Tot im Teufelssee -  - E-Book

Tot im Teufelssee E-Book

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Beschreibung

Im November 1976 sorgt der Fund eines toten Babys im Grunewalder Teufelssee für helle Aufregung in der West-Berliner Bevölkerung. Alles deutet auf eine illegale Spätabtreibung hin. Da ein später Schwangerschaftsabbruch ohne kriminologische oder medizinische Indikation als Mord zu werten ist, sollen Kriminalkommissar Peter Kappe und dessen weltgewandter Kollege Wolf Landsberger den Fall nachgehen. Doch die Ermittlungsarbeiten gestalten sich schwierig. Als die beiden jungen Kriminalbeamten versuchen, im neu eröffneten Frauenhaus in Grunewald an Informationen zu gelangen, stoßen sie auf eine Mauer des Schweigens. Erst als eine Woche nach dem Fund des toten Babys der Polizeimeister Achim Schubert tot vor dem Frauenhaus aufgefunden wird, kommen die Ermittlungen in Schwung. Und Kappes kriminalistischer Instinkt sagt ihm, dass die beiden Morde in Zusammenhang stehen …

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Bettina Kerwien

Tot im Teufelssee

Ein Kappe-Krimi

Jaron Verlag

Bettina Kerwien lebt in Berlin und studierte Amerikanistik und Publizistik. Als Geschäftsführerin eines Stahlbauunternehmens widmet sie sich jeder freien Minute dem Schreiben. Im Jaron Verlag veröffentlichte sie 2019 ihren ersten rasanten Band in der Reihe «Es geschah in Berlin»: «Au revoir, Tegel».

Originalausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Satz: Prill Partners|producing, Barcelona

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020

ISBN 978-3-95552-164-6

Für meine Mama Helga Kerwien

Der Historiker sagt uns, wie es gewesen ist; der historische Romancier, wie es sich angefühlt hat.

Denis Scheck

Eine Frau ist wie ein Teebeutel. Sie wissen nicht, wie stark sie sind, bis sie in heißes Wasser kommen.

Anna Eleanor Roosevelt

A really good detective never gets married.

Raymond Chandler

PROLOG

Donnerstag, 11. November 1976

ES WIRD EINE LIEBESHEIRAT SEIN, glaubst du. Wenn du das hier überlebst. Der Vollmond hängt zwischen Sturmwolken. Du hast Steine im Schuh. Schweiß rinnt dir den Rücken hinunter. Niemand, der bei klarem Verstand ist, radelt nachts alleine auf der Teufelsseechaussee. Die beißende Kälte, die Feuchtigkeit, die Finsternis, die Bewegungen in den Schatten rechts und links des Lichtkegels der schwankenden Fahrradlampe. Du spürst deinen Herzschlag auf den Trommelfellen, es ist das Einzige, was du hörst. Die Nachtgeräusche des Waldes – du weißt, sie sind da, Warnungen, die dich nicht erreichen.

Du hast dich aus dem Sattel erhoben und treibst das Rad voran. Die Straße ist nass, Pfützenwasser spritzt. Du kannst dich nicht setzen, du fühlst dich, als hätte dich jemand untenrum angezündet. Du rast über die schwarze Betonschneise. Der Grunewald lauert hinter den Straßengräben. Du schwitzt, du frierst, du starrst auf die Dunkelheit jenseits des Lichtkegels. Deine Muskeln brennen. Du legst deine letzte Energie in die Pedale. Deine Lunge droht zu platzen, deine Arme zittern, die Finger krampfen sich um den Lenker. Du hast nicht einmal an eine Taschenlampe gedacht. Nur das Bündel hast du gegriffen und bist davongelaufen. Jetzt liegt es im Korb am Lenker des Fahrrads unter einem rot karierten Küchenhandtuch. Das Rad holpert über Schlaglöcher. Das Bündel zuckt, als wäre es lebendig. Du schaust nicht hin. Du trittst und trittst. Das Gefühl, dass etwas Großes hinter dir her ist, hat sich in deinen brettharten Rücken gekrallt.

Plötzlich endet die Straße in einem Wendekreis. Da vorne liegt die Einfahrt zum stillgelegten Wasserwerk. Du springst vom Rad. Du rutschst auf dem glatten Untergrund, deine Beine knicken weg. Du knallst hart auf den Beton. Das Rad scheppert zu Boden. Du siehst deinen keuchenden Atem im Mondlicht. Du glaubst nicht, dass du wieder aufstehen kannst. Aber du musst. Du suchst das Bündel. Es ist aus dem Fahrradkorb gerollt. Es fühlt sich schwer an. Schwerer als noch vor einer Stunde.

Du zerrst das Rad mit einer Hand ins Gebüsch, damit es keiner findet. Zweige peitschen dein schweißnasses Gesicht. Vor dir strecken sich drohend die Umrisse des Schornsteins des Wasserwerks in den Himmel. Mit der Fahrradlampe ist dein letztes Licht erloschen. Nur die Sterne zittern über dir zwischen den Baumwipfeln. Du findest den Waldweg. Du kennst dich aus. Deine Mutter hat jahrelang in Westend geputzt, in einer Villa an der Heerstraße. Du warst oft an der Badestelle am Teufelssee, während die Mama gearbeitet hat. Dein Atem beruhigt sich. Du riechst das Harz, die Pilze, die morsche Baumrinde. Stille wiegt die Birkenzweige. Du glaubst, Irrlichter huschen zu sehen. Oder sind es Grablichter? Doch bis zum Selbstmörderfriedhof ist es noch ein ganzes Stück.

