt habe ich noch nie gehört.“ Edda war in der Wesermarsch geboren und aufgewachsen. Nach ihrem Studium in Süddeutschland war sie wieder hierher gezogen, denn sie hatte festgestellt, dass das Leben ohne Deiche, Weser und Wattenmeer zwar möglich, aber sinnlos ist.

„Es gibt hier mehrere Schlatts“, sagte Lucy, die im Oldenburger Münsterland groß geworden und hier ebenso verwurzelt war, wie Edda an der Küste. „Früher gab es noch mehr, aber viele sind verschwunden und die, die noch da sind, stehen unter Naturschutz. Ich finde es schon beeindruckend, wenn man überlegt, dass dieser Museumsteich schon Jahrhunderte alt sein könnte.“

„Schade, dass Jerome nicht dabei ist“, sagte Edda, „du weißt, dass er ein Faible für Mühlen hat. Er hätte sich bestimmt gefreut, dabei zu sein. Auf jeden Fall wüsste er bestimmt eine geeignete Stelle.“

„Wohl war“, sagte Lucy.

***

Montag 13. Oktober

Es war Montagmorgen kurz nach sieben und es wurde unruhig im Museum. Nachdem letzte Woche eine Pumpe zwei Tage lang den Museumsteich nach und nach leer gepumpt hatte, rollte jetzt schweres Gerät an. Als erstes wurden ein Bauwagen und ein kleiner Container fürs Werkzeug aufgestellt. Dann fing die Baufirma an, da wo der Boden nicht tragfähig war, Stahlplatten auszulegen und schließlich rollten zwei Schaufelbagger langsam zum Museumsteich. Ihre Schaufeln gruben den Teichboden am Rand vorsichtig ab. Langsam tasteten die Fahrer sich vorwärts in den Teich. Zwei schwere Trecker mit Muldenkippern fuhren den Aushub ab und brachten ihn auf eine Wiese hinter dem Verwaltungsgebäude. Fast alle Museumsmitarbeiter hatten sich am Museumsteich versammelt, um sich das Treiben auf der Baustelle anzusehen, denn es passierte schließlich nicht jeden Tag, dass im Museum gebaggert wurde. Aber sie stellten enttäuscht fest, dass die Bagger nur langsam vorankamen, denn die Schlammschicht war weich und sehr dick. Die Fahrer mussten aufpassen, nicht zu versacken. Deshalb gruben sie erst den weichen Schlamm rundherum ab und wagten sich dann immer weiter in den Teich hinein. Nach einer halben Stunde hatten die meisten Museumsmitarbeiter genug gesehen und verließen die Baustelle. Offensichtlich war die Arbeit sogar für Museumsangestellte zu langsam.

Es war geplant, dass die Bagger eine Woche brauchen würden, den ganzen Teich zu entschlammen. Anschließend würden sie den neuen Wasserlauf für die Wassermühle graben und die Zu- und Ablaufverbindungen zur Ipse herstellen.

Frau Dr. Meyer-Weidenlust verließ zusammen mit ihren Kollegen de Beau und Lippmann als letzte die Baustelle. Sie war sehr zufrieden mit dem Fortgang der Baumaßnahme und zuversichtlich, dass alles in dem vorgesehenen Zeitrahmen erledigt werden könnte. Die Kollegen hingegen waren sich da nicht so sicher, aber eigentlich nur, weil sie von der Materie keine Ahnung hatten. Sie waren Wissenschaftler und reine Theoretiker. Sie wussten zum Beispiel, dass man, um einen Nagel einzuschlagen, einen Hammer brauchte und der Nagel mit der spitzen Seite auf das Holz gerichtet sein sollte, während der Hammer das andere Ende des Nagels trifft. Theoretisch hatten sie so etwas verstanden, aber es fehlten die motorischen Fähigkeiten zur Durchführung eines solchen doch relativ komplexen Vorgangs. Sie empfanden das nicht als ein Problem, denn es gab Leute, die diese Fähigkeiten hatten und wenn man denen genau erklärte, wie man den Hammer festhält und welche Seite des Nagels die Spitze war, konnten die stundenlang hämmern.

Frau Dr. Meyer-Weidenlust war da nicht wesentlich begabter – auch sie war etwas weltfremd. Sie konnte nicht kochen und sogar das Öffnen eines neuen Marmeladenglases stellte für sie eine Herausforderung da. Aber es gab Restaurants und Lieferservices und außerdem hatte sie beschlossen, dass zu viel Zucker sowieso ungesund ist.

Für die Bauarbeiten am Teich hatte sie sich von einem Kollegen im Bergbaumuseum beraten lassen. Sie fühlte sich bestens gerüstet und kompetent. Allerdings war sie über die Größe der Bagger etwas verwundert. Sie hatte etwas Größeres erwartet – zwar nicht so groß wie im Braunkohletagebau, aber doch so etwas in der Art. Sie musste gestehen, dass ihre Kenntnisse der Tiefbautechnik nicht so umfangreich waren, wie die der Westeuropäischen Unterwäsche im 19. Jahrhundert. Das war nämlich das Thema ihrer Doktorarbeit und da war sie Expertin.

Es war kurz vor halb fünf als die Baggerfahrer beschlossen, Feierabend zu machen. Sie waren gut vorangekommen, rauchten zufrieden noch eine Abschlusszigarette und besprachen, wie sie am nächsten Morgen weitermachen würden. Die Schlammschicht war etwas dicker als sie vermutet hatten, stellte aber kein großes Problem dar. In der Planung war eine kleine Zeitreserve vorgesehen, sodass sie guten Mutes waren, rechtzeitig fertig zu werden. Es gab ein paar kleinere Problemstellen, die sie noch genauer betrachten wollten. An einer Stelle war eine Sandschicht sichtbar geworden und an einer anderen vermuteten sie Steine oder Geröll. Als Frau Dr. Meyer-Weidenlust am Teich erschien, um sich nach dem Fortgang der Arbeit zu erkundigen, machten sie ihre Zigaretten aus und erklärten ihr den Stand der Dinge. Sie zeigten die Stellen, die möglicherweise etwas problematisch sein könnten, aber versicherten ihr gleichzeitig, dass der Zeitplan nicht in Gefahr sei. Solche Sachen waren durchaus normal. Morgen früh um sieben Uhr würden sie weitermachen und pünktlich fertig werden.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, blieb Frau Dr. Meyer-Weidenlust noch kurze Zeit am trockenen Teich stehen. Alles schien soweit planmäßig zu verlaufen. Zufrieden kehrte sie in die Verwaltung zurück.

***

Dienstag 14. Oktober

Um sieben Uhr in der Früh standen die Baggerfahrer wieder bei ihren Maschinen. Sie wollten erst die Stelle, an der sie Steine vermuteten abgraben, um zu sehen, ob vielleicht eine größere Maschine angefordert werden sollte. Einer der Fahrer lenkte sein Gerät zu der besagten Stelle, während sein Kollege durch den Schlamm zu dem Stein lief. Er sah gar nicht so groß aus, aber man musste vorsichtig sein - man weiß ja nie, was man in so einem Tümpel alles findet. Er tastete den runden Stein ab, legte ihn frei, dann stand er auf und rief seinen Kollegen. „Hier sollten wir nicht mehr weiter buddeln!“, sagte er und als der Kollege sich den Stein ansah, nickte er. „Ich glaube, wir sollten der Museumstante Bescheid geben. Die wird sich bestimmt freuen!“

Der Baggerfahrer nahm sein Handy und rief in der Verwaltung an. „Sie sollten besser mal eben vorbeikommen“, sagte er Herrn Notte, „und sich anschauen, was wir gefunden haben. Ihre Chefin bringen Sie am besten gleich mit!“

Notte stellte so früh am Morgen keine Fragen und machte sich auf die Suche nach Frau Dr. Meyer-Weidenlust. Er traf sie auf dem Parkplatz vor der Verwaltung und erzählte ihr, dass die Baggerfahrer im Teich etwas gefunden hatten, das sie sich anschauen sollten.

„Da bin ich ja gespannt!“, sagte sie und lief sofort zum Museumsteich. Dort angekommen sah sie, wie die Arbeiter auf eine Stelle im Schlamm starrten. Vom Uferrand konnte sie aber nicht genau erkennen, was es war. Sie tastete sich vorsichtig am Bagger lang, aber sie war immer noch zu weit weg. „Es tut mit leid“, rief sie den Arbeitern zu, „aber ich kann von hier aus nicht erkennen, was es ist.“

„Ich zeige es Ihnen!“, sagte der eine Baggerfahrer und bückte sich, um einen runden Gegenstand hochzuheben. Als die Museumsdirektorin den Gegenstand erkannte, musste sie doch dreimal schlucken. Es war ein menschlicher Schädel, den der Arbeiter da in seinen mit Schlamm verdreckten Handschuhen hielt. Notte, der neben ihr stand, wurde bei diesem Anblick kreidebleich und bekam knickende Knie. Frau Dr. Meyer-Weidenlust sah besorgt zu ihm hinüber, denn sie kannte dieses Phänomen noch vom letzten Jahr, als sie die Leiche identifizieren mussten. Notte war in der Pathologie in eine Art Schockstarre verfallen und einige Tage außer Gefecht gewesen. Das wollte sie heute unbedingt vermeiden, deshalb schickte sie ihn in die Verwaltung zurück , um die Polizei zu verständigen. Notte nahm den Auftrag dankbar an. Er schaffte es gerade noch, seine außer Kontrolle geratenen Knie an einem Bewegungsablauf zu beteiligen, der den Baggerfahrer an Laufübungen seines zweijährigen Sohnes erinnerte.

Frau Dr. Meyer-Weidenlust wandte sich wieder den Arbeitern zu und fragte, ob noch mehr Skelettteile im Schlamm steckten.

„Ich vermute ja“, antwortete der Baggerfahrer, „es sind ein oder zwei Knochen sichtbar, aber ich glaube es ist besser, wenn sich die Polizei um die weitere Freilegung kümmert. Wir gehen da lieber kein Risiko ein. Es tut mir leid, aber wir müssen die Arbeit einstellen, bis die Sache geklärt ist.“

Frau Dr. Meyer-Weidenlust nickte und sah sich den Schädel noch mal genauer an. „Ich bin keine Archäologin oder Anthropologin, aber es kommt mir so vor, als würde der Schädel schon etwas älter sein. Ich glaube, ich werde zur Sicherheit noch einen wissenschaftlichen Kollegen hinzuziehen. Es könnte sein, dass es ein historisch bedeutender Fund ist.“

Der Baggerfahrer sah sie an und meinte: „So etwas wie der erste Bewohner des Museums, oder?“

Frau Dr. Meyer-Weidenlust sah ihn überrascht an und musste grinsen. „Das wäre kein schlechter Ansatz! Eine echte Konkurrenz für Ötzi!“

Sie gab ihm den Schädel zurück und meinte, dass sie sich jetzt erst einmal Stiefel besorgen würde. Er sollte hier vor Ort bleiben und warten bis die Polizei kommt.

Die kam dann auch schon fünf Minuten später. Es waren Hauptkommissar Liebich und sein Kollege – zwei alte Bekannte im Museum. Sie hatten die Untersuchung in dem Mordfall letztes Jahr geleitet und waren mit den Eigenheiten im Museum vertraut. Direkt nach Nottes Anruf waren sie losgefahren. Noch unterwegs hatte Liebich den Pathologen Professor Dr. Wörner über den Leichenfund informiert. Der wollte sich auch sofort auf den Weg machen, denn Tote waren sein Leben.

Er war außerdem Inhaber einer Jahreskarte für das Museum und hatte während eines Besuches im letzten Jahr die Leiche im Bierumerweinhof entdeckt. Der Leichnam war damals bereits im Verwesungsprozess gewesen und nur dank des ausgeprägten Geruchssinns des Pathologen entdeckt worden.

Diese Leiche jedoch war nach Aussage des Hauptkommissars Liebich schon skelettiert und daher wahrscheinlich noch interessanter für einen Gerichtsmediziner. Er freute sich schon auf die Herausforderung, seine ohnehin schon einzigartigen Fähigkeiten erneut unter Beweis stellen zu können.

Liebich und der Kollege schauten sich den Fundort an und ließen sich vom Baggerfahrer informieren. Der meinte, dass es mehr oder weniger Zufall war, dass sie den Schädel fast unversehrt hätten bergen können. Er hatte gestern Abend beim letzten Griff in die Schlammmasse etwas schimmern gesehen und einen Stein vermutet. Heute Morgen habe er dann gesehen, dass es ein Schädel ist. „Wirklich ein Schlamm-massel sozusagen“, meinte der Baggerfahrer, der offenbar ein Freund der Wortspielerei war.

„Ich glaube, ich sage besser unserer Kriminaltechnikerin, Frau Jankowitz, Bescheid“, sagte der Kollege, „und bitte sie, gleich ein paar Stiefel mitzubringen. Größe 44 nehme ich an?“

Liebich nickte und begrüßte Frau Dr. Meyer-Weidenlust, die gerade mit einem Paar nagelneuer orangefarbener Stiefel in der Hand angelaufen kam.

„Frau Dr. Meyer-Weidenlust“, sagte er, während er mit ausgestreckter Hand auf sie zuging, „dass wir uns so schnell wiedersehen, hätte ich nicht gedacht, aber wie ich gerade gesehen habe, brauchen Sie erneut unsere Hilfe. Sie haben schon wieder eine Leiche in Ihrem Museum!“

„Ich grüße Sie, Herr Liebich“, sagte die Museumsdirektorin gequält. Sie mochte ihn nicht. Er hatte im letzten Jahr auf penetrante Weise versucht, das Mordmotiv und den Täter im Museum zu finden, statt einfach die Mafia verantwortlich zu machen. „Aber diesmal“, ergänzte sie, „können sie die Hoffnung, den Mörder hier im Museum zu finden, gleich aufgeben, denn ich glaube die Leiche - beziehungsweise das Skelett - ist schon etwas älter und so die Person überhaupt ermordet wurde, ist die Tat bestimmt schon verjährt!“

„Mord verjährt nicht“, korrigierte Liebich, „aber warten wir mal ab, was die Gerichtsmedizin uns über das Alter des Skeletts sagen kann.“ Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Liebich fand die Museumsdirektorin arrogant und unkooperativ. Er hatte im letzten Jahr einige Male mit Konsequenzen drohen müssen, um sie von der Notwendigkeit ihrer Mitarbeit zu überzeugen. Aber auch wenn Mord nicht verjährt, in einer Sache hatte sie wahrscheinlich Recht: Wenn es ein Mord war, dürfte der Mörder schon längst verstorben sein.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sich zwei Autos langsam näherten. Das erste Fahrzeug, ein silbergrauer Ford Transit, war das von Frau Jankowitz und den Kollegen der Kriminaltechnik, während er im schwarzen BMW dahinter Professor Wörner erkannte.

Frau Dr. Meyer-Weidenlust erkannte Wörner ebenfalls und lief direkt auf ihn zu. Sie begrüßte ihn wie einen Kollegen, beteuerte drei mal, wie froh sie war, dass er so schnell kommen konnte. Professor Dr. Wörner begrüßte sie ebenso herzlich und beglückwünschte sie zu diesem außergewöhnlichen Fund. Frau Jankowitz, die Leiterin der Kriminaltechnik, verzog die Augenbrauen und schüttelte den Kopf. Es war ihr unverständlich, wie man sich zu einem Leichenfund gratulieren konnte. Sie hatte damals auch die Spurensuche in dem Mordfall im Museum durchgeführt - aber erst nachdem sie Eintritt bezahlt hatte. Seitdem war sie misstrauisch Museumsleuten gegenüber. Heute war sie - entgegen ihren Befürchtungen - umsonst hereingekommen. Sie durfte sogar mit dem Auto bis zum Teich fahren.

Sie verständigte sich mit Professor Wörner, Hauptkommissar Liebich und dem Baggerfahrer über das weitere Vorgehen. Sie kamen überein, dass der Baggerfahrer sich langsam herantasten und versuchen würde, die Fundstelle so weit wie möglich zugänglich zu machen, während die Kriminaltechniker nach und nach die Knochen freilegen und anschließend bergen könnten. Prof. Dr. Wörner richtete mit einer großen Plane einen Platz am Ufer ein, wo er die Knochenteile sortieren wollte. Die Arbeit ging größtenteils schweigend vonstatten. Es gab nur ab und zu Anweisungen an den Baggerfahrer, aber ansonsten wurde nicht viel gesprochen. Alle arbeiteten äußerst konzentriert. Bereits nach drei Stunden lag das ganze Skelett relativ sauber auf Wörners Plane.

„Ich fürchte, für Sie gibt es hier wenig Arbeit“, sagte Wörner zu Liebich, „Das genaue Alter der Kochen kann ich nur im Labor bestimmen, aber eines ist jetzt schon sicher: Die Leiche hat hier schon länger als hundert Jahre gelegen. Aber wie gesagt: Alles Weitere erste nach der Obduktion!“

Professor Wörner liebte diesen Satz. Er fühlte sich dann immer wie einer von diesen Fernseh-Pathologen, die meist im Alleingang alle Mordfälle lösten. Wörner hielt sich für absolut genial und unfehlbar. Seine Mitarbeiter litten unter seiner Arroganz, aber seine Pensionierung stand kurz bevor, und das war für viele die einzige Motivation, morgens noch zur Arbeit zu gehen. Der Pathologe schaute Liebich fragend an, denn er wusste aus allen Tatort-Krimis, dass auf das Wort ´Obduktion´ noch eine bestimmte Reaktion seitens der Ermittler folgen musste. Auch Liebich wusste, dass er reagieren musste und hasste es den Satz zu sagen - aber er gehörte zum guten Ton und es musste gefragt werden: „Aber etwas können Sie uns doch sagen, Herr Professor?“, brachte er schließlich heraus.

„Nun ja“, fing der Professor an, „jetzt wo Sie fragen, Herr Liebich, vielleicht doch, aber es sind nur Vermutungen. Anhand der Größe des Skeletts und dem Zustand der Knochen vermute ich, dass es sich um eine erwachsene weibliche Person handelt. Aber wie alt sie war und wann sie gestorben ist, kann ich nicht sagen, das muss ich im Labor prüfen.“

„Chef, kommen Sie bitte mal hierher“, unterbrach der Kollege plötzlich. Er stand noch im Schlamm und winkte. „Hier liegt noch etwas!“

Liebich und Wörner stiegen beide wieder in den Schlamm und gingen zum Kollegen. Der zeigte auf etwas goldschimmerndes, das ein Kriminaltechniker gerade freilegte.

„Es ist offenbar Schmuck, ein Armreif oder so was Ähnliches“, meinte der Techniker und schaufelte vorsichtig weiter. Wörner war enttäuscht, dass keine weiteren Leichenteile gefunden wurden, aber Frau Dr. Meyer-Weidenlust war begeistert, als der Kriminaltechniker den Armreif hochhob.

„Ich glaube, wir haben möglicherweise etwas historisch Bedeutsames gefunden“, sagte sie und meinte, dass es ist jetzt besser wäre zu warten, bis der wissenschaftliche Kollege da ist.

Bis der besagte Kollege kam, dauerte es noch zwei Stunden. Wesentlich schneller war der Reporter der Lokalzeitung, ein Freund des Sohnes der Schwägerin der Schwester von Notte, der hervorragend vernetzt war. Er machte ein paar Fotos und Frau Dr. Meyer-Weidenlust gab bereitwillig ein Interview. Aus den Erfahrungen im letzten Jahr wusste sie nur all zu gut, dass so eine Nachricht Besucher anzieht. Sie war sicher, dass sich dieser Fund positiv auf das Museum und ihre Karriere auswirken würde.

***

Januar 1633

Es war dunkel, kalt und es fing an zu regnen. Trotzdem rannte die junge Frau weiter durchs Gestrüpp und kümmerte sich nicht um Dornensträucher oder Pfützen. Sie hatte Angst – richtig Angst. Das Leben war mal so angenehm gewesen, jetzt musste sie laufen, um es überhaupt zu behalten. Dabei war es nicht ihre Schuld, sondern nur dem übersteigerten Ehrgefühl und der Kriegslust der Männer zu verdanken, dass sie in diese missliche Lage geraten war.

Je schlimmer die Zeiten wurden, umso mehr wurde ihr bewusst, wie privilegiert sie gewesen war. Ihre Eltern waren hoch geachtete, wohlhabende Bauern mit einem großen Hof und beträchtlichen Ländereien. Sie war das einzige Kind auf dem Hof Moorseite und wurde Hedwina genannt. Ihre Eltern hatten es geschafft, ein Kind, einen Erben zu zeugen. Dabei war es geblieben. Nach der Geburt wurde die Mutter schwer krank und war seitdem nie wieder ganz gesund geworden. Sie gab ihrem Ehemann die Schuld an ihrem Schicksal, verweigerte sogar jeden körperlichen Kontakt mit ihm. Dem Vater war das anscheinend nur recht, denn er vergnügte sich lieber mit einer der Mägde als mit seiner Frau. Ihre Mutter war keine schöne Frau gewesen, der Grund für ihre Heirat war alleine die Tatsache, dass sie die erbberechtigte Tochter des Hofes war. Dass sie eine intelligente Frau war, spielte keine Rolle, denn der Bedarf an klugen Frauen war damals nicht sonderlich groß – im Gegenteil: Sie sollten nur Kinder gebären und den Haushalt führen. Ihre Mutter wollte sie vor einem derartigen Schicksal bewahren und hatte auf einer guten Bildung bestanden. Sie sollte entweder eine standesgemäße Ehe eingehen oder ins Kloster. Deshalb war sie mit dreizehn bei den Nonnen in der Stadt auf die Schule gegangen und hatte sich als ein intelligentes, wissbegieriges Mädchen erwiesen. Sie konnte lesen, schreiben und rechnen, aber bei den Nonnen lernte sie auch viel über die Natur und Heilkunst. Sie erfuhr im Klostergarten alles über heilende Kräuter und ihre Zubereitung. Das Leben war schön und es lief wie geplant - bis der Krieg dazwischen kam.

Vom ersten Überfall hatte sie gar nichts mitbekommen. Sie war vierzehn, wurde bei den Nonnen als Novizin behandelt und wohnte meistens im Kloster. Als sie Tage nach dem Überfall von diesem hörte, eilte sie nach Hause und konnte zu ihrer Erleichterung feststellen, dass es ihren Eltern und dem Gesinde den Umständen entsprechend gut ging. Auch sonst war das Dorf relativ glimpflich davon gekommen - nur der Hof Harms war verwüstet. Bauer Harms hatte sich gegen die Forderungen der Soldaten nach Unterkunft und Verpflegung zur Wehr gesetzt und das mit seinem Leben bezahlt. Auch seine Familie und die Mägde wurden grausam umgebracht – nur die beide Knechte überlebten, aber nur weil sie zur Zeit des Überfalls auf dem Feld waren. Diese Nachricht betrübte Hedwina sehr, denn der jüngste Sohn, Johannes Harms, war als ihr zukünftiger Ehemann auserkoren worden.

Der zweite Überfall fand ebenfalls während ihrer Abwesenheit statt. Sie verweilte auf der Burg Dinklage, als das Dorf geplündert und platt gebrannt wurde. Nur wenige Dorfbewohner überlebten dieses Massaker. Alle anderen, darunter ihre Eltern, wurden brutal ermordet. Der Hof Moorseite war dem Erdboden gleich gemacht worden, Vieh und Ernte verschwunden. Die Leichen ihrer Eltern wurden in der Brandruine gefunden und neben der zerstörten Kirche beerdigt. Sie betete am Grab ihre Eltern und beklagte, dass alles was sie hatte hier auf diesem Friedhof begraben liegt. Dann ging sie zum Grab der Familie Harms, kniete hin und sprach auch für sie ein Gebet. Sie realisierte plötzlich, dass hier ihre Zukunft beerdigt worden war und im Grab der Eltern ihre Vergangenheit. Sie stand auf und schaute abwechselnd auf beide Gräber.

„Hedwina von Moorseite“, hatte sie damals zu sich selber gesagt, „du bist jetzt alleine. Ohne Vergangenheit, ohne Zukunft! Und das alles nur wegen dieser Kriegsherren und ihren wütenden Horden! Der Teufel soll sie holen!“

Sie hatte darauf den Friedhof verlassen und sich auf den Weg ins Kloster gemacht. Die Gemeinschaft mit den Nonnen war jetzt das Einzige, was ihr noch geblieben war. Sie nahm ihre Arbeit wieder auf und lernte noch begieriger als vorher. Sie konzentrierte sich seitdem fast ausschließlich auf die Heilkunde und las alles was die Klosterbibliothek hergab.

Die Nachrichten, die währenddessen von außen kamen, waren nicht direkt beruhigend. Viele Menschen hatten in den letzten Jahren ihr Leben verloren, viele Gräueltaten waren geschehen, das sinnlose Gemetzel hatte die Bevölkerung dezimiert. Es wurde gemordet, geplündert und manchen Bauern und Landarbeitern blieb nicht anderes als sich der nächsten Armee anzuschließen. Sie waren weder kriegserfahren noch hatten sie Lust auf einen Feldzug, aber nach der zweiten oder dritten Plünderung ihres Dorfes hatten sie nichts mehr zu verlieren und waren gezwungen, selber ihren Lebensunterhalt mit Plündern zu bestreiten. Wenn sie es überlebten und heimkehrten waren sie andere Menschen geworden. Sie waren keine Opfer mehr, sondern prahlten mit ihren Schandtaten und lobten ihre ach so mutigen Feldherren.

Und genau in so einem Moment war es passiert. Es war jetzt fast zwei Monate her, als eine Horde Söldner sich in der Nähe des Klosters niedergelassen und eine Unterkunft mit Verpflegung verlangt hatte. Es waren sieben ungepflegte Raufbolde im Dienst der Schwedischen Armee und zwei von denen stammten von hier. Sie waren mehrere Jahre weg gewesen und nicht wiederzuerkennen. Vor allem der Sohn des Klostermüllers, Johannes Siefken, gerade mal 28 Jahre alt, sah mit langem Bart und tiefen Falten im Gesicht aus wie ein alter Mann. Er schien der Anführer der Truppe zu sein und war wohl der Grund dafür, dass sie sich relativ gesittet benahmen – es wurde nichts geraubt und niemand vergewaltigt – es wurde nur gesoffen! Tag und Nacht! Dabei erzählten sie ständig ihre Kriegserlebnisse! Es waren widerliche Geschichten mit Mord, Vergewaltigung und Plünderung. Aber da die Opfer Katholiken waren, war das alles in Ordnung, denn schließlich gehörten sie zum Feind und waren den Protestanten gegenüber auch nicht zimperlich. Sie brauchten nur an die Zerstörung von Magdeburg vor zwei Jahren mit zwanzigtausend Toten durch Tilly und Pappenheim zu erinnern, um ihre eigen Gräueltaten als Rache und Vergeltung zu rechtfertigen.

Am dritten Tag meinten einige der Raufbolde, dass sie jetzt ein bisschen Spaß mit den Nonnen haben wollten. Anschließend könnten sie das Kloster ausrauben und niederbrennen. Sie griffen sich ein paar verschreckte Nonnen, rissen ihre Hauben herunter und wollten sich an den Habit machen, als Hedwina von Moorseite wutentbrannt aufsprang und mit lauter Stimme schrie:

„Verflucht seit ihr alle! Verflucht seien eure Familien und verflucht euer Glauben! Aber der höchste Fluch gehört eurem König und Anführer, der euch ermutigt und gewähren lässt! Verflucht sei Gustav Adolf von Schweden und verflucht seine Kriegsherren!“

Die Soldaten erschraken ob dieser plötzlichen verbalen Gewalt und des flammenden Blickes der dunkelhaarigen Frau. Sie ließen die Nonnen gehen und ein Tumult brach los, der nur von der lauten Stimme des Johannes Siefken unterbrochen wurde.

„Genug!“, rief er, „Es ist genug! Meine Familie und ich haben diesen Frauen hier viel zu verdanken und ich will nicht, dass denen auch nur einen Haar gekrümmt wird! Wir ziehen ab! Nehmt so viel Wein mit wie wir tragen können, Proviant für die nächsten Tage und dann ziehen wir weiter. Bali Aba und neue Heldentaten erwarten uns.“

Keiner der Raufbolde traute sich, ihm zu widersprechen. Bali Aba war der Anführer der über vierzig Mann starken Söldnertruppe und sie wussten um das gute Verhältnis zwischen den beiden. Also packten sie murrend ihre Sachen. Sie leerten den Weinkeller bis auf die letzte Flasche und machten die Pferde des Klosters für den Abtransport bereit. In den frühen Morgenstunden verließen sie den Ort in Richtung Osnabrück. Im Kloster atmeten die Nonnen auf, es kehrte wieder so etwas wie Normalität ein.

Das war jetzt über einen Monat her und sie wurde inzwischen gejagt – Tag und Nacht! Woher hätte sie wissen können, dass Gustav Adolf von Schweden genau an dem Tag starb, als sie ihn verfluchte. Der schwedische König war tatsächlich letzten November in der Schlacht bei Lützen gefallen und die Soldaten, die zu der Zeit im Kloster waren, als sie ihren Fluch aussprach, gaben ihr die Schuld. Die Nonnen wurden gewarnt, dass sie zurückkommen würden, um sie dafür zu bestrafen und das Kloster niederzubrennen. Sie waren sich nicht ganz sicher, doch sie vermuteten, dass es Johannes Siefken gewesen war, der ihnen die Nachricht hatte überbringen lassen.

Hedwina hatte der Äbtissin vorgeschlagen, dem Überbringer der Nachricht einen heftigen Streit vorzuspielen, worauf hin sie das Kloster wutentbrannt verlassen würde. Sie wollte so die Angreifer vom Kloster ablenken in der Hoffnung, dass die anderen Nonnen verschont blieben. Es war schließlich ihr Fluch gewesen, der die Klostergemeinde in Schwierigkeiten gebracht hatte. Die Äbtissin stimmte nach anfänglichem Zögern zu und ließ Hedwina schweren Herzens gehen. Der Überbringer der Nachricht hatte den Streit tatsächlich mitbekommen, beschloss aber, nicht seinem Auftraggeber, sondern seinem obersten Dienstherren, Bali Aba, darüber zu berichten.

Hedwina von Moorseite hatte gehofft, dass die Bande nach ein paar Tagen aufgeben würde, aber sie waren hartnäckiger als sie gedacht hatte. Ihr Pferd hatte sie vor zwei Tagen zurücklassen müssen, denn es hinkte, und ohne wäre sie schneller. Ihre Kleidung war zerrissen, ihre Schuhe nass – sehr nass, wie sie plötzlich feststellte. Sie stand bis zu den Knöcheln im Wasser und bemerkte trotz der Finsternis, dass sie am Ufer eines Sees stand.

Ihre Lage schien aussichtslos – hinter ihr die Verfolger und vor ihr ein See. Sie war kurz vor einem Schreikrampf, als sie das kleine Boot erkannte. Es war wirklich nicht groß, aber eindeutig ein Geschenk des Himmels! Damit würde sie ans andere Ufer gelangen können und ihre Verfolger abschütteln. Sie bestieg das kleine Boot und fand einen langen Stab zum Staken. Sie stieß das Boot vorsichtig vom Ufer ab. Der See war nicht sehr tief, denn der Stab reichte höchstens einen Meter ins Wasser, deshalb fiel ihr das Staken leicht. Nach einer kurzen Zeit steckte sie den Stab im Boden fest und setzte sich langsam hin. Sie hielt den Stab krampfhaft fest, damit das Boot nicht umkippte oder abdriftete. Sie war jetzt ganz leise und horchte. Gab es da Stimmen? Tatsächlich hörte sie mehrere Männerstimmen, die sich rasch näherten. Das konnten nur ihre Verfolger sein! Sie hörte sie fluchen, als sie das Wasser erreicht hatten und sah wie sie eine Fackel anzündeten. Die Feuerglut konnte sie gut sehen, aber die Männer blieben in der Dunkelheit verborgen. Sie machte sich ganz klein und hoffte das keiner sie oder das Boot bemerken würde. Dann sah sie, wie nach und nach andere Fackeln entzündet und verteilt wurden. Die Fackeln bewegten sich am Ufer entlang in beide Richtungen. Nach links und nach rechts liefen sie und langsam beschlich sie das ungute Gefühl, dass sie bald von Fackeln umzingelt sein würde. Mit Schrecken sah sie, wie die ersten Fackeln sich am anderen Ufer trafen.

Sie saß in der Falle! Der See war kleiner als sie gedacht hatte und sie befürchtete, dass er ihr Grab werden könnte. Zum Überfluss ging der Regen in Schnee über, ihr wurde kalt. Sie war müde, das Ende schien nah zu sein. Sie war traurig und wütend zugleich. Sie hatte noch soviel vor gehabt in ihrem Leben und jetzt würde sie todsicher sterben - ermordet von dem grausamen Kriegsvolk um sie herum. Sie stand wieder auf und hielt sich dabei immer noch am Stab fest.

„Ich verfluche euch!“, rief sie so laut sie konnte. „Ich verfluche euch Soldaten der Finsternis! Ich werde sterben, aber in der Hölle auf euch warten!“

Sie wollte noch einen Fluch hinzufügen, aber das Boot wackelte derart, dass sie das Gleichgewicht verlor und ins Wasser stürzte. Fast im gleichen Moment gab es plötzlich ein furchtbar grelles Licht und einen ohrenbetäubenden Knall...

***

Mittwoch 15. Oktober

Edda Devries war wie gewohnt morgens die Erste in der Verwaltung des Freilichtmuseums. Sie lüftete, kochte Kaffee und genoss die Ruhe. Nach einer halben Stunde kam ihre Zimmergenossin Lucy, kurz darauf die restlichen Kolleginnen und Kollegen.

„Dein Kaffee ist wie immer ausgezeichnet!“, sagte Lucy und nahm noch einen Haferkeks. Das war ein Ritual, dass sich seit langer Zeit immer wiederholte. Kaffee mit Haferkeks war ihr Lieblingsfrühstück, ohne das lief nichts.

„Hast du schon die Zeitung gelesen?“, fragte sie Edda zwischen zwei Haferkeksen.

„Nein, noch nicht. Wieso?“

„Da ist ein großer Bericht drin über den Leichenfund in unserem Museumsteich!“

„Echt? Was steht denn da?“

„Also, es scheint, dass der Fund eine historische Bedeutung hat, denn das Skelett ist wahrscheinlich mehrere hundert Jahre alt.“ Lucy nahm noch einen Schluck Kaffee und fuhr fort. „Sie vermuten, dass es eine erwachsene Frau war, aber das genaue Alter ist noch unklar. Dann haben sie auch noch einen Armreif gefunden und BMW meinte in einem Interview, dass sie dadurch die Tote möglicherweise identifizieren könnten.“

„Oh Gott, da hat BMW sich aber weit aus dem Fenster gehängt!“, meinte Edda. Die Kollegen nannten Frau Dr. Bernadotte Meyer-Weidenlust gerne BMW, das sparte Zeit. Natürlich vermied man es, in ihrem Beisein diese Abkürzung zu benutzen, aber offenbar hat sich irgendjemand irgendwann mal verplappert, denn die Museumsdirektorin kannte die Abkürzung und konnte sehr ungehalten reagieren, wenn sie sie hörte.

„Das weiß ich nicht, aber in dem Interview erklärte sie, dass nicht jede Frau so einen Armreif getragen hat und sich deshalb ihre Identität soweit einkreisen lässt, dass mit ein bisschen Glück ein oder zwei Namen übrigbleiben.“

„Meine Güte“, sagte Edda, „da hat sie sich was vorgenommen. Ich halte das für ziemlich ausgeschlossen. Es ist nicht bekannt wie alt die Frau war, wann sie gestorben ist und ob dieser Armreif überhaupt ihr gehört hat. Ich wäre mit meinen Aussagen etwas vorsichtiger gewesen.“

„Der Kollege vom Anthropologischen Museum – seinen Namen habe ich vergessen - war da tatsächlich deutlich zurückhaltender. Er machte so gut wie keine Angaben, nur soviel, dass er sich auf die Arbeit freut.“

„Das ist recht vernünftig, aber was ist das überhaupt für ein Lärm auf dem Flur?“, unterbrach Edda. Eine laute Stimme drang ins Büro. Sie liefen auf den Flur, um zu sehen, was da los ist. Notte stand wild gestikulierend mit seinem Handy am Ohr mitten im Flur und wurde immer lauter. Frau Dr. Meyer-Weidenlust stand etwas ratlos daneben. „Das kann doch nicht wahr sein!“, hörten sie Notte sagen. „Schicken Sie ihn einfach weg!“ Notte legte seine Hand auf das Handy und sagte leise: „Pastor Grolltewurst!“ zu seiner Chefin. Die zuckte nichts begreifend mit den Schultern. „Okay“, sagte Notte dann wieder ins Telefon, „wir kommen!“

„Wer ist Pastor Grolltewurst?“, fragte die Chefin.

„Das ist eine etwas längere Geschichte“, meinte Notte, „ich kann sie Ihnen unterwegs erzählen, aber jetzt sollten wir uns zum Museumsteich begeben, bevor er noch mehr Unheil anrichtet.“ Dann schnappte er sich seine Jacke und verließ die Verwaltung. Frau Dr. Meyer-Weidenlust folgte ihm. Selbstverständlich liefen auch Edda und Lucy zum Teich, denn es war offensichtlich, dass sich da etwas abspielte, das sie nicht verpassen wollten. Unterwegs fing Notte an, über Pastor Grolltewurst zu erzählen. Das war ein alter Priester, der den einen Teil seines Lebens als Missionar im Ausland und den anderen im Kloster verbracht hatte. Die letzten Jahre im Kloster hatten dazu geführt, dass er den Kontakt zur Außenwelt verlor und ein wenig weltfremd geworden war. Er war tief religiös und ultrakonservativ, aber seine Predigten – meist richtige Donnerpredigten - waren gut besucht. Sie waren voller Drohungen über das Unheil in der Gesellschaft und den Unwillen der Menschen, sich in Demut ihrem Schicksal zu fügen. Gott hat, seiner Meinung nach, darauf bestanden, dass der Mensch leiden muss und wenn er das nicht macht, ist das das Werk des Teufels. Dieser Fanatismus wäre kein Problem gewesen, wenn da nicht eine gehörige Portion Altersdemenz hinzugekommen wäre. Er litt zunehmend unter religiösen Wahnvorstellungen und berichtete von Visionen oder Wundern. Die Leitung des Klosters wollte ihn aus der Öffentlichkeit zurückziehen, aber er war unbelehrbar. Er hatte immer noch seine Anhängerinnen, etwa vier oder fünf ältere Frauen, die ihn verehrten. „Sie nennen sich die Schwesterngemeinde“, meinte Notte zum Schluss. Frau Dr. Meyer-Weidenlust schüttelte den Kopf und äußerte ihr Unverständnis über ein Klosterleben, das so etwas hervorbringen würde.

Als sie am Museumsteich ankamen, sahen sie die Bescherung. „Ach du meine Güte“, sagte Edda folgerichtig, „da haben wir die Bescherung!“

Ein älterer Herr in Soutane – offensichtlich Pastor Grolltewurst - stand mit hochrotem Kopf mitten im Schlamm vor seinen Anhängerinnen. In der linken Hand hielt er ein Weihwassergefäß, mit der rechten segnete er mit einem überdimensionierten Pinsel den ganzen Schlamm und die Baggerfahrer. Die standen etwas unsicher am Rand des Teiches und wussten nicht recht, was sie machen sollten. Einerseits fanden sie das Spektakel irgendwie lustig, aber andererseits behinderte es die Arbeit. Die Bergung des Skeletts am Vortag hatte schon genug Zeit gekostet. Dazu kam, dass sie aus einer evangelischen Region kamen und das ganze Ritual mit dem Pinsel nicht im Ansatz verstanden. Der Pastor redete mit lauter Stimme unentwegt, segnete dieses und jenes und verfluchte gleichzeitig die Frevler, die die Gebeine der Heiligen Hedwina entweiht und abtransportiert hatten. Den Anthropologen traf ein besonders harter Fluch mit Hölle und Feuer, garniert mit einer Prise Verdammnis, und ein unerwarteter Stoß in die Rippen von einer der Anhängerinnen. Er wich zurück, stolperte über einen Rollator, der bis zur Sitzfläche im Schlamm steckte und fiel rücklings in denselben. Die Besitzerin des Rollators verlor daraufhin ebenso das Gleichgewicht und landete auf seinem Bauch. Einer der Baggerfahrer nahm sein Handy, um das ganze Geschehen zu fotografieren. Der Andere drehte sich nur um und begab sich laut lachend zu seinem Bagger. Da blieb er stehen, wischte sich die Tränen aus den Augen und rief seinen Chef an.

Pastor Grolltewurst nahm das Missgeschick der alten Dame gar nicht wahr und polterte weiter. Jetzt richtete sich sein Zorn gegen die Museumsdirektorin, erstens weil sie eine Frau war und zweitens weil sie ihn angeschaut hatte, statt ihren Blick zu Boden zu richten. Er mochte nur demütige Frauen, die vor ihm auf die Knie gingen und seine Soutane beziehungsweise manchmal die Füße küssten. Und diese Frau stand immer noch und schaute ihn immer noch an! Hölle und Verdammnis!

„Ist der denn von allen guten Geister verlassen?“, fragte sie Notte, „Der hat doch nicht mehr alle Latten am Zaun, oder?“

„Das kommt auf die Sichtweise an“, meinte Notte taktvoll, „die guten Geister haben ihn tatsächlich wohl verlassen – allerdings sieht er das selber etwas anders und wie Sie sehen, auch einige andere Leute.“ Er wies auf die älteren Damen und machte sich auf, die Besitzerin des Rollators aus dem Schlamm zu befreien. Er stieg in den Matsch und reichte ihr die Hand. Sie wies die aber zurück und stand selbständig auf.

„Ein Wunder, ein Wunder!“, schrie sie, „Ich kann wieder stehen!“ Dann wankte sie unsicher und wäre wieder in den Schlamm gefallen, wenn der Anthropologe nicht dazwischen gewesen wäre. Der hatte sich gerade aufgesetzt, wurde aber durch das Gewicht der alten Dame wieder in seine vorherige Position zurückgedrängt.

„Ein Wunder! Ein Wunder!“, schrie jetzt auch Pastor Grolltewurst, ging auf die Knie und wollte die Erde küssen, besann sich aber eines Besseren als seine Nase kurz vor dem Schlamm war. „Halleluja!“, rief er stattdessen und stand wieder auf. „Ein Wunder! Es ist wirklich geweihte Erde! Gelobt sei die heilige Hedwina! Halleluja!“

„Wir sollten dem Spektakel ein Ende machen“, sagte Frau Dr. Meyer-Weidenlust, „bevor es noch Tote oder Verletzte gibt!“ Sie ging auf Pastor Grolltewurst zu: „So Herr Pastor, Ende der Vorstellung! Bitte gehen Sie wieder nach Hause und lassen sie die Baggerfahrer wieder ihre Arbeit machen.“

„Weiche von mir, du Satansweib! Nähern Sie sich nicht der Grabstelle der heiligen Hedwina!“, schrie der Pastor weiter.

„Jetzt hören Sie Mal...“

„Weiche von mir, du Ausgeburt der Hölle!“

„Jetzt reicht es mir! Entweder Sie verlassen sofort das Museum und nehmen das Altenheim mit oder ich rufe die Polizei!“ Die Museumsdirektorin war jetzt richtig sauer, aber der Pastor blieb unbeeindruckt, stattdessen sank er wieder auf die Knie und fing an, zu der Heiligen Hedwina zu beten. Seine Schwesterngemeinde versuchte ebenfalls auf die Knie zu gehen, aber nachdem die Erste seiner Anhängerinnen der Länge nach in den Schlamm gefallen war, verzichteten die anderen darauf und beteten im Stehen.

„Es reicht jetzt wirklich!“, sprach die Chefin, „Herr Notte, rufen sie bitte die Polizei und lassen Sie sicherheitshalber auch einen Arzt kommen. Es gibt bestimmt gleich ein paar Arthritis-Notfälle.“ Notte rief die Polizei an, ließ einen Notarzt kommen und benachrichtigte den Freund des Sohnes der Schwägerin seiner Schwester. Der traf gleichzeitig mit dem Krankenwagen ein und machte eifrig Notizen und Fotos.

Edda und Lucy standen die ganze Zeit daneben. Sie trauten ihren Augen nicht. „Das ist besser als Kino!“, sagte Lucy.

„Wesentlich besser!“, sagte Edda. „Wesentlich besser!“

***

Nachdem die Polizei Pastor Grolltewurst und seine Anhängerinnen mit sanfter Hand aus dem Museum begleitet hatte, kehrte wieder Ruhe ein. Der Anthropologe war in sein Hotel gefahren, um sich umzuziehen und die Baggerfahrer arbeiteten weiter. Frau Dr. Meyer-Weidenlust und Notte machten sich mit Edda und Lucy wieder auf den Weg in die Verwaltung. „Wer ist diese heilige Hedwina eigentlich?“, wollte die Chefin wissen, aber keiner ihrer drei Angestellten wussten eine Antwort.

„Ich habe keine Ahnung!“, sagte Notte. „Man könnte vielleicht Pastor Grolltewurst fragen, aber ich könnte mir ebenso vorstellen, dass er nicht mehr mit uns reden will.“

„Mich dürfen Sie nicht fragen! Ich bin nicht katholisch!“, sagte Edda.

„Ich kann gleich mal schauen, ob ich etwas herausfinden kann“, meinte Lucy, „Die Nachbarin meiner Oma kennt sich mit Heiligen aus und hat auch einige Bücher über Heiligenverehrung. Wenn es eine heilige Hedwina gibt, weiß sie das bestimmt.“

„Machen Sie das“, sagte Frau Dr. Meyer-Weidenlust zustimmend, „wenn wir eine Heilige im Teich haben, möchte ich das wissen. Geweihte Erde ist schon schlimm genug!“

Notte blieb plötzlich stehen und überlegte etwas. Als seine Chefin ihn fragend anschaute, schüttelte er nur den Kopf. In der Verwaltung angekommen, ging er direkt in sein Arbeitszimmer und machte die Tür zu. Gleichzeitig kam Irmtraud Zumwinkel, die Sekretärin von Frau Dr. Meyer-Weidenlust, aus dem Vorzimmer und war sichtlich erleichtert, ihre Chefin zu sehen. „Ah, Frau Doktor, gut dass Sie wieder da sind! Ich habe einen Herrn von der Mühlenvereinigung am Telefon, der ein Interview mit Ihnen über die neue Wassermühle machen möchte.“

„Okay, meine Damen, wie Sie sehen ruft die Arbeit“, sagte Frau Dr. Meyer-Weidenlust, „aber sehen Sie bitte zu, dass Sie etwas herausfinden über diese heilige Medina!“

„Hedwina!“, sagte Lucy noch, aber Irmtraud und die Chefin waren schon im Vorzimmer verschwunden und für den Rest des Tages nicht mehr erreichbar. „Ich werde besser direkt zu meiner Oma fahren und fragen, ob die Nachbarin zuhause ist. Umso schneller ich das mit unserer Heiligen geklärt habe, umso schneller kann ich mich wieder um meine Arbeit kümmern.“

„Mach das“, sagte Edda. „Ich kann in der Zwischenzeit im Internet nachforschen, ob etwas über unsere Hedwina bekannt ist.“ Lucy packte ihre Tasche, wünschte Edda noch einen ergebnisreichen Arbeitstag und machte sich auf den Weg zu ihrer Oma.

Edda schaltete ihren PC an, googelte ´Hedwina´ und landete gleich einen Treffer: Der Freund des Sohnes der Schwägerin von Nottes Schwester war sehr fleißig gewesen. Er hatte noch an Ort und Stelle einen Bericht online gestellt. Die Geschichte war wenig sachlich und ganz offensichtlich in aller Eile erstellt. Es wurde kurz über den Fund des Skeletts sowie des Armreifs berichtet, um anschließend einfach die Aussage von Pastor Grolltewurst zu übernehmen, dass es sich bei den sterblichen Überresten um die heilige Hedwina handelt. Es gab weder Beweise noch andere Argumente, die diese Schlussfolgerung belegen konnten. Edda war sauer, denn, so hatte die Erfahrung der letzten Zeit ergeben, wenn etwas im Netz steht, entspricht es für die Mehrheit der User automatisch der Wahrheit. Enttäuscht suchte sie weiter, aber das Ergebnis war nicht gerade überwältigend. Über die heilige Hedwina konnte sie auf die Schnelle nichts finden - nur einen kurzen Aufsatz über eine Hexe Hedwina, die sich selber in einem Höllenfeuer verbrannt haben soll, statt sich ordnungsgemäß auf einen Scheiterhaufen zu begeben. Die kurze Geschichte stand in einem kleinen Büchlein aus dem 19. Jahrhundert mit einer Sammlung alter Volksgeschichten, geschrieben von einem Dorfschullehrer. Wer der Lehrer war, wurde nicht erwähnt, eben sowenig der Buchtitel. Es ging in dem Beitrag nur darum, die Bemühungen von Dorfschullehrern darzustellen, solche Erzählungen für die Nachwelt zu erhalten. Dann fand sie noch einen Hinweis auf ein Kloster namens ´Sankt Hedwina´ - allerdings ohne Ortsangabe und Zeitraum.

Sie stand auf und holte sich einen Kaffee. Als sie wieder das Büro betrat, klingelte das Telefon. Sie meldete sich etwas lustlos mit ´Devries´, aber als sie Jeromes Stimme auf der anderen Seite der Leitung hörte, war sie plötzlich wieder voller Leben. Obwohl Jerome Vandenbordeele schon seit einigen Monaten nicht mehr im Museum arbeitete, hatten sie immer noch Kontakt. Es war allerdings schon drei Wochen her, dass sie sich zum letzten Mal gesprochen hatten, umso mehr freute sie sich über den heutigen Anruf. Nach den üblichen Begrüßungsformeln und der Frage nach dem Wohlbefinden der Enkelkinder kam das Gespräch auf die Arbeit im Museum. Edda erzählte ausführlich über die geplante Wassermühle, die Entschlammung des Dorfteiches und die Entwicklungen bezüglich der heiligen Hedwina. Sie vermied es aber, die Feldbahn zu erwähnen, denn diese Bahn war das letzte Projekt, das Jerome für das Museum gemacht hatte. Er hatte eine alte Feldbahnlokomotive samt Loren instandsetzen und eine kleine Bahn für Besucher errichten lassen. Leider war sein Werkvertrag mit der Fertigstellung beendet und Frau Dr. Meyer-Weidenlust hatte zwei andere – billigere - Arbeitskräfte für die Bedienung und Instandsetzung eingestellt. Als die ersten Probleme mit der Technik auftauchten, wurde ziemlich schnell klar, dass mit Jeromes Ausscheiden auch das technische Know-How verschwunden war. Seitdem stand die Bahn still und die kleine Lokomotive wurde langsam von einem neugierigen Efeu umrankt. Sie stand malerisch auf einem Stumpfgleis und war eines der beliebtesten Fotomotive im Museum.

„Das mit der Mühle ist schön“, sagte Jerome, als Edda eine kurze Atempause machte, „Schick mir bitte ein Foto und die Adresse, dann kann ich mir die mal vor Ort anschauen. Aber zu eurem Problem mit der heiligen Hedwina kann ich wenig sagen. Ich bin zwar katholisch erzogen und kenne einige Heilige, aber der Name sagt mir nichts. Ich kann mal bei meiner Familie in Belgien nachfragen. Die sind immer noch sehr katholisch und ich bin so etwas wie das schwarze Schaf. Die freuen sich bestimmt, wenn ich anrufe, denn im Grunde sind die alle ganz heiß darauf, mit mir zu reden.“

„Wieso sind die so heiß darauf mit einem schwarzen Schaf zu reden?“, fragte Edda etwas erstaunt. „Normalerweise redet man nicht mit solchen Leuten.“

„Meine Familie ist da etwas – sagen wir mal – verlogen. Als ich damals nach Amsterdam gezogen bin, war das für den Rest der Familie wie eine Reise in die Hölle. Sie wohnten auf dem Land, eine Großstadt war grundsätzlich ein Sündenpfuhl und Amsterdam der schlimmste. Drogen, Alkohol und vor allem freie Liebe – Sodom und Gomorrha! Aber als guter belgischer Katholik will, beziehungsweise muss man alles über die Sünde wissen, um ihr wirkungsvoll widerstehen zu können.“

„Aha“, sagte Edda lapidar. Sie war evangelisch erzogen und hatte es nicht so mit Sünden.

„Was wollt ihr denn genau wissen?“, fragte Jerome, „Wollt ihr den gesamten Lebenslauf und ihre Wundertaten oder reicht ein ungefähres Geburts- oder Sterbedatum?“

„Am liebsten wäre es BMW, wenn die Hedwina gar nicht existiert hätte, oder man wenigsten belegen könnte, dass sie nie hier gewesen ist. Sie möchte wieder Ruhe im Museum haben.“

Jerome musste lachen als er ´BMW´ hörte. Es war schon eine Weile her, dass er den Begriff gehört hatte und er wusste, dass der nichts mit einer bayrischen Automarke zu tun hatte.

„Okay, wenn BMW das möchte. Aber es wird nicht einfach sein zu beweisen, dass etwas nicht existiert hat.“

„Ich weiß,“ sagte Edda, „aber ich kenne mich mit so etwas überhaupt nicht aus und bin da etwas hilflos.“

„Die Wesermarsch kennt keine Heiligen – nur freiheitsliebende Bauern!“ sagte Jerome. Er wusste, dass Edda gebürtig daher kam und es da im Mittelalter eine unabhängige Bauernrepublik gab, die sich lange Zeit erfolgreich dem Bremer Bischof zur Wehr gesetzt hatte. Etwas von dem freien Bauer – in diesem Fall eine Bäuerin – steckte auch noch in Edda. „Ich werde heute Abend bei meiner Tante anrufen und sie mal nach der heiligen Heidi fragen.“

„Hedwina!“ sagte Edda und legte lachend auf.

***

Januar 1633

Er beherrschte sein Handwerk wie kaum ein Anderer und war so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen. Bali Aba war Soldat mit Leib und Seele und das seit dreißig Jahren. Sein Vater war ein unehelicher Sohn des Grafen von Tecklenburg und ein kräftiger, gut aussehender, aber vor allem abenteuerlustiger Mann gewesen, der auf der Burg seines Vaters aufgewachsen war. Kaum erwachsen verließ er sie, um die Welt kennenzulernen. Der Graf hatte ihn nicht offiziell als Sohn anerkannt, fand aber Gefallen an dem Jungen und überließ ihm eine Ausrüstung, sowie eine nicht unerhebliche Summe Geld. Seine Reisen führten ihn nach Italien und Nordafrika, wo er die orientalische Kultur kennenlernte, die ihn tief beeindruckte. Er nannte sich Graf von Tecklenburg. So verschaffte er sich Zutritt in die höchste Gesellschaft und lernte Arabisch. Seine Wissbegier und sein einnehmendes Wesen machten ihn zu einem gern gesehenen Gast am Hof.

Dort lernte er Aminah kennen, eine orientalische Schönheit aus gutem Hause. Sie heirateten und bald darauf wurde ein Sohn geboren. Er bekam den Namen Bali Aba, nach dem Urgroßvater mütterlicherseits. Zwei Jahre nach seiner Geburt hatte seine Mutter Aminah eine Fehlgeburt und starb kurz darauf. Sein Vater hatte diesen Verlust nie überwunden und kehrte sechs Jahre später mit seinem Sohn zurück nach Tecklenburg, wo er aber nie wieder heimisch wurde. Auf der Burg residierte ein neuer Graf und nur wenige konnten sich an ihn erinnern. Mit Mühe und Not bekam er eine kleine Kate im Dorf zugewiesen, sein Sohn durfte beim Gesinde auf der Burg aufwachsen. Bali Aba war ein temperamentvoller Bursche und schien vor nichts und niemandem Angst zu haben. Er konnte gut mit dem Schwert umgehen und war schnell im Zweikampf. Als sein Vater verstarb und auch der Graf kurz darauf das Zeitliche segnete, verließ er die Burg. Eine Weile verdiente er seinen Lebensunterhalt als Knecht, Landarbeiter und Söldner, bis er sich den Truppen der Protestantischen Union anschloss.

Dass er heute immer noch am Leben war, hatte er nicht nur seinen Fähigkeiten, sondern auch einer gehörigen Portion Glück zu verdanken. Mittlerweile war er Hauptmann und Befehlshaber einer vierzig Mann starken Truppe.

Dann starb König Gustav Adolf genau an dem Tag, an dem er von der Nonne verflucht wurde. Als Bali Aba die Todesnachricht erreichte, war ihm klar, dass er diese Tat nicht ungesühnt lassen konnte. Auch war klar, dass diese Nonne eine Hexe sein musste, denn nur die können so einen mächtigen Fluch aussprechen. Als dann der Bote aus dem Kloster von Hedwinas Flucht berichtete, hatte er sofort die Verfolgung aufgenommen. Es sollte eigentlich ein Kinderspiel werden, sie zu fassen, aber was er in dieser Nacht erleben sollte, würde sein Leben verändern.