Tot am Tisch - Willem van Schie - E-Book

Tot am Tisch E-Book

Willem van Schie

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Beschreibung

Sie saß tagelang Tot am Tisch und keiner nahm Notiz. Es war nur der empfindlichen Nase des Pathologen Prof. Dr. Wörner zu verdanken, dass ihr beklagenswerter Zustand entdeckt wurde. Der Gestank, den die Kaffeerunde in der größten Hofanlage des Freilichtmuseums verbreitete, wurde bis dahin von großen Mengen ´Tannenwald Extra Frisch´ übertüncht. Wörners schreckliche Entdeckung bringt die sonst so beschauliche Museumswelt gehörig durcheinander. Nicht nur die Polizei versucht das Verbrechen aufzuklären, sondern auch die Museumsangestellten Edda, Lucy und Jerome machen sich auf die Suche nach möglichen Motiven. Sie setzen damit ungewollt eine Entwicklung in Gang, die außer Kontrolle gerät und sich nicht mehr aufhalten lässt. Aber erst mal einen Kaffee...

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Seitenzahl: 554

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für Oliver

Alle Personen in diesem Buch sind meiner Phantasie entsprungen. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Weder das Freilichtmuseum, in dem diese Geschichte spielt, noch das Personal dieses Museums, noch das benachbarte Bielefeld existieren in der Wirklichkeit.

Inhaltsverzeichnis

Was bisher geschah...

Mittwoch 22. Mai

Montag 27. Mai

Dienstag 28. Mai

Mittwoch 29. Mai

Donnerstag 30. Mai

Freitag 31. Mai

Samstag 1. Juni

Sonntag 2. Juni

Montag 3. Juni

Dienstag 4. Juni

Mittwoch 5. Juni

Donnerstag 6. Juni

Freitag 7. Juni

Samstag 8. Juni

Sonntag 9. Juni

Montag 10. Juni

Dienstag 11. Juni

Mittwoch 12. Juni

Donnerstag 13. Juni

Freitag 14. Juni

Samstag 15. Juni

Sonntag 16. Juni

Montag 17. Juni

Dienstag 18.Juni

Mittwoch 19. Juni

Donnerstag 20. Juni

Freitag 21. Juni

Samstagmorgen 22. Juni

Sonntag 23. Juni

Montag 24. Juni

Dienstag 25. Juni

Mittwoch 26. Juni

Donnerstag 27. Juni

Freitag 28. Juni

Samstag 29. Juni

Montag 1. Juli

Epilog

Und wie geht’s es weiter...?

Was bisher geschah...

Eigentlich nichts, liebe Leserinnen und Leser, eigentlich so gut wie gar nichts. Denn diese Geschichte spielt in einem Museum und da passiert im Grunde nie etwas. Ein Museum lebt nun mal von der Darstellung der Vergangenheit. In einem Kunstmuseum hängen zum Beispiel Gemälde, die vor langer Zeit gemalt wurden. Die Farbe ist trocken und die Künstler sind tot. Oder nehmen wir ein Textilmuseum: Hier werden Kleidungsstücke und Bettwäsche gezeigt, die mehr als einmal benutzt wurden und zudem völlig aus der Mode sind. Auch in dem Freilichtmuseum, wo wir uns gleich befinden, gibt es ebenfalls nichts Neues. Hier stehen Häuser, Scheunen und Werkstätten, die eines gemeinsam haben: Sie sind alt. Früher wurde in den Häusern gelebt, sie wurden umgebaut, erweitert und verschönert. Es passierte dauernd etwas, aber heute, im Museum, ändert sich nichts mehr. So ist es in einem Museum; es ist alles schon geschehen und vorbei. Geschichte eben. Es liegt also in der Natur eines Museums, dass selten Aufregendes geschieht.

Und doch ist jetzt etwas geschehen! Wir, Sie und ich, wissen, dass etwas passiert sein muss! Und zwar so bedeutend, dass man ein Buch darüber schreiben konnte. Aber in einem Museum merkt man das nicht sofort. Dafür sollten wir Verständnis haben, schließlich ist man im Museum auf Altes fixiert. Das Neue wird erst interessant, wenn es alt ist und deshalb dauert im Museum alles etwas länger.

So fängt unsere Geschichte ganz harmlos an. Es ist neun Uhr früh und ein normaler Mittwochmorgen. Die Museumsangestellten haben sich versammelt und warten auf das Ereignis des Monats: die Dienstbesprechung....

Mittwoch 22. Mai

„Guten Morgen liebe Kolleginnen und Kollegen!“ Gut gelaunt wie immer betrat Frau Doktor Bernadotte Meyer-Weidenlust, die Direktorin des Freilichtmuseums, den Raum, in dem die Angestellten bereits eine Viertelstunde auf dieses Erscheinen warteten. Das taten sie übrigens an jedem vierten Mittwoch im Monat. Außer im Dezember, denn da fand die Dienstbesprechung wegen Weihnachten am zweiten Mittwoch statt. Sie saßen in dem sogenannten Vortragssaal im Eingangsgebäude - einem Raum, der für viele Zwecke genutzt wurde.

Fast alle Kolleginnen und Kollegen waren da: die Handwerker aus der Werkstatt, die wissenschaftlichen Mitarbeiter, die Chefsekretärin, der Leiter der Gärtnermannschaft, der Depotverwalter, die Verwaltungsangestellten und der Leiter der Museumspädagogen. Die Dienstbesprechungen wurden von den Kollegen allerdings sehr unterschiedlich empfunden; für einige bedeuteten sie nicht mehr als eine Stunde extra Schlaf zwischen dem ersten und zweiten Frühstück, für andere dagegen war es die monatliche Gelegenheit zur Selbstdarstellung. In der Regel waren sie nicht besonders spannend oder aufregend, aber Frau Dr. Meyer-Weidenlust legte großen Wert auf sie.

Bei ihrem Amtsantritt war sie erst 34 Jahre alt und zu der Zeit eine der jüngsten Museumsdirektorinnen in Deutschland. Sie war bestens ausgebildet - sie wusste alles über die Batiktechnik in Indonesien und die Geschichte der westeuropäischen Unterwäsche im 19. Jahrhundert. Gleichzeitig aber hatte sie wenig Erfahrung mit den Banalitäten des Lebens. Das Kochen viel ihr schwer und haushaltsübliche Tätigkeiten waren ihr ein Graus. Direkt nach dem Studium hatte sie in einem Textilmuseum angefangen und ihren Doktortitel gemacht. Dann folgte, dank ihrer fundierten Kenntnisse über die erwähnte westeuropäische Unterwäsche und der tatkräftigen Hilfe ihres Vaters, einem hoch geschätzten Historiker und Hochschullehrer, eine steile Karriere. Es erschienen viele Artikel und Aufsätze und auch sonst war sie sehr fleißig.

Zu den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Museums gehörte auch Edda Devries. Sie empfand im Gegensatz zu ihrer Chefin die Dienstbesprechungen eher als Zeitverschwendung. Selbstdarstellung und Lobhudelei waren überhaupt nicht ihr Ding und deswegen ging sie nur noch zu den monatlichen Sitzungen, wenn wichtige Themen zur Sprache kommen würden, oder wenn sie oder ihre Zimmergenossin Lucy über ihre Arbeit berichten sollten. Sie fühlte sich verpflichtet, ihre junge Kollegin wenigstens durch ihre physische Anwesenheit moralisch zu unterstützen. Lucy - mit vollem Namen Dr. Lucinda Prickelmann - war Kunsthistorikerin und hatte erst seit kurzem ihren Doktortitel. Sie arbeitete an einem Projekt über Zinngeschirr. Auf der heutigen Sitzung würden weder Edda noch Lucy über ihre Arbeit berichten, dass sie dennoch zur Dienstbesprechung gingen, war Zufall und muss als eine Laune der Natur betrachtet werden. Ohne ihre Teilnahme hätte unsere Geschichte bestimmt einen anderen Verlauf genommen.

Frau Doktor Meyer-Weidenlust ergriff das Wort und lobte als erstes die Eröffnung der Ausstellung ´Die Methodik der Ziselierung der liturgischen Objekte und ihre Diskrepanz zum aufkommenden Atheismus im ausgehenden 18. Jahrhundert´ am letzten Donnerstag. Sie dankte allen Angestellten ausführlich für ihren Einsatz und vergaß nicht zu erwähnen, wie wichtig doch die wissenschaftliche Arbeit für das Renommee des Museums sei. Dass bis jetzt kaum jemand diese Ausstellung besucht hätte, liege wohl am schönen Wetter der letzten Tagen, oder an den vielen Baustellen auf der Autobahn und spielte in Anbetracht der positiven Reaktionen in der Fachpresse und Nachfragen von Museumskollegen aus der gesamten Bundesrepublik nur eine untergeordnete, wenn nicht gar unbedeutende Rolle. Denn das Thema sei eigentlich spannend genug für drei Ausstellungen.

Plötzlich ertönte die französische Nationalhymne, die „Marseillaise“, im Raum. Der gerade friedlich eingenickte Tischler erschrak dermaßen, dass er vom Stuhl fiel.

„Tschuldigung!“, sagte Notte, der Verwaltungsleiter, „könnte wichtig sein!“ Er nahm sein Handy aus der Hosentasche und verließ den Raum. „Aber Herr Notte!“, rief Frau Doktor Meyer-Weidenlust ihm noch hinterher, „kann das nicht warten?“ Aber gegen sein Handy war auch sie machtlos. „Männer!“, sagte sie leise vor sich hin und sprach sofort das nächste Thema an. Eine Sache, die ihr besonderes am Herzen lag: die neue Inszenierung im Altenteil des Bierumerweinhofes.