Deine Finger sind eiskalt, feucht, taub und blutleer. Du hast Angst, dass dir das Bündel aus den Händen rutscht. Du willst es nicht an dich pressen, aber du musst. Einhändig tastest du dich vor in den Wald, einen Fuß vor den anderen. Deine Finger dienen dir als Augen, sie sichern dich nach allen Seiten, wie Schnurrhaare. Der Weg wird breiter. Der Boden ist hart, uneben. Wildschweine haben ihn aufgerissen. Du riechst den nahenden Winter und die wilden Tiere im scharfen Nachtwind.

Wie unheimlich alles nachts ist, so eng und schwarz. Du willst nicht weinen. Deine Beinmuskeln krampfen und beben. Du siehst deine Füße nicht, strauchelst vorwärts. Dir wird klar, dass du nichts hast, womit du graben könntest. Aber das spielt keine Rolle. Ein Stein, ein Zweig – irgendetwas wirst du finden. Also weiter. Es können nicht mehr als hundert Meter sein, durch das Gestrüpp. Rechts siehst du die Gebäude des Wasserwerks, links die Liegewiese der Badestelle. Hinunter zum See. Da ist das Licht besser. Du musst den Schildhornweg entlang. Die Nacht flackert und züngelt um dich herum wie schwarzes Feuer.

Du läufst weiter und atmest weiter, es ist ein Reflex, nichts kann dich aufhalten. Es ist egal, was mit dir hier heute Nacht passiert. Denn dir ist, als wärst du nicht du selbst. Du hast doch eine gute Arbeit, ein schönes Zimmer, einen anständigen Verlobten. Du wirst eine strahlende Braut sein. Du wirst aus Liebe geheiratet. Wer kann das schon von sich sagen? Du bist ein achtbares Mädchen. Es bist nicht du, die das hier erlebt. Du würdest niemals nachts allein durch einen Wald hetzen. Das ist alles ganz und gar nicht real.

Du glaubst, klar und überdeutlich ein Käuzchen rufen zu hören, ganz nah, und dann ein Pfeifen. Ein Geräusch ist wie die Berührung einer anderen Welt für dich. Eine Gänsehaut schüttelt dich. Heißt es nicht, wenn ein Käuzchen ruft, stirbt jemand? Dieser Friedhof, hinter den Bäumen Richtung Havel scheint er dir aufzulauern. Selbstmord ist Todsünde. Und wer nicht in geweihter Erde begraben ist, der kann jederzeit als Untoter auferstehen. Selbst im Sterben kann man scheitern. Ein Selbstmörderfriedhof ist ein Ort für die Gescheiterten. Gescheiterte wie diese Frau, die du nicht bist und doch irgendwie bist, ein dunkles Du, ein Nicht-Du. Nun presst du es doch an dich, dein rot kariertes Handtuchbündel.

Die Nacht scheint zu atmen. Sie zieht sich um dich zusammen, nimmt dir die Luft aus den Lungen. Dann lässt sie dich wieder los, schmerzhaft langsam. Du kannst fühlen, wie die Schatten ächzen und stöhnen, diese schwarze Schwungmasse der Unendlichkeit. Wenn du die Augen schließt, flackern Irrlichter über die Innenseiten deiner Lider. Vielleicht wirst du vor Angst sterben, aber selbst das fühlt sich fern und unwichtig an. Deine steife Hand macht sich selbstständig. Sie streichelt das Bündel an deiner Brust. Etwas, das Millionen Frauen wie selbstverständlich gelingt – du hast es verpfuscht. Aber du bist jung. In deinem Alter steckt man nicht auf. Also kämpfst du.

Da. Ein heller Streifen Ufersand, dann der Teufelssee. Er taucht als umflorter Silberspiegel aus dem Bodennebel auf. Weidenkätzchen flattern im Mondlicht am windstillen Ufer wie die Totenhemden ruheloser Seelen. Dein Rücken ist kalt, dein Nackenhaar sträubt sich.

Friedlich, zärtlich leckt das schwarze Wasser am brackigen Totholz. Du trittst keuchend ans Ufer. Himmelsteich. So nennt man einen See ohne natürlichen Zu- oder Abfluss. Du weißt es aus der Schule. Himmlisch kommt dir das Licht über dem Wasser vor. Eine dickflüssige Mondhelligkeit. Frei liegende Weidenwurzeln krallen sich in die Böschung wie Vogelklauen. Irgendwo links am Ufer entlang verläuft der Weg, dem du folgen musst. Der ist breit und auch nachts hell genug.

Du bist plötzlich ungeheuer erschöpft. Wieso stehst du da im Herbstmondlicht mit deinem Bündel, das immer schwerer wird? Du tastest zitternd nach dem Stamm eines umgestürzten Baums. Du setzt dich. Dein Herz ist so kahl und weißgrau wie die Birkenstämme. Plötzlich hast du eine neue Idee, genauso wirksam, genauso tröstlich wie die erste. Nur schneller wird es gehen. Und das muss es auch, sonst schaffst du es nicht mehr. Also los.

EINS

Sonntag, 14. November 1976

MITTEN IN DER NACHT klingelt das Telefon. Polizeimeister Achim Schubert schreckt auf und taumelt durch das Wohnzimmer zum Telefon. Er ist Personenschützer und Fahrer bei Ernst von Moll, dem Kultursenator von West-Berlin. Jetzt ist etwas passiert, denkt Schubert sofort. «Brecht von Moll die Gräten, alle Macht den Räten!», schießt es durch seinen schlaftrunkenen Schädel. Ein bedrohlicher Spruch, der in letzter Zeit auf vielen Demonstrationen von protestierenden Studenten skandiert wurde. Im Mai hat sich RAF-Terroristin Ulrike Meinhof erhängt, die Neue Linke gibt dem Staat die Schuld, der reagiert mit einem Anti-Terror-Paragrafen. Außerdem hat von Moll die Kulturförderung unter sich. Was förderungswürdig ist, darüber streiten in West-Berlin Establishment und außerparlamentarische Opposition nicht nur verbal.

Achim Schubert reißt im Flur den Hörer ans Ohr.

«Schubert? Sie wissen, wer ich bin?», fragt eine befehlsgewohnte Stimme.

Ein Ruck geht durch Schuberts Körper. «Selbstverständlich.»

«Wo ist sie, Schubert? Ist sie bei Ihnen?»

«Nein.» Schubert reibt sich eine Schläfe. «Ich weiß es nicht.»

«Schaffen Sie sie wieder her!»

«Aber wie?»

«Denken Sie nach! Und wenn ihr etwas passiert ist, dann gnade Ihnen Gott!»

Es klickt. Aufgelegt. Schubert starrt in die Schatten, und die Schatten starren zurück.

Die fesche Gabi Piskorski macht nur, worauf sie Bock hat, und sie hat Bock auf Eisbaden. Sie kommt gerne zum Teufelssee. Im Winter zum Eis-, im Sommer zum FKK-Baden. Im Sommer hat sie hier am See sogar mit ein paar Hundert Leuten gefeiert. Es gab Sekt und kalten Tee gegen die Hitzewelle. Im Berliner Blitz hat gestanden, das sei eine Orgie gewesen. Man soll ja nicht alles glauben, was die Zeitung berichtet. Aber in dem Fall … Sogar ein Foto hatten die Zeitungsfuzzis, und zwar vom besten Stück des glutäugigen Fredy, mit spießigem schwarzem Balken über dem Gesicht, aber die Tätowierung an der entscheidenden Stelle hat man gut lesen können: Nur für dich. Also nur für Gabi Piskorski.

Man will ja auch mal was erleben. Gibt ja nichts in West- Berlin. Immer nur in die Bhagwan-Disco «Far-Out»? Die Thermen an der Heerstraße sind Gabi zu teuer und zu piefig. Deshalb verabredet sie sich im Winter sonntags zu Sonnenaufgang – das ist im November so um kurz nach sieben Uhr – an der Wasserrettungsstation Teufelssee. Ein paar Hippies und ein paar Etablierte. Das Kind braucht einen Namen, also nennen sie sich die Insulaner Eiszapfen. Manche kommen mit dem Rad, ein paar Alt-Kommunarden vom Stutti kommen im blümchenbemalten VW-Bulli. Gabi fährt einen phönixroten Golf mit Schiebedach. Fredy lacht über das Auto: fünfzig PS und sieht aus wie ein Sportwagen, Sekretärinnen-Ferrari und so weiter. Aber Gabi Piskorski hat was Eigenes und kann Fredy am S-Bahnhof Halensee auflesen.

Auf dem Parkplatz im Grunewald ziehen sie im Auto erst mal einen durch. Dann nehmen sie ihre Bademäntel und gehen hinunter zum Teufelssee. Die Luft hat fünf Grad, das Wasser nur drei. Da nackig hineinzuhüpfen, nur ein paar Minuten, das ist Lebenslust pur. Gabi streift Wintermantel und Jeans ab, die Strickmütze behält sie auf. Fredy macht wieder seine Sponti-Sprüche – «Zurück zur Natur, nur nicht zu Fuß!» –, dann laufen sie Hand in Hand ins Wasser zu den anderen. Gabi stößt spitze Schreie aus. Die Kälte ist ein Schock. Ihre Muskeln spannen sich, verkrampfen. Sie bekommt keine Luft. Ihr Herz pumpt, ihre Atmung rast, sie hechelt, will wieder raus aus dem Wasser, aber Fredy hält sie zurück. «Du musst kontrolliert atmen», rät er. «Langsam ein, langsam aus, langsam ein, langsam aus. Ein, aus. Dann Untertauchen bis zum Hals, dabei ausatmen.»

Gabi lässt sich darauf ein. Ihr Körper wird taub. Das Wasser legt sich um sie wie eine eisige Decke. Ihr Atem beruhigt sich. Ihre Arme werden leicht und treiben zur Wasseroberfläche. Enten fliegen übers Wasser. Gabi entspannt sich in ihrem Kokon aus Eiswasser. Ihre Füße spürt sie nicht mehr. Ihre Haut kribbelt wie von tausend Nadelstichen. Es reicht, sie will zurück ans Ufer. Der sandige Grund unter ihren Füßen ist rutschig von verrottenden Blättern. Gabi fühlt sich verlangsamt, kraftlos und träge, sie stützt sich mit den Händen im Schlick ab, da liegt ein großer Stein im Wasser, sie zieht sich daran hoch. Etwas löst sich hinter dem Stein. Eine Plastiktüte im Schilf, denkt sie zuerst. Aber dann treibt es auf sie zu. Gabis halb gefrostetes Gehirn begreift in Zeitlupentempo. Sie schreit «Da!» und «Tot!» und humpelt ans Ufer, Richtung Auto. Wo ist die nächste Notrufsäule? «Hilfe! Polizei! Schnell!»

Herrje, die übliche Sonntagmorgen-Leiche.

«Und noch dazu am FKK-Strand! Ist doch fast schon Winter!» Der Leiter der Mordkommission 6 freut sich. Eine Leiche, das ist so schrecklich schön. Für so etwas ist jemand wie Harry Engländer Polizist geworden.

Kriminalkommissar Peter Kappe kann förmlich durch sein Telefon sehen, wie das Jagdfieber die Augen des Kriminalhauptkommissars Engländer leuchten lässt.

«Klären Sie das auf, mein Junge», befeuert Engländer seinen besten Mann mit vor Schauerromantik bebender Stimme. «Bevor uns der Boulevard durch den Fleischwolf dreht!»

Kappe reibt sich die Schläfen. Er hört sich Engländers Wegbeschreibung zum Tatort am Teufelssee an und wackelt dabei mit seinen nackten Zehen. So richtig wach ist er noch nicht. Draußen sind nur fünf Grad, und es regnet seit vierzehn Tagen fast ohne Pause. Alles hat für einen Sonntag im Bett gesprochen.

«Kappe, haben Sie mich verstanden?»

«Klar, Chef. Ich überlege bloß, wo ich meine Dienstwaffe hingelegt habe.» Der Sommer war heiß und ruhig gewesen. Die MK 6 hat lange keine Verwendung mehr gehabt.

«Die Waffe brauchen Sie bei den Nackedeis wohl zunächst nicht.»

Es gibt da so einen polizeilichen Grundsatz: Wenn jemand zu dir sagt, du brauchst keine Waffe, dann nimmst du besser eine mit, die besonders gut geölt ist. «Wer weiß, Chef, vielleicht muss ich ein paar Fische überreden, aus dem Wasser zu kommen», sagt Kappe. Er merkt, wie sein bonbonfarbener Siebzigerjahre-Zynismus langsam erwacht.

«Zack, zack, Kappe! Beeilen Sie sich!», befiehlt Harry Engländer. Dann legt er auf.

Der Regen läuft an den Scheiben des Altbauwohnzimmerfensters hinunter. Luft dringt durch das geöffnete Oberlicht, zwischen den Charlottenburger Bürgerhäusern riecht es nach herbstlicher Kachelofenräucherei. Es ist ungewohnt still. Unter der Woche dröhnt durch die gesamte Straße Baustellenlärm vom Internationalen Congress Centrum gleich um die Ecke. Die Außenhülle steht schon und erinnert an eine Brotdose. Keiner weiß, wofür West-Berlin das ICC braucht.

Eine Leiche also. Dabei strömt aus der Küche so ein unwiderstehlicher Frühstücksduft – Tee, Rührei, warme Brötchen. Eigentlich muss Kappe jetzt rauchen. Aber das darf er nur noch auf dem Balkon. Neben dem Telefon im Flur hat er deshalb eine Lavalampe in Form einer Mondrakete auf den Resopaltisch gestellt. Pinkfarbene Paraffinwachse formen sich träge zu aufsteigenden oder abwärts schwadernden Tropfen, Schläuchen und Blasen. Kompensatorisch erfreut er sich an den wallenden Lavaformen, die ihn an hypnotisch-meditativ aufsteigenden Zigarettenqualm erinnern.

Sein sonntäglich faules Gehirn mag sich nicht zu der Erkenntnis durchringen, dass der Tag ganz anders aussehen wird als geplant und dass es deshalb wieder Ärger geben wird. Er geht hinüber zur Schrankwand und schließt das Barfach auf, in dem er seine Dienstwaffe hinter dem Mampe Halb und Halb vor seiner Tochter versteckt hat. Männer, der Mampe kommt, denkt Kappe. Ein Slogan von dem Reklameplakat, auf dem ein Elefant zwei Herrenreitern und drei Bauschaffenden einen Schnaps einschenkt.

Kappe steckt seine Walther PPK ein. Im Spiegel an der Rückseite des Barfachs sieht er sein Netter-Junge-von-Nebenan-Gesicht, ein langes, ruhiges, empfindsames Gesicht mit einem verwegenen Dreitagebart und dunklen Schatten an genau den richtigen Stellen. Seine Haare sind dunkel und länger als die seiner Tochter. Wenn er mit Tabea spielt, bindet sie ihm manchmal einen Zopf. Deswegen und weil es regnet und kalt draußen ist und weil er die Schnapsflasche nun schon mal in der Hand hat, versichert er sich mit einem Blick zur Küchentür, dass ihn niemand sieht, und gönnt sich einen Schluck. Prophylaxe. Der herzhafte Feinbitter mit dem Elefanten, 35 Vol. %, geschmackstark, männlicher Genuss, liest er auf dem Etikett. Sein Magen wird angenehm warm.

«Wir haben einen neuen Fall», ruft er halbherzig in Richtung Küchentür. «Ich muss los.»

Ein kollektives Aufstöhnen von Frau und Tochter kommt zur Antwort. «Was denn jetzt schon wieder?» Es schurrt resolut, als Sarah ihren Küchenstuhl zurückschiebt. «Kann das nicht dein Kollege Landsberger machen? Der ist doch Junggeselle.»

Kappe hört den Unterton. Seit sieben Jahren ist er mit Sarah zusammen. Seit sechs Jahren sind sie verheiratet. Es waren schöne Jahre. Alles in allem.

Er nimmt noch einen Schluck Mampe. «Ich bin der leitende Ermittler», ruft er zurück.

Die angelehnte Küchentür fliegt auf. Kappe knallt die Flasche ins Barfach, wirft die Schranktür zu und tritt aus dem Wohnzimmer auf den Flur. Er greift nach Socken und Straßenschuhen.

«Papa? Warum musst du weg?», piepst seine fünfjährige Tochter mit frühkindlicher Atemlosigkeit. Tabea ist ein entzückendes blondlockiges, braunäugiges Geschöpf mit der Leichtigkeit eines Sommers an der Ostsee. Das Ebenbild ihrer Mutter.

«Ich muss mir was ansehen. Das ist doof, ich weiß. Es tut mir leid, Schatz», sagt Kappe ruhig und gewichtig.

Tabea federt im Schlusssprung aus der Küche auf den Flur. Die Nachbarn unter ihnen müssen denken, sie hätten sich ein Pferd angeschafft. «Wann kommst du zurück?»

«Das weiß ich leider noch nicht.»

«Ich kann dir eine Schleife binden!», ruft Tabea freudig und wirft sich auf seine Schuhe. Ihre blonden Locken fliegen. Kappe kann sich nicht erinnern, dass seine Tochter im wachen Zustand je länger als dreißig Sekunden still gesessen hätte. Vor Eifer beißt sie sich beim Schnürsenkelbinden fast die Zunge ab. Ihr Mund ist mit Nutella verschmiert, das seine Frau neuerdings kauft. Kappe hat das Zeug auch immer gemocht. Aber ihm setzt Sarah nur biologisch Einwandfreies ohne chemisch-synthetische Pestizide vor – leider auch ohne Geschmack. Kappe wischt seiner Tochter die Schokoschmiere mit einem Taschentuch ab. Er hat den Verdacht, dass seine Frau ihre Nachkriegskindheit im Osten kompensieren will.

Kappe öffnet die Küchentür und tritt über die Schwelle. Gegen das Kaliber des Blicks seiner Frau hilft keine kugelsichere Weste. Er nimmt seine Tasse mit dem lauwarmen Bachblütentee Geschmacksrichtung «Klarheit und Zentrierung» vom Frühstückstisch und leert sie auf ex. Schmeckt wie aufgegossenes Heu, aber Sarah behauptet, das sei gesund.

«Ich habe extra den Dienst getauscht, damit wir mit Tabea ins Aquarium gehen können», zischt sie.

«Wir haben Rufbereitschaft», sagt er. «Du wusstest, dass du in eine Polizistenfamilie einheiratest.»

«Als ich dich kennengelernt habe, warst du noch ganz zufrieden damit, als junger Psychologe an einer Provinzklinik im Wendland zu arbeiten.»

«Den Job habe ich nur angenommen, um einen westdeutschen Pass zu bekommen und dich wenigstens vier Wochen im Jahr in der DDR besuchen zu können.»

«Wie romantisch!» Sie sagt es, als ob Gefühlstiefe eine schmutzige Angewohnheit sei, die sich nur dekadente Kapitalisten wie ihr Mann leisten können.

Kappe hat gute Erfahrungen mit Nebenschauplätzen gemacht. Seit ein paar Wochen geht Sarah einmal in der Woche zum Sport. Jazzgymnastik. Hinterher sieht sie rosig und gut durchblutet aus und lächelt grundlos. Kappe will daraus schlussfolgern, dass seine Frau sportbegeistert ist.

Er wirft den Tagesspiegel vor Sarah auf den Tisch. Die Sportschau in Farbe sehen, durch einen Kredit der Deutschen Bank, heißt es in einer Anzeige. Erleben Sie die nächsten Olympischen Spiele (und alle anderen Ereignisse), wie sie in Wirklichkeit sind: in Farbe!

Seine Frau nimmt die Zeitung vom Tisch. «Ehrlich, Peter, ich weiß nicht, ob wir das noch schaffen.» Das hat nichts Neckisches. Ihre Augen sind hart.

«Du kannst den Fernseher haben, wenn es schiefgeht», sagt er und bemüht sich um ein ausdrucksloses Gesicht. Natürlich, er hat jetzt keine Zeit für Diskussionen. Außerdem ist ihm das Kind hinterhergerobbt und fummelt an seinen Schnürsenkeln.

Sarah steht auf, beugt sich über den Küchentisch. Sie tut so, als würde sie ihm einen Abschiedskuss geben, und dabei flüstert sie ihm ins Ohr: «Ich versuche mir einzureden, dass ich dich nicht aus Liebe, sondern aus Vernunft geheiratet habe.»

«Damit ich dich in den Westen hole?», flüstert er zurück.

«Wäre das so abwegig? Und eine Fahne hast du auch noch!», stellt Sarah fest und kräuselt die Nase. «Gleiches Recht für alle – vielleicht gehe ich heute Abend spontan ein paar Bierchen trinken. Mir wäre gerade danach.»

«Bier?» Er stutzt. Trinken Frauen nicht Weißweinschorle? «Mit Hilde?», fragt er. Hilde ist eine ehemalige Arbeitskollegin, mit der Sarah seit einiger Zeit besonders eng zu sein scheint.

«Mal sehen.» Sarah lächelt wölfisch.

Kappe greift nach seinem Parka. Die Wohnungstür scheppert hinter ihm ins Schloss.

Richard-Strauss-Straße 22, tief im grünen West-Berliner Villenbezirk Grunewald. Ein herrschaftliches Haus, das mit seinen bodentiefen Fenstern, hellgrünen Fensterläden und dem säulengetragenen Balkon über dem Eingangsportal an die Blüte des Bürgertums im Kaiserreich erinnert. Hinter dem Haus einzelne hohe Kiefern und parkähnlicher Rasen. Nebenan residiert der Königlich Norwegische Militärgesandte.

Monika Béco biegt vom Dachsberg in die Richard-Strauss-Straße und steckt ihren Durchsteckschlüssel in die Schlupftür des schmiedeeisernen Tors. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lungert, in eine Kirschlorbeerhecke gedrückt, schon wieder ein Kerl im Trenchcoat herum. Monika zieht die Tür hastig hinter sich zu. Wenn sie einen Mann sieht, hat sie immer gleich einen Kamm. Sie ist eine Männerhasserin. Sie gesteht es sich ein. Das befreit.

Um die Zeit ist es noch ruhig im Haus. Monika Béco durchquert das Entree mit seinem eleganten Stuck. Auf den Fluren zu den Schlafzimmern stehen provisorische Betten, darin schlafende Frauen, darunter Koffer. Überall liegt Spielzeug. Monika betritt ein sonnendurchflutetes Büro im ersten Stock. Vor ihrem Schreibtisch führt eine Flügeltür hinaus auf den klassizistischen Säulenbalkon.

Sie hängt ihren bunten Regenmantel an einen Kleiderständer und nimmt hinter dem Schreibtisch Platz. Sie ist die Vereinsvorsitzende des Frauensache e. V., einer Fraueninitiativgruppe zum Schutz misshandelter Frauen. Monika ist Teil des Zweierteams, das heute Telefondienst hat im Ersten Autonomen Frauenhaus Deutschlands. Anfang des Monats hat es der Verein als freier Träger eröffnet.

Monika bindet ihr wildes honigblondes Haar zu einem strengen Zopf und lockert den Gürtel ihrer Kimonobluse. Der Stoff ist hübsch und lebensfroh: Glücksdrachen, bunte Vögel, Blumen. Die Schneiderin um die Ecke näht ihre Kleidung. Yves Saint Laurent ist tabu. Monika muss als viel geschmähte Nummer zwei der neuen deutschen Frauenbewegung – hinter Alice «Schwanzab-Schwarzer» – Kurzschlüssen auf die Preislage ihrer Eitelkeit begegnen. Aussehen hat mit Ansehen zu tun. Also trägt sie ein dezentes Make-up. Eine schicke 35-Jährige, die ein Messer in der Tasche hat. Wer in die neue Einrichtung kommt, der wurde vom Ehemann vergewaltigt, manchmal auch vom eigenen Vater. Das Haus ist eine Festung der Frauen, und so führt Monika es auch. Aber es gibt keinen Grund, dabei nicht auf das Äußere zu achten.

Monika nimmt das Protokoll der gestrigen Nachtwache zur Hand. Darauf hat die Diensthabende in zittriger Schrift notiert:

20.30 Uhr: Ein Herr läutet. Er will das Haus in die Luft sprengen, sich aber zeitlich nicht festlegen. 21.15 Uhr: Ein Herr ruft an. Er steht mit einer Pistole in der Telefonzelle gegenüber. 0.45 Uhr: Eine Dame klingelt und bittet um Aufnahme. Sie ist alkoholisiert. 0.55 Uhr: Ein Herr attackiert das Eisentor mit einer Axt. Die Dame gibt an, das sei ihr Ehemann.

Der devote Tonfall des Protokolls macht Monika wahnsinnig. Sie ist hauptberufliche Journalistin und hat gerade eine neue politische Frauenzeitschrift aus der Taufe gehoben. Monikas Hand schließt sich um das Messer in ihrer Tasche. Sie hofft zu seinem eigenen Besten, dass heute kein «Herr» vor dem Haus auftaucht.

Peter Kappe rennt die Treppe hinunter, ohne Rücksicht auf die sonntägliche Ruhe der Nachbarn. Er stößt die Haustür auf und stolpert hinaus auf die regennasse Charlottenburger Wundtstraße. Kalt ist es geworden. Er schlägt den Kragen seines Parkas hoch und weiß im ersten Moment nicht mehr, wo er seinen beigegelben Opel Rekord geparkt hat. Aber dann fällt es ihm wieder ein.

Der Wagen hustet zweimal trocken und springt an. Blauer Qualm umgibt das Fahrzeug wie Theaternebel, als Kappe ausparkt und sich auf dem Kaiserdamm Richtung Theodor-Heuss-Platz einordnet. Die Scheibenwischer schieben quietschend den Regen von der Frontscheibe. Er biegt rechts auf die Heerstraße ab und am Bahnhof Heerstraße links auf die Teufelsseechaussee. Es ist sonntäglich leer auf West-Berlins Straßen. Kappe versucht sich auf das zu konzentrieren, was auf ihn zukommt: eine Leiche vor dem Frühstück.

Die Teufelsseechaussee schlängelt sich scheinbar endlos durch dichten, feucht triefenden Mischwald. Rechts auf dem Teufelsberg erahnt Kappe die Abhörstation der Amis. Im Winter war er hier außerhalb des Militärgeländes einmal mit Tabea zum Rodeln gewesen. Sie hatte keinen Spaß daran, die Abwärtsfahrt war ihr zu rasant, und es war zu kalt.

Auf dem Klingelschild des ersten deutschen Frauenhauses steht kein Name. Die Adresse der Villa ist bekannt. Die Taxifahrer geben sie weiter, aber auch die Abendschau hat über die neue Unterkunft berichtet. Die Vorstandsfrauen des Frauensache e. V. haben abgestimmt und entschieden, die Adresse bekannt zu machen, damit möglichst viele Frauen von der neuen Einrichtung erfahren. Jetzt glaubt Monika Béco, das war ein Fehler. Sie haben zwar erst ein paar Wochen Erfahrung, aber es zeichnet sich ab, dass die Hälfte der Frauen nach Hause zurückkehren will. Sie wollen es so lange noch mal versuchen, die dummen Schafe, bis man sie totgeprügelt auffindet.

Es klopft, dann öffnet sich die Bürotür. Dr. Hilde Bergmann betritt das Büro. Hilde ist eine langjährige Freundin, eine niedergelassene Gynäkologin in den Fünfzigern. Sie ist ebenfalls im Vereinsvorstand und für die medizinische Betreuung der Frauen im Haus zuständig. Eine drahtige, resolute braungraue Person mit Nana-Mouskouri-Frisur und -Brille. Sie lehnt sich gegen den Türrahmen, schiebt die Hände in die Taschen ihres weißen Kittels und seufzt tief.

«Wie geht es ihr?», erkundigt sich Monika.

«Ich habe ihr etwas zur Beruhigung gegeben.» Hilde zuckt mit den Schultern. «Ich hoffe, sie schläft jetzt.»

«Sie ist jung», sagt Monika.

Hilde nickt. «Du musst gleich mal in der Dusche durchputzen», sagt sie. «Da hat schon wieder eine reingemacht.»

«Das gibt’s doch gar nicht! Was sind das denn für Drecksäue!» Monika springt auf.

«Das waren wahrscheinlich die Kinder», sagt Hilde. «Die sind alle traumatisiert.»

«Und der Vorstand soll hier putzen? Das ist doch kein Hotel! Das erledigen die schön selbst!»

«Wir müssen alle unseren Beitrag zu dem Zusammenleben leisten», sagt Hilde.

«Dann mach du es doch. Du weißt ja, wo die Putzutensilien stehen.» Monika schüttelt sich.

«So geht das nicht, Monika.» Hilde zieht das sogenannte Meckerbuch aus ihrer Kitteltasche und knallt es auf Monikas Schreibtisch. «Du kannst dich nicht immer aus der Affäre ziehen. Wir wollten doch anders leben!»

«Wir wollten die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Da ist politische Aktion gefragt. Ich kann meine Zeit nicht damit verschwenden, die Dusche zu wienern, nur weil irgendwelche Schlampen sich nicht benehmen können!»

«Unsere Bewohnerinnen sind doch keine Schlampen, das sind Opfer! Ich führe mit dir hier keine Vereinbarkeitsdebatte. Du bist dir bloß zu fein! Vielleicht kannst du mal die Realität zur Kenntnis nehmen? Hier, lies mal das Meckerbuch: Die Mülltüten in der Küche müssten jeden Tag erneuert werden, denn es stinkt bestialisch. Das sind unsere Probleme, und da muss jeder anpacken.»

«Opfer? Wir geben den Frauen die Möglichkeit, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wirklich etwas zu ändern. Aber die wollen sich hier nur verstecken, bis Herrchen sich beruhigt hat, und dann geht’s heiter weiter. Und für die soll ich mir jetzt die lila Latzhose anziehen und den Schrubber schwingen? Für Frauen, die – kaum sind sie frei von patriarchaler Unterdrückung – in die Dusche kacken? Ich bin hier für die Rahmenbedingungen und für den theoretischen Überbau zuständig. Ich habe doch erst für diesen Schutzraum gesorgt! Seit Jahrzehnten diskutieren wir mit den Kerlen, dass Frauen, die der Doppelbelastung von Beruflichem und Privatem ausgesetzt sind, keine Kapazität mehr haben, um politisch zu reflektieren. Und jetzt fängst du so an?» Monika merkt selbst, dass sie wie ein Karrieremann klingt. Weil sie einer ist.

«Dann schlag halt auf der nächsten Hausversammlung einen neuen Putzplan vor.» Hilde bleibt sachlich.

«Darauf kannst du wetten. Wer hier bei uns unterkommt, muss mit anfassen und lernen, für sich selbst zu sorgen. Egal, wie unglücklich und traumatisiert frau ist.»

«Ich halte es für besser, das auf freiwilliger Basis zu regeln.»

«Das wird nie etwas.» Monika gibt dem Meckerbuch einen Schubs. Es rutscht über den Tisch. Hilde fängt es auf.

«Merkst du nicht, dass du die Unterdrückung der Frauen mit anderen Mitteln fortsetzt?»

«Hilde, ich kann Frauen nicht helfen, die nicht wissen, dass man eine Toilette benutzt! Das hat nichts mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Gewalt gegen Frauen zu tun, sondern einfach mit Erwachsenwerden.»

«Ich bin deine Freundin, Monika. Aber ehrlich gesagt, ich glaube, dass du dir dein Riesenego ideologisch schönredest.»

«Ist dir langweilig, Hilde? Du denkst über die falschen Probleme nach. Wenn du schon die Frau Doktor raushängen lässt – vielleicht fällt dir ja etwas Schlaues ein, wie wir den Alkoholkonsum und den Tablettenmissbrauch im Haus eindämmen können.»

«Ich würde vorschlagen, dass wir die Schlafzimmer halbstündlich kontrollieren.»

«Und wer soll das machen?»

«Du. Du musst das machen.»

«Aber ich … ich kann doch nicht …» Monika merkt, wie ihre Fingernägel ihre Unterarme zerkratzen. Sie weiß, Kontrollieren und Putzen ist wichtig. Die Villa platzt aus allen Nähten. Auf 660 Quadratmetern gibt es insgesamt dreizehn Wohn- und Schlafräume mit ursprünglich bis zu zehn Betten. Und der Ansturm der Hilfe suchenden Frauen reißt nicht mehr ab. Die Organisatorinnen haben die Schränke aus den Zimmern räumen müssen. Die Frauen und ihre Kinder leben aus dem Koffer. Auf den Fluren und in den Aufenthaltsräumen stehen zusätzliche Doppelstockbetten. Das Haus ist für siebzig Frauen und Kinder ausgelegt, aber hundertfünfzig sind bereits untergebracht. Trotzdem schlafen die Frauen gut, viele zum ersten Mal seit Jahren. Alles ist besser als die Gewalt, der sie zu Hause ausgesetzt waren.

Monika geht zum Fenster des Büros und schaut hinaus. «Vielleicht haben wir uns übernommen», flüstert sie.

Hilde tritt hinter sie. «Selbst wenn das so sein sollte, wir dürfen das nicht zugeben. Der Ansturm war absehbar. Ich wusste aus den Umfragen der Berliner Familienberatungsstellen, dass jede zwölfte Frau von ihrem Mann misshandelt wird. Quer durch alle gesellschaftlichen Schichten.»

«Das war spätestens klar, als unsere erste Bewohnerin schon einen Tag vor Eröffnung an der Tür geklingelt hat. Ihr Mann hat ihr Geld und Papiere abgenommen. Er ist ein hoher Richter am Landgericht. Für ihren Pelzmantel und ihre Goldkette hat sie sich von ihm grün und blau prügeln lassen.» Monika schüttelt den Kopf in der Erinnerung an die gepflegte Frau.

Hilde lacht. Erstaunt dreht sich Monika um. Falten graben sich in Hildes hageres, herbes Gesicht. «Selbst da hast du noch Berührungsängste», sagt sie.

«Ich mag es eben nicht, wenn man sich zum Opfer stilisiert», faucht Monika.

«Du glaubst an das Ideal des eigenverantwortlichen Individuums? Du bist wirklich eine Idealistin.»

Monika spürt, wie ihr Blutdruck steigt. «Hältst du das für einen Fehler?»

«Nein. Jede Journalistin, die etwas taugt, sollte eine Idealistin sein. Aber Idealistinnen sind verwundbar. Sie erwarten Dank.»

Monika hält lieber den Mund, obwohl ihr eine scharfe Erwiderung auf der Zunge liegt. Sie atmet durch. Viermal tief atmen, das hat ihr die Psychologin geraten. Sie streicht sich die Haarsträhnen hinters Ohr und verschränkt die Arme. «Ihr werdet mir noch mal alle dankbar sein», sagt sie.

Die Teufelsseechaussee ist eine Sackgasse, die an den verlassenen Gebäuden eines alten Wasserwerks endet. Kriminalkommissar Peter Kappe parkt links auf einem Ausflüglerparkplatz, steigt aus und schließt den Wagen ab. Auf der anderen Seite der Straße sieht er schon die VW-Bullis der Kollegen. Und einen Leichenwagen.

Es hat aufgehört zu regnen. Kappe überquert die Straße. Ein aufgewühlter Sandweg führt durch ein Waldstück. Er bleibt stehen und schaut hinunter zum See. Dort liegt eine Abdeckplane. Ein paar Hippie-FKK-Nixen mit nassen Rastazöpfen und nackten Waden unter Frotteemänteln stehen um einen Beamten herum, der ihre Personalien aufnimmt. Kappe sieht den bunten Seidenschal der Rechtsmedizinerin Dr. Doreen Niedergesäß mit dem rot-weißen Absperrband im Herbstwind um die Wette flattern.

«Da biste ja endlich, Kappe!» Die Gerichtsmedizinerin winkt ihm dynamisch zu. Sie hat Arme wie Baumstämme. Ihre Stimme lässt den Grunewald beben. Kappe freut sich immer, dass sie auf derselben Seite sind. «Komm ma runter! Hier is leider nischt mehr mit ‹Morjens um sieben is die Welt noch in Ordnung›. So wat haste noch nich jesehen. Dein Urteilsvamögen is jefragt!»

Kappe erwägt, auf dem Absatz kehrtzumachen und sich in der nächsten Kneipe volllaufen zu lassen. Sonntagsfrühschoppen. Kennt man ja. Nicht unüblich im bürgerlichen Lager. Vielleicht würde Doreen Niedergesäß mitkommen. Nach dem dritten Bier könnte er sie dann fragen, woran zum Teufel es aus Frauenperspektive liegen mag, dass alle Kollegen seine Meinung hören wollen, aber seine eigene Frau sowohl an seinem Urteilsvermögen als auch an seiner Rechtschaffenheit zweifelt. Kappe muss in letzter Zeit immer öfter an Prag denken. Wie verliebt Sarah und er damals waren. Aber ein echter Kriminaler denkt nicht an goldene Dächer. Er muss da jetzt hinuntergehen zum Seeufer, ganz Herr der Lage, und sich mit einer neuen Leiche konfrontieren – ruhig, professionell, engagiert. Ach, Prag … Selbst das Bier war gut in Prag, süffig und blond wie Sarahs Locken. Was einem nicht alles so einfällt, wenn man den Halt verliert und sich nicht mehr zu helfen weiß. Kappe fummelt am Kragen seines Parkas herum, aber er hat ihn bereits hochgeschlagen.

«Kappe!», ruft Dr. Niedergesäß. «Kommste? Jibt Arbeit!» Ihr Gesicht ist knallrot, und ihr enormer Busen wogt mit dem Ausschnitt ihrer Bluse um die Wette, als sie sich aufrichtet. Hinter ihr fliegen verschreckte Stockenten von der Wasseroberfläche auf. Die Gerichtsmedizinerin stemmt die Hände in die Hüften wie eine Wikingerkriegerin und schnaubt: «Det Wetter is mies, und ich hab keene Lust, det die Pressefritzen hier ufftauchen.»

«Können wir?» Zwei Bestatter mit einem Zinksarg treten neben Kappe aus dem Wald.

«Moment noch.» Es riecht ihm irgendwie zu ländlich-feucht und naturnah zwischen den Birken. Kappe fingert seine Zigaretten aus der Parkatasche. Er steckt sich eine Ernte 23 an und inhaliert tief.

Der stille See, die nassen FKK-Jünger in bunten Bademänteln, die Kollegen, die das Unterholz uniformblau färben. Kappe muss an einen Song der Politrocker von Ton Steine Scherben denken: «Der Mariannenplatz war blau, so viele Bullen waren da», singt Rio Reiser über die Räumung des besetzten Georg-von-Rauch-Hauses. Ab kommendem Jahr werden alle Beamten grüne Uniformen erhalten. Dann werden sie endgültig wie Förster aussehen.

Kappe hält den Betrieb auf. Das ist sein gutes Recht. Als Leitender muss er die Szenerie erfassen, auch emotional. Was er da sofort feststellt: Im Grunde hat er weder Zeit noch Lust auf die Probleme und auf die Leichen anderer Leute. Aber er hat einen Arbeitsvertrag. Also tritt er die Zigarette aus und geht hinunter zum See, zu Doreen Niedergesäß, gefolgt von den Sargträgern.