Sie sprach ein besonderes Lob aus für diese gelungene Darstellung. Vor zwei Tagen, am Pfingstmontag, hatte sie sich bei einem Spaziergang über das Museumsgelände mal so richtig Zeit genommen die Inszenierung genau anzusehen und sie war - bis auf ein paar Kleinigkeiten - sehr zufrieden. Die Darstellung einer kleinen Kaffeerunde mit Frauen aus der bäuerlichen Oberschicht sei in ihrer Detaillierung bestens gelungen. „Vor allem die gastgebende Bäuerin macht einen sehr realistischen Eindruck, sie ist ja fast lebendig und dann ihre Kleidung! Da hat unser - wo sitzt er? - Depotverwalter ganze Arbeit geleistet.“

Diverse Kollegen schauten den Depotverwalter fragend an. Der wiederum schaute genauso fragend die Chefin an, die allerdings solche mimischen Feinheiten kaum wahrnahm.

„Und natürlich ein besonderes Dankeschön an Frau Dr. Meranti, die uns im Rahmen ihres Werkvertrages diese so naturgetreue Inszenierung quasi als Abschiedsgeschenk hinterlassen hat. Vielen Dank!“

Bevor noch weitere fragende Blicke in den Raum geworfen werden konnten, stand plötzlich die Putzfrau auf. Sie war eine gemütliche, etwas rundliche Frau, lieb, hilfsbereit und sehr fleißig. „Alles schön und gut, Frau Doktor“, sprach sie in ihrem breiten norddeutschen Akzent, „aber es wäre bannig moi wesen, wenn der Depotkollege die Klamotten vorher waschen hätt. Sie muffeln doch ein wenig. Ich sprühe schon alle twee Stünn Tannenduft, aber ich krieg` den Mief neet rut. Und mien Schlötel passt ok neet!“

Die Chefin schaute etwas irritiert, weil sie immer noch Schwierigkeiten mit der Plattdeutschen Sprache hatte. „Ich bin froh, dass Sie das erwähnen“, sagte sie mit einem Lächeln und überspielte ihre Gefühle in gewohnt professioneller Weise. „Es wird sicherlich das warme Wetter der letzten Tage sein. Öffnen Sie ein Fenster und Sie werden sehen, sobald es kälter wird oder regnet, ist die Luft wieder rein. Und was Ihren Schlüssel betrifft, da kann Ihnen der Depotverwalter bestimmt weiterhelfen.“

Zum Schluss erwähnte der zurückgekehrte Verwaltungsleiter Notte noch die rückläufigen Besucherzahlen, deren Ursachen seiner Ansicht nach wahrscheinlich an den vielen Baustellen auf der Autobahn liegen würden. Er wies in diesem Zusammenhang nochmal explizit auf die sinkenden Einkünfte des Museums hin und mahnte alle Kollegen und Kolleginnen an, sparsam zu sein.

Als keine weitere Fragen oder Bemerkungen kamen, schloss Frau Dr. Meyer-Weidenlust die Sitzung mit den Worten: „So, liebe Kolleginnen und Kollegen, es wartet wieder ein arbeitsreicher Tag auf uns. Packen wir es an.“

Sichtbar zufrieden mit dem Ablauf verließ sie den Raum und das Personal folgte ihr.

Auch Lucy stand auf und wollte sich auf den Weg ins Büro machen, als Edda sie am Arm festhielt. „Welche Inszenierung meinte die Chefin gerade eben? Hattest du damit zu tun?“

Verwundert sah Lucy ihre Kollegin an, „Ich? Nein, ich nicht, aber du hast es doch gehört, das war die Meranti!“

„Es ist ja merkwürdig“, gab Edda zurück. „niemand scheint ihr Projekt genau zu kennen. Sogar Paul war etwas irritiert als er erwähnt wurde.“

„Redet ihr über mich?“, fragte Paul, der sich gerade auf den Weg ins Magazin machen wollte. Paul Pottmann war der gerade eben noch hoch gelobte Depotverwalter des Museums - von seinen Kollegen liebevoll „Plünnen Paul“ genannt.

„Ja“, sagte Edda, „und deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wusstest du doch auch nichts von dieser ach so wunderbaren Inszenierung?“

„Es hat mich tatsächlich überrascht. Ich war zwar dran gelobt zu werden, aber so konkret und dann für eine Arbeit, die ich nicht gemacht habe, das ist sogar für unsere Chefin recht ungewöhnlich. Ich muss erst mal kontrollieren, ob diese Kleidungsteile überhaupt aus meinem Depot stammen.“

„Siehst du, wenn du auch nichts mitgekriegt hast, dann stimmt doch etwas nicht!“, meinte Edda resolut. „Wir schauen uns das mal an.“

Etwas später standen Edda, Lucy und Paul im Bierumerweinhof und schauten sich Merantis Inszenierung an. Der Bierumerweinhof war die größte Hofanlage im Museum und bestand aus mehreren Gebäuden. Die Familie der ehemaligen Bewohner kam ursprünglich aus dem ostfriesischen Bierum, wo sie einen Bauernhof mit Braukonsession hatte. Ein experimentierfreudiger Sohn hatte im

16. Jahrhundert einen Versuch gestartet, dass nicht besonders wohlschmeckende Bier mit diversen Obstsorten zu veredeln. Die Bauern aus der Umgebung nannten das Gesöff spöttisch ´den Bierumer Wein´ und so soll der Name ´Bierumerweinhof´ entstanden sein, der auch nach dem Umzug ins Osnabrücker Land beibehalten wurde.

Der eindrucksvollste Teil der Anlage war ohne Zweifel das Haupthaus. Es war ein großzügiges und reich verziertes Hallenhaus mit einem prachtvollen Fachwerkgiebel. Mittig im Giebel befand sich die Eingangstür, die so genannte Grotdör, links und rechts lagen die Pferdeställe und dahinter die große Diele. An die Diele grenzte das Flett, der Wohn- und Kochraum mit der offenen Feuerstelle, und die Privaträume der bäuerlichen Familie.

In einem dieser Räume - dem Altenteil - befand sich die Inszenierung. Durch die geöffnete Tür hatten sie freie Sicht in das Zimmer des Altenteils, nur getrennt durch eine anderthalb Meter hohe Scheibe aus Plexiglas, die als Diebstahlsicherung für die zum Teil sehr teuren Exponate gedacht war. Die Plexiglasscheibe war als drehbares Element ausgeführt und, wie Paul zufrieden feststellte, mit einem soliden Vorhängeschloss gesichert. In dem Raum saßen vier Frauenfiguren um einen reich gedeckten Tisch und machten tatsächlich den Eindruck, als würden sie Kaffee trinken und sich unterhalten. Die Gastgeberin, die offensichtlich die Bäuerin des Bierumerweinhofes darstellen sollte, saß an der Stirnseite des Tisches, mit dem Rücken zur Tür, während ihre Gäste die drei anderen Seiten des Tisches besetzten und somit im direkten Blickkontakt mit den Betrachtern standen. Der Tisch war gedeckt mit feinstem Porzellan und in der Mitte stand eine große Kaffeekanne aus glänzendem Zinn: die Dröppelminna. Sämtliche Kleider waren ordentlich angezogen und passten tatsächlich zeitlich perfekt in die dargestellte Periode. Edda und Lucy waren beeindruckt. Hatten sie die Meranti doch unterschätzt? Eigentlich hatten sie den Eindruck, dass diese Frau nur karrieregeil war und, wenn es sein musste, über Leichen ging. Aber diese Inszenierung war fast liebevoll hergerichtet.

„Die Kleider kenne ich nicht!“, unterbrach Paul plötzlich ihre Überlegungen. „Die sind nicht aus unserem Museum.“

Die beide Kolleginnen schauten Paul verdutzt an.

„Nein, wirklich nicht“, sagte er, „das Porzellan und die Dröppelminna kenne ich. Die standen sonst immer hinten im Raum auf der Anrichte. Auch die Kaffeelöffel und anderen Kleinkram kenne ich, aber die Kleider, nein, definitiv nicht! Und Schaufensterpuppen haben wir auch nicht.“

„Das ist mal wieder typisch“, sagte Lucy, „hier tut wieder jeder was er will.“

„Und mein Schlüssel passt auch nicht!“, stellte Paul mit Verwunderung fest. Er hatte versucht mit seinem Generalschlüssel das Vorhängeschloss zu öffnen, aber es ließ sich partout nicht aufschließen. „Das Ding passt nicht in unser Schließsystem, sie muss es sich selber besorgt haben, aber verdammt nochmal warum? Es ist hier auch immer das Gleiche; da wird etwas ausgestellt und keiner spricht auch nur das Geringste mit mir ab. Ich darf die Kleider nachher wieder wegräumen, obwohl ich keinen Schimmer habe, wo sie das Zeug hergeholt hat. Ich wette mit euch, dass es nicht mal ordentliche Leihverträge gibt! Aber wisst Ihr was? Wenn sie schon alles alleine macht und niemanden informiert, soll sie ihren Scheiß wirklich alleine machen - ich halte mich hier raus! Und die Putzfrau kann die Scheibe putzen und Tannenspray versprühen soviel sie will, mehr aber nicht!“ Sichtlich verärgert verließ Paul den Raum und zog sich in den dunkelsten Teil seines Depots zurück.

Edda und Lucy schauten ihm verständnisvoll nach. Es war tatsächlich so, dass die Kommunikation im Museum manchmal zu wünschen übrig ließ.

„Na ja, dass jeder tut was er will, dass kennen wir schon“, meinte Edda. „Merkwürdig ist aber, dass die Meranti das alles so klammheimlich und alleine gemacht hat. Es ist offensichtlich an allen Kolleginnen und Kollegen vorbeigegangen. Ich ahnte zwar, dass sie so etwas vor hatte, aber das dann quasi über Nacht aufzubauen, das ist schon eine Leistung.“

„Meinst du, wir haben die Meranti falsch eingeschätzt?“, fragte Lucy.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Edda, „ich weiß es wirklich nicht.“ Trotz ihrer Zweifel und Bedenken war sie ehrlich beeindruckt; es war alles in allem eine ordentliche Präsentation.... wäre da nicht, ja, wäre da nicht der Gestank. Trotz Tannenduft war der Geruch - gelinde gesagt - nicht angenehm.

Es war, als hätte jemand im Wald gefurzt. Aber heftig!

***

„Wo wart ihr denn so lange?“, fragte Jerome Vandenbordeele, als seine beiden Kolleginnen wieder ins Büro kamen. Jerome war gebürtiger Belgier und arbeitete seit anderthalb Jahren im gleichen Zimmer wie Lucy und Edda. Obwohl er nicht fest angestellt war, hatte er schon einiges für das Museum geleistet und sein jetziges Vorhaben lag ihm besonders am Herzen: die Feldbahn. Im Rahmen eines Projektes über die Moorkultivierung sollte er eine Feldbahn durchs Museumsgelände planen und anlegen lassen. Die Besucher würden damit auf speziell gebauten Loren eine Fahrt durchs Museum erleben können. Mit seiner ruhigen belgischen Art trieb er das Projekt voran, damit es rechtzeitig zur nächsten Saison fertig sein würde. Auch sonst war er der Ruhepol im Raum. Er hatte in seiner Jugend viele Jahre in Amsterdam gewohnt und behauptete später noch immer, dass, wenn man Amsterdam unbeschadet überstanden hat, einen nichts mehr erschüttern kann - wobei der Begriff ´unbeschadet´ bei seinen Kolleginnen umstritten war. Er war mit seinen 62 Jahren der Älteste im Raum und nach eigenem Bekunden ein richtiger Gourmet. Schon als Kind waren die berühmten belgischen Pommes sein Leibgericht und zwar in allen Variationen. Während seines Aufenthalts in Amsterdam wusste er dieses Gericht mit scharfer holländischen Satésauce noch zu verfeinern und zum absoluten Hochgenuss zu machen. In Deutschland stellte er fest, dass die Qualität der Pommes stark zu wünschen übrig ließ, aber seit er nur wenige Kilometer hinter der holländischen Grenze eine richtig gute Pommes-Bude entdeckt hatte, konnte er seine kulinarischen Wünsche wieder voll und ganz befriedigen.

„Guten Morgen erst mal“, antwortete Lucy Prickelmann, „soviel Zeit muss sein!“

„Genau“, fügte Edda Devries hinzu, „an deinen Manieren müssen wir noch arbeiten!“

„Ist ja gut, guten Morgen! Also, wo wart ihr denn so lange?“

Es war ja nicht so, als hätten Lucy und Edda die Frage nicht gehört, aber es gab etwas zu erzählen und dazu gehört nun mal eine ordentliche Tasse Kaffee. Nachdem sie sich und Jerome eine solche eingeschenkt hatten, setzten sie sich und berichteten ausführlich über die Inszenierung im Bierumerweinhof. Sie erwähnten insbesondere, dass offensichtlich niemand etwas darüber wusste.

„Das ist ja eigentlich nichts Neues“, sagte Jerome nachdem sie ihre Geschichte beendet hatten. „Das ist ja gang und gäbe, aber weiß jemand denn überhaupt, wo die Meranti geblieben ist?“

„Also, soweit ich gehört habe“, sagte Edda nachdenklich, „ist sie wieder nach Italien abgereist. Sie hat damals direkt nach ihrem Studium in Florenz gearbeitet und spricht fließend italienisch - hat sie mir wenigstens erzählt!“

Wie immer war Edda bestens informiert, aber sie hatte die Gabe, diverse Ereignisse und Informationen nahezu hemmungslos neu zu ordnen und andere Zusammenhänge zu konstruieren. Ihre Theorien lagen manchmal dicht an der Wahrheit, manchmal haarscharf daneben, aber meistens - eigentlich fast immer - waren sie meilenweit davon entfernt. Aber das war egal - eine neue Sicht auf die Dinge ist immer erfrischend und Jerome und Lucy hatten großen Spaß dabei, Eddas Theorien weiter auszumalen.

„Aber es ist mir schleierhaft, wie sie das fertig gebracht haben soll. Ich habe schon öfter eine Ausstellung gemacht, aber es war immer wahnsinnig aufwendig und schwierig“, entgegnete Lucy. „Sie muss es praktisch über Nacht geschafft haben und ohne Hilfe geht das meiner Meinung nach nicht!“

Jerome stimmte ihr zu: „Da sprichst du ein wahres Wort gelassen aus. Und nachts arbeitet bestimmt kein einziger unserer Kollegen!“

„Wie wahr! Also Hilfe von außen?“

„Muss wohl. Ich kann mir das nicht anders vorstellen.“

„Es ist rätselhaft, wirklich rätselhaft“, meinte Edda und schaltete ihren PC an. „Wie weit bist du denn eigentlich mit den Inventarbü-chern?“, fragte sie Lucy nach einer Weile.

„Im Moment bin ich im Jahr 1952“, antwortete Lucy, „da hat der ehemalige Museumsdirektor, Dr. Brockhoff, viel Zinngeschirr gekauft. Hier mal eine Branntweinschale, dann wieder ein paar Löffel. Der hat wohl alles gekauft was er kriegen konnte.“

„Das war doch der Vorgänger von Frau Dr. Meyer-Weidenlust, oder?“, fragte Jerome, der erst danach im Museum angefangen hatte.

„Genau!“, meinte Lucy. „Er hat das Museum nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und war unter Historikern hoch angesehen, Aber auffällig ist hier, dass er sehr viel bei Tersteeg gekauft hat. Das muss damals wohl ein bekannter Antikhändler gewesen sein, denn sein Namen taucht in den Bücher immer wieder auf.“

„Vielleicht eine Art Hoflieferant?“, meinte Jerome.

„Vielleicht“, warf Edda ein, „aber ich habe da so eine Theorie....“

Jerome und Lucy lehnten sich zurück und hörten zu, wie Edda eine Geschichte erzählte über den Handel mit Antiquitäten nach dem Krieg und nach der Europäischen Osterweiterung, sowie über holländische Nachbauten. Was das alles miteinander zu tun hatte und vor allem wie das mit den Inventarbüchern zusammenhing, konnte sie allerdings genau so wenig erklären wie die Echtheit der Mondlandung. Aber damit war der Alltag wieder im Büro eingekehrt und die Arbeit hatte sie wieder voll im Griff. Meranti und ihre Inszenierung verschwanden im Hintergrund.

Bis fünf Tage später die Geschichte eine unerwartete Wendung nahm.

***

Montag 27. Mai

(Also tatsächlich fünf Tage später)

Es war ein schöner Montagmorgen und Amelie Bergmann öffnete die großen Türen der Eingangshalle des Museums. Es war Punkt neun und Zeit, die Besucher herein zu lassen. Sie arbeitete seit 23 Jahren im Kassenbereich des Museums und genoss immer die Ruhe am frühen Morgen, wo alles noch so friedlich war. Es würde keine halbe Stunde dauern, bis die ersten Grundschulklassen eintreffen würden und sich die Halle mit Leben, Lärm und Pausenbroten gefüllt hätte. Sie atmete tief die frische Luft ein und ließ die Türen zum Windfang offen, damit der Raum gelüftet wird.

Die Eingangshalle war ein zweckmäßiger Neubau, der in den Siebzigern notwendig geworden war, als das Museum multifunktionale Bereiche für Vorträge und Ausstellungen brauchte. Die Idee, ein altes Bauernhaus umzugestalten, wurde damals schnell verworfen, weil so ein altes Haus weder den Ansprüchen an die Raumgröße noch an die Sicherheitstechnik gerecht werden konnte. Der Architekt hatte daher ein modernes Gebäude entworfen, das sich bewusst von den anderen Bauwerken im Museum abhob. In der Halle befand sich - neben dem Vortragsraum - auch der Kassenraum. Der wurde von Amelie Bergmann und ihren beiden Kolleginnen liebevoll das ´Kabuff´ genannt, weil er aussah wie ein Bahnhofsfahrkartenschalter aus den siebziger Jahren. Dicke Glasscheiben mit einem kleinen ovalen Fenster zum Sprechen und darunter die Schalterschublade. Neben dem Kassenraum befand sich der Museumsshop und gegenüber war eine kleine Multifunktionsfläche, die im Moment aber abgesperrt war, weil eine neue Ausstellung aufgebaut wurde. Hinter dem Shop ging es links raus ins eigentliche Gelände und rechts befand sich das Treppenhaus. Die Kellertreppe war mit einem dicken Seil für Besucher gesperrt, denn da waren nur Lager- und Technikräume. An der anderen Seite des Gebäudes befanden sich schließlich die Sanitäranlagen und der Hinterausgang, durch den man zum Verwaltungsgebäude gelangte.

Nachdem Amelie Bergmann auch die Tür zum Museumsgelände geöffnet hatte, kehrte sie in ihr ´Kabuff´ zurück und freute sich über die ersten Besucher.

„Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich Ihnen“, sagte der grau melierte Herr.

„Ah, Herr Professor Wörner, Sie mal wieder bei uns im Museum? Schön Sie zu sehen.“

„Ganz meinerseits, liebe Frau Bergmann, ganz meinerseits.“

„Und Sie auch Frau Wörner, alles Wohlauf?“

„Danke Frau Bergmann, danke, meiner Frau geht es prima!“

„Schön zu hören Herr Professor, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.“

Professor Wörner steckte seine Familien-Jahreskarte wieder in seine Jackentasche, verließ den Kassenbereich und betrat mit seiner sehr viel jüngeren und sehr stark parfümierten Frau das Museumsgelände. Amelie Bergmann holte indessen eine Spraydose „Tannenwald Extra Frisch“ aus dem Vorratsschrank und neutralisierte damit die Duftwolke von Frau Wörner.

Die Familie Wörner hatte seit langem eine Jahreskarte und besuchte das Museum zwei bis dreimal im Jahr. Professor Dr. Dietrich Wörner war Pathologe im Rechtsmedizinischen Institut und mehr oder weniger stadtbekannt. Er liebte die Pathologie und verließ sein `Reich` nur ungern. Das mag auch der Grund dafür gewesen sein, dass seine erste Frau sich schon vor Jahren hat scheiden lassen und kurz darauf einen Gynäkologen geheiratet hat.

Die jetzige zweite Frau Wörner war seine ehemalige Auszubildende. Schon kurz nachdem sie in der Pathologie angefangen hatte, wurde klar, dass sie für diesem Beruf völlig ungeeignet war. Dennoch war Wörner von der jungen Frau sehr angetan. Der Ausbildungsvertrag wurde zwar gekündigt, dafür aber zwei Wochen später geheiratet.

So kam es, dass der Professor und seine Duftwolke zusammen durchs Freilichtmuseum schlenderten; er moderierte, während sie ihn ab und zu anstrahlte und sonst nur himmlisch duftete. Im Bierumerweinhof angekommen, begann der Professor direkt von dem Reichtum und der Eleganz des Bierumerweinhofes zu schwärmen. Mit Begeisterung referierte er über die Sitten und Rituale am Kaffeetisch im frühen 19. Jahrhundert, allerdings rümpfte er dabei zwei- dreimal die Nase. Die Duftwolke bemerkte das sofort und reichte ein Taschentuch. „Nein danke, meine Liebe, dass ist es nicht. Irgendwas riecht hier nach Arbeit - und nach Tannenwald.“

„Aber Didibaby“, hauchte die Duftwolke, „Arbeit kann man doch nicht riechen. Ich jedenfalls konnte meine Arbeit noch nie riechen.“ Der Professor blickte zärtlich zu seiner Frau. Hinter diesen wunderschönen blauen Augen muss der schönste Hohlraum nördlich der Alpen liegen, dachte er, als ihm wieder dieser Geruch in die Nase kam.

„Doch, meine Liebe, ich kann das“, sagte er, während er sich die Inszenierung genauer ansah. „Ich kann das, denn es riecht hier nach Verwesung!“ Der Professor zerschlug mit einem Schürhaken die Halterung des Vorhängeschlosses, worauf die Plexiglasplatte aufsprang. Er ging auf die Kaffeerunde zu und drehte den Stuhl mit der gastgebenden Bäuerin um, „Wo die Leiche ist, weiß ich jetzt“, sagte er, „aber wo ist dieser verdammte Tannenwald?“

Hitchcock hätte an dieser Szene seinen Spaß gehabt, aber die Duftwolke nicht, sie drehte sich kreidebleich um und bereicherte den Gestank im Raum um eine säuerliche Note.

***

Nachdem Professor Wörner erst Frau Dr. Meyer-Weidenlust und dann die Polizei über seinen Fund informiert hatte, wurde es im sonst so beschaulichen Museum unruhig. Als Erste stürmte die Museumsdirektorin aufs Gelände, dicht gefolgt von ihrem Verwaltungsleiter, Herrn Notte. Mit seinem Handy am Ohr lief er im Laufschritt hinter seiner Chefin her zum Bierumerweinhof. Offensichtlich versuchte er einige Kolleginnen und Kollegen über den Fund zu informieren.

Tatsächlich erschienen fast alle Mitarbeiter am Bierumerweinhof. Die Nachricht hatte sich auch ohne Nottes Zutun schnell herumgesprochen. Es ist zwar relativ normal, dass in einem Museum Moorleichen oder Mumien, ausgestellt werden, aber eine ´frische´ Leiche - sozusagen eine Zeugin der jüngsten Vergangenheit - war ungewöhnlich und die wollten alle unbedingt sehen.

Bald darauf erschien auch ein Streifenwagen der Polizei mit einer relativ jungen, unerfahrenen Besatzung. Sie sperrten den Altenteil des Bierumerweinhofes ab und kamen dabei notgedrungen in die Nähe der Leiche. Der Geruch der still vor sich hin verwesenden Bäuerin verursachte einen unerwarteten Konflikt zwischen Pflichtgefühl und Mageninhalt. Wenige Minuten später bedauerten beide das zweite Frühstück auf der Wache.

Als schließlich Hauptkommissar Ernst Liebich und sein Kollege von der Mordkommission eintrafen, war die Situation recht chaotisch: Das Altenteil und der Herdraum waren zwar provisorisch abgesperrt, aber auf der Diele und vor allem vor dem Hof hatten sich viele Museumsangestellte und Besucher versammelt, die aufgeregt hin und her liefen und dabei alle möglichen Spuren zertrampelten. An der Wand lehnten die jungen Kollegen des Streifendienstes, die immer noch einen lädierten Eindruck machten. Sie waren offensichtlich nicht imstande, die Lage unter Kontrolle zu bringen.

Dann entdeckte Hauptkommissar Liebich ein bekanntes Gesicht: Dr. Wörner aus der Pathologie. Sofort lief er zu ihm und fragte, nachdem er ihn höflich begrüßt hatte, wer die Leiche gefunden habe.

„Ich war das“, sagte der Professor, „sie ist da im Haus. Ich kann sie hinführen, denn ich kenne einen Weg hintenrum.“ Er beugte sich zu seiner Frau, um zu sehen, ob er sie für einen Moment alleine lassen konnte, aber sie winkte ab und sagte: „Geh nur, Didibaby, ich bin schon Okay!“ Die beide Kommissare sahen sich an und grinsten. Professor Wörner merkte das nicht, denn er hatte sich schon auf den Weg zum Hintereingang gemacht. Daraufhin rissen die Kommissare sich zusammen und folgten ihm unauffällig.

Bei einem der beiden Streifenpolizisten kehrte das Pflichtbewusstsein zurück und er machte sich auf, sie zu begleiten. Er war aber noch so unsicher auf den Beinen, dass er bereits nach dem zweiten Schritt auf einer nicht näher definierbaren glitschigen Masse ausrutschte. In seinem Fall versuchte er sich an dem immer noch telefonierenden Verwaltungsleiter festzuhalten. Dieser wich gekonnt aus, kollidierte aber in seiner Drehung mit der Schulter der Chefsekretärin, die gerade ein Tablett frischen Kaffee brachte. Es folgte ein lautes Fluchen und das Handy des Verwaltungsleiters verschwand mit einem großen Bogen in den Brombeersträuchern. Gleichzeitig verließ der Kaffee das Tablett und verteilte sich über die Anwesenden, allerdings ohne die dazugehörigen Tassen. Die Chefsekretärin hatte sich dabei so stark an der Schulter verletzt, dass sie nach Hause gebracht werden musste.

Die Kommissare und der Pathologe bemerkten von alledem allerdings nichts. Sie standen bereits im Haus und schauten sich die Leiche an. „Woran ist sie gestorben?“, fragte Liebich. „Und wie lange sitzt sie schon hier?“, fügte der Kollege hinzu.

„Ich kann das noch nicht genau sagen“, meinte der Professor, „aber sie sitzt hier bestimmt schon eine Weile - nicht erst seit gestern. Nach dem Zustand der Leiche und dem Grad der Verwesung zu urteilen könnten es Tage sein. Woran sie gestorben ist, kann ich ihnen allerdings erst nach der Obduktion sagen.“ Wörner zitierte immer diesen Satz aus allen Tatort-Produktionen der letzten dreißig Jahre und verabschiedete sich. Er eilte hinaus und kümmerte sich wieder um seine Duftwolke.

Hauptkommissar Liebich schaute abwechselnd die Leiche und seinen Kollegen an. „Es ist schon merkwürdig“, meinte er schließlich, „da sitzt hier eine Leiche wer weiß wie lange und keiner merkt offensichtlich etwas.“ Sein Kollege nickte verständnisvoll, er mochte Museen nicht besonders und auch die Leute, die da arbeiteten, fand er schon immer etwas skurril. „Die Kriminaltechnik soll hier erst mal alles ordentlich absichern und eventuelle Spuren aufnehmen. Wenn sie mit der Leiche fertig sind, können sie sie in die Pathologie bringen lassen.“ Der Kollege nickte ein zweites Mal und rief die Kriminaltechnik an.

Die Kollegen der Kriminaltechnik hatten sich schon längst auf den Weg gemacht und standen bereits an der Kasse des Museums. Eine unerfahrene Aushilfskraft des Museums bestand allerdings darauf, dass sie Eintritt zahlen sollten. Die Kriminaltechniker weigerten sich selbstverständlich auch nur einen Cent zu bezahlen. Sie hätten noch nie Eintritt für einen Tatort bezahlt! Die Aushilfskraft geriet in Not und versuchte den Verwaltungsleiter auf seinem Handy zu erreichen, was ihr nicht gelang, weil das immer noch in den Brombeersträuchern lag. Also machte sie sich höchst persönlich auf den Weg um Notte über das Dilemma zu informieren. Sie fand den Verwaltungsleiter voller Kaffeeflecken und ziemlich ratlos vor einem Strauch stehend. Zuerst schien er gar nicht ansprechbar, denn er reagierte überhaupt nicht und starrte weiterhin fassungslos auf die Brombeersträucher. Erst als das Wort ´Eintrittsgeld´ fiel, schien Notte aufzuwachen und zuzuhören. „Das haben wir gleich!“, sagte er und machte sich auf den Weg zur Kasse. Er löste das Problem auf eine, für seine Verhältnisse, schnelle und unbürokratische Weise: Sie (die Kriminaltechnik) zahlen erst mal den Eintritt (eine ermäßigte Gruppenkarte) und können dann den Betrag als Spesen wieder von der Dienststelle zurückfordern, worauf dann das Museum über diesen Betrag für die Dienststelle eine Spendenbescheinigung ausstellt, damit die Dienststelle den Betrag wieder von der Steuer absetzen kann. „Man sollte die Dinge nicht kompliziert machen, wenn es auch einfach geht, nicht wahr?“, strahlte der Verwaltungsleiter und lobte innerlich sein BWL-Studium. Kopfschüttelnd traten die Kriminalbeamten in die Museumswelt ein, die offensichtlich eine eigene Logik besaß.

„Wenn das so weiter geht“, meinte Frau Jankowitz, Leiterin der Kriminaltechnik, „werden wir hier noch sehr viel Spaß haben.“ Aber erst mal folgten sie und ihr Team brav dem Verwaltungsleiter bis zum Bierumerweinhof, um endlich ihre Arbeit aufzunehmen.

Als die Kommissare merkten, dass die KTU da war und langsam eine gewisse Ordnung in das Chaos eintrat, verließen sie den Hof und machten sich auf die Suche nach der Museumsdirektorin. Sie stand mit einigen Mitarbeitern vor der Torscheune und war offensichtlich dabei, das weitere Vorgehen in dieser schrecklichen Situation zu besprechen.

„Frau Doktor Meyer-Weidenlust nehme ich an?“, fragte Liebich. Frau Meyer-Weidenlust sah ihn überrascht an und nickte.

„Wer ist eigentlich für das Theater in dem Hof zuständig und wer hat die Puppen und die Leiche so zurecht gemacht?“, fragte der Kollege - vielleicht etwas zu schroff.

„Guten Tag, die Herren. Ihren Manieren nach zu urteilen, sind sie von der Polizei und das, was sie Theater nennen, ist mitnichten Theater, sondern eine ´Inszenierung´, eine Darstellung der Vergangenheit mit Hilfe von originalen Artefakten. Unter dem Begriff Theater versteht man in der Regel etwas Lebendiges und das wäre hier doch wohl fehl am Platz!“

„Entschuldigung, mein Name ist Liebich und das ist mein Kollege. Meinetwegen können Sie dieses Theater nennen, wie Sie wollen, aber wer zum Teufel hat alles so hingestellt? Wer war das?“

„Ich kann es Ihnen nicht genau sagen“, gab die Museumsdirektorin zögernd zu. „Die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums arbeiten meist eigenverantwortlich. Ich gebe den Rahmen vor und behalte das jeweilige Projekt im Auge, aber hier bin ich selber überrascht. Ich vermute, dass Frau Doktor Meranti hier involviert war. Sie hat vor etwa sieben Monaten im Museum auf Werkvertragsbasis angefangen und sollte eine Ausstellung über die Biedermeierzeit auf dem Land vorbereiten. Sie hat uns aber vor zwei, drei Wochen plötzlich verlassen; es hieß, sie hätte eine neue Stelle an irgendeinem Museum in Italien. Aber Genaues weiß ich nicht, sie war auf einmal einfach weg!“

„Wo wohnte die Frau Meranti“?, fragte der Kollege.

„Sie hatte hier keine eigene Wohnung“, entgegnete Frau Meyer-Weidenlust. „Sie war auch nicht jeden Tag hier, aber wenn sie hier war, hat sie in der Pension Mühlenblick gewohnt.“

„Die Pension kenne ich“, sagte Liebich, „da werden wir mal vorbei fahren. Gut, Frau Dr. Meyer-Weidenlust, das war´s fürs Erste. Wenn wir noch Fragen haben - und wir werden sicherlich noch viele haben - melden wir uns!“

Sie verabschiedeten sich und verließen den Bierumerweinhof.

Anschließend kehrte im Museum langsam wieder Ruhe ein, nur in den Brombeersträuchern ertönte unaufhörlich die Marseillaise.

***

Dienstag 28. Mai

Am nächsten Morgen trafen sich Hauptkommissar Liebich und sein Kollege im Büro der Mordkommission. Wie üblich gab es, noch bevor auch nur ein Wort gewechselt wurde, erst mal einen Kaffee. „Guten Morgen, Kollege“, sagte Liebich nachdem er den ersten Schluck getrunken hatte, „Boah, jessesmaria, harreejasses.... ist dieser Kaffee gut!“ Der Kollege grinste: „Auch guten Morgen Chef. Wir haben eine neue Praktikantin und ich habe sie heute morgen früh gleich an der Kaffeemaschine eingewiesen. Ich muss sagen, sie ist ein Naturtalent!“

„Allerdings“, meinte Liebich „allerdings. Aber zurück zur Arbeit. Was haben wir?“

„Nicht viel Chef. Wir haben eine tote Frau deren Identität noch nicht festgestellt werden konnte. Dann haben wir drei Schaufensterpuppen, die möglicherweise Tatzeugen waren, aber wohl kaum vernehmungsfähig sind. Schließlich haben wir noch die Frau Doktor Meranti, die wahrscheinlich das Theater veranstaltet hat, aber plötzlich verschwunden ist, ohne Spuren zu hinterlassen. Der Pathologe arbeitet an der Obduktion und kann uns morgen, spätestens übermorgen genaueres über die Todesursache und den Todeszeitpunkt sagen. Wir wissen nicht, ob die Meranti selber die Leiche und die Puppen in dem Bierumerweinhof platziert hat und ob der Tatort hier oder anderswo war. Dr. Wörner meinte, dass es unwahrscheinlich ist, dass sie im Hof umgebracht wurde. Es war ihm viel zu ordentlich - es fehlte Blut und so“.

„Und die Spurensicherung?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich habe heute noch keinen von ihnen gesprochen, aber ich schlage vor, eine kleine Dienstbesprechung einzuberufen, um dann das weitere Vorgehen abzuklären“:

„Prima Kollege, das machen wir. In einer halben Stunde hier im Besprechungsraum und sage deiner Praktikantin Bescheid, dass sie soviel Kaffee bringen soll, wie sie nur kann. Ich will alle Kollegen fit und munter haben!“

Eine halbe Stunde später trafen sich alle Kollegen im Besprechungsraum und lobten ausführlich die Praktikantin für ihren hervorragenden Kaffee! Sie sei die beste Praktikantin, die die Mordkommission, ach was, die ganze Polizei je gehabt hätte und sie hätte bestimmte eine große Karriere vor sich und und und...

Nachdem die zweite Runde Kaffee eingeschenkt war, kam endlich der aktuelle Fall zur Sprache. Es stellte sich heraus, dass sie tatsächlich nicht viel Neues hatten. Vor allem die Kollegen der Spurensicherung äußerten sich ganz unzufrieden. Sie hatten gestern viel damit zu tun gehabt neugierige Museumsangestellte auf Abstand zu halten. Sie würden gleich nach der Besprechung wieder hinfahren, um in Ruhe noch einmal alles gründlich durchzugehen.

„Gut“, sagte Liebich, „Kollege sei so nett und begleite die Kollegen. Ich muss erst zum Chef und fahre dann in die Pension Mühlenblick. Anschließend komme ich dann auch ins Museum. „Aber erst noch mal einen Kaffee!“ Alle Kollegen stimmten in seltener Einigkeit zu und hielten ihre Tassen schon bereit, als die Praktikantin mit der Kaffeekanne den Raum betrat.

Als alle Kollegen sich hoch motiviert an die Arbeit gemacht hatten, ging Liebich zu seinem Chef, Kriminaldirektor Stabhorst, um über die aktuelle Lage zu berichten. Sein Bericht viel erwartungsgemäß kurz aus. Der Vortrag seines Chefs war dafür umso länger: Ein Mord in diesem Museum, das ist für die ganze Region ein herber Schlag - so ein renommiertes Institut und dazu noch ein Touristenmagnet! Warum die Leiche nicht eher gefunden wurde und dieser wilde Aufmarsch der Museumsangestellten - hätte das nicht vermieden werden können? Liebich kannte seinen Chef und seine Ansprachen. Man musste sie einfach - wie einen Regenschauer - über sich ergehen lassen. Zum Schluss bat der Chef noch um eine schnelle und vor allem diskrete Arbeit und eine Lösung des Falles in 48 Stunden! Maximal!

In der Pension Mühlenblick war das Ergebnis ebenfalls nicht sehr ermutigend. Zwar konnte die Eigentümerin sich gut an Frau Meranti erinnern, aber seit ihrem Auszug war das Zimmer schon mehrmals aufgeräumt, sauber gemacht und vermietet worden. Sie hatte öfter Leute vom Museum zu Gast. Meistens waren das junge, angehende Wissenschaftler, die auf Werkvertragsbasis einige Wochen oder Monate im Museum gearbeitet haben und dann bei ihr wohnten - zum Sondertarif versteht sich! Liebich verstand und begriff auch, dass hier wohl keine Spuren mehr zu finden waren. Auf seine Frage, was für ein Typ Mensch sie gewesen sei, wurde die Eigentümerin nachdenklich.

„Sie war eine Frau!“, sagte sie schließlich, „eine schöne Frau, aber undurchsichtig. Ich meine, man wurde aus ihr nicht schlau. Sie sah aus wie ein Model und nicht wie eine Wissenschaftlerin. Nicht so wie die Frauen, die sonst vom Museum kommen. Da gibt es welche dabei, die sind nicht von dieser Welt, sage ich nur, nicht von dieser Welt. Und sie hatte ab und zu Herrenbesuch, allerdings nie über Nacht und immer den gleichen älteren Herrn. Die sind dann Essen gegangen oder so. Sie war zwar lieb und nett, auch zu dem Herrn, aber ich fand es etwas aufgesetzt. Ich glaube, sie war eiskalt!“

Liebich bedankte sich für diese Auskunft und war schon auf dem Weg zur Tür als die Eigentümerin der Pension Mühlenblick ihm hinterherrief: „Ach ja, das Gepäck der Frau Meranti. Nehmen Sie das jetzt mit?“

Als Liebich eine Stunde später im Museum eintraf, begegnete er im Kassenraum direkt der Museumsdirektorin. Die übereifrige Aushilfskraft, die wieder an der Kasse saß, beschloss diesmal keinen Eintritt zu verlangen. Irgendwie hatte sie so eine Ahnung, dass das keinen guten Eindruck machen würde.

Liebich und Frau Meyer-Weidenlust machten sich auf den Weg zum Bierumerweinhof, in der Hoffnung, dass die Kriminaltechniker mittlerweile ein paar Hinweise auf mögliche Täter gefunden hätten. Sie entdeckten im Altenteil des Hofes zwar die gesamte Ausrüstung der Spurensicherung, aber von den Kollegen fehlte jede Spur. Dr. Meyer-Weidenlust schaute vorsichtig in die angrenzenden Räume, aber auch da war niemand. Liebich hätte am liebsten sofort den ganzen Hof auf den Kopf gestellt, aber der Kaffee machte sich bemerkbar und seine Blase fing an zu drücken. Da er ungern seine Schwäche erwähnen wollte, sagte er zu der Museumsdirektorin, er habe sein Handy im Auto vergessen und er deswegen eben schnell zum Parkplatz laufen würde, um es zu holen. Dann könnte er die Kollegen anrufen und fragen, wo sie sind. Ohne auf eine Antwort zu warten, machte Liebich sich auf den Weg zur Toilette am Ausgang. Aber auf halber Strecke merkte er, dass er es bis dahin nicht schaffen würde. Nun gibt es in einem Freilichtmuseum nicht nur alte Häuser, sondern auch - Gott sei dank - Bäume und Büsche. Schnell verschwand Liebich hinter ein paar Bäumen und konnte sich noch rechtzeitig erleichtern.

„Moin Chef, auch schon hier?“, klang es plötzlich. Ein Baum weiter stand der Kollege und schaute Liebich grinsend an. „Der Kaffee hat es wirklich in sich!“, hörte Liebich plötzlich hinter sich und ein Kollege der Spurensicherung trat hinter einem Baum hervor. „Aber es war der beste Kaffee seit Jahren!“, klang es hinter den Rhododendronbüschen.

„Frau Jankowitz? Sie eh, Sie eh, an einem Baum?“

„Nein Liebich, tut mir leid, aber ich bevorzuge Sträucher. In diesem Fall waren es eine Rhododendron und eine Weigelie, die ausreichend Schutz boten.“ Nach und nach kamen alle Kollegen und Kolleginnen hinter den Bäumen und Sträuchern zum Vorschein.

„Sind wir etwa alle hier?“, fragte Liebich erstaunt.

„Sieht so aus Chef“, sagte der Kollege.

„Ja, wenn das so ist, dann ist das jetzt eine Dienstbesprechung. Habt ihr schon was gefunden?“

„Wir haben einige Spuren, die wir aber noch nicht deuten können. Bisher sammeln wir nur, aber ich bin sehr skeptisch, dass wir etwas wirklich Brauchbares finden“, antwortete Frau Jankowitz.

„Was machen sie denn hier?“ Eine etwas verwirrte Museumsdirektorin schaute durch die Bäumen auf die Kriminalbeamten.

„Dienstbesprechung!“, meinte der Kollege.

„Hier zwischen den Bäumen? Gibt es hier Spuren?“

„Schon möglich, schon möglich, wir dürfen in einem Mordfall nichts ausschließen!“, antwortete Liebich.

„Aber wie riecht das hier?“, Frau Meyer-Weidenlust rümpfte die Nase. „Es stinkt nach....“

„Katzenpisse! Ich weiß“, sagte Frau Jankowitz, „aber das hier ist rein pflanzlicher Natur und wird verursacht durch die Rhododendren und die Weigelien weiter hinten. Die Rhododendren sind fast verblüht und die Weigelie steht in voller Blüte. Es werden dabei Ferene, Dyraviden und Systiole freigesetzt und die Kombination dieser Frühlingsambronionen erzeugt ein ziemlich unangenehmen Geruch.“

Zufrieden stellte Frau Jankowitz fest, dass Frau Dr. Meyer-Weidenlust botanisch völlig unbedarft war, denn diese schaute sie erst ziemlich ratlos an und meinte dann: „Ich habe den Gärtnern schon öfter gesagt, dass sie etwas dagegen unternehmen sollten, aber sie machen es nicht. Die wissen sowieso immer alles besser!“

Frau Jankowitz drehte sich um und musste grinsen, sie hatte die Szene an der Kasse noch nicht vergessen und fand es eine schöne Retourkutsche. Sie und ihr Team verließen das Wäldchen und liefen wieder zurück zum Hof. Bevor sie eintraten fragte eine junge Kollegin, die frisch von der Uni kam: „Entschuldigung, Frau Jankowitz, aber was sind Ferene, Dyraviden und Systiole?“ Frau Jankowitz schaute - immer noch grinsend - zurück und sagte: „Ich habe keinen blassen Schimmer, meine Liebe, aber schön, dass Sie fragen.“

Liebich und der Kollege gingen derweil mit der Museumsdirektorin zurück zur Verwaltung. „Wir würden uns gerne mal die Personalakte der Frau Meranti anschauen“, sagte Liebich unterwegs, „sie ist im Moment unser einziger Anhaltspunkt.“

„Natürlich“, sagte Frau Meyer-Weidenlust, „unser Verwaltungsleiter, Herr Notte, wird Ihnen alles zur Verfügung stellen.“

Wenig später standen Liebich und der Kollege beim Verwaltungsleiter Notte im Büro und warteten geduldig, bis er ein offenbar sehr wichtiges Telefonat beendet hatte.

„Wir hätten gerne die Personalunterlagen von Frau Meranti“, sagte Liebich als Notte endlich den Hörer aufgelegt hatte.

„Selbstverständlich“, sagte Notte, „Einiges liegt hier und einiges ist bei der Kreisverwaltung. Ich kann da gleich mal eben anrufen, und denen sagen, dass sie die Sachen heraussuchen und für Sie bereit legen.“ Liebich nickte und wusste nach zehn Minuten, dass das ein Fehler war. Notte erzählte ausführlich über den Leichenfund, das allgemeine Durcheinander und sein Handy, das wahrscheinlich vom Täter entwendet worden war - schließlich muss man in einem Mordfall mit allem rechnen....

Als das Telefonat endlich beendet war, erzählte Notte nochmal, wie er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hätte und dass die Unterlagen im Kreishaus für sie bereit liegen würden. Dann drehte er sich um und wühlte in einem Aktenschrank. „K - L - M - Emmemmem“, murmelte er vor sich hin, „kleinen Moment“, sagte er schließlich, „die Akten sind wohl verlegt. Ich rufe male eben schnell an....“

„Nein, bitte nicht“, unterbrach ihn Liebich, „sagen Sie uns einfach wo die Akten sind, wir finden sie schon.“

„Die sind wahrscheinlich oben bei Frau Drösig. Sie ist für die Personalverwaltung zuständig, aber heute nicht da. Sie ist eigentlich pensioniert, wollte aber unbedingt weiter arbeiten und kommt daher nur einmal in der Woche, und das war gestern.“

„Dann schauen Sie doch bitte mal bei Frau Drösig im Büro nach, Sie sind ja schließlich ihr Chef, oder?“

„Da haben sie recht, das kann ich machen“, sagte Notte und stand gerade auf als das Telefon klingelte. „Moment, könnte wichtig sein“, sagte er. „Notte hier...ja, hallo...wie? Nein... das glaube ich nicht.... die Kleine aus der Vermögensverwaltung? Mit wem? Und woher weißt du das? Aha, ach so, jaja klar, nein ich weiß von nichts. War das alles? Ich habe nämlich die Polizei im Haus..... ja wegen der Mordsache. Ja ja genau.... wie? Was meinst du...? Sag das noch mal. Das glaube ich nicht! Wieso und seit wann? O Gott, wenn BMW das hört, gibt’s mächtig Ärger! Mannomann, ja ich sage Bescheid. Übrigens kommst du zum Turnier morgen? Um halb acht am Tor! Moment,... ich muss jetzt Schluss machen, denn ich glaube die Polizei wird nervös. Wieso ich das weiß? Weil einer hier in meinem Büro mit seiner Pistole spielt.... Was? Das weiß ich nicht, schwarz, so eine wie sie im Fernsehen haben.... Das weiß ich auch nicht, Parabellum oder Glock oder wie die heißen mögen. Sieht aber echt aus! Also wir sehen uns morgen! Nein am Tor! Ja und was zum Essen nehme ich mit, Okay, Tschüss.“ Notte legte auf und Liebichs Kollege steckte seine Dienstwaffe wieder weg.

„Das habe ich nicht gesehen Kollege“, sagte Liebich, „aber danke. Also Herr Notte, wo ist das Zimmer von Frau Drösig und wo sind die Akten?“

„Weg!“ sagte Notte ganz leise. „Einfach weg!“

„Wie? Das Büro von Frau Drösig und die Akten? Alles weg?“

„Nein, die Akten im Kreishaus. Die sind weg! Alles über Frau Doktor Meranti ist weg.“

„Dann kümmern wir uns erst um die Sachen, die sie noch hier haben“, sagte Liebich und forderte mit einer ausladenden Geste Notte auf, ihm den Weg zum Büro von Frau Drösig zu zeigen. Ihr Büro war klein, aber ordentlich aufgeräumt. Kleine Blümchen und Fotos ihrer Enkeltöchter schmückten ihren Schreibtisch. Der Raum machte einen sehr wohnlichen Eindruck. Frau Drösig war offensichtlich gerne hier. Notte durchsuchte den Aktenschrank und wurde immer hektischer.

„Das kann doch nicht sein! Wenn BMW das merkt. Oh Gott, oh Gott!“ murmelte er wieder vor sich hin. Dann drehte er sich um, kreidebleich und fassungslos, und sagte: „Sie sind auch weg!“

Zwei Minuten später war Frau Doktor Meyer-Weidenlust auch fassungslos, allerdings etwas rötlicher im Gesicht. Ihr gegenüber saßen die Herren der Polizei und der Verwaltungsleiter, der ihr eine geradezu unglaubliche Geschichte erzählte. „Also Herr Notte, noch mal von vorne. Alle personalbezogenen Akten und Aufzeichnung über und von Frau Dr. Meranti sind also verschwunden? Sowohl hier als im Kreishaus?“ Frau Doktor Meyer-Weidenlust starrte ihren Verwaltungsleiter mit großen Augen an, während sich ihre Hautfarbe ins Dunkelrote verfärbte. „Weg? Und was sagt Frau Drösig dazu?“

„Frau Drösig habe ich noch nicht gefragt, die Kommissare wollten erst mal mit Ihnen reden.“ Notte fühlte sich überhaupt nicht wohl in seiner Haut. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass diese Geschichte sich seiner Kontrolle entzog.

„Aber wie ist so etwas möglich? Hat Frau Meranti vielleicht selber alle Unterlagen mitgenommen?“, fragte Frau Meyer-Weidenlust immer noch fassungslos.

„Nun, Frau Dr. Meyer-Weidenlust“, unterbrach Liebich, „die verschwundene Personalakte ist nicht das Einzige, was merkwürdig ist. Frau Meranti hat die Pension Mühlenblick offensichtlich über Nacht verlassen und ihr gesamtes Gepäck zurück gelassen. Die Rechnung wurde tags darauf vom Museum bezahlt. In dem Gepäck befanden sich übrigens nur Kleidungstücke und Toilettenartikel - kein Laptop, kein Smartphone oder Aufzeichnungen! Es gibt offensichtlich überhaupt keine privaten oder dienstlichen Unterlagen mehr.“

„Aber sie hatte immer ihren Laptop dabei und ohne Smartphone ist man heutzutage aufgeschmissen“, sagte Frau Meyer-Weidenlust.

„Gibt es vielleicht Kollegen, die eng mit Frau Meranti zusammen gearbeitet haben und uns unter Umständen etwas mehr erzählen könnten?“

„Na ja, Karl-Friedrich Mittelfeld hat viel mit ihr gearbeitet. Sie standen sich wohl sehr nahe, auch privat“, meinte die Museumsdirektorin.

„Das wäre doch schon mal was! Dann geben Sie uns doch bitte seine Adresse, dann können wir dem Herrn einen Besuch abstatten.“

„Das würde ich gerne machen, aber es würde Ihnen nichts nützen, denn Herr Mittelfeld weilt nicht mehr unter uns!“

„Pensioniert?“, fragte der Kollege.

„Erstens das, ja, seit vier Jahren“, antwortete Frau Meyer-Weidenlust, „und außerdem ist er tot, seit einem Monat: Herzinfarkt! Mit 69!“, fügte sie in einem Tonfall hinzu, die den Kollegen vermuten ließ, dass man im Museum so etwas nur ungern toleriert. „Aber ich gebe Ihnen trotzdem seine Adresse, denn es kann sein, dass er noch Aufzeichnungen oder sonstige Sachen aufbewahrt hat. Soweit ich informiert bin, haben seine Erben die Wohnung noch nicht leer geräumt, die wohnen nämlich in Australien! Aber die Nachbarn haben einen Schlüssel. Herr Notte seien Sie so freundlich und geben den Herren die Adresse.“

„Und die von Frau Drösig!“

„Und die Adresse von Frau Drösig!“

„Und die Rechnung von Pension Mühlenblick!“

„Und die Rechnung, Herr Notte, die Rechnung!“

Notte stand auf und wollte die Adressen und die Rechnung besorgen, als Liebich sich umdrehte und ihm hinterher rief: „Ach Herr Notte, bevor Sie gehen, sagen Sie mal, wer zum Teufel ist BMW?“

Notte errötete und Bernadotte Meyer-Weidenlusts Gesichtsausdruck wurde finster wie ein dunkelblauer Audi bei Nacht.

Heute war definitiv nicht sein bester Tag!

***

Mittwoch 29. Mai

„Mann eyh, die Meyer-Weidenlust nervt vielleicht! Ruft morgens früh an und war so was von gereizt“, sagte Lucy, als sie am nächsten Morgen das Büro betrat.

„Guten Morgen erst mal, liebe Frau Doktor!“, sagten Edda und Jerome gleichzeitig, ohne den Blick vom ihren Bildschirmen abzuwenden.

„Tschuldigung, einen guten Morgen wünsche ich euch!“

„Geht doch“, brummte Jerome, „aber erzähle mal, was hat unsere BMW jetzt wieder veranstaltet?“

„Also“, fing Lucy an, „gestern Nachmittag war hier schon eine Stimmung wie in einer Eisdiele im Januar. Notte war nicht ansprechbar und Meyer-Weidenlust war so schlecht gelaunt, dass sogar Dr. Lippmann sich nicht in ihre Nähe traute! Und heute morgen rief sie bei mir zuhause an, dass sie eine Leiterrunde einberufen hat und ich unbedingt dabei sein sollte. Und das vorm Frühstück! Erstens weiß ich nicht was ich da soll, zweitens habe ich noch keinen Kaffee gehabt!“

„Das klingt wirklich nach eine Notsituation“, sagte Edda und holte ihrer Kollegin eine Tasse Kaffee. Nach einem kräftigen Schluck wurde Lucy schon wieder etwas ruhiger und als Edda ihr dann noch einen Haferkeks anbot, war sie wieder voll da, die charmante Kollegin, die alle so liebten.

„Respekt Edda, hervorragendes Krisenmanagement!“, lobte Jerome. „Aber liebe Lucy, erkläre mir doch erst einmal was eine Leiterrunde ist und wieso du dabei bist. Nicht das es irgendwas gibt, was ich dir nicht zutraue, aber normalerweise hast du doch mit BMW nicht soviel zu tun.“

Als Lucy antworten wollte und dabei eine Wolke Haferkekskrümmel über ihren Schreibtisch blies, ergriff Edda das Wort und bewahrte damit wahrscheinlich Lucys Tastatur vor größerem Schaden.

„Stimmt, mein Lieber, dass kannst du nicht wissen, weil du damals im Urlaub warst, aber unsere Frau Doktor ist in die höheren Regionen der Museumsleitung aufgestiegen! Als es vor ein paar Monaten ein Problem mit Merantis Projekt gab, hat Meyer-Weidenlust zu einem Gespräch geladen und daran nahmen auch Dr. de Beau, Dr. Lippmann und Notte teil und weil BMW sich mit der Meranti nicht verstanden hat, wurde unsere Lucy, quasi als Katalysator, dazu gebeten.“

„Es war schrecklich“, seufzte Lucy, „BMW und Meranti haben sich über die Finanzierung gestritten und Notte hat ständig telefoniert. Er trägt neuerdings solche Cargo-Hosen, ihr wisst schon, die Hosen mit den vielen Taschen und er hat sein Handy in der Tasche auf Kniehöhe. Jedes mal wenn es klingelt, steht er auf und greift wie John Wayne nach seinem Handy. Völlig beknackt! Als Dr. Lippmann das Wort ´Geld´ hörte, hielt er einen Vortrag über die Inflation der Reichsmark nach dem Ersten Weltkrieg, während Dr. de Beau nur auf Merantis Beine starrte und beiden Frauen in allen Punkten recht gab. Und stell dir mal vor, ich sitze dazwischen und keiner beachtet mich, geschweige, dass sie mir zugehört hätten. Als nach einer Stunde der Spuk vorbei war, sagte Meyer-Weidenlust beim Herausgehen `Gut, dass Sie dabei waren` und drückte mir die Hand. Ich habe nichts begriffen - aber auch rein gar nichts!“

„Und wieso musst du jetzt dahin“, fragte Edda, „die Meranti ist doch nicht mehr dabei?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Lucy, „Ich vermute, dass sie mal wieder schlecht geschlafen oder böse geträumt hat . Aber es ist ziemlich klar, dass sie nach dem Leichenfund sehr nervös geworden ist.“

„Na ja, Das kann ich mir gut vorstellen. Eine Leiche findet man nicht jeden Tag. Das kann einen schon etwas nervös machen. Solange man nicht weiß, wer es ist und warum sie umgebracht wurde, wissen wir auch nicht, ob nicht bald wieder ein Mord passiert und das macht mich ehrlich gesagt, auch etwas nervös.“

„Es hilft ja nichts“, meinte Lucy schließlich, „ich muss da jetzt hin.“ Sie nahm noch schnell ein paar Haferkekse und verschwand in Richtung des Büros von Frau Dr. Meyer-Weidenlust.

***

„Chef, der Obduktionsbericht ist da“, sagte der Kollege als er bei Liebich ins Büro kam.

„Und steht etwas drin, was wir noch nicht wissen?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht“, antwortete der Kollege, „erst einmal sehen, was Wörner schreibt.“ Er schlug die Mappe auf, überflog ein paar Zeilen und sagte dann: „Also, die Frau war Anfang dreißig, durchaus sportlich gewesen und war - bis zu ihrem Tod natürlich - kerngesund, denn es gab keine Anzeigen für irgendwelche Krankheiten. Sie war nicht schwanger und hatte laut Wörner auch keine Kinder geboren. Woher weiß er das denn?“, fragte der Kollege eher rhetorisch.

„Das weiß ich auch nicht“, antwortete Liebich trotzdem. „Lies bitte weiter.“

„Die Todesursache war eindeutig Herzversagen infolge der Zerstörung der linken Herzkammer durch eine Kugel. Das Projektil steckte noch im Körper und wurde der Kriminalistik zugesandt. Der Schuss war aus relativ kurzer Distanz abgefeuert worden, aber definitiv nicht am Fundort, denn sie muss viel Blut verloren haben und im Bierumerweinhof gab es keine Blutspuren. Daher kann der Fundort als Tatort ausgeschlossen werden. Den Todeszeitpunkt konnte Wörner noch nicht genau festlegen, muss aber kurz vor Pfingsten gewesen sein - also vor knapp anderthalb Wochen. Sie war weder misshandelt noch vergewaltigt worden und auch sonst gab es keine Hinweise, die auf einen Kampf deuten. Die kurzen blonde Haare waren gefärbt und ursprünglich schwarz gewesen.“

„Also ist unsere Tote eine etwa dreißig Jahre alte, schwarzhaarige Frau mit sportlicher Figur. Ist nicht gerade viel“, sagte Liebich mit einem Seufzer.

„Und sie hat ihren Mörder wahrscheinlich gekannt, denn es hat, wie gesagt, kein Kampf stattgefunden“, fügte der Kollegen noch hinzu.

***

Erst gegen Mittag kehrte Lucy wieder ins Büro zurück. „Ich muss erst etwas essen und dann erzähle ich euch alles“, sagte sie als sie die fragenden Blicke ihrer Zimmergenossen sah.

„Gute Idee!“, sagte Edda und holte schon mal drei Kaffee. Jerome speicherte sicherheitshalber seine Arbeit ab und schaltete den PC auf Standby. Dann lehnte er sich zurück, nahm seinen Kaffee und wartete geduldig auf die letzten Berichte aus dem illusteren Kreis der Museumsleitung.

„Also“, fing Lucy an und setzte sich theatralisch in Pose. „Also, BMW hat richtig Angst!“

„Du meinst, sie denkt, dass sie möglicherweise das nächste Opfer ist?“, fragte Jerome nach.

„Quatsch, sie hat Angst, vom Förderkreis des Museums dafür verantwortlich gemacht zu werden und dass der Vorsitzender auf dem nächsten Sommerfest des Kreises keine Würstchen mehr grillt. Der Bierumerweinhof ist schließlich sein Lieblingsgebäude.“

„Das ist nicht dein Ernst?“

„Doch, sie möchte den Mord am liebsten geheim halten! Sie fürchtet sich vor der Prominenz dieser Stadt.“

„Also, erzähle mal von Anfang an.“

„Gut“, sagte Lucy, „wir sitzen da also in trauter Runde, Meyer-Weidenlust, Lippmann, de Beau, Notte und ich. Erst berichtete BMW von den neuesten Entwicklungen, über ihre Gespräche mit der Polizei, über die verschwundenen Akten und alles andere, was sonst so passiert war. Notte starrte während der Geschichte mit den verschwundenen Akten mit hochrotem Kopf auf sein neues Smartphone und sagte keinen Ton!

Und dann fängt BMW an, über das Renommee des Museums zu philosophieren und wie die Mitglieder des Förderkreises wohl reagieren würden, wenn sie alles erfahren. Das Sommerfest könnte möglicherweise ausfallen und damit das traditionelle Bratwurstgrillen. Die Unterstützung für das Museum durch die örtliche Wirtschaft wäre in Gefahr und und und!

Ich glaube für BMW war es wichtig, sich den ganzen Frust von der Seele zu reden. Aber sie hat wirklich Angst. Als schließlich alle gehen wollten, sagte BMW plötzlich und ganz beiläufig: „Moment noch, meine Herren, ich bin gebeten worden, zu versuchen, die Leiche zu identifizieren und möchte sie mir deswegen morgen in der Gerichtsmedizin anschauen. Wer kommt mit?“ Niemand sagte einen Ton, aber de Beau und Lippmann guckten in Richtung Notte, der nichts bemerkte, weil er telefonierte. Und als die beiden dann auch noch mit dem Finger auf ihn zeigten, meinte BMW, dass sie Notte mitnehmen würde. Beim Herausgehen gab sie mir wieder die Hand und sagte ´danke´.“

„Das ist besser als Kino“, sagte Edda vergnügt.

„So und jetzt nimmt sie Notte mit in die Gerichtsmedizin. Übrigens, ihr glaubt es nicht, wie schnell der Kerl die Gesichtsfarbe wechselt - von Knallrot auf Kreidebleich in nur 0,2 Sekunden! Ich brauchte nach dem letzten Schützenfest zwei Tage um von Erbsengrün wieder zum normalen schweinchenrosa Teint zu kommen!“, sagte Lucy mit einem Grinsen im Gesicht, das sogar Jerome erröten ließ.

„Lucinda!“ ertönte es aus der anderen Ecke des Büros.

***

Donnerstag 30. Mai

Als um 10 Uhr Frau Dr. Meyer-Weidenlust, in Begleitung von Herrn Notte, in der Gerichtsmedizin kam, war Professor Dr. Wörner in seinem Element. Eine verwesende Leiche zu präsentieren war nicht einfach und erst nach einigen Jahren Berufserfahrung möglich. Und auch dann schafften es nur wenige Pathologen die Präsentation so souverän durchzuführen wie Professor Dr. Wörner. So konnte zum Beispiel keiner seiner Kollegen die Leiche so langsam aus der Kühlung ziehen und dabei mit seinem Dackelblick die Hinterbliebenen so erweichen, dass sie beim Zurückschlagen des Lakens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Ohnmacht fielen. Die Damen fing er galant auf, die Herren mussten erfahren, dass die Wirklichkeit und der geflieste Fußboden in der Pathologie gleichermaßen hart sein können. Als Professor Dr. Wörner das Kühlfach öffnete und die Leiche heraus zog, fiel Notte entgegen der Erwartungen nicht in Ohnmacht, aber es verschwanden alle bis dahin bekannten Gesichtsfarben und seine Kinnlade sackte nach unten. Plötzlich fingen seine Knie an zu zittern - aber das lag an seinem Handy in der Cargo-Hose, das er aus Pietät auf Vibrationsalarm gestellt hatte. In diesem Zustand verharrte er und weder Frau Dr. Meyer-Weidenlust noch Professor Dr. Wörner trauten sich, das Handy abzustellen, denn sie wussten beide nicht, ob sie damit irgendwelche vitalen Funktionen außer Betrieb stellen würden. Sie beschlossen ihn erst mal so stehen zu lassen. Entweder würde sein Zustand sich verbessern - dann könnte Frau Doktor ihn wieder mit nach Hause nehmen, oder er verschlechterte sich - dann wäre er beim Professor Doktor Wörner in den besten Händen.

Frau Dr. Meyer-Weidenlust selber hielt sich erstaunlich wacker auf den Beinen. Man konnte nicht sagen, dass sie sich sehr wohl fühlte, aber die Leiche faszinierte sie, denn, obwohl ihre Gesichtszüge kaum zu erkennen waren, kam sie ihr seltsam bekannt vor. Sie hatte das Gefühl, dass in ihrem Hirn ein Bild vorhanden war, worauf sie aber im Moment keinen Zugriff hatte. Professor Dr. Wörner freute sich über das Interesse und die professionelle Haltung seiner ´Kollegin´. Wenn Wissenschaftler unter sich sind, so stellte er fest, konnte man doch wesentlich effizienter arbeiten. Der Buchhalter hätte dabei sowieso nur gestört und so konnte er ohne Rücksicht auf Laien von seinem Befund berichten. Zum Schluss erwähnte er noch, dass die Polizei bei ihr keine Papiere gefunden hatte und dass auch die historische Kleidung, die sie am Fundort getragen hatte, keine eindeutigen Hinweise auf ihre Identität gab. Die Schmuckstücke, die man der Leiche angelegt hatte, waren antik und vielleicht sogar Eigentum des Museums. Dabei zeigte Professor Dr. Wörner auf eine Schale auf dem Tisch.

„Tatsächlich alter Schmuck“, bemerkte Frau Meyer-Weidenlust beiläufig, „könnte uns möglicherweise gehören.“ Sie wollte sich wieder dem Professor zuwenden, als ihr Blick plötzlich an einem Ring haften blieb. Da war es wieder, dieses seltsame Gefühl, etwas schon mal gesehen zu haben. Der Ring! Sie erinnerte sich an den Ring. Langsam bekam sie Zugriff auf das Bild in ihrem Hirn. Der Ring wurde ihr damals stolz gezeigt von einer unsympathischen Person. Sie sah den Finger, sie sah die Hand. In Gedanken folgte sie der Hand, dann dem Arm, hoch zu den Schultern, sie sah das lange schwarze Haar und dann sah sie das Gesicht...... und plötzlich wurde es ihr klar - sie hatte Zugriff auf das Bild! Sie starrte Wörner mit weit aufgerissenen Augen an, schaute auf die Leiche und dann wieder hoch zum Professor. Ihre Augen konnten seine Konturen nur noch vage wahrnehmen und auch der Raum um ihn herum fing an, sich zu verformen. Ihr Blick wurde trübe und ihre Knie weich. „Das ist doch..., das ist...“, stammelte sie leise, bevor alles endgültig schwarz wurde und Professor Dr. Wörner seine ausgefeilte Fangtechnik endlich unter Beweis stellen konnte.

Als Frau Dr. Meyer-Weidenlust die Augen wieder öffnete, befand sie sich in Professor Wörners Büro. Das nahm sie